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»Wer ist fremder, ihr oder ich?« Ilse Aichingers 1948 erstmals erschienener Roman über rassisch verfolgte Kinder während der Hitlerzeit irritiert noch immer: In verfremdenden Bildern erzählt er von der Angst, von der Bedrohung und der widerständigen Hoffnung der »Kinder mit den falschen Großeltern«. Diese Kinder, die nach den ›Nürnberger Gesetzen‹ als jüdisch oder – wie die Hauptfigur Ellen – als halbjüdisch gelten, leiden unter Isolation, Demütigung und Verhöhnung. Aber nachdem ihre Hoffnung auf Auswanderung zunichte geworden ist, erwächst ihnen eine ganz andere, die »größere Hoffnung«. Dazu gehört die Gewissheit, »daß irgendwann der Abschied endet und das Wiedersehen beginnt«, und dazu gehört auch, dass Liebe und Leiden eins werden: »Peitscht uns, tötet uns, trampelt uns nieder, einholen könnt ihr uns erst dort, wo ihr lieben oder geliebt werden wollt.« Diese Hoffnung haben die Opfer ihren Mördern voraus.
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Seitenzahl: 323
Ilse Aichinger
Die größere Hoffnung
Roman
FISCHER E-Books
Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schiffahrtslinien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre Zerrissenheit.
Die Dunkelheit landete und bewegte sich langsam gegen Norden. Wie eine große Karawane zog sie die Wüste hinauf, breit und unaufhaltsam. Ellen schob die Matrosenmütze aus dem Gesicht und zog die Stirne hoch. Plötzlich legte sie die Hand auf das Mittelmeer, eine heiße kleine Hand. Aber es half nichts mehr. Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa eingelaufen.
Schwere Schatten sanken durch die weißen Fensterrahmen. Im Hof rauschte ein Brunnen. Irgendwo verebbte ein Lachen. Eine Fliege kroch von Dover nach Calais.
Ellen fror. Sie riß die Landkarte von der Wand und breitete sie auf den Fußboden. Und sie faltete aus ihrem Fahrschein ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel in der Mitte.
Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder. Kinder, mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war. Das Schiff war vollbeladen. Es fuhr die Westküste entlang und nahm immer noch Kinder auf. Kinder mit langen Mänteln und ganz kleinen Rucksäcken, Kinder, die fliehen mußten. Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen.
Kinder mit falschen Großeltern, Kinder ohne Paß und ohne Visum, Kinder, für die niemand mehr bürgen konnte. Deshalb fuhren sie bei Nacht. Niemand wußte davon. Sie wichen den Leuchttürmen aus und machten große Bogen um die Ozeandampfer. Wenn sie Fischerbooten begegneten, baten sie um Brot. Um Mitleid baten sie niemanden.
In der Mitte des Ozeans streckten sie die Köpfe über den Schiffsrand und begannen zu singen. »Summ, summ, summ, Bienchen summ herum –«, »It’s a long way to Tipperary –«, »Häschen in der Grube« und noch vieles andere. Der Mond legte eine silberne Christbaumkette über das Meer. Er wußte, daß sie keinen Steuermann hatten. Der Wind fuhr hilfreich in ihre Segel. Er fühlte mit ihnen, er war auch einer von denen, für die niemand bürgen konnte. Ein Haifisch schwamm neben ihnen her. Er hatte sich das Recht ausgebeten, sie vor den Menschen beschützen zu dürfen. Wenn er Hunger bekam, gaben sie ihm von ihrem Brot. Und er bekam ziemlich oft Hunger. Auch für ihn konnte niemand bürgen.
Er erzählte den Kindern, daß Jagd nach ihm gemacht wurde, und die Kinder erzählten ihm, daß Jagd nach ihnen gemacht wurde, daß sie heimlich fuhren und daß es sehr aufregend war. Sie hatten keinen Paß und kein Visum. Aber sie wollten um jeden Preis hinüberkommen.
Der Haifisch tröstete sie, wie nur ein Haifisch trösten kann. Und er blieb neben ihnen.
Ein U-Boot tauchte vor ihnen auf. Sie erschraken sehr, aber als die Matrosen sahen, daß manche von den Kindern Matrosenmützen trugen, warfen sie ihnen Orangen zu und taten ihnen nichts.
Als der Haifisch den Kindern gerade einen Witz erzählen wollte, um sie von ihren traurigen Gedanken abzulenken, brach ein furchtbarer Sturm los. Der arme Haifisch wurde von einer riesigen Woge weit hinausgeschleudert. Entsetzt riß der Mond die Christbaumkette zurück. Kohlschwarzes Wasser spritzte über das kleine Schiff. Die Kinder schrien laut um Hilfe. Niemand hatte für sie gebürgt. Keines von ihnen hatte einen Rettungsgürtel.
Groß und licht und unerreichbar tauchte die Freiheitsstatue aus dem Schrecken. Zum ersten und zum letzten Male.
Ellen schrie im Schlaf. Sie lag quer über der Landkarte und wälzte sich unruhig zwischen Europa und Amerika hin und her. Mit ihren ausgestreckten Armen erreichte sie Sibirien und Hawaii. In der Faust hielt sie das kleine Papierschiff und sie hielt es fest.
Die weißen Bänke mit den roten Samtpolstern liefen erstaunt im Kreis. Die hohen, glänzenden Türen zitterten leise. Die bunten Plakate wurden dunkel vor diesem Schmerz.
Ellen weinte. Ihre Tränen befeuchteten den Pazifischen Ozean. Ihre Matrosenmütze war vom Kopf gefallen und bedeckte einen Teil des Südlichen Eismeers. Es lag sich hart genug auf dieser Welt. Wäre das kleine Papierschiff nicht gewesen!
Der Konsul hob den Kopf von seiner Arbeit.
Er stand auf, ging um den Schreibtisch und setzte sich wieder nieder. Seine Uhr war stehengeblieben und er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es mußte auf Mitternacht gehen. Nicht mehr heute und noch nicht morgen, soviel war sicher.
Er schlüpfte in den Mantel und löschte das Licht. Gerade als er den Hut aufsetzen wollte, hörte er es. Er behielt den Hut in der Hand. Es war das Schreien einer Katze; hilflos und unentwegt. Es machte ihn zornig.
Möglicherweise kam es aus dem Raum, in welchem die Leute tagsüber darauf warteten, abgewiesen zu werden. Diese vielen, vielen Leute mit den weißen, erwartungsvollen Gesichtern, die alle auswandern wollten, weil sie Angst hatten und weil sie noch immer daran dachten, die Welt wäre rund. Unmöglich, ihnen zu erklären, daß die Regel eine Ausnahme und die Ausnahme keine Regel war. Unmöglich, ihnen den Unterschied zwischen dem lieben Gott und einem Konsulatsbeamten klarzumachen. Sie hörten nicht auf zu hoffen, das Unwägbare in der Hand zu wägen und das Unberechenbare zu berechnen. Sie hörten einfach nicht auf.
Der Konsul beugte sich noch einmal aus dem Fenster und sah hinunter. Da war niemand. Er schloß hinter sich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Mit großen Schritten durchquerte er die Vorräume. Mehr Vorräume als Räume, wenn man alles zusammennahm. Mehr Hoffnung, als man erfüllen konnte. Viel zuviel Hoffnung. Wirklich, zuviel?
Und doch tat die Stille weh. Schwarz in schwarz war die Nacht. Warm und dicht ineinandergewebt wie ein Trauerkleid. Hofft, ihr Leute, hofft! Webt helle Fäden dazwischen! Ein neues Muster muß werden auf der anderen Seite.
Der Konsul ging schneller. Er sah geradeaus und gähnte. Aber ehe er noch die Hand vor den Mund halten konnte, flog er der Länge nach hin. Er war über ein Hindernis gestolpert.
Der Konsul sprang auf. Er fand den Schalter nicht gleich. Als er das Licht andrehte, schlief Ellen noch immer. Ihr Mund stand offen. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Fäuste geballt. Ihr Haar war geschnitten wie die Mähne eines Ponys, und auf dem Rand ihrer Mütze stand mit kleinen, goldenen Buchstaben »Schulschiff Nelson«. Sie lag zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Freiheitsstatue und war nicht wegzubringen. Das war alles, was man mit einer Beule über dem linken Auge halbwegs ausnehmen konnte. Der Konsul wollte mit lauter Stimme etwas Unfreundliches sagen, preßte aber die Hand vor den Mund. Er hob seinen Hut vom Boden auf und streifte alles glatt. Und er kam ganz langsam auf Ellen zu. Sie atmete tief und schnell, als versäumte sie mit jedem Atemzug etwas viel Wichtigeres.
Der Konsul schlich auf den Fußspitzen rund um die Landkarte. Er bückte sich, hob Ellen sanft von der harten Welt und legte sie auf die Samtpolster. Sie seufzte mit geschlossenen Augen und grub den Kopf in seinen hellgrauen Mantel, einen runden, ganz harten Kopf. Als dem Konsul beide Füße eingeschlafen waren, nahm er Ellen auf die Arme, sperrte alle Türen wieder auf und trug sie vorsichtig in sein Zimmer.
Es schlug eins, die Stunde, zu der keine Uhr der Welt sich bewegen ließ, mehr zu sagen. Die Stunde, zu der es entweder schon zu spät oder noch zu früh ist, die Stunde nach zwölf. Ein Hund bellte. August. Auf einer Dachterrasse wurde noch getanzt. Irgendwo schrie ein Nachtvogel.
Der Konsul wartete geduldig. Er hatte Ellen in einen Lehnstuhl gelegt. Mit einer Zigarre zwischen den Fingern, die Beine weit von sich gestreckt, saß er ihr gegenüber. Er hatte die feste Absicht, geduldig zu sein. Er hatte sein ganzes Leben lang keinen unbekümmerteren Besuch empfangen.
Ellens Kopf lag auf der Lehne. Grenzenloses Vertrauen war in ihrem Gesicht. Die Stehlampe enthüllte es. Der Konsul zündete sich eine Zigarre an der andern an. Er holte ein großes Stück Schokolade aus dem Schrank und legte es vor Ellen auf den Rauchtisch; außerdem bereitete er einen Rotstift vor. Was er noch fand, war ein Berg bunter Prospekte. Doch das alles konnte Ellen nicht bewegen, zu erwachen. Ein einziges Mal drehte sie den Kopf auf die andere Seite – erregt richtete sich der Konsul auf – aber da schlief sie schon wieder.
Es schlug zwei. Noch immer rauschte der Brunnen. Der Konsul war todmüde. Erstaunt lächelte das Bild des verstorbenen Präsidenten auf ihn herab. Der Konsul versuchte diesen Blick zu erwidern. Aber es war ihm nicht mehr möglich.
Als Ellen erwachte, vermißte sie sofort die Landkarte. Keine Rede, daß ein Stück Schokolade und ein schlafender Konsul sie darüber hinwegtrösten konnten. Sie faltete die Stirn und zog die Knie an sich. Dann stieg sie über die Lehne und rüttelte den Konsul an den Schultern.
»Wo haben Sie die Landkarte hingetan?«
»Die Landkarte?« sagte der Konsul verwirrt, zog seine Krawatte zurecht und strich sich mit der Hand über die Augen.
»Wer bist du?«
»Wo ist die Landkarte?« wiederholte Ellen drohend.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Konsul ärgerlich. »Oder meinst du, ich hätte sie versteckt?«
»Vielleicht«, murmelte Ellen.
»Wie kannst du das von mir glauben?« sagte der Konsul und streckte sich. »Welcher Mensch wollte die ganze Welt verstecken?«
»Da kennen Sie die großen Leute schlecht!« erwiderte Ellen nachsichtig. »Sind Sie der Konsul?«
»Der bin ich.«
»Dann –«, sagte Ellen, »dann –«; ihre Lippen zitterten.
»Was ist dann?«
»Dann haben Sie doch die Landkarte versteckt.«
»Was soll der Unsinn?« sagte der Konsul zornig.
»Sie können es gutmachen.« Ellen wühlte in ihrer Schultasche. »Ich habe meinen Zeichenblock mitgebracht und eine Feder. Falls Ihr Schreibtisch schon versperrt ist.«
»Was soll ich damit?«
»Das Visum«, lächelte Ellen ängstlich, »bitte schreiben Sie mir das Visum! Meine Großmutter hat gesagt: Es liegt an Ihnen, Sie müssen nur unterschreiben. Und meine Großmutter ist eine gescheite Frau, das können Sie mir glauben!«
»Ja«, sagte er, »ich glaube es dir.«
»Gott sei Dank!« lächelte Ellen. »Aber weshalb haben Sie mir dann das Visum verweigert? Meine Mutter kann nicht allein über das Meer fahren. Wem soll sie das Haar bürsten und die Socken waschen? Wem soll sie abends ein Märchen erzählen, wenn sie allein ist? Wem soll sie einen Apfel schälen, wenn ich nicht mitfahren kann? Und wem sollte sie eine Ohrfeige geben, wenn es ihr plötzlich zuviel wird? Ich kann meine Mutter nicht allein fahren lassen, Herr Konsul! Und meine Mutter ist ausgewiesen.«
»Das ist nicht so einfach«, erklärte der Konsul, um Zeit zu gewinnen.
»Und alles«, sagte Ellen, »weil niemand für mich bürgt. Der für meine Mutter bürgt, der bürgt nicht für mich. Das ist eine Geldfrage, sagt meine Großmutter, lächerlich, sagt meine Großmutter, ein Spatz mehr oder weniger, sagt meine Großmutter, das Kind bleibt nicht, das Kind geht auf und davon, der Konsul ist an allem schuld!«
»Sagt deine Großmutter?«
»Ja. Niemand kann für mich garantieren! Jeder Eisschrank hat einen, der für ihn garantiert, nur ich hab’ niemanden. Meine Großmutter sagt: das stimmt, man kann nicht für mich bürgen, aber für wen kann man schon bürgen, sagt meine Großmutter, wenn er lebendig ist? Der Haifisch und der Wind, die haben auch niemanden, der für sie bürgt, aber der Haifisch und der Wind, die brauchen auch kein Visum!«
»Wollen wir jetzt sprechen wie vernünftige Leute?« sagte der Konsul ungeduldig.
»Ja!« erklärte Ellen bereitwillig. Und sie begann ihm die Geschichte von dem Haifisch zu erzählen, von den Kindern ohne Visum und von dem großen Sturm. Dazwischen sang sie ihm auch ein Lied vor. Dann erzählte sie wieder weiter. Laut und ängstlich drang ihre Stimme aus dem großen Lehnstuhl. Sie saß tief im Winkel, und ihre geflickten Schuhsohlen starrten ihm flehend ins Gesicht.
Als sie zu Ende war, bot er ihr Schokolade an.
»Wäre es nicht möglich, daß du alles geträumt hast?« fragte er vorsichtig.
»Geträumt?« rief Ellen. »Keine Spur! Dann hätte ich ja auch geträumt, daß die Kinder im Hof nicht mit mir spielen wollen, dann hätte ich geträumt, daß meine Mutter ausgewiesen ist und ich allein bleiben muß, dann hätte ich geträumt, daß niemand für mich bürgt, dann hätte ich nur geträumt, daß Sie die Landkarte versteckt haben und daß mein Visum verweigert ist!«
»Alle Kinder schlafen«, sagte der Konsul langsam, »nur du nicht.«
»Bei Nacht sind weniger Leute auf dem Konsulat«, erklärte Ellen, »bei Nacht braucht man keine Nummer, bei Nacht geht alles viel schneller, weil es keine Amtsstunden gibt!«
»Gute Idee!«
»Ja!« lachte Ellen. »Der Schuster in unserem Haus, der tschechische Schuster, wissen Sie, der hat gesagt: Geh zum Konsul, der Konsul ist ein guter Mann, der Konsul bürgt für den Wind und die Haifische, der Konsul bürgt auch für dich!«
»Wie bist du hier hereingekommen?« fragte der Konsul schärfer.
»Ich habe dem Portier einen Apfel gegeben.«
»Aber vielleicht hast du doch geträumt? Du mußt jetzt nach Hause gehen.«
»Nach Hause«, beharrte Ellen, »das ist immer dort, wo meine Mutter ist. Und meine Mutter fährt morgen über das Meer, meine Mutter, die ist übermorgen schon dort, wo alles blau wird, wo der Wind sich schlafen legt und die Delphine um die Freiheitsstatue springen!«
»Die Delphine springen nicht um die Freiheitsstatue«, unterbrach sie der Konsul.
»Das macht nichts.« Ellen legte den Kopf auf die Arme. »Ich bin müde, ich sollte schon schlafen, weil ich doch morgen über das Meer fahre.«
Ihr Vertrauen war unerbittlich. Wie Wüstenwind wehte es durch den kühlen Raum.
»Das Visum!«
»Du hast Fieber«, sagte der Konsul.
»Bitte das Visum!«
Sie hielt ihm den Zeichenblock dicht unter das Gesicht. Ein weißes Blatt war eingespannt, darauf stand mit großen, ungeschickten Buchstaben »Visum«. Rundherum waren bunte Blumen gezeichnet, Blumen und Vögel, und darunter lief ein Strich für die Unterschrift.
»Ich habe alles mitgebracht, Sie müssen nur unterschreiben. Bitte, lieber Herr Konsul, bitte!«
»Das ist nicht so einfach.« Er stand auf und schloß das Fenster. »Nicht so einfach wie bei einer Strafaufgabe. Komm«, sagte er, »komm jetzt! Auf der Gasse will ich dir alles erklären.«
»Nein!« schrie Ellen und rollte sich auf dem Lehnstuhl zusammen. Ihre Wangen brannten. »Bitte, der Schuster hat gesagt, der Schuster hat doch gesagt: Der für den Wind und die Haifische bürgt, der bürgt auch für mich!!«
»Ja«, sagte der Konsul, »ja, der für den Wind und die Haifische bürgt, der bürgt auch für dich. Aber der bin nicht ich.«
»Ich glaub’ Ihnen kein Wort«, flüsterte Ellen. »Und wenn Sie jetzt nicht unterschreiben –.« Sie zitterte. Der Schuster hatte gelogen. Der Schuster hatte gesagt: der Konsul – aber der Konsul schob es wieder auf einen andern. Und ihre Mutter saß zu Hause und konnte die Koffer nicht packen, weil sie Angst hatte. Und es war die letzte Nacht.
»Wenn Sie jetzt nicht unterschreiben –«, Ellen suchte nach einer schweren Drohung. Ihre Zähne schlugen aufeinander. »Dann will ich ein Delphin sein. Dann schwimm ich neben dem Dampfer her und dann spring ich um die Freiheitsstatue, ob Sie wollen oder nicht!«
Sie verstummte. Unberührt lag die Schokolade auf dem runden Rauchtisch, unberührt lagen die bunten Prospekte. »Mich friert!« murmelte Ellen. Ihr Mund stand offen. Sie rührte sich nicht. Als der Konsul auf sie zukam, stieß sie mit den Füßen nach ihm. Er wollte sie packen, aber sie schwang sich blitzschnell über die Lehne. Er rannte hinter ihr her. Sie schlüpfte unter dem Schreibtisch durch, stieß zwei Sessel um und umklammerte mit beiden Armen den Ofen. Dazwischen drohte sie immer wieder, sich in einen Delphin zu verwandeln. Tränen strömten über ihr Gesicht.
Als er sie endlich gefaßt hatte, schien es ihm, daß sie glühte. Heiß und schwer hing Ellen in seinen Armen. Er wickelte sie in eine Decke und legte sie in den Lehnstuhl zurück.
»Die Landkarte, bitte, die Landkarte!«
Er ging in den Vorraum, nahm die Karte vom Boden, strich sie glatt und holte sie herein. Er breitete sie auf den Rauchtisch.
»Es dreht sich!« sagte Ellen.
»Ja«, lächelte er unruhig, »die Welt dreht sich. Hast du es nicht schon in der Schule gelernt? Die Welt ist rund.«
»Ja«, antwortete Ellen schwach, »die Welt ist rund.« Sie tastete nach der Karte.
»Glaubst du jetzt, daß ich nichts versteckt habe?«
»Bitte«, sagte Ellen zum letzten Mal, »bitte unterschreiben Sie das Visum!« Sie hob den Kopf und stützte sich auf die Ellbogen. »Dort der Tintenstift, das genügt. Wenn Sie unterschreiben, werde ich nie mehr Äpfel stehlen. Ich will alles tun, was ich für Sie tun kann! Ist es wahr, daß man an der Grenze Orangen bekommt und ein Bild vom Präsidenten, ist es wirklich wahr? Und wie viele Rettungsboote sind auf den großen Dampfern?«
»Jeder ist sein eigenes Rettungsboot«, sagte der Konsul. »Und jetzt habe ich eine Idee!« Er nahm den Zeichenblock auf die Knie.
»Du selbst mußt dir das Visum geben. Du selbst mußt es unterschreiben!«
»Wie kann ich das?« fragte Ellen mißtrauisch.
»Du kannst es. Jeder Mensch ist im Grunde sein eigener Konsul. Und ob die weite Welt wirklich weit ist, das liegt an jedem Menschen.«
Ellen starrte ihn verwundert an.
»Siehst du«, sagte er, »alle die vielen, denen ich das Visum ausgestellt habe, alle diese vielen werden enttäuscht sein. Der Wind geht nirgends schlafen.«
»Nirgends?« wiederholte sie ungläubig.
»Wer sich nicht selbst das Visum gibt«, sagte der Konsul, »der kann um die ganze Welt fahren und kommt doch nie hinüber. Wer sich nicht selbst das Visum gibt, bleibt immer gefangen. Nur wer sich selbst das Visum gibt, wird frei.«
»Ich will mir das Visum geben«, Ellen versuchte sich aufzurichten, »aber wie soll ich das machen?«
»Du mußt unterschreiben«, sagte er, »und diese Unterschrift bedeutet ein Versprechen, das du dir gibst: Du wirst nicht weinen, wenn du von deiner Mutter Abschied nimmst, ganz im Gegenteil: du wirst deine Großmutter trösten, die wird das nötig haben. Du wirst auf keinen Fall mehr Äpfel stehlen. Und was auch geschieht, du wirst immer daran glauben, daß irgendwo alles blau wird! Was auch immer geschieht.«
Fiebernd unterschrieb Ellen ihr eigenes Visum.
Der Morgen dämmerte. Sanft wie ein geübter Einbrecher zog er sich an den Fenstern hoch. Ein Vogel begann zu singen.
»Siehst du«, sagte der Konsul, »der stellt auch keine Bedingungen.«
Ellen verstand ihn nicht mehr.
Milchwagen rollten draußen auf den Gassen. Von neuem begann sich alles voneinander abzuheben. Und in den großen Parks tauchten die ersten Herbstblumen bunt und lässig aus dem Nebel.
Der Konsul ging zum Telefon. Er legte die Hände an die Schläfen und strich das Haar zurück. Er schüttelte den Kopf, wippte dreimal auf den Fußspitzen, schloß die Augen und riß sie wieder auf. Er hob den Hörer ab, drehte eine falsche Nummer und warf ihn wieder hin.
Schritte klapperten über den Hof. Noch immer rauschte der Brunnen. Der Konsul wollte sich etwas notieren, fand aber sein Notizbuch nicht. Er ging auf Ellen zu und zog den Schülerausweis aus ihrer Manteltasche. Dann bestellte er das Auto, stellte die umgeworfenen Sessel auf und zog den Teppich glatt. Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer hell. Der Konsul faltete die Landkarte, wickelte die Schokolade hinein und öffnete Ellens Schultasche. Noch einmal hielt er den Zeichenblock dicht vor seine Augen: Sterne, Vögel und bunte Blumen und darunter Ellens große, steile Unterschrift. Das erste wirkliche Visum während seiner ganzen Amtszeit.
Er seufzte, knöpfte Ellens Mantel zu und setzte ihr die Mütze vorsichtig auf den Kopf. Ihr Gesicht war wild und finster, aber darüber stand jetzt wieder golden und ganz deutlich »Schulschiff Nelson«.
Der Konsul blies noch einmal ganz leicht über das Visum, wie um es zu vollenden und lebendig zu machen. Dann schob er es in die Tasche, schloß sie und hing sie Ellen um. Auf seinen Armen trug er sie die Stiegen hinab, bettete sie in den Fond des Autos und gab dem Chauffeur die Adresse. Der Wagen bog um die Ecke.
Plötzlich legte der Konsul die Hand über die Augen und rannte mit großen Schritten die Treppe wieder hinauf.
Der Mond wurde blaß.
Ellen griff nach dem Gesicht ihrer Mutter. Mit beiden Armen griff sie nach dem heißen, von Tränen aufgebrannten Gesicht unter dem schwarzen Hut. Nach diesem Gesicht, das die Welt wahr und warm gemacht hatte, nach diesem Gesicht von Anfang an, nach diesem einen Gesicht. Noch einmal griff Ellen flehend nach dem Allerersten, nach dem Hort der Geheimnisse, aber das Gesicht ihrer Mutter war unerreichbar geworden, wich zurück und wurde blaß wie der Mond am dämmernden Morgen.
Ellen schrie auf. Sie warf die Decke ab, versuchte sich aufzurichten und griff ins Leere. Mit ihren letzten Kräften rollte sie das Gitter hinab. Sie fiel aus dem Bett. Und sie fiel tief.
Niemand machte den Versuch, sie aufzuhalten. Nirgends war ein Stern, um sich daran zu klammern. Ellen fiel durch die Arme aller ihrer Puppen und aller ihrer Teddybären. Wie ein Ball durch den Reifen fiel sie durch den Kreis der Kinder im Hof, die sie nicht mitspielen ließen. Ellen fiel durch die Arme ihrer Mutter.
Der halbe Mond fing sie auf, kippte heimtückisch wie alle Kinderwiegen und schleuderte sie wieder von sich. Keine Spur davon, daß die Wolken Federbetten waren und der Himmel ein blaues Gewölbe. Der Himmel war offen, tödlich offen, und es wurde Ellen im Fallen deutlich, daß Oben und Unten aufgehört hatten. Wußten sie es noch immer nicht? Diese armen großen Leute, die das Fallen nach unten springen und das Fallen nach oben fliegen nannten. Wann würden sie es begreifen?
Fallend durchstieß Ellen die Bilder des großen Bilderbuchs, das Netz der Gaukler.
Ihre Großmutter hob sie auf und legte sie in ihr Bett zurück.
Wie Fieberkurven stiegen Sonne und Mond, Tage und Nächte, unaufhaltsam, heiß und hoch und sanken wieder in sich.
Als Ellen die Augen aufschlug, stützte sie sich auf die Ellbogen und sagte:
»Mutter!«
Sie sagte es laut und freundlich. Dann wartete sie.
Das Ofenrohr krachte und verbarg sich tiefer hinter den dunkelgrünen Kacheln. Sonst blieb alles still. Das Grau wurde dichter.
Ellen schüttelte leicht den Kopf, wurde schwindlig und fiel in die Kissen zurück. Durch den oberen Teil des Fensters sah sie ein Geschwader von Zugvögeln, geordnet wie auf einer Zeichnung. Dann waren sie wieder wegradiert. Ellen lachte leise. Wirklich wie auf einer Zeichnung!
Aber Sie radieren zuviel! hätte die alte Lehrerin den lieben Gott gewarnt. Zuletzt bleibt ein Loch!
Aber meine Liebe, hätte da der liebe Gott gesagt, gerade das habe ich gewünscht. Schauen Sie durch, bitte!
Entschuldigen Sie, jetzt verstehe ich alles!
Ellen schloß die Augen und riß sie erschrocken wieder auf. Das Fenster war lange nicht gewaschen worden. Man sah schlecht durch. Lange graue Striche liefen wie eingetrocknete Tränen die Scheiben hinab. Ellen zog die Füße unter die Decke zurück. Sie waren eiskalt und schienen nicht ganz dazuzugehören. Sie streckte sich. Sie mußte gewachsen sein. Sie wuchs meistens über Nacht. Aber irgend etwas war nicht in Ordnung mit diesem Frühlingsmorgen. Vielleicht – vielleicht war es Herbst. Und vielleicht ging es gegen Abend.
Um so besser. Ellen war ganz einverstanden. Ihre Mutter war jedenfalls einkaufen gegangen. Zur Gemüsefrau, um die Ecke.
Ich muß mich beeilen, wissen Sie! Ellen ist allein zu Hause, und da kann man nie wissen, was alles geschieht. Ich möchte ein paar Äpfel, bitte! Wir wollen sie braten, das hat Ellen am liebsten, und ich habe ihr auch versprochen, ein kleines Feuer zu machen, es wird schon kalt. Was ist zu zahlen? Wie bitte? Wieviel? Nein, das ist zuviel. Zuviel!
Ellen setzte sich ganz auf.
Es war wie ein Schrei gewesen. Es war, als hätte sie es mit ihren eigenen Ohren gehört, dieses erstickte: Zuviel! Und das Gesicht der Gemüsefrau drohte rot und verzerrt aus der Dämmerung.
»Sie!« sagte Ellen und ließ die Beine drohend über den Rand des Bettes hängen. »Wehe, wenn Sie zuviel verlangen!« Die Gemüsefrau gab keine Antwort. Es wurde noch kälter.
»Mutter«, rief Ellen, »Mutter, gib mir Strümpfe!«
Nichts rührte sich.
Ach, die hatten sich einfach alle versteckt. Die machten sich schon wieder einen schlechten Witz mit ihr.
»Mutter, ich will aufstehen!« Das klang dringender.
»So geh ich eben barfuß. Wenn du mir keine Strümpfe gibst, geh ich eben barfuß!«
Aber auch diese. Drohung blieb vergeblich.
Ellen stieg aus dem Bett. Es war ihr nicht ganz geheuer. Taumelnd rannte sie gegen die Tür. Auch im Nebenzimmer war niemand. Das Klavier stand offen. Tante Sonja mußte eben noch geübt haben. Vielleicht war sie ins Kino gegangen. Seit es verboten war, ging sie viel öfter ins Kino. Ellen preßte die Wangen an die kalten, glatten Scheiben. Drüben, in dem alten Haus, jenseits der Verbindungsbahn, hielt die alte Frau das Kind ans Fenster. Ellen winkte. Das Kind winkte zurück. Die alte Frau führte seine Hand. Soweit war alles in Ordnung. Man mußte Zeit gewinnen, man mußte ganz ruhig überlegen.
Ellen durchquerte die Wohnung und kehrte wieder um. Wehe, wenn ihre Mutter sie so fand, im Hemd und barfuß!
Feindlich starrten die Wände. Ellen schlug einen Ton am Klavier an. Es hallte. Sie schlug einen zweiten Ton an und einen dritten. Keiner blieb. Keiner ging in den andern über. Keiner tröstete sie. Es war, als klängen sie ungern, als hätten sie Lust zu verstummen, als verheimlichten sie etwas vor ihr.
Wenn das meine Mutter wüßt, das Herz im Leib tät ihr zerspringen! So stand es in dem alten Märchenbuch.
»Warte, ich sag’s meiner Mutter!«
Ellen drohte der Stille, aber die Stille blieb still.
Ellen stampfte mit dem Fuß, Hitze stieg ihr in die Schläfen. Unten auf der Gasse bellte ein Hund, Kinder schrien. Tief unten. Sie legte die Hände an die Wangen. Es war nicht der Hund und es waren nicht die Kinder. Es war etwas anderes. Und es tobte. Ellen schlug mit beiden Fäusten auf die Tasten, auf die weißen und auf die schwarzen, wie auf eine Trommel schlug sie darauflos. Sie warf die Polster von der Couch, riß das Tischtuch vom Tisch und schleuderte den Papierkorb gegen den Spiegel wie David seinen Stein gegen Goliath. Wie David gegen Goliath kämpfte sie gegen das Grauen der Verlassenheit, gegen das neue furchtbare Bewußtsein, das seinen Kopf wie ein häßlicher Wassermann aus den Fluten der Träume hob.
Wie konnte man sie so lange allein lassen? Wie konnte ihre Mutter so lange wegbleiben? Es war kalt, man mußte Feuer machen, es war kalt, es war kalt!
Ellen rannte durch alle Zimmer. Sie riß die Schränke auf, tastete die Kleider ab, warf sich zu Boden und sah unter die Betten. Aber ihre Mutter war nirgends.
Sie mußte es widerlegen, genau das Gegenteil mußte sie beweisen, der Wirklichkeit wollte sie den aufgerissenen Rachen stopfen, ihre Mutter mußte sie finden! Nirgends, das gab es doch gar nicht! Nirgends?
Ellen lief im Kreis. Sie hatte alle Türen aufgerissen und rannte hinter ihrer Mutter her. Sie spielten Fangen, das war es! Und ihre Mutter lief sehr schnell, sie lief schneller als Ellen, sie lief so schnell, daß sie eigentlich schon wieder knapp hinter ihr sein mußte, wenn es doch im Kreis ging. Gleich hatte sie Ellen eingeholt, hob sie hoch und schwang sie um sich.
Ellen blieb plötzlich stehen, wandte sich ganz schnell um und breitete die Arme aus. »Es gilt nichts!« schrie sie verzweifelt. »Es gilt nichts, Mutter, es gilt nichts!« Auf dem Tisch lag das Visum: Vögel und Sterne und ihre Unterschrift.
»Nachtausgabe!« schrie der Zeitungsjunge über die Kreuzung. Er schrie aus vollem Hals, frierend und zu Tode begeistert. Er sprang auf die Trittbretter der Straßenbahn, fing die Geldstücke mit der linken Hand, keuchte und kam nicht nach. Es war ein Geschäft, oh, es war das wunderbarste Geschäft der Welt: »Nachtausgabe!«
Sie konnten nicht genug davon bekommen. Sie hätten alle noch viel mehr dafür bezahlt. Sie waren so gierig, als verkaufte er ihnen nicht den Kriegsbericht und das Kinoprogramm, sie waren so gierig, als verkaufte er ihnen das leibhaftige Leben.
»Nachtausgabe!« schrie der Zeitungsjunge.
»Nachtausgabe!« flüsterte es dicht hinter ihm. Schon wieder.
Sein Stand befand sich auf der steinernen Insel inmitten der großen Kreuzung. Neben dem Stand lehnte ein Blinder. Er hatte den Hut auf dem Kopf und ließ sich nichts schenken. Er stand nur einfach dort, und das konnte ihm niemand verbieten. Von Zeit zu Zeit sagte er: »Nachtausgabe.« Aber er hatte nichts zu verkaufen. Er sagte es leise und verlangte kein Geld dafür. Wie ein Wald warf er dem Zeitungsjungen alle seine Schreie zurück. Er schien das Ganze nicht für ein Geschäft zu halten.
Wie ein Raubvogel umkreiste der Junge den Stand. Mißtrauisch äugte er zu dem Blinden hinüber. Der stand dort, als wäre er gar nicht der einzige Blinde inmitten der großen Kreuzung.
Der Junge überlegte, wie er ihn loswerden sollte. Der Blinde verspottete ihn, der Blinde machte alle seine lauten Schreie zu leisen Hilferufen, der Blinde hatte kein Recht dazu.
»Nachtausgabe!«
»Nachtausgabe!«
Autos rasten vorbei und hatten blaue Gläser vor den Scheinwerfern. Manche von ihnen hielten an und ließen sich die Zeitung durch das Schiebefenster werfen. Gerade als der Junge sich besann, wieviel Zeit es ihm nehmen würde, den Blinden hinüberzuführen, kam Ellen gegen das Signal über die Kreuzung. Sie ging schwankend und sah geradeaus. Unter dem Arm trug sie den Zeichenblock, die Mütze hatte sie ins Gesicht gezogen.
Autos stoppten, kreischend bremsten die Straßenbahnen. Der Polizist in der Mitte der Kreuzung winkte aufgebracht mit dem Arm.
Inzwischen war Ellen auf der steinernen Insel gelandet. Wie Meerwasser floß das zornige Geschrei der Wagenführer an ihr ab. »He, Sie –«, sagte der Zeitungsjunge zu dem Blinden, »da ist jemand, der Sie gut hinüberbrächte!« Der Blinde richtete sich auf und griff ins Dunkel. Ellen fühlte seine Hand auf ihrer Schulter. Als der Polizist bei dem Zeitungsjungen auf der Insel anlangte, war sie mit dem Blinden im Gewühl verschwunden, untergetaucht in die verängstigte, verdunkelte Stadt.
»Wohin soll ich Sie führen?«
»Führ mich über die Kreuzung.«
»Wir sind schon darüber!«
»Kann das sein?« sagte der Blinde. »Ist es nicht die große Kreuzung?«
»Sie meinen vielleicht eine andere«, sagte Ellen vorsichtig.
»Eine andere?« wiederholte der Blinde. »Das glaube ich nicht. Aber vielleicht meinst du eine andere?«
»Nein«, rief Ellen zornig. Sie blieb stehen, ließ seine Hand fallen und sah ängstlich an ihm hinauf.
»Nur ein Stück noch!« sagte der Blinde.
»Aber ich muß zum Konsul«, sagte Ellen und nahm wieder seinen Arm, »und der Konsul wohnt in der anderen Richtung.«
»Welcher Konsul?«
»Der für das große Wasser. Der für den Wind und die Haifische!«
»Ach«, sagte der Blinde, »der! Da kannst du ruhig mit mir weitergehen!«
Sie waren in eine lange finstere Gasse eingebogen. Die Gasse führte hinauf. Rechts standen stille Häuser, fremde Botschaften, die ihre Botschaft verbargen. Sie gingen eine Mauer entlang. Hell und eintönig schlug der Stock des Blinden gegen das Pflaster. Blätter fielen wie Herolde des Verschwiegenen. Der Blinde ging schneller. Mit kurzen raschen Schritten lief Ellen neben ihm her.
»Was willst du vom Konsul?« fragte der Blinde.
»Ich will fragen, was mein Visum bedeutet.«
»Welches Visum?«
»Ich habe es selbst unterschrieben«, erklärte Ellen unsicher, »rundherum sind Blumen.«
»Ah!« sagte der Blinde anerkennend. »Dann ist es das Richtige.«
»Und jetzt will ich’s mir bestätigen lassen«, sagte Ellen.
»Hast du es nicht selbst unterschrieben?«
»Ja.«
»Was soll der Konsul da bestätigen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Ellen, »aber ich will zu meiner Mutter.«
»Und wo ist deine Mutter?«
»Drüben. Über dem großen Wasser.«
»Willst du zu Fuß hinüber?« sagte der Blinde.
»Sie!« Ellen zitterte vor Zorn. »Sie machen sich ja lustig!« Ebenso wie dem Zeitungsjungen schien es ihr plötzlich, als wäre der Blinde gar nicht blind, als funkelten seine leeren Augen über die Mauer hinweg. Sie drehte sich um und rannte, den Zeichenblock unter dem Arm, die Gasse wieder hinunter.
»Laß mich nicht allein!« rief der Blinde. »Laß mich nicht allein!« Er stand mit seinem Stock inmitten der Gasse. Schwer und verlassen hob sich seine Gestalt vom kühlen Himmel ab.
»Ich verstehe Sie nicht«, rief Ellen außer Atem, als sie wieder bei ihm angelangt war. »Meine Mutter ist drüben und ich will zu ihr. Mich wird nichts hindern!«
»Es ist Krieg«, sagte der Blinde, »und es gehen nur mehr wenige Personendampfer.«
»Wenige Personendampfer«, stammelte Ellen verzweifelt und packte seinen Arm fester, »aber für mich wird noch einer fahren!« Sie starrte beschwörend in die nasse, finstere Luft. »Für mich fährt noch einer!«
Wo die Gasse zu Ende ging, war der Himmel. Zwei Türme tauchten wie Grenzposten aus den Botschaften.
»Danke vielmals«, sagte der Blinde höflich, schüttelte Ellen die Hand und setzte sich auf die Kirchenstufen. Er nahm den Hut zwischen die Knie, als ob nichts gewesen wäre, zog eine verrostete Mundharmonika aus der Rocktasche und begann zu spielen. Der Mesner erlaubte das schon jahrelang, denn der Blinde spielte so leise und so ungeschickt, daß es klang, als stöhnte nur der Wind in den Ästen.
»Wie komme ich denn jetzt zum Konsulat?« rief Ellen. »Wie komme ich von hier am schnellsten zum Konsul?«
Aber der Blinde kümmerte sich weiter nicht um sie. Er hatte den Kopf an den Pfeiler gelehnt, blies versunken in seine rostige Mundharmonika und gab keine Antwort mehr. Es begann jetzt auch zu regnen.
»Sie!« sagte Ellen und zerrte an seinem Mantel. Sie riß ihm das Blech aus den Händen und legte es wieder auf seine Knie zurück. Sie setzte sich neben ihn auf die kalten Stufen und sprach laut auf ihn ein.
»Was haben Sie gemeint, wie komme ich zum Konsul, was haben Sie denn gemeint? Wer bringt mich über das Wasser, wenn kein Dampfer mehr für mich fährt? Wer bringt mich dann hinüber?«
Sie schluchzte zornig und schlug mit der Faust nach dem Blinden, aber er rührte sich nicht. Breit und unsicher stand Ellen vor ihm und starrte ihm mitten ins Gesicht. Er war so gelassen wie die Stufen, die hinaufführten.
Zögernd betrat Ellen die menschenleere Kirche, überlegend bis zur letzten Sekunde, ob es nicht besser wäre, umzukehren. Sie fühlte sich gedemütigt und verabscheute ihre eigenen Schritte, die die Stille des Raumes zerbrachen. Sie riß die Mütze vom Kopf und setzte sie wieder auf, den Zeichenblock hielt sie fester als vorher. Verwirrt musterte sie die Heiligenbilder an den Seitenaltären. Bei welchem von allen konnte sie es wagen, sich über den Blinden zu beschweren?
Dunklen Blickes, das Kreuz in der erhobenen, hageren Hand, stehend auf einem glühenden Gipfel, zu welchem gelbe, erlösungheischende Gesichter empordrängten, wartete Franz Xaver. Ellen blieb stehen und hob den Kopf, aber sie bemerkte, daß der Heilige weit über sie hinwegsah. Vergebens suchte sie seine Blicke auf sich zu lenken. Der alte Maler hatte richtig gemalt. »Ich weiß nicht, weshalb ich gerade zu dir komme«, sagte sie, aber es fiel ihr schwer. Sie hatte diejenigen niemals verstanden, denen es Vergnügen machte, in die Kirche zu gehen, und die schwelgend davon sprachen wie von einem Genuß. Nein, es war kein Genuß. Eher war es ein Leiden, das Leiden nach sich zog. Es war, als streckte man jemandem einen Finger hin, der viel mehr als die ganze Hand wollte. Und beten? Ellen hätte es lieber gelassen. Vor einem Jahr hatte sie Kopfspringen gelernt, und es ging ähnlich. Man mußte auf ein hohes Sprungbrett steigen, um tief hinunter zu kommen. Und dann war es immer noch ein Entschluß, zu springen, es hinzunehmen, daß Franz Xaver nicht hersah, und sich zu vergessen.
Aber es mußte sich jetzt entscheiden. Ellen wußte noch immer nicht, weshalb sie sich mit ihrer Bitte gerade an diesen Heiligen wandte, von dem in dem alten Buch stand, daß er zwar viele fremde Länder bereist hätte, angesichts des ersehntesten aber gestorben war.
Angestrengt versuchte sie, ihm alles zu erklären. »Meine Mutter ist drüben, aber sie kann nicht für mich bürgen, niemand bürgt für mich. Könntest nicht du –« Ellen zögerte, »ich meine, könntest nicht du jemandem eingeben, daß er für mich bürgt? Ich würde dich auch nicht enttäuschen, wenn ich erst einmal in der Freiheit bin!«
Der Heilige schien verwundert. Ellen merkte, daß sie nicht genau gesagt hatte, was sie meinte. Mit Mühe schob sie beiseite, was sie von sich selbst trennte.
»Das heißt, ich würde dich keinesfalls enttäuschen – auch wenn ich hierbleiben, auch wenn ich in Tränen ertrinken müßte!«
Wieder schien der Heilige verwundert und sie mußte noch weiter gehen.
»Das heißt, ich würde nicht in Tränen ertrinken. Ich würde immer versuchen, dir keinen Vorwurf zu machen, auch dann, wenn ich nicht frei würde.«
Noch ein einziges stummes Verwundern Franz Xavers und die letzte Tür wich zurück.
»Das heißt, ich meinte – ich weiß nicht, was notwendig ist, damit ich frei werde.«
Ellen kamen die Tränen, aber sie spürte, daß Tränen dieser Unterhaltung nicht gerecht wurden.
»Ich bitte dich: Was auch immer geschieht, hilf mir, daran zu glauben, daß irgendwo alles blau wird. Hilf mir, über das Wasser zu gehen, auch wenn ich hierbleiben muß!«
Das Gespräch mit dem Heiligen war zu Ende. Alle Türen standen offen.
»Laßt mich mitspielen!«
»Schau, daß du wegkommst.«
»Laßt mich mitspielen!«
»Geh endlich!«
»Laßt mich mitspielen!«
»Wir spielen gar nicht.«
»Was denn?«
»Wir warten.«
»Aber worauf?«
»Wir warten, daß hier in der Gegend ein Kind ertrinkt.«
»Weshalb?«
»Wir werden es dann retten.«
»Und dann?«
»Dann haben wir es gutgemacht.«
»Habt ihr etwas schlecht gemacht?«
»Die Großeltern. Unsere Großeltern sind schuld.«
»Ach. Und wartet ihr schon lange?«
»Sieben Wochen.«
»Und ertrinken hier viele Kinder?«
»Nein.«
»Und ihr wollt wirklich warten, bis ein Wickelkind den Kanal herunterschwimmt?«
»Weshalb nicht? Wir trocknen es ab und bringen es dem Bürgermeister. Und der Bürgermeister sagt: Brav, sehr brav! Von morgen ab dürft ihr wieder auf allen Bänken sitzen. Eure Großeltern sind euch vergessen. Vielen Dank, Herr Bürgermeister!«
»Bitte sehr, gern geschehen. Schönen Gruß an die Großeltern!«
»Das hast du gut gesagt. Wenn du willst, darfst du von heute ab den Bürgermeister spielen.«
»Nochmals!«
»Hier ein Kind, Herr Bürgermeister!«
»Was ist mit diesem Kind?«
»Wir haben es gerettet.«
»Und wie ist das gekommen?«
»Wir saßen gerade am Ufer und warteten darauf –«
»Nein, das dürft ihr nicht sagen!«
»Also: Wir saßen gerade am Ufer, da fiel es hinein!«
»Und dann?«
»Dann ist alles sehr schnell gegangen, Herr Bürgermeister. Wir haben es auch gern getan. Dürfen wir jetzt wieder auf allen Bänken sitzen?«
»Ja. Und auch in den Stadtpark spielen gehen. Eure Großeltern sind euch vergessen!«
»Schönen Dank, Herr Bürgermeister!«
»Halt, was soll ich mit dem Kind?«
»Sie dürfen es behalten.«