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»Und wenn heute ein Sandsturm käme?« Ilse Aichingers Szenen und Dialoge verzichten auf jedes Beiwerk, so dass übrig bleibt, was der Autorin wichtig ist: Ein Gespräch zwischen Personen, das mit jedem Satz die Alltagswirklichkeit überschreitet. Die Dialoge bewegen sich an der Grenze zwischen Leben und Tod, am Rande des Schweigens. Denn was ist, ist nicht fest und beschreibbar, sondern muss zusammengefügt werden aus zerfallenen Einzelteilen; es wird erst und findet seinen Raum und seine Zeit in der poetisch gestalteten Spannung zwischen Angst und Hoffnung, Traum und Wirklichkeit.
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Seitenzahl: 134
Ilse Aichinger
Zu keiner Stunde
Szenen und Dialoge
FISCHER E-Books
Meiner Schwester
POLIZIST AN DER BOTSCHAFT
Wieder mit den Hunden spazieren?
DAS DIENSTMÄDCHEN VON GEGENÜBER
Ja.
POLIZIST
Schöner Tag heute!
MÄDCHEN
O ja.
POLIZIST
Oder vielleicht nicht?
MÄDCHEN
Ein sehr schöner Tag.
POLIZIST
Die Windhunde von der Gnädigen nehmen sich dann gleich besser aus: gegen den blauen Himmel.
MÄDCHEN
Freilich.
POLIZIST
Das schöne weiße Fell!
MÄDCHEN
Komm, Josias!
POLIZIST
Josias?
MÄDCHEN
Ein Phantasiename.
POLIZIST
Und der andere?
MÄDCHEN
Rosendorn.
POLIZIST
Josias und Rosendorn.
MÄDCHEN
Alles Phantasie.
POLIZIST
Das ist auch viel wert.
MÄDCHEN
Ja.
POLIZIST
Aber ein so schöner Tag heute!
MÄDCHEN
Die Gnädige ist ausgefahren. Kommissionen.
POLIZIST
Und der Herr?
MÄDCHEN
Ist im Amt. Mir tun die Kinder leid, die in der Schul sitzen müssen.
POLIZIST
Mir nicht.
MÄDCHEN
Die Stadt ist heut so still, als wär gar niemand drin.
POLIZIST
Das tät auch gut.
MÄDCHEN
Als wär man ganz allein.
POLIZIST
Stört Sies?
MÄDCHEN
Die Jahreszeit –
POLIZIST
Keine Wolke am Himmel.
MÄDCHEN
Es wird bald zum Eislaufen für die Kinder.
POLIZIST
Als blieb der Vormittag stehen!
MÄDCHEN
Der bleibt nicht.
POLIZIST
Die alten Propheten hätten sichs auch nicht träumen lassen, daß sie aus Stein in die Kirchsäulen gehauen werden, mitten im Reden.
MÄDCHEN
Komm, Josias!
POLIZIST
Wohin?
MÄDCHEN
Der Jüngste von den Herrschaften hat ein Dreirad, mit dem fährt er im Park um den Brunnen.
POLIZIST
So.
MÄDCHEN
Den hol ich jetzt.
POLIZIST
Ich möcht mir die Eile für was Besseres sparen.
MÄDCHEN
Wüßt nicht, wofür.
POLIZIST
Ich wüßts.
MÄDCHEN
Freilich.
POLIZIST
Die alten Propheten –
MÄDCHEN
Die sollen mich in Ruh lassen!
POLIZIST
Ich wollt auch was anderes sagen.
MÄDCHEN
Was?
POLIZIST
Sie und ich –
MÄDCHEN
Sonst nichts?
POLIZIST
Der blaue Himmel –
MÄDCHEN
Komm, Rosendorn!
POLIZIST
Der Tag, die Hunde, das Eck hier an der Botschaft –
MÄDCHEN
O je!
POLIZIST
Die Tauben!
MÄDCHEN
Ich weiß nicht, was die bedeuten.
POLIZIST
Marie!
MÄDCHEN
Und was Sie reden.
POLIZIST
Mir ist der Kirchbaumeister heut nacht im Traum erschienen.
MÄDCHEN
Die Träum von andern Leuten –
POLIZIST
Unten an der linken Säule wär noch ein Platz frei!
MÄDCHEN
unsicher Ich muß den Kleinen holen, die Gnädige –
POLIZIST
Und wie ich Sie heut früh über die Straßen hab gehen sehen, Marie – da ist mir der Gedanke gekommen, Sie und ich und die Hunde –
MÄDCHEN
Wir gehen jetzt!
POLIZIST
Und die Botschaft dahinter. Wir kämen gut ins Bild. Marie!
MÄDCHEN
So heiß ich nicht!
POLIZIST
Dem Kirchbaumeister wär geholfen. Und uns auch! Der letzte freie Platz, der Himmel ohne Wolken!
MÄDCHEN
Ich möcht nicht.
POLIZIST
Kein Mittag mehr, Marie, kein Abend, keine Nacht; nein, nur der Vormittag und immer elf vorbei und Sie und ich. Die Hunde –
MÄDCHEN
erschrocken Josias, Rosendorn!
POLIZIST
Es wär ein linder Vormittag, um drin zu bleiben!
MÄDCHEN
Da wär mir keiner lind genug.
POLIZIST
Die Sonne!
MÄDCHEN
schaut auf den Himmel Jetzt kommt bald Wind auf.
POLIZIST
Der bringt den Schnee. Sie gehen dann mit dem Kleinen, der nicht der Ihre ist, im Kalten spazieren.
MÄDCHEN
Das kann schon sein.
POLIZIST
Ein Wort, Marie, und nichts –
MÄDCHEN
schüttelt den Kopf.
POLIZIST
Wir bleiben dann für immer zusammen! Das Wort!
MÄDCHEN
beharrlich auf den Himmel schauend Ich seh schon Wolken.
POLIZIST
Bevor sie über uns sind!
MÄDCHEN
zu den erstarrenden Hunden Wir gehen jetzt.
POLIZIST
Marie!
MÄDCHEN
Ich will auf keine Säulen.
DER KLEINE IM PARK
Du hast kalte Hände, Marie!
MÄDCHEN
Es wird bald zum Eislaufen Zeit.Der Prophet Elias fährt in einem roten Wagen am Himmel über ihnen vorbei.
STUDENT
betritt den Dachboden, schließt hinter sich ab und geht auf den Bücherkorb hinter dem Holzpfeiler zu. Er beugt sich darüber und beginnt zu suchen.
ZWERG
Immer fleißig?
STUDENT
zerstreut Ja. Bemerkt erst jetzt den Zwerg, der in einer grünen hohen Mütze auf der Kiste steht und durch die Luke halb über die Stadt schaut Was suchen Sie hier?
ZWERG
Nichts. Ich schaue über die Stadt. Zur grünen Kuppel des Schlosses hinüber. Deutet auf seine Mütze Ich ziehe Vergleiche zwischen grün und grün. Das nimmt kein Ende. Um so mehr als diese Gegend auch noch von Gärten überzogen ist.
STUDENT
über seinen Korb gebeugt, antwortet nicht.
ZWERG
Immer zwischen drei und vier. Das gibt meinen Tagen Rhythmus. Das bringt mich zur Überzeugung, daß ich immer hier stehe. Und Sie?
STUDENT
Ich suche Skripten.
ZWERG
Auch immer zwischen drei und vier?
STUDENT
Wann ich sie brauche.
ZWERG
Und wann brauchen Sie sie?
STUDENT
Wenn ich sie unten nicht finde. Ich studiere Schiffsbau.
ZWERG
Um welche Zeit?
STUDENT
Immer.
ZWERG
Zu keiner Stunde?
STUDENT
Zu allen.
ZWERG
Schade. Wir träfen uns sonst öfter hier heroben.
STUDENT
Da käme ich nicht weit.
ZWERG
Wie weit wollen Sie kommen?
STUDENT
So weit als möglich. Auf ein Schiff –
ZWERG
Ich sehe hier öfter welche auf dem Fluß vorbeigleiten, wenn ich das Grün der Auen mit dem meiner Mütze vergleiche – ich könnte Sie empfehlen.
STUDENT
Ich muß erst fertig werden. Ich will auch weiter.
ZWERG
Ich vergleiche auch das Grün des Horizonts mit dem meiner Mütze. Ich hätte auch da Verbindungen.
STUDENT
Ich muß erst –
ZWERG
Sie haben heute eine Prüfung bestanden.
STUDENT
Ja. Woher wissen Sies?
ZWERG
Als ich das Grün der Patina, mit dem das Dach der Technik sich immer mehr zu überziehen beginnt, mit dem meiner Mütze verglich, bekamen Sie gerade Ihre Auszeichnung.
STUDENT
Es war die vorletzte Prüfung. Erst nach der letzten –
ZWERG
Wenn Sie sich dann an mich wenden wollen.
STUDENT
Ich habe schon verschiedene Aussichten.
ZWERG
Ich empfehle Sie gerne.
STUDENT
Zuerst fahre ich in meine Heimat. Dort werde ich heiraten. Und dann –
ZWERG
Ich bin immer zwischen drei und vier Uhr hier!
STUDENT
Ich habe Aussichten in Deutschland und Amerika. Die Frage ist nur –
ZWERG
Immer zwischen drei und vier.
STUDENT
Die Frage ist –
ZWERG
Und ich kann mich für Sie verwenden, wo immer es Schattierungen von Grün gibt. Die sind auf Schiffen auch nicht selten.
STUDENT
Auf neuen wohl.
ZWERG
Die See hat viel davon.
STUDENT
Ich werde nicht an der See bauen, sondern an Booten.
ZWERG
Die Flüsse!
STUDENT
Flußschiffe kommen nicht in Frage.
ZWERG
Ich möchte gerne alle meine Verbindungen zu Grün für Sie spielen lassen!
STUDENT
richtet sich auf und streift sein Haar zurück Hier ist mein Skriptum.
ZWERG
Sie haben keine Ahnung, wieviel es davon auf der Welt gibt, nicht nur das Grün der Dächer und der Gärten, auch das des Tangs, der Algen, des Meeresgrundes, ablesbar in Vergleichen –
STUDENT
Ich muß jetzt gehen!
ZWERG
Ich könnte es Ihnen beweisen, nur an meiner Mütze, an dem Turm der polnischen Kirche, an diesem Zwiebelturm – oder an dem Grün der Wipfel um das Waffenarsenal –
STUDENT
im Gehen Leider –
ZWERG
Wenn Sie nur hie und da zu mir heraufkämen –
STUDENT
Es ist mein letztes Semester.
ZWERG
Nur zwischen drei und vier –
STUDENT
Da habe ich meine Vorlesungen oder Laboratoriumsübungen. Und wenn ich frei habe, so muß ich mich zur letzten Prüfung vorbereiten und meinen Schiffsquerschnitt zu Ende zeichnen.
ZWERG
Oder am letzten Tag, am Tag nach Ihrer letzten Prüfung! Zwischen drei und vier.
STUDENT
Da packe ich meine Koffer.
ZWERG
Es wird ein dunstiger Tag sein, die Augen grau, die Zwiebel gelb, die Dächer schwarz. Sie haben überall Auszeichnung.
STUDENT
Gott soll es geben!
ZWERG
Von Ihren Freunden haben Sie schon Abschied genommen.
STUDENT
Dann fahre ich zur Bahn!
ZWERG
Es bleibt noch eine Stunde, eine gute Stunde. Sie erinnern sich, daß hier oben noch ein Korb mit Büchern steht. Vielleicht, daß Sie das eine oder andere noch brauchen könnten? Sie öffnen die Bodentüre. Sie gehen zum Bücherkorb, Sie beugen sich darüber und suchen, nein, Sie brauchen kein Buch mehr, alles liegt weit zurück. Sie richten sich auf –
STUDENT
ungeduldig, mit dem Skriptum in der Hand Und?
ZWERG
Sie sehen zur Dachluke herüber – Sie seufzen –
STUDENT
in der offenen Tür Seufzen werde ich nicht!
ZWERG
Ich versichere Sie! Sie seufzen. Und dann –
STUDENT
Ich gehe jetzt!
ZWERG
Dann empfehle ich Sie an das Grün der See.
Die Bodentür schlägt zu.
ZWERG
kichert und schaut weiter durch die Dachluke über die Stadt.
DER KOMIKER AUF DER PLATTE
Bald schmeckts ma, bald schmeckts ma net – bald –
1. MÄDCHEN
Enten!
2. MÄDCHEN
Das ist gut! Man erkennt sie.
3. MÄDCHEN
Wenn es nicht Möwen sind.
2. MÄDCHEN
Möwen!
1. MÄDCHEN
Weil du sie nie gehört hast!
2. MÄDCHEN
Da gibt es Flußmöwen, Seemöwen –
1. MÄDCHEN
Dies hier sind Enten.
3. MÄDCHEN
Die Platte habt ihr schon lange.
1. MÄDCHEN
Mein Vater und meine Mutter brachten sie voriges Jahr zu Ostern mit.
2. MÄDCHEN
Karfreitags!
3. MÄDCHEN
Wir waren auch gerade bei dir.
2. MÄDCHEN
Erinnerst du dich?
1. MÄDCHEN
Vielleicht, daß mein Vater und meine Mutter in diesem Jahr wieder eine Platte bringen.
2. MÄDCHEN
Tauben!
1. MÄDCHEN
Und nächstes Jahr wieder.
3. MÄDCHEN
Möwen!
2. MÄDCHEN
Immer eine komische Platte mit Tieren.
3. MÄDCHEN
Wenn du hundert Jahre alt bist, hast du genügend Auswahl. Da kommt dein Vater, denn deine Mutter ist schon tot, dein Vater kommt über den Flur –
Glocke.
EMILY
heiser Ja? Öffnet die Flurtür.
VATER
Ich bringe dir noch eine Platte, Emily.
EMILY
Komm herein, Vater!
VATER
Ich glaube, die ist sehr komisch.
EMILY
Das ist lieb von dir.
VATER
Die Möwen, die dir noch fehlten.
EMILY
Die Möwen! Du denkst auch an alles.
VATER
Deine beiden Freundinnen nicht hier?
EMILY
Nein, heute nicht. Die eine starb mit achtzig, Vater –
VATER
Richtig.
EMILY
Und die andere mit neunzig.
VATER
Ja. Ich vergesse das von Jahr zu Jahr.
EMILY
Ist heute Karfreitag?
VATER
Ich dachte es. Man hört den ganzen Tag schon keine Glocken läuten.
EMILY
Dann ist heute Karfreitag.
VATER
Ich habe mich darin noch nie geirrt, Emily.
EMILY
Nein.
VATER
Du mußt zugeben, daß ich dir noch jedes Jahr zu Karfreitag eine Platte brachte.
EMILY
Ja, Vater.
VATER
Es war immer meine größte Freude.
EMILY
Auch die meine, Vater!
VATER
Und es waren immer gelungene Platten!
EMILY
Immer! Das rechne ich dir auch hoch an, Vater!
VATER
Weil es mir Freude machte. Vom ersten Mal an, als ich mit deiner Mutter in der Sonne aus der Stadt nach Hause kam, an den offenen Kirchen und den geschmückten Menschen vorbei, und mich plötzlich der Gedanke durchzuckte: Was bringen wir unserer kleinen Emily mit?
EMILY
Damals waren es die Enten. Damals war ich zwölf.
VATER
Im nächsten Jahr die Tauben.
EMILY
lacht Die Tauben!
VATER
Und dann die Hühner.
EMILY
Truthühner und Perlhühner.
VATER
Und Lämmer, Wiedehopfe –
EMILY
Jetzt ist Mutter schon siebenundzwanzig Jahre tot.
VATER
In ihrem Sterbejahr waren es die Stieglitze, sie starb im März und Ostern fiel in den April.
EMILY
Die Stieglitze!
VATER
Das ist auch eine gute Platte.
EMILY
Außergewöhnlich gut.
VATER
Wenn man schon einige besitzt und Sinn für Schattierungen der Stimmen hat, aber ich würde sie niemandem als erste empfehlen.
EMILY
Es ist nicht zu glauben, was die Plattenindustrie in knappen achtundzwanzig Jahren hervorbrachte!
VATER
Das sage ich mir auch: Man kann nicht dankbar genug sein.
EMILY
Nur die Möwen fehlten noch.
VATER
Bis heute, Emily, bis heute! Er lacht.
EMILY
Ich habe mirs deshalb bis heute erspart, an die See zu fahren. Ich dachte, einmal bringst du mir auch diese Platte.
VATER
Du warst geduldig, Emily, und deine Geduld wird belohnt!
EMILY
Ich war nicht immer geduldig, Vater. Zwischen siebzig und achtzig –
VATER
Das ging vorbei, Emily.
EMILY
Besonders in dem Jahr, als ich dreiundsiebzig wurde.
VATER
Damals brachte ich dir die Platte mit den Katzen.
EMILY
Ja, die Katzen.
VATER
Du hattest eine leichte Herzschwäche an diesem Tag.
EMILY
Ich verbarg nur mit Mühe meine Enttäuschung.
VATER
Deine Enttäuschung?
EMILY
eifrig Nicht, daß es keine wunderbare Platte gewesen wäre, Vater –
VATER
Es war eine ganz besonders gelungene Platte.
EMILY
Ich weiß!
VATER
Wir lachten herzlich! Die Liebesschreie und Kampfrufe –
EMILY
Aber ich hatte damals die erste Herzschwäche, Vater, und ich wußte nicht, wie lange ein Herz im Stande ist, schwach zu bleiben. Ich dachte: Am Ende behält Ursula recht und ich versäume die Möwen.
VATER
Du sagtest kein Wort.
EMILY
Nein, und zuletzt vergaß ich auch alles über den Kampf zwischen dem Angorakater und der Siamesin. Sie beginnen beide wieder zu lachen.
EMILY
etwas atemlos Selbst Ursula und Daisy vergaßen es.
VATER
auch atemlos Ja.
EMILY
Und dann noch einmal in meinem siebenundsiebzigsten Jahr: da quälte mich die Frage: Soll ich nun eine Seereise machen oder nicht? Ich hätte damals eine billige Möglichkeit gehabt, aber ich tat es nicht, ich vertraute dir, Vater! Ursula und Daisy fuhren in diesem Jahr. Sie kamen begeistert zurück.
VATER
Bald darauf starben sie.
EMILY
Ich nicht.
VATER
Du hast recht getan, Emily.
EMILY
Aber wie hast du es nur fertiggebracht, Vater? Gerade in meinem hundertsten Jahr, an meinem hundertsten Geburtstag, der zugleich ein Karfreitag ist –
VATER
nur mit Mühe seinen Stolz verbergendGar nichts. Der junge Mann hatte einfach die Platte.
EMILY
Er hatte sie einfach!
VATER
Gestern bekommen!
EMILY
Was sagte er, als du zur Tür hereinkamst?
VATER
Nichts weiter. Ich fragte: ›Haben Sie die Platte mit den Möwen?‹ Und er sagte ›Ja‹ und gab sie mir.
EMILY
Als hättest du nicht siebenundachtzig Jahre darauf gewartet! Als wären Ursula und Daisy nicht darüber gestorben!
VATER
Nein, das berührten wir gar nicht.
EMILY
mit erhobenem Finger Ihr Spitzbuben!
VATER
Nachher mußte ich mich allerdings erst eine Weile auf eine Bank im Park setzen und die Platte auf meinen Knien in der Sonne drehen, um daran zu glauben.
EMILY
Ich erwachte heute auch besonders frisch.
Ich hörte die Glocken nicht läuten und da wußte ich: Heute ist Karfreitag, der Tag, an dem Vater mir die komische Platte bringt! Ich rollte mich in meinem Stuhl ans Fenster und sah die Scheiben der Galerien gegenüber in der Sonne blitzen. Da wuchs mein Vertrauen.
VATER
Du zweifeltest dann wieder!
EMILY
schelmisch Ich kann karfreitags nie so recht daran glauben, daß Karfreitag ist.
VATER
Aber jetzt, Emily, jetzt glaubst du es doch wieder?
EMILY
Schon als ich dich sah, Vater.
VATER
Und wenn du erst die Möwen hören wirst!
EMILY
Wenn ich die Möwen höre!
VATER
Ich hole den Apparat.
EMILY
Der Schalltrichter liegt daneben.
VATER
aus dem Nebenzimmer Ich weiß Bescheid, Emily.
EMILY
Du vergißt es nie.
VATER
atemlos Ein herrlicher sonniger Tag heute!
EMILY
ist eingeschlafen.
Das Drehen der verrosteten Grammophonkurbel aus dem Nebenzimmer.
VATER
Und nun!Die Nadel kratzt auf der Platte.
VATER
Und nun, Emily!
DIE MÖWEN AUF DER PLATTE
Ihr sollt ihn kreuzigen, kreuzigt ihn, ihr sollt ihn kreuzigen, kreuzigt ihn, ihr sollt –
VATER
Das können nicht die Möwen sein.Er setzt die Nadel an einer andern Stelle wieder an.
DIE MÖWEN
Ihn, ihr sollt ihn kreuzigen, kreuzigt –
VATER
Da interessiert mich der Schluß!Er setzt die Nadel am Ende der Platte an.Gekicher, das zugleich wie der Wind über der See klingt.
VATER
Jetzt wird es komisch, Emily, hörst du?
Jetzt wird es komisch! Das sind die Möwen, Emily!
EMILY
atmet nicht mehr.
VERS
als junger Mann verkleidet, klopft an eine Tür.
MÄDCHEN
ihm öffnend Guten Abend!
VERS
Und wie geht es Ihnen?
Ich freue mich, daß Sie mich empfangen.
MÄDCHEN
lebhaft Ja, ich freue mich auch. Ich wäre fast nicht dazu im Stande gewesen, aber jetzt –
VERS
Jetzt?
MÄDCHEN