Zu keiner Stunde - Ilse Aichinger - E-Book

Zu keiner Stunde E-Book

Ilse Aichinger

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Beschreibung

»Und wenn heute ein Sandsturm käme?« Ilse Aichingers Szenen und Dialoge verzichten auf jedes Beiwerk, so dass übrig bleibt, was der Autorin wichtig ist: Ein Gespräch zwischen Personen, das mit jedem Satz die Alltagswirklichkeit überschreitet. Die Dialoge bewegen sich an der Grenze zwischen Leben und Tod, am Rande des Schweigens. Denn was ist, ist nicht fest und beschreibbar, sondern muss zusammengefügt werden aus zerfallenen Einzelteilen; es wird erst und findet seinen Raum und seine Zeit in der poetisch gestalteten Spannung zwischen Angst und Hoffnung, Traum und Wirklichkeit.

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Seitenzahl: 134

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Ilse Aichinger

Zu keiner Stunde

Szenen und Dialoge

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungFranzösische BotschaftZu keiner StundeMöwenFlüchtiger GastMit der Stimme der AltenBelvedereAuf verlorenem PostenAlgebraErstes SemesterSchweres WasserDie AuktionGute SeeWiederkehrIm jungen GrünSonntagsdienstTauben und WölfeHohe WarteDas neue LiedPaßüberquerungNicht vor MailandWeiße ChrysanthemenChriginaFürsorgeDie unmüden SchläferAnhangEditorische NachbemerkungBibliographische Hinweise

Meiner Schwester

Französische Botschaft

POLIZIST AN DER BOTSCHAFT

Wieder mit den Hunden spazieren?

DAS DIENSTMÄDCHEN VON GEGENÜBER

Ja.

POLIZIST

Schöner Tag heute!

MÄDCHEN

O ja.

POLIZIST

Oder vielleicht nicht?

MÄDCHEN

Ein sehr schöner Tag.

POLIZIST

Die Windhunde von der Gnädigen nehmen sich dann gleich besser aus: gegen den blauen Himmel.

MÄDCHEN

Freilich.

POLIZIST

Das schöne weiße Fell!

MÄDCHEN

Komm, Josias!

POLIZIST

Josias?

MÄDCHEN

Ein Phantasiename.

POLIZIST

Und der andere?

MÄDCHEN

Rosendorn.

POLIZIST

Josias und Rosendorn.

MÄDCHEN

Alles Phantasie.

POLIZIST

Das ist auch viel wert.

MÄDCHEN

Ja.

POLIZIST

Aber ein so schöner Tag heute!

MÄDCHEN

Die Gnädige ist ausgefahren. Kommissionen.

POLIZIST

Und der Herr?

MÄDCHEN

Ist im Amt. Mir tun die Kinder leid, die in der Schul sitzen müssen.

POLIZIST

Mir nicht.

MÄDCHEN

Die Stadt ist heut so still, als wär gar niemand drin.

POLIZIST

Das tät auch gut.

MÄDCHEN

Als wär man ganz allein.

POLIZIST

Stört Sies?

MÄDCHEN

Die Jahreszeit –

POLIZIST

Keine Wolke am Himmel.

MÄDCHEN

Es wird bald zum Eislaufen für die Kinder.

POLIZIST

Als blieb der Vormittag stehen!

MÄDCHEN

Der bleibt nicht.

POLIZIST

Die alten Propheten hätten sichs auch nicht träumen lassen, daß sie aus Stein in die Kirchsäulen gehauen werden, mitten im Reden.

MÄDCHEN

Komm, Josias!

POLIZIST

Wohin?

MÄDCHEN

Der Jüngste von den Herrschaften hat ein Dreirad, mit dem fährt er im Park um den Brunnen.

POLIZIST

So.

MÄDCHEN

Den hol ich jetzt.

POLIZIST

Ich möcht mir die Eile für was Besseres sparen.

MÄDCHEN

Wüßt nicht, wofür.

POLIZIST

Ich wüßts.

MÄDCHEN

Freilich.

POLIZIST

Die alten Propheten –

MÄDCHEN

Die sollen mich in Ruh lassen!

POLIZIST

Ich wollt auch was anderes sagen.

MÄDCHEN

Was?

POLIZIST

Sie und ich –

MÄDCHEN

Sonst nichts?

POLIZIST

Der blaue Himmel –

MÄDCHEN

Komm, Rosendorn!

POLIZIST

Der Tag, die Hunde, das Eck hier an der Botschaft –

MÄDCHEN

O je!

POLIZIST

Die Tauben!

MÄDCHEN

Ich weiß nicht, was die bedeuten.

POLIZIST

Marie!

MÄDCHEN

Und was Sie reden.

POLIZIST

Mir ist der Kirchbaumeister heut nacht im Traum erschienen.

MÄDCHEN

Die Träum von andern Leuten –

POLIZIST

Unten an der linken Säule wär noch ein Platz frei!

MÄDCHEN

unsicher Ich muß den Kleinen holen, die Gnädige –

POLIZIST

Und wie ich Sie heut früh über die Straßen hab gehen sehen, Marie – da ist mir der Gedanke gekommen, Sie und ich und die Hunde –

MÄDCHEN

Wir gehen jetzt!

POLIZIST

Und die Botschaft dahinter. Wir kämen gut ins Bild. Marie!

MÄDCHEN

So heiß ich nicht!

POLIZIST

Dem Kirchbaumeister wär geholfen. Und uns auch! Der letzte freie Platz, der Himmel ohne Wolken!

MÄDCHEN

Ich möcht nicht.

POLIZIST

Kein Mittag mehr, Marie, kein Abend, keine Nacht; nein, nur der Vormittag und immer elf vorbei und Sie und ich. Die Hunde –

MÄDCHEN

erschrocken Josias, Rosendorn!

POLIZIST

Es wär ein linder Vormittag, um drin zu bleiben!

MÄDCHEN

Da wär mir keiner lind genug.

POLIZIST

Die Sonne!

MÄDCHEN

schaut auf den Himmel Jetzt kommt bald Wind auf.

POLIZIST

Der bringt den Schnee. Sie gehen dann mit dem Kleinen, der nicht der Ihre ist, im Kalten spazieren.

MÄDCHEN

Das kann schon sein.

POLIZIST

Ein Wort, Marie, und nichts –

MÄDCHEN

schüttelt den Kopf.

POLIZIST

Wir bleiben dann für immer zusammen! Das Wort!

MÄDCHEN

beharrlich auf den Himmel schauend Ich seh schon Wolken.

POLIZIST

Bevor sie über uns sind!

MÄDCHEN

zu den erstarrenden Hunden Wir gehen jetzt.

POLIZIST

Marie!

MÄDCHEN

Ich will auf keine Säulen.

DER KLEINE IM PARK

Du hast kalte Hände, Marie!

MÄDCHEN

Es wird bald zum Eislaufen Zeit.Der Prophet Elias fährt in einem roten Wagen am Himmel über ihnen vorbei.

Zu keiner Stunde

STUDENT

betritt den Dachboden, schließt hinter sich ab und geht auf den Bücherkorb hinter dem Holzpfeiler zu. Er beugt sich darüber und beginnt zu suchen.

ZWERG

Immer fleißig?

STUDENT

zerstreut Ja. Bemerkt erst jetzt den Zwerg, der in einer grünen hohen Mütze auf der Kiste steht und durch die Luke halb über die Stadt schaut Was suchen Sie hier?

ZWERG

Nichts. Ich schaue über die Stadt. Zur grünen Kuppel des Schlosses hinüber. Deutet auf seine Mütze Ich ziehe Vergleiche zwischen grün und grün. Das nimmt kein Ende. Um so mehr als diese Gegend auch noch von Gärten überzogen ist.

STUDENT

über seinen Korb gebeugt, antwortet nicht.

ZWERG

Immer zwischen drei und vier. Das gibt meinen Tagen Rhythmus. Das bringt mich zur Überzeugung, daß ich immer hier stehe. Und Sie?

STUDENT

Ich suche Skripten.

ZWERG

Auch immer zwischen drei und vier?

STUDENT

Wann ich sie brauche.

ZWERG

Und wann brauchen Sie sie?

STUDENT

Wenn ich sie unten nicht finde. Ich studiere Schiffsbau.

ZWERG

Um welche Zeit?

STUDENT

Immer.

ZWERG

Zu keiner Stunde?

STUDENT

Zu allen.

ZWERG

Schade. Wir träfen uns sonst öfter hier heroben.

STUDENT

Da käme ich nicht weit.

ZWERG

Wie weit wollen Sie kommen?

STUDENT

So weit als möglich. Auf ein Schiff –

ZWERG

Ich sehe hier öfter welche auf dem Fluß vorbeigleiten, wenn ich das Grün der Auen mit dem meiner Mütze vergleiche – ich könnte Sie empfehlen.

STUDENT

Ich muß erst fertig werden. Ich will auch weiter.

ZWERG

Ich vergleiche auch das Grün des Horizonts mit dem meiner Mütze. Ich hätte auch da Verbindungen.

STUDENT

Ich muß erst –

ZWERG

Sie haben heute eine Prüfung bestanden.

STUDENT

Ja. Woher wissen Sies?

ZWERG

Als ich das Grün der Patina, mit dem das Dach der Technik sich immer mehr zu überziehen beginnt, mit dem meiner Mütze verglich, bekamen Sie gerade Ihre Auszeichnung.

STUDENT

Es war die vorletzte Prüfung. Erst nach der letzten –

ZWERG

Wenn Sie sich dann an mich wenden wollen.

STUDENT

Ich habe schon verschiedene Aussichten.

ZWERG

Ich empfehle Sie gerne.

STUDENT

Zuerst fahre ich in meine Heimat. Dort werde ich heiraten. Und dann –

ZWERG

Ich bin immer zwischen drei und vier Uhr hier!

STUDENT

Ich habe Aussichten in Deutschland und Amerika. Die Frage ist nur –

ZWERG

Immer zwischen drei und vier.

STUDENT

Die Frage ist –

ZWERG

Und ich kann mich für Sie verwenden, wo immer es Schattierungen von Grün gibt. Die sind auf Schiffen auch nicht selten.

STUDENT

Auf neuen wohl.

ZWERG

Die See hat viel davon.

STUDENT

Ich werde nicht an der See bauen, sondern an Booten.

ZWERG

Die Flüsse!

STUDENT

Flußschiffe kommen nicht in Frage.

ZWERG

Ich möchte gerne alle meine Verbindungen zu Grün für Sie spielen lassen!

STUDENT

richtet sich auf und streift sein Haar zurück Hier ist mein Skriptum.

ZWERG

Sie haben keine Ahnung, wieviel es davon auf der Welt gibt, nicht nur das Grün der Dächer und der Gärten, auch das des Tangs, der Algen, des Meeresgrundes, ablesbar in Vergleichen –

STUDENT

Ich muß jetzt gehen!

ZWERG

Ich könnte es Ihnen beweisen, nur an meiner Mütze, an dem Turm der polnischen Kirche, an diesem Zwiebelturm – oder an dem Grün der Wipfel um das Waffenarsenal –

STUDENT

im Gehen Leider –

ZWERG

Wenn Sie nur hie und da zu mir heraufkämen –

STUDENT

Es ist mein letztes Semester.

ZWERG

Nur zwischen drei und vier –

STUDENT

Da habe ich meine Vorlesungen oder Laboratoriumsübungen. Und wenn ich frei habe, so muß ich mich zur letzten Prüfung vorbereiten und meinen Schiffsquerschnitt zu Ende zeichnen.

ZWERG

Oder am letzten Tag, am Tag nach Ihrer letzten Prüfung! Zwischen drei und vier.

STUDENT

Da packe ich meine Koffer.

ZWERG

Es wird ein dunstiger Tag sein, die Augen grau, die Zwiebel gelb, die Dächer schwarz. Sie haben überall Auszeichnung.

STUDENT

Gott soll es geben!

ZWERG

Von Ihren Freunden haben Sie schon Abschied genommen.

STUDENT

Dann fahre ich zur Bahn!

ZWERG

Es bleibt noch eine Stunde, eine gute Stunde. Sie erinnern sich, daß hier oben noch ein Korb mit Büchern steht. Vielleicht, daß Sie das eine oder andere noch brauchen könnten? Sie öffnen die Bodentüre. Sie gehen zum Bücherkorb, Sie beugen sich darüber und suchen, nein, Sie brauchen kein Buch mehr, alles liegt weit zurück. Sie richten sich auf –

STUDENT

ungeduldig, mit dem Skriptum in der Hand Und?

ZWERG

Sie sehen zur Dachluke herüber – Sie seufzen –

STUDENT

in der offenen Tür Seufzen werde ich nicht!

ZWERG

Ich versichere Sie! Sie seufzen. Und dann –

STUDENT

Ich gehe jetzt!

ZWERG

Dann empfehle ich Sie an das Grün der See.

Die Bodentür schlägt zu.

ZWERG

kichert und schaut weiter durch die Dachluke über die Stadt.

Möwen

DER KOMIKER AUF DER PLATTE

Bald schmeckts ma, bald schmeckts ma net – bald –

1. MÄDCHEN

Enten!

2. MÄDCHEN

Das ist gut! Man erkennt sie.

3. MÄDCHEN

Wenn es nicht Möwen sind.

2. MÄDCHEN

Möwen!

1. MÄDCHEN

Weil du sie nie gehört hast!

2. MÄDCHEN

Da gibt es Flußmöwen, Seemöwen –

1. MÄDCHEN

Dies hier sind Enten.

3. MÄDCHEN

Die Platte habt ihr schon lange.

1. MÄDCHEN

Mein Vater und meine Mutter brachten sie voriges Jahr zu Ostern mit.

2. MÄDCHEN

Karfreitags!

3. MÄDCHEN

Wir waren auch gerade bei dir.

2. MÄDCHEN

Erinnerst du dich?

1. MÄDCHEN

Vielleicht, daß mein Vater und meine Mutter in diesem Jahr wieder eine Platte bringen.

2. MÄDCHEN

Tauben!

1. MÄDCHEN

Und nächstes Jahr wieder.

3. MÄDCHEN

Möwen!

2. MÄDCHEN

Immer eine komische Platte mit Tieren.

3. MÄDCHEN

Wenn du hundert Jahre alt bist, hast du genügend Auswahl. Da kommt dein Vater, denn deine Mutter ist schon tot, dein Vater kommt über den Flur –

Glocke.

EMILY

heiser Ja? Öffnet die Flurtür.

VATER

Ich bringe dir noch eine Platte, Emily.

EMILY

Komm herein, Vater!

VATER

Ich glaube, die ist sehr komisch.

EMILY

Das ist lieb von dir.

VATER

Die Möwen, die dir noch fehlten.

EMILY

Die Möwen! Du denkst auch an alles.

VATER

Deine beiden Freundinnen nicht hier?

EMILY

Nein, heute nicht. Die eine starb mit achtzig, Vater –

VATER

Richtig.

EMILY

Und die andere mit neunzig.

VATER

Ja. Ich vergesse das von Jahr zu Jahr.

EMILY

Ist heute Karfreitag?

VATER

Ich dachte es. Man hört den ganzen Tag schon keine Glocken läuten.

EMILY

Dann ist heute Karfreitag.

VATER

Ich habe mich darin noch nie geirrt, Emily.

EMILY

Nein.

VATER

Du mußt zugeben, daß ich dir noch jedes Jahr zu Karfreitag eine Platte brachte.

EMILY

Ja, Vater.

VATER

Es war immer meine größte Freude.

EMILY

Auch die meine, Vater!

VATER

Und es waren immer gelungene Platten!

EMILY

Immer! Das rechne ich dir auch hoch an, Vater!

VATER

Weil es mir Freude machte. Vom ersten Mal an, als ich mit deiner Mutter in der Sonne aus der Stadt nach Hause kam, an den offenen Kirchen und den geschmückten Menschen vorbei, und mich plötzlich der Gedanke durchzuckte: Was bringen wir unserer kleinen Emily mit?

EMILY

Damals waren es die Enten. Damals war ich zwölf.

VATER

Im nächsten Jahr die Tauben.

EMILY

lacht Die Tauben!

VATER

Und dann die Hühner.

EMILY

Truthühner und Perlhühner.

VATER

Und Lämmer, Wiedehopfe –

EMILY

Jetzt ist Mutter schon siebenundzwanzig Jahre tot.

VATER

In ihrem Sterbejahr waren es die Stieglitze, sie starb im März und Ostern fiel in den April.

EMILY

Die Stieglitze!

VATER

Das ist auch eine gute Platte.

EMILY

Außergewöhnlich gut.

VATER

Wenn man schon einige besitzt und Sinn für Schattierungen der Stimmen hat, aber ich würde sie niemandem als erste empfehlen.

EMILY

Es ist nicht zu glauben, was die Plattenindustrie in knappen achtundzwanzig Jahren hervorbrachte!

VATER

Das sage ich mir auch: Man kann nicht dankbar genug sein.

EMILY

Nur die Möwen fehlten noch.

VATER

Bis heute, Emily, bis heute! Er lacht.

EMILY

Ich habe mirs deshalb bis heute erspart, an die See zu fahren. Ich dachte, einmal bringst du mir auch diese Platte.

VATER

Du warst geduldig, Emily, und deine Geduld wird belohnt!

EMILY

Ich war nicht immer geduldig, Vater. Zwischen siebzig und achtzig –

VATER

Das ging vorbei, Emily.

EMILY

Besonders in dem Jahr, als ich dreiundsiebzig wurde.

VATER

Damals brachte ich dir die Platte mit den Katzen.

EMILY

Ja, die Katzen.

VATER

Du hattest eine leichte Herzschwäche an diesem Tag.

EMILY

Ich verbarg nur mit Mühe meine Enttäuschung.

VATER

Deine Enttäuschung?

EMILY

eifrig Nicht, daß es keine wunderbare Platte gewesen wäre, Vater –

VATER

Es war eine ganz besonders gelungene Platte.

EMILY

Ich weiß!

VATER

Wir lachten herzlich! Die Liebesschreie und Kampfrufe –

EMILY

Aber ich hatte damals die erste Herzschwäche, Vater, und ich wußte nicht, wie lange ein Herz im Stande ist, schwach zu bleiben. Ich dachte: Am Ende behält Ursula recht und ich versäume die Möwen.

VATER

Du sagtest kein Wort.

EMILY

Nein, und zuletzt vergaß ich auch alles über den Kampf zwischen dem Angorakater und der Siamesin. Sie beginnen beide wieder zu lachen.

EMILY

etwas atemlos Selbst Ursula und Daisy vergaßen es.

VATER

auch atemlos Ja.

EMILY

Und dann noch einmal in meinem siebenundsiebzigsten Jahr: da quälte mich die Frage: Soll ich nun eine Seereise machen oder nicht? Ich hätte damals eine billige Möglichkeit gehabt, aber ich tat es nicht, ich vertraute dir, Vater! Ursula und Daisy fuhren in diesem Jahr. Sie kamen begeistert zurück.

VATER

Bald darauf starben sie.

EMILY

Ich nicht.

VATER

Du hast recht getan, Emily.

EMILY

Aber wie hast du es nur fertiggebracht, Vater? Gerade in meinem hundertsten Jahr, an meinem hundertsten Geburtstag, der zugleich ein Karfreitag ist –

VATER

nur mit Mühe seinen Stolz verbergendGar nichts. Der junge Mann hatte einfach die Platte.

EMILY

Er hatte sie einfach!

VATER

Gestern bekommen!

EMILY

Was sagte er, als du zur Tür hereinkamst?

VATER

Nichts weiter. Ich fragte: ›Haben Sie die Platte mit den Möwen?‹ Und er sagte ›Ja‹ und gab sie mir.

EMILY

Als hättest du nicht siebenundachtzig Jahre darauf gewartet! Als wären Ursula und Daisy nicht darüber gestorben!

VATER

Nein, das berührten wir gar nicht.

EMILY

mit erhobenem Finger Ihr Spitzbuben!

VATER

Nachher mußte ich mich allerdings erst eine Weile auf eine Bank im Park setzen und die Platte auf meinen Knien in der Sonne drehen, um daran zu glauben.

EMILY

Ich erwachte heute auch besonders frisch.

Ich hörte die Glocken nicht läuten und da wußte ich: Heute ist Karfreitag, der Tag, an dem Vater mir die komische Platte bringt! Ich rollte mich in meinem Stuhl ans Fenster und sah die Scheiben der Galerien gegenüber in der Sonne blitzen. Da wuchs mein Vertrauen.

VATER

Du zweifeltest dann wieder!

EMILY

schelmisch Ich kann karfreitags nie so recht daran glauben, daß Karfreitag ist.

VATER

Aber jetzt, Emily, jetzt glaubst du es doch wieder?

EMILY

Schon als ich dich sah, Vater.

VATER

Und wenn du erst die Möwen hören wirst!

EMILY

Wenn ich die Möwen höre!

VATER

Ich hole den Apparat.

EMILY

Der Schalltrichter liegt daneben.

VATER

aus dem Nebenzimmer Ich weiß Bescheid, Emily.

EMILY

Du vergißt es nie.

VATER

atemlos Ein herrlicher sonniger Tag heute!

EMILY

ist eingeschlafen.

Das Drehen der verrosteten Grammophonkurbel aus dem Nebenzimmer.

VATER

Und nun!Die Nadel kratzt auf der Platte.

VATER

Und nun, Emily!

DIE MÖWEN AUF DER PLATTE

Ihr sollt ihn kreuzigen, kreuzigt ihn, ihr sollt ihn kreuzigen, kreuzigt ihn, ihr sollt –

VATER

Das können nicht die Möwen sein.Er setzt die Nadel an einer andern Stelle wieder an.

DIE MÖWEN

Ihn, ihr sollt ihn kreuzigen, kreuzigt –

VATER

Da interessiert mich der Schluß!Er setzt die Nadel am Ende der Platte an.Gekicher, das zugleich wie der Wind über der See klingt.

VATER

Jetzt wird es komisch, Emily, hörst du?

Jetzt wird es komisch! Das sind die Möwen, Emily!

EMILY

atmet nicht mehr.

Flüchtiger Gast

VERS

als junger Mann verkleidet, klopft an eine Tür.

MÄDCHEN

ihm öffnend Guten Abend!

VERS

Und wie geht es Ihnen?

Ich freue mich, daß Sie mich empfangen.

MÄDCHEN

lebhaft Ja, ich freue mich auch. Ich wäre fast nicht dazu im Stande gewesen, aber jetzt –

VERS

Jetzt?

MÄDCHEN