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»Wer weiß, vielleicht besteht mein Jubel darin, daß ich unauffindbar bin.« In den zwischen 1958 und 1968 entstandenen Erzählungen, die in diesem Band versammelt sind, wird die Wirklichkeit demoliert. Sie ist schlecht, gewalttätig, rücksichtslos und kann erst in der Sprache neu, anders, bewohnbarer aufgebaut werden. »Tatsache ist, daß Ilse Aichinger mit den herkömmlichen Praktiken des Schreibens endgültig gebrochen hat. Die Phantasie der Dichterin verläßt sich nicht länger auf Visionen, sie besteht auf reiner bodenloser Anarchie« (Heinz Piontek).
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Seitenzahl: 253
Ilse Aichinger
Eliza Eliza
Erzählungen 2 (1958–1968)
FISCHER E-Books
My memory I left in a ravine, –
Casual louse that tissues the buckwheat,
Aprons rocks, congregates pears
In moonlit bushels
And wakens alleys with a hidden cough.
Hart Crane
just to leap forward to another
attacked and limited riddle.
Helga Michie
In der alten Remise wohnt mein Vater, mein Vater hält sich auf dem Eis. Wer es nicht glaubt, kann ihn mit mir besuchen, er kann durchs Schilf schlüpfen und im Winter durch den Teer, er sieht ihn gleich von nahe, auf die Ferne geben wir nichts mehr. Mein Vater sitzt auf dem alten Sessel und ist ganz aus Stroh, er wärmt sich die linke Hand an einem Stück Mauer, die rechte an einem Eisenstück, das dort noch steht. Mein Vater ist mit Amundsen gefahren, und er kennt die unteren Meere. Er trägt die alte Uniform, er ist von der alten Bahn und die Leute von der alten Bahn sind fleißig, sie haben die Heubündel immer gerecht verteilt. Sie sind zwischen den Schienen auf und ab gelaufen und man hat ihre Schreie gegen den Schnee gehört und oft hat einer, der weit entfernt von ihnen wohnte, seinem Enkel die Hand auf die Mütze gelegt und gesagt: Hörst du? Hörst du sie? Damals haben sie die Krähenschwärme von den Schienen gehalten, niemand weiß, was das heißt. Krähenschwärme? sagen sie jetzt und lachen. Sie lachen viel zu viel. Man hat damals noch Strohmodelle gehabt und alles mit Stroh probiert: den Schienenbau, die Anlage, die Signale. Davon ist man heute schon weit entfernt, keine Krähen, kein Stroh, aber meinem Vater macht es nichts, er hält sich in der Remise, er hält sich auf dem Eis und ist von der Welt nicht abzubringen. Er hebt die Strohhand und schaut durch das gesprungene Fenster in die weiße Luft. Neben dem Eisenstück steht eine Kiste mit Holz, dazu bückt er sich manchmal und stöbert darin herum. Die Leute von der alten Bahn sind mit allem vertraut gewesen, sie haben die Mühlen und Eulen auf den Strecken gekannt und genau gekannt. Nicht wie einer heute beiläufig sagt, daß die Eulenhorste links sind. Davon hielten sie damals nichts. Links oder rechts, darauf kam es nicht an, aber die Abstände von den Schienen und die Bodenwellen, die Senken dazwischen, die gespannten und ungespannten Drähte, die kleinen Tonnen, die in den Regenlachen eingefroren sind, alles genau. Wege hat es damals auch schon gegeben, aber deshalb? Es ist alles in Stroh gemessen worden, in einfachen und doppelten Schienenbreiten. Und die Leute haben das Stroh gerne geliefert, sie haben es in Säcken zur Remise herunter gebracht, oft weit durch den Regen. Stroh, das war es damals und mein Vater ist heute noch daraus. Er hat keine Wahl, aber er will auch aus nichts anderem sein. Wachs lockt ihn längst nicht mehr. Vielleicht früher manchmal, als Kleinen, wenn er die Bienenhäuser sah und wie künstlich sie die Waben bauen, aber darüber ist er hinaus, er möchte mit niemandem tauschen. Und er beneidet keinen. Manchmal kommt der Heizer und geht in seinen Dienstraum nebenan, er wirft sich auf sein Bett und beginnt zu stöhnen. Einmal ist er aufgestanden und herausgegangen und wollte im Traum mit meinem Vater streiten, aber da war nichts zu machen, mein Vater hat sich mit ihm nicht eingelassen. Es wird einem immer falsch ausgelegt, wenn man sich mit Leuten einläßt, die träumen. Dabei ist es ein mittlerer Heizer, nicht zu stark gebaut. Aber er kam herausgestürzt, mit erhobenen Armen, und schüttelte meinen Vater, daß das Stroh flog. Viel früher war das auch anders. Nicht daß die Leute von der alten Bahn alle dasselbe geträumt hätten, aber soviele Träume es auch gab: ein Streit war möglich. Dann hat man ihre Stimmen oft weit gehört, wie bei der Arbeit, dieselben einsilbigen Schreie, die Enkel haben gezittert und sonst hat es niemanden beunruhigt.
Manchmal besucht meinen Vater ein Müller aus dem Altersheim, er trägt immer noch die weiße Mütze und den weißen Anzug und man sieht ihn oft lange nicht, wenn er durch den Schnee kommt. Er erzählt dann von seinem Weihnachtsfest und von seiner Glasterrasse und mein Vater hört ihm begierig zu, den Kopf gebeugt. Der Müller stellt zur Weihnachtszeit immer Pflanzen und Farngewächse in die Glasterrasse, das zieht Lichter an, Funken, wie bei den alten Zügen. Mein Vater freut sich, wenn der Müller zu ihm kommt, aber der Müller ist nicht der einzige, der ihn besucht. Esel, Rinder, kleine wilde Tiere kommen oft über die Schienen gesprungen und reiben sich schnuppernd und zitternd an seiner alten Uniform. Auch gehörnte und gestreifte Tiere, Hyänen sogar und Gazellen, und die Hirten hinterher. Das ist ein Bild. Die Hirten klagen und schreien und jagen die Tiere aus der Remise wieder hinaus. Einmal hat einer von ihnen meinem Vater im Eifer die Mütze vom Kopf geworfen, aber meinem Vater hat das nichts gemacht, mein Vater ist von der alten Bahn alles gewohnt. Und derselbe Hirte hat auch die Mütze wieder aufgehoben. Wenn das Hirtengeschrei nicht wäre, so wären meinem Vater die Tiere noch lieber als der Müller. Der Müller ist zu breit, er wirft ihn oft fast vom Stuhl und setzt sich nur selten zu seinen Füßen nieder.
Oft verspotten mich die andern und sagen, daß ich einen Strohmann zum Vater hätte. Mit einer Mütze aus Stroh, rufen sie und wissen doch, wie unrecht sie damit haben, mit einem Anzug aus Stroh, und ihre Stimmen kippen dabei über, und mit Knöpfen aus Stroh! Sogar Knopflöcher aus Stroh, hat einmal ein Grober geschrien, als ob es das gäbe: Löcher aus Stroh. Aber sie schreien nur so, weil sie mich beneiden. Weil keiner von ihnen einen Vater hat, der tagaus, tagein in der Remise sitzt und nur manchmal den Kopf stärker hinunterbeugt und mit dem Finger schnippt oder im Holz rührt. Weil keiner von ihren Vätern mit dem Blick auf das helle Eis und durch ein einziges kleines gesprungenes Fenster genug hätte. Ihre Väter brauchen die Baggerwirtschaft und die langen Nächte, aber mein Vater braucht das alles nicht. Er ist aus Stroh, das ist wahr, aber die Leute von der alten Bahn sind alle aus Stroh und die Müller an der Strecke wissen ein Lied davon. Stroh brennt leicht und einmal ist einer brennend abgesprungen und noch lange brennend durch die Disteln gestreift. Der Fluß hat von ihm geleuchtet und die Eisstücke im Fluß, das wagt heute niemand mehr. Keiner ist aus Stroh und wenn ers ist, so gibt er es nicht zu, und schon gar nicht einer von der Bahn, es ist ihnen viel zu gefährlich. Dabei sind Strohköpfe schön, die Luft zieht leicht durch sie hindurch, auch die schwere Luft in der Remise, und mein Vater hat viele Gedanken. Das Eis gibt ihm zu denken, wenn es friert, die Glätte an den Scheiben, wenn es taut, und die Feuchtigkeit, wenn ihn die Glieder schmerzen. Die Hirten und die Tiere und der Müller, alles. Niemand denkt soviel wie er. Der Müller ist aus Fleisch und Bein, aber der Müller denkt nicht. Und die Hirten? Wer erwartet das schon? Einmal war eine kleine Hyäne dabei, die hatte Gedanken im Kopf und war von meinem Vater nicht wegzubringen. Aber das fiel niemandem auf und später ist die Hyäne bei der Sägemühle ertrunken, in demselben Teich, in dem sonst die Bretter schwimmen. Ich will es ihnen nicht als Böswilligkeit auslegen, aber heute weiß niemand mehr viel. Sie tun sich zusammen, sie ziehen mit Musik und Kränzen die Hügel hinauf und wieder hinunter, aber von meinem Vater wissen sie nichts, das liegt ihnen zu fern. Wenn wir uns noch mit dem Stroh abtun sollten, sagen sie, wo kämen wir da hin? Und selbst wenn das Stroh Mützen auf hat und Hosen an, es bleibt doch Stroh. Das sind ihre Reden, solche Sätze hört man, wenn man zufällig im Flur bei ihnen steht und sie von der Arbeit kommen und einen nicht sehen. Für mich sind das Lästerreden und ich bete, wenn ich sie höre. Dann gebe ich die frischgeschliffenen Sicheln ab, oder was sonst solche Leute brauchen, die immer hin und her gehen und wie Hölzer in ihre hellen Zimmer geschnitten sind, und mache mich wieder auf den Weg zur Remise. Ich schlüpfe unter ihren Drähten durch und gleite ihre glatten fruchtlosen Wiesen hinunter und höre ihre Pferde hinter mir wiehern, aber ich bin schon fort. Das Glück jagt mich über die Flußsteine zu meinem Vater aus Stroh. Über mir treiben Wolken oder Planeten oder die laue Luft, aber ich weiß, wohin ich unterwegs bin, und nichts kann mich sonst entzücken.
Manche sagen freilich, ich liefe so schnell, weil ich Angst um meinen Vater hätte. Ich habe keine Angst wegen der Müller und der Heizer und auch nicht wegen der Hirten und ihrer Tiere. Daß Hirten mit Feuer zu tun haben, ist wahr und jedem bekannt, es heißt nicht umsonst Hirtenfeuer. Ein Heizer erst recht, das muß man nicht weiter erklären. Und die Gazellen und die anderen Tiere auch, es muß dann Buschfeuer heißen. Aber ich bin doch froh, wenn der Himmel grau und glasig ist und keine Abend- oder Morgenröte mir Schrecken und Unbehagen ins Herz jagt. Denn ich kann meinen Vater vor nichts schützen, nicht vor der unsinnigen und tatendurstigen Fröhlichkeit der andern und noch weniger vor seinen eigenen Wünschen. Meine Angst sind dabei die Sterne, weil mein Vater gern eine Reise zu den Sternen machen möchte, ich gebe es zu. Aber was ist das, eine Reise zu den Sternen, wie soll ich das verstehen? Mein Vater erklärt es mir nicht. Meint er das Samtige, die umgürteten Wiesen, Schilf und alte Jahre? Ich weiß es nicht. Ich merke nur, daß er mit einem Ruck den Kopf hebt, wenn einer von ihnen an seinem schrägen vereisten Fenster vorbeizieht, und das Stöbern in der Holzkiste sein läßt. Tatsächlich sehen die da oben auch weit entfernten brennenden und kreiselnden Heubündeln ähnlicher als allem anderen. Aber ich kann meinen Vater nicht fragen, ob er sie für seine Gefährten hält, und ich möchte ihn nicht einmal fragen können. Ich möchte nur, daß er noch eine Weile hier bleibt, hier auf seinem alten Sessel in der Remise, still und feucht, wie er ist, und selbst mit dem Modergeruch, der altem Stroh und alten Uniformen immer leicht anhaftet.
Habe ich vergessen, zu erwähnen, wie mein Vater zu den Eiszapfen neigt? Sie sind ihm lieber als alles Holz in seiner Kiste und ich bringe sie ihm, so oft ich kann. Ich breche sie von den Schuppendächern, wahllos, wie es kommt und die Hunde sind hinter mir. Da ist er wieder, der Eiszapfenbrecher, höre ich es von weitem rufen, aber das hilft ihnen nichts. Wenn mein Vater die Eiszapfen um sich hat, in Kreisen und Halbkreisen, hell wie Lanzenschäfte, aber klüger, ist er in seinem Glück. Er rückt dann den Kopf nicht mehr nach den Sternen und die Engel leuchten ihm.
Zwei kleine und etwas graue Leute bewegten sich mühsam die Straße hinauf. Vor ihnen hob die Sonne den Sand hoch, hinter ihnen blies der Wind in das Segeltuch. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, wandten sich einander zu und jeder betrachtete den andern genau und vorsichtig. Es war keine Vertraulichkeit in ihren Blicken, auch kein Versprechen, und es schien ihnen gleichgültig zu sein, was vom Park her über die Schluchten trieb. »Das ist alles westliches Zeug«, sagte der Mann einmal, aber er lispelte stark und es konnte auch anders heißen. Die Frau nickte und zog den durchbrochenen Schal fester um den Hals. »War da nicht ein junger Mensch«, sagte sie, »der uns besuchen wollte? Den haben sie hinter Glas gesetzt.« »Und wann?« »Soviel ich glaube, gestern.« »Kristalle und ihre Bildung«, erwiderte der Mann bekümmert, »in diesem Lande dient man nichts anderem.« Zu ihrer Linken tat sich ein Kirchplatz auf und er mußte seinen Hut festhalten. »Und was geschieht damit?« fragte die Frau. Sie sprach deutlich und sanft, wenn auch etwas fremdländisch. »Wenn ich jemanden zum Kaffee bei mir sehen will, zum Beispiel nach einer Reiterschlacht, so erwarte ich, daß er kommt.« »Natürlich«, sagte der Mann. »Bedeckt mit rotem Staub vielleicht«, fuhr sie erregter fort und mußte niesen, »aber ich erwarte, daß er kommt. Was meinst du?« »Daß solche Erwartungen natürlich sind«, erwiderte er. Kinder mit blauen, roten und grünen Mützen rannten vorbei, sie trugen etwas an Fangschnüren über den Schultern, Schlittschuhe, aber vielleicht auch kleinere Boote, Jagdgewehre, jedes zwei und manche trugen vier. »Junge große Leute«, sagte der Mann, »künftige Walfänger, die besuchen uns auch nicht.« Wieder blieben sie stehen und musterten einander kurz. »Wo bist du aufgewacht?« fragte er.
»Ich war in gelbliches Segeltuch gewickelt, lag unter einer eisigen Brise, Schluß, das war alles.« »Und ich erwachte bei den Rammböcken am Zooeingang.« »Die alten Geschichten helfen niemandem weiter. Es gibt manche, die waren in nichts anderes eingeschlagen als in festes Packpapier.« »Ich weiß«, sagte der Mann, »diese Sachen weiß ich.« »Wenn ich meine alten Schulhefte bedenke«, sagte die Frau, »meine Schrift wie gestochen und wie sie sich über mich beugten und riefen ›Gut Muriel, gut!‹ Und dann schläft man ein und findet sich bei Flußfischern wieder oder in Bahnhofsumgängen.« »So ist es«, sagte er, »uneingestanden oder nicht, übergenug davon.« »Ja«, erwiderte sie schüchtern. Und setzte, mit einem Windstoß um Atem kämpfend, hinzu: »Dabei ist es noch nicht mehr als einen halben Tag her, das ganze. Noch keinen halben Tag. Zu wenig, um Glauben zu finden.« »Glauben?« »Ich meine, die Regierungen zu bestürmen und all das. Wo dein Freund Morton jetzt sitzt.« »Nicht mehr.« »Nicht mehr? Aber dann ist es ja zu spät!« »Du wolltest den Jungen sehen«, sagte er und half ihr ohne aufzuschauen über den Bordstein. »Bei uns sehen.« »Bei uns sehen«, wiederholte er, »und dazu sind wir unterwegs. Hutschränke, Kleiderablagen, Wintervorhänge und Tabletts. Darum geht es uns jetzt. Um den entsprechenden Empfang. Wir wollen die vermeidbaren Zusammenhänge übergehen, wir wollen ihm leicht auf die Spur kommen!« »Das sagst du leicht.« »Ich meine«, setzte er geduldig fort, »ohne Gesprächigkeit und windige Kreuzungen, die haben wir bisher mit Glück vermieden.« »Ja, glaubst du?« erwiderte sie unsicher.
Sie blieben vor einem Fenster stehen. Dieses Fenster sah nicht aus wie ein Schaufenster, sondern wie die Fenster von Läden, die man in Parterrewohnungen verwandelt hat, gewöhnlich aussehen: kein Fensterkreuz, die einzige Scheibe mühevoll und schlecht gereinigt, so daß man die Spuren des Waschleders auf ihnen bemerkte. Und die strähnigen hellen Gardinen, deren Stickmuster wie Risse wirkten, waren nicht hinter den Scheiben, sondern hinter der etwas zu tiefen Fensternische zugezogen. Ja, es war ein ehemaliges Schaufenster und dieses wiederum konnte ein ehemaliges Fenster sein und wer weiß, wie oft es schon erfolglos von dem einen ins andere hinübergewechselt hatte. Noch immer war das Fensterbrett bis zum inneren Ende der Nische künstlich verlängert und mit Samt bezogen. Links und rechts waren die Wände entlang einige gelbliche Blattpflanzen in Tontöpfen aufgebaut, in der Mitte aber standen, von nichts anderem als der schwachen Vormittagssonne beschienen, alte Möbel in Daumengröße: ein Küchenschrank, ein Schreibtisch, ein Spinett, sogar Waschhölzer und Bottiche, drei gedrechselte Stühle um einen ovalen Tisch, ein Ohrensessel, ein Trugbild (so nannte man künstliche Staffeleien zuweilen), auf dem die Festung Finstermünz abgebildet war, von einem schwarzen Tuch halbbedeckt, eine Recamière und ein Schaukelstuhl. Eine der linken unteren Schreibtischladen war aufgezogen, ein Federhalter lag quer darüber. »Hier«, rief die Frau, »hier ist es, hier muß es gewesen sein!« »Wo wir ihn nicht empfangen haben?« »Wohin er nicht kam.« »Es ist tatsächlich Nummer achtundsiebzig«, sagte der Mann, der die alte schmale Haustür neben dem Fenster musterte, »vierundsiebzig, sechsundsiebzig, achtundsiebzig.« »Nehmen wir an, er wäre zu Pferde gewesen«, sagte sie, »er wäre hier unmöglich durch die Tür gekommen.« »Hattest du einen Brief zu schreiben begonnen?« fragte er vorsichtig und deutete auf den von der halboffenen Schublade aufgefangenen Federhalter. »Ich hatte immer Briefe zu schreiben begonnen«, erwiderte sie gereizt, »außer an einigen Mittwochen im Frühherbst, vier oder fünf, man kann sie abzählen!« »Und dann die Wäsche, deine alte Schwäche.« »Sie beweist nichts«, erwiderte sie, während Tränen in ihre Augen stiegen. Der Mann war an das Haustor gegangen und drückte die Klinke herunter, aber das Tor war versperrt. Er drückte auf den einzigen halbverrosteten Klingelknopf in der Mauer, nichts rührte sich. »Alles zu«, sagte er, »und ich bleibe dabei: wir hätten niemals mit den Schiffsanstrichen beginnen sollen, und überhaupt mit allen derartigen Versuchen, Federnauffüllungen, Spinettstunden und so fort.« »Spinettstunden«, rief sie erstickt, »die vier Schülerinnen und eine davon –« »Man hätte dann nichts zum Anlaß nehmen, uns aus nichts ein Urteil bilden können«, sagte er rasch, »und wir könnten jetzt Beschwerde führen wie alle übrigen, wie der Rest der Menschheit, mein Freund Morton«, er versuchte wieder zu läuten, »mein Freund Morton zum Beispiel –« »Laß ihn fort«, sagte sie, »laß endlich deinen Freund Morton aus dem Spiel. Alles ohne ihn von nun an.« Sie preßte die Stirne an das Glas. »Wie verlottert und verkommen es hier aussieht. Kein Ort, den man verlassen könnte, jedenfalls nicht so. Nein, nicht so!« Sie war immer noch den Tränen nahe. »Wo es so aussieht, da kann man nur bleiben.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Bleiben, bleiben! Auch zwischen Waschhölzern und Wasserflecken.« »Ich glaube, jetzt kommt jemand«, sagte der Mann. »Und diese gelben Blumen –« Die Tür öffnete sich rasch und eine große, ziemlich kräftige Frau schaute heraus. Sie trug eine Küchenschürze, einen weißen Schal und eine Hornbrille, ihr graues kurzes Haar stand wirr um den Kopf. »Ich denke, wir kennen uns«, sagte der Mann entschlossen, »sind Sie nicht eine geborene Strauß? Meine Frau wiederum ist nahe dem Geburtshaus von Eduard – haben Sie irgend etwas über sein Schicksal erfahren können?« »Kein Wort«, sagte die Frau an der Tür. »Offen gesagt geht es uns auch nicht um die Verwandten meiner Frau«, sagte der Mann rasch, als sie die Tür wieder schließen wollte. »Sondern?« Sie schaute hinter sich in den Flur, als stünde dort jemand und wandte sich wieder der Straße zu. »Sondern um einen jungen Menschen zu Pferde«, sagte der Mann hastig, »geboren in Erfurt, eigensinnig, unmusisch und liebenswert. Denken Sie, er sagte sich einmal bei uns an und er kam auch. Er sprengte herein wie zwischen steinerne Standbilder und interessierte sich für alles. Aber als er das zweite Mal kommen wollte, und darum geht es – kommen sollte«, unterbrach er sich mit einem Blick auf seine Begleiterin, »kommen sollte, da kam er nicht mehr. Wir hatten alles gerichtet, wir saßen da und warteten. Ich hatte noch die Möglichkeit, mich meinen beiden Hauptinteressen zuzuwenden, aber sie? Mit einem Wort: wissen Sie etwas? Man sagt, sie hätten ihn hinter Glas gesetzt, aber wir können es nicht glauben. Er hatte immer soviel von freier Luft um sich, Sand an den Fersen.« »Ich hätte eher an Seenöte im Zusammenhang mit ihm gedacht«, fügte er nach einer kürzeren Pause hinzu, »aber keineswegs an Nöte die Straße hinauf. Nein, keineswegs.« »Sie sind unverschämt«, sagte die Dame an der Tür mit ihrer klapprigen Stimme, während über ihrer linken Schulter der Kopf eines Pferdes auftauchte, den sie sanft berührte. »Ich finde, Sie gehen zu weit.« »Das hoffe ich«, entgegnete der Mann, »es lag selten genug im Bereich meiner Möglichkeiten. Nicht wahr, Belle?« Er wandte sich wieder an seine nun schweigende Begleiterin. »Und wer die Tageszeitungen liest, kommt auf die merkwürdigsten Gedanken. Ich könnte Ihnen zum Beispiel auf den Kopf zusagen, daß Sie hier Affen und Kiebitze im Fenster hielten. Und daß es noch nicht allzulange her ist. Freilich noch ehe Sie Ihr Schürzchen trugen. Und das Haar hatten Sie damals auch hübscher!« »Sehr viele gingen sicher nie hinein«, setzte er rasch fort, »denn auf die Blattpflanzen legten Sie damals schon Wert. Und die armen Tiere litten an Vereinsamung, fandest du nicht, Belle?« Sie nickte. »Wie geht es Ihnen aber jetzt mit unserem Mobiliar? Haben Sie den Staub herausbekommen? Ich meine nicht den grauen, der von uns ist, das ging sicher leicht. Sondern den rötlichen, den unser junger Reiter auch aus den Waschhölzern fliegen ließ. Und selbst, wenn er ausblieb. Wie erging es Ihnen in dieser Richtung? Haben Sie ein Instrument gefunden und welches oder mußten Sie zur Gewalt greifen? Die Erfindungskräfte sollen für das eine wie für das andere im Zunehmen sein. Ich hörte zum Beispiel von einer Bürste, einer Art Besenbürste –« »Hören Sie auf!« sagte die Frau an der Tür. »Nur weil es mich interessiert«, sagte der Mann. »Ich war immer schon von vielerlei Interessen geplagt, zum Unterschied von Belle«, er wandte sich lächelnd zur Seite, »der Interessengebiete immer fremd blieben. Ja, ich möchte sagen, sowie etwas interessant wurde, verlor sie es aus den Augen, auch in unserer glücklichsten Zeit. Das verschafft einem viel Ruhe, Gelegenheit, sich mit dem Hausrat abzugeben, die man sonst nicht hätte. Auf den Staub zu kommen, ich wäre sonst nie auf den Staub gekommen.« »Was Sie nicht sagen«, entgegnete die Frau an der Tür und versuchte vergeblich, das Pferd in den Flur zurückzudrängen. »Ich hätte auch niemals Gelegenheit gehabt, meine Cousinen zu besuchen«, erklärte der Mann, »drei Cousinen, von denen zwei nur dahindämmerten!« »Voyager«, sagte Belle plötzlich und es gelang ihr zum ersten Mal, den Blick von den Pflanzen und Möbeln zu nehmen. Das Pferd zog die Luft ein. »Allerdings zwei verschiedene Arten von Dämmerungen«, murmelte er, »erstaunlich verschieden.« »Voyager«, sagte Belle noch einmal. »Ich warne Sie«, sagte die Frau an der Tür, während das Pferd an ihr vorbei auf die Straße drängte. Sie umklammerte mit einem ungeschickten und etwas groben Griff seinen Hals. »Ich gäbe Ihnen gerne zu verstehen, was Sie zu verlieren haben!« »Nicht nötig«, erwiderte der Mann und rückte an seinem Hut, »diese Sachen wurden uns schon verschiedene Male von anderer Seite her bekannt gegeben.« »Ja, die wissen wir!« rief Belle. »Wahrscheinlich nicht genau«, erwiderte die Frau keuchend. »Das liegt an unserer Genügsamkeit«, sagte der Mann, »Belle und ich –« »Kommen Sie herein!« rief die Frau und stemmte sich noch kräftiger gegen das Pferd. »Wir sind beide in Gegenden groß geworden, deren Namen zuviel versprachen.« »Das erzählen Sie mir, wenn wir drinnen sind. Wir können alles der Reihe nach betrachten!« »Unmöglich«, sagte der Mann. »Da kommt Henni«, rief Belle und zupfte ihn schüchtern am Ärmel, »der ich meinen Winterpelz borgte!« Sie zeigte, ohne sich umzuwenden, auf das Fenster, in dessen Scheibe sich von der anderen Straßenseite her eine dicke Bettlerin spiegelte. Es sah aus, als schlapfte sie zwischen Spinett und Küchenhölzern dahin. »Dieses grüne Fell, weißt du, von dem ich dir erzählt habe. Aber sie wußte nichts damit anzufangen. Gute Henni, ich hatte sie aus den Augen verloren. Damals war ich ihr auch böse.« Das Pferd schüttelte die Mähne und stand plötzlich auf der Straße. »Mein Gott, was es für Zufälle gibt«, sagte Belle glücklich. »Und immer, wenn man es am wenigsten erwartet.« Das Pferd ging auf sie zu und roch an ihrem Hut. »Ja, es ist noch derselbe«, sagte Belle, »ob du es glaubst oder nicht, ich habe nur den Schal gewechselt.« »Henni, sieh dir das an«, rief sie und sah über ihre Schulter. Die Bettlerin auf der anderen Seite stutzte, legte erfreut die Hand über die Augen und versuchte eilig die Straße zu überqueren. »Wollen wir jetzt?« sagte der Mann ruhig. »Nur einen Augenblick«, erwiderte Belle. Die Bettlerin begann aufgeregt zu winken. »Hallo, ihr beiden«, rief sie, »wer hätte das gedacht? Als wir noch Federn spitzten, Belle, meine Liebe!« Belle lachte. »Verlaßt ihr das Nest?« »Diesmal freiwillig«, entgegnete der Mann und half Henni auf den Gehsteig, »das Spinett, die Erinnerungsblätter, die süße Muse!« »Dann könntet ihr mich ein Stück mitnehmen«, sagte Henni, die etwas außer Atem war, »die Gegend hier ist abgegrast.« Das Pferd stampfte. »Bis zur drittnächsten Ecke, das genügt«, sagte sie, während er ihr und Belle vorsichtig hinaufhalf. Er nickte und schwang sich zwischen die beiden. »Und woran soll man sich halten?« Das Pferd fiel in Schritt. Es hatte den Gehsteig verlassen und strebte der Mitte der Straße zu. »Wir Reisenden«, murmelte Belle. »Sie werden es zu verantworten haben«, rief die Frau in der Tür. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie auf die Straße, blieb aber in ihrer weißen Schürze auf der Schwelle stehen. »Sie werden sehen, wohin Sie geraten! Und Ihren jungen Helden, Ihren Reitersmann?« »Die Arme«, sagte Belle in die Wintersonne hinein, die vor ihnen am Himmel erschien. Das Pferd hatte die Höhe der Straße erreicht, es fiel jetzt in Trab.
Auf dem Fächer vor dem Haus hatte sich eine Familie niedergelassen. Die jüngere ihrer beiden Töchter saß am Rande des Fächers und ließ ihre Beine in die Luft hängen, während die ältere sich bemühte, über die Stäbe zu gehen, ohne die Seide zu verletzen. Von Zeit zu Zeit traten zwei Diener aus dem Haustor, beobachteten eine Weile schweigend, was geschah, und baten die vier Leute, den Fächer zu verlassen. »Eliza«, rief dann die Mutter vom Griff her, neben dem sie saß und ihn polierte, aber da keines der Mädchen den Kopf hob, wußte man nicht einmal, ob eine von ihnen so hieß. »Eliza«, rief die Mutter noch einmal. Die Diener gingen in das Haus zurück, kamen aber nach wenigen Augenblicken wieder heraus und begannen zu klagen. Der Vater der Familie hob abwehrend beide Arme und versenkte sich gleich darauf wieder in die kleine Schrift, die er auf den Knien hielt. Die Diener gingen noch einmal ins Haus und versuchten, als sie danach wieder herauskamen, mit Befehlen und Drohungen die Familie von dem Fächer zu jagen. Aber auch das war vergeblich. Vater und Mutter sahen nicht auf und eines der Mädchen, das ältere, sagte, indem es mit dem Kinn auf den Vater deutete: »Er hat mit dem Tausendmal-Lesen begonnen.« »Was ist das?« riefen die Diener, während sich ein leichter Wind erhob. »Das ist immer dasselbe«, rief das ältere Mädchen, »das ist immer ganz dasselbe!« Darauf gingen die Diener wieder ins Haus.
Die Dame, der sie dienten, stand solange an einem Fenster ihres Hauses im ersten Stockwerk und sah zu. Sie war eine dicke Person mit kohlschwarzem Haar, das sie nach der Mode eines früheren Jahrhunderts aufgesteckt trug. Eines Jahrhunderts? Nein, genauer: der zweiten Hälfte des siebenten. In ihrer Familie hatte sich eine Modezeitschrift aus diesem Jahrhundert beständig weitervererbt, bis sie eines Abends in ihren Händen zu Staub zerfallen war. Seither trug sie die Frisur, denn das war das einzige gewesen, was noch deutlich zu sehen blieb, ehe sie die Hände rührte und alles zerfiel: eine Dame, ihr sonst unähnlich, aber mit der gleichen Frisur. Nach diesem Bild im Staube richtete sie sich und unterzog sich dafür jeder Mühe. Es war auch unsicher, wofür sie sich sonst irgendeiner Mühe unterziehen sollte, denn sie hatte keinen Vater, kein Kind und nicht einmal eine Cousine. Den Göttern hatten die Ihren schon vor der Geburt ihres Großvaters abgeschworen. Sie war nie auf die Idee gekommen, es ihnen zu verübeln. Ihnen und den Ihren, schrieben fremde höfliche Leute manchmal und sie las es so ernst, wie sie es nahm. Ich und die Meinen, ich und keine Götter. Sie war immer höflich genug, im Gespräch mit sich selbst fremde Ahnungslosigkeit in die notwendige Ahnung zu verwandeln. Ihren Dienern gegenüber war sie schüchtern und hatte ihnen deshalb keine Weisung gegeben. Nun drohten sie und klagten ohne Weisung und der eine von ihnen ging rund um den Fächer und berührte das jüngere Mädchen am Knie. Aber das Mädchen sah nicht auf.
Der Fächer lag auf einem losen Gestell von schwarzem, glänzendem Holz, das man eigens für ihn vor längerer Zeit angefertigt hatte. Jeder seiner Rippen entsprach eine Kerbe in dem Gestell und der Griff hatte ein Bett. Er war nicht der schönste von allen Fächern seiner Dame, wenn auch einer der schönsten, aber er war der breiteste und am schwersten über die Hintertreppe in den Garten zu bringen. Er mußte, darauf deutete seine breite und etwas ungeschickte Form hin, kurz vor Beginn der dritten Periode entstanden sein (es gab bisher im ganzen vier), während der bei den Fächererzeugern der innere Sinn für das Maß der Rippen zu schwinden begonnen hatte. Aber gerade seine Maße, die jeder Kenner als leicht übertrieben und nur eben noch als edel empfand, gaben ihm bei den Kennern der Kenner seinen Wert, und deshalb liebte sie ihn auch etwas mehr als alle anderen Fächer, die sie besaß.