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Ein Ereignis: Ilse Aichinger »goes Pop« und entwickelt eine ganz neue Art von Autobiographie. Sie verknüpft die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Verhängnis ihrer Familie. In verblüffenden Kreuzungen aus Populärkultur, Denken und Erinnerung spannt sie den Bogen vom Stummfilm bis zu den Beatles: Blitzlichter der Freiheit.
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Seitenzahl: 182
Ilse Aichinger
Film und Verhängnis
Blitzlichter auf ein Leben
FISCHER E-Books
Auf altrömische Straßenzüge ist sicher noch weniger Verlaß als auf alte Hofapotheken. Kein Weg hinaus außer für geordnete Kohorten, keine wirksame Beruhigung außer für den inneren Zirkel. Und wer ohnehin den Rändern verfallen ist, läßt sich nicht so rasch davon ablenken.
Sie war die jüngste Schwester meiner Mutter. Sie lebte, wie wir alle, in der Wohnung meiner Großmutter in der Hohlweggasse, nahe dem Gürtel, stadtauswärts. Sie unterrichtete zwei Jahre lang, bis zum März 1938, Klavier an der Musikakademie in Wien. Die lag stadteinwärts. Aber wenn auch die letzten Privatschüler (Stefan Schick im blauen Anzug oder Fräulein Peterka) gegangen waren, drängte es sie fort. Sie wollte ins Kino, aber nicht in irgendeines. Das Fasankino war so zugig wie der Gürtel. Auf dem Weg dorthin war es noch geschlossen.
Aber vorerst einmal das Studium des heutigen, morgigen und übermorgigen Programms. Auch des gestrigen. Dann weiter zum Arsenal, aber die sehr vielfältigen Waffen und die blutbefleckte, zerfetzte Uniform des ermordeten Thronfolgers, schon oft genug intensiv oder zerstreut betrachtet. Der windige, schäbige Außenring um die Stadt Wien war nahe, hieß auch nicht Ring, sondern Gürtel, Gürtellinie wie aus einer armseligen Maßschneiderei, dort war es leicht möglich, sich eine Verkühlung zu holen oder die Angst davor. Oder sich den zweiten Geiger der Philharmoniker vorzustellen, eine entfernte Liebe. Die Konzertkarten waren zu teuer. Dann führte der Weg weiter zum Ost- und Südbahnhof. Die Straßenbahnwagen der Linie D fuhren etwas zu rasch um die Kurve und die Prinz-Eugen-Straße hinunter. Aber da einzubiegen, vielleicht zur französischen Botschaft, war eher eine geringfügige Verlockung.
Der Gürtel entsprach eher den Vorfreuden als den Freuden. Und das Probieren geänderter Kleider war unterhaltender, als sie »auszuführen«. »Komme ich über Gürtel und Fasangasse«, sagte die alte ungarische Schneiderin aus der Zentagasse, die ins Haus kam und fast umsonst nähte, Röcke kürzte, Mäntel säumte, Knopfleisten ausbesserte und Knöpfe mit doppeltem Zwirn so anbrachte, daß sie hielten. Knöpfe, Vorfreude, aber der Gürtel wurde jetzt immer windiger und trauriger. Es war vermutlich besser, umzukehren. Zögernd, aber doch.
Der Nachmittag brach an, die bessere Tageszeit. Das Fasankino hatte jetzt sicher seine Türen schon geöffnet, der Wind fuhr durch sie hinein. Im Fasankino herrschte immer Zugwind, auch während der Vorstellungen. Aber dort spielte in etwas zu eng anliegenden Uniformen Iwan Petrowich russische oder weißrussische Offiziere.
Danach gab es noch die Möglichkeit, ins Café Eos zu gehen, an der Ecke von Rennweg und linker Bahngasse, ein ganz angenehmes Caféhaus, nicht zu groß, nicht zu teuer, wieder ein Ort, um leichte und verkehrte Ängste, leichte und verkehrte Träume zu hegen, auszuweiten und einzugrenzen. Ein kleiner Mokka, nicht zu aufregend. Und dann wieder nach Hause.
Oft sagte sie ziemlich unvermittelt: »Polen soll nicht untergehen.« Darüber geriet Carl Wissenhoove, ein weißhaariger Holländer, der sie mochte und vor Hitler gern nach Holland gebracht hätte, immer wieder in Begeisterung. »Weshalb«, fragte er. Die Antwort höre ich immer noch, auch den vergnüg-ten Tonfall: »Keine Ahnung«, sagte sie.
Eine Klavierschülerin kam noch. Dann weiter üben, immer weiter üben, viel Chopin, Tschaikowsky, auch Bach. Das Kino fiel aus. Die Stellung an der Musikakademie fiel weg. Inzwischen ist Polen schon einige Male wieder auferstanden. Sie hatte es nicht nötig, sie alle in der Hohlweggasse wurden nicht mit der Art von Gräbern behelligt, aus denen man aufersteht.
Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich in meiner sehr frühen Kindheit eine ältere Frau zu einer anderen sagen: »Es soll jetzt Tonfilme geben.« Das war ein rätselhafter Satz. Und es war einer von den ganz wenigen rätselhaften Sätzen der Erwachsenen, der mich nicht losließ.
Einige Jahre später – ich ging schon zur Schule – sagte die jüngste Schwester meiner Mutter, wenn wir an den Sonntagen zu unserer Großmutter gingen, bei der sie lebte, fast regelmäßig am späteren Nachmittag: »Ich glaube, ich gehe jetzt ins Kino.« Sie war Pianistin, unterrichtete kurze Zeit an der Musikakademie in Wien und übte lang und leidenschaftlich, aber sie unterbrach alles, um in ihr Kino zu gehen. Ihr Kino war das Fasankino, es war fast immer das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könne sich dort den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es.
Aber man hat keine Wahl, was ich nicht nur bezüglich des Todes, sondern auch bezüglich der Auswahl der Filme zuweilen bedaure, wenn meine liebsten Filme plötzlich aus den Kinoprogrammen verschwinden. Obwohl ich es gerne wäre, bin ich leider keine Cineastin, sondern gehe lieber bis zu sechs- oder siebenmal in denselben Film, wenn in diesem Film Schnee fällt oder wenn die Landschaften von England und Neu-England auftauchen, oder die von Nordfrankreich, denen ich fast ebenso zugeneigt bin.
Auf Wiedersehen, Kinder von Louis Malle war einer der Filme, den ich am öftesten sah, nicht nur wegen des vergleichbaren Schicksals meiner Angehörigen, sondern auch wegen der unglaublich dichten Atmosphäre, der Atmosphäre von Internaten und Gegenden, von Feldern und Schulräumen. Bilder, Licht und Sprache stimmen zueinander, sie bleiben einsam und doch verbunden, wie die Personen des Films.
»Heute ist der 17. Januar 1944«, sagt ein Junge in diesem Film, »der 17. Januar 1944, und er wird nie mehr wiederkommen.« Er bedenkt damit den Tod und zugleich, fast ohne es zu bemerken, an einem von Trostlosigkeit und Angst geschüttelten Tag die Hoffnung. Satz und Szene sind deutlich und unvergeßlich. Wenige Szenen später werden seine als christliche Internatszöglinge getarnten jüdischen Freunde und der Mann, der das alles gewagt hatte, von den Häschern der Gestapo aus dem Klassenzimmer geholt. Für immer. »Auf Wiedersehen, Pater Jean«, rufen die Jungen ihrem Lehrer nach. »Auf Wiedersehen, Kinder«, sagt Pater Jean gelassen, ehe man ihn wegzerrt. Am Ende des Films wird das tatsächliche Schicksal der Hauptbeteiligten berichtet, der ehemaligen Mitschüler Louis Malles und das seines Lehrers. Mauthausen, Auschwitz oder ein anderes der vielen Todeslager.
Solche Filme sind Träumen ähnlich, die einen auch tagsüber begleiten, sehr präzisen Träumen.
Auch an dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann, war ich im Kino. Es war nicht das Fasankino, sondern lag in der anderen Richtung, wenn auch ebenso nahe. Es hieß Sascha-Palast, war in den Räumen der ehemaligen k.u.k. Hofreitschule untergebracht, und der Film hieß vermutlich FP1 antwortet nicht. Im Sascha-Palast gab es kein Frösteln, und die Sitze waren bequemer. Es lag auch fast schon in Europa, jedenfalls nach dem Ausspruch des Fürsten Metternich, hundert Meter von seinem Hause entfernt begänne Asien.
Damals liefen vor den Hauptfilmen noch die Wochenschauen, und sie wurden während des Krieges immer lauter und dominierender. Es war gefährlich, nach der Wochenschau und ihren Siegesmeldungen zu kommen, und nicht nur für diejenigen, denen es ohnehin nicht erlaubt war, ein Kino zu betreten. Das obligatorische Schild »Judenverbot« war übrigens am Eingang des Sascha-Palasts weniger deutlich angebracht, er ist auch später eingegangen. Die Dienste der Engel machen sich selten bezahlt, und ich hatte und habe immer wieder Gelegenheit, das zu erfahren.
Auch nach dem Krieg blieben Kinos, Filme, Wochenschauen noch längere Zeit aus. Das war nicht die größte Enttäuschung, aber eine Enttäuschung war es doch. Nach der Louis-Malle-Phase gab es einmal eine Sister-Act-Phase. Jemand hat mir dann einmal nahegelegt, daß Whoopy Goldberg keine wirkliche Nonne sei, sondern ein Hollywoodstar. Während meiner Ansicht nach der mehrfach geschiedene Hollywoodstar eine ideale Nonne wäre.
Früher kam es auch zu einer Ingmar-Bergman-Phase. Ich hatte eine sehr alte und souveräne Frau dazu überredet, mit mir den Film Wie in einem Spiegel zu sehen. Als es nach dem Kino zu regnen begann, sagte sie: »Für den Film müßt’s im Kino wärmer sein.« So bedingen auch Wetterlagen die Filmgeschichte.
In einem erstaunlichen Vorwort zu einer Sammlung britischer Gespenstergeschichten schreibt Mary Hottinger: »Es ist natürlich fruchtlos, Betrachtungen darüber anzustellen, warum gewisse literarische Gat-tungen besser auf dem Boden des einen oder des anderen Landes gedeihen. Die Geisterwelt der Britischen Inseln ist außerordentlich reich und mannigfaltig, und das beharrliche Weiterbestehen des Irrationalen in Leben und Schrifttum läßt die Menschen dort mehr als anderswo zu einem bewußten Aufschub des Zweifels neigen. Hat sich die Gespenstergeschichte in ihrer modernen Form in England entwickelt, weil dort die Sprache vorhanden war, um sie zum Ausdruck zu bringen, oder ist die Sprache nur mit diesen Anforderungen gewachsen? Wie dem auch sein mag, der Wortschatz des Englischen bietet sich ganz natürlich der Erzählung solcher Geschichten an.« Aber so erscheint es mir auch bei manchen Filmen. Sprache, Landschaft, Bilder, Metaphern finden zueinander.
Wie auch in Liebelei von Max Ophüls. Die an sich triviale Geschichte: Verliebtheit, Schlittenfahrt, Gustaf Gründgens der Betrogene, mit dem Monokel in der Flurtür, das unausbleibliche Duell und der verzweifelte Ausruf Magda Schneiders: »Wo bleibt der zweite Schuß?« spiegeln hier zum Unterschied von vielen Theateraufführungen Licht und Leichtigkeit der Sprache gebrochen wider.
Inzwischen hat sich die Auffassung eines ja immer wiederkehrenden Themas deutlich verändert: In Vier Hochzeiten und ein Todesfall gibt einer der britischen Hochzeitsgäste, der kurz darauf tot zusammenbricht, auf die Frage nach der Ursache der offenbar unerläßlichen Heiratsformalität die schon geniale Antwort: »Vermutlich, weil man sich im Zustand der Verliebtheit schon alles gesagt hat. Der Anlaß zur Hochzeit: der totale Verlust jedes Gesprächsstoffs.«
Bei der Beerdigung dieses Hochzeitsgastes zitiert sein Freund eines der besten Gedichte von Auden, der drei Ecken weiter von hier in einem Hotelzimmer gestorben ist und in der Westminster Abbey begraben liegt. Dieses Gedichtes wegen bin ich immer wieder zu Four Weddings gegangen:
The stars are not wanted now, put out every one;
Pick up the moon and dismantle the sun;
Pour away the ocean and sweep up the wood;
For nothing now can ever come to any good.
Absoluter Gegenpol zu den Britischen Inseln mit ihrem dort leichter als anderswo erträglichen Snobappeal ist das Bellariakino in Wien, das sonntags schon um zwei seine Pforten öffnet und die erste Vorstellung beginnen läßt. Das Programm wechselt dort täglich, das Publikum weniger; im Kleinen Foyer wird man als offensichtlich Außenstehender mit Verwunderung, etwas Herablassung, aber auch Leutseligkeit betrachtet. Es gibt dort häufig sehr alte Filme, die man sonst nirgends zu sehen bekommt, sie spielen auf Capri oder an anderen berühmten Orten und enden meistens gut.
Man hört Tenöre und die Zwischenbemerkungen des Publikums. Wenn der Film reißt oder zu sehr flimmert, entstehen kurze Pausen – nicht so lange wie in der Staatsoper, aber der Film wird dadurch länger, und das ist für den frühen Sonntagnachmittag kein Nachteil. Man kann dann in Ruhe im nahe gelegenen Caféhaus überlegen, wie es nun weitergeht. Zum Beispiel, mit welchem Film man dem Nachmittag zu seinem Ende verhilft. Im Eoskino kann man heute Spiel mir das Lied vom Tod sehen, aber dorthin werde ich nicht gehen, dieses Lied wurde meinen Angehörigen in dieser Gegend schon gespielt.
Die Gedanken an Glücksmöglichkeiten wachsen bis heute im Kino. Der, dem selbst diese Glücksmöglichkeit versagt blieb, war der Jüngste. Er wurde in Sarajewo geboren, er und seine nur wenig ältere Schwester. Die beiden anderen Schwestern wurden noch in Lemberg geboren, kein sehr glücklicher Geburtsort im Hinblick auf viel spätere Zeiten. Beides waren Garnisonsstädte. Er wurde als Sohn eines Offiziers geboren.
Der Offiziersrang seines Vaters war niedrig, weil er es ablehnte, die Religion, an die er nicht glaubte, zu wechseln. Er pflanzte statt dessen einen Birnbaum im kleinen Garten in Sarajewo. Nun war alles getan, ein Baum gepflanzt, einem Sohn zum Leben verholfen. Der Sohn hieß deshalb Felix, wie nach einigen Töchtern geborene und glücklich begrüßte Söhne öfter heißen. Die Kinder wurden ernst genommen, besonders der Jüngste. Jedes von ihnen konnte seinen Beruf selbst wählen, durfte aber später seinen Entschluß nicht mehr ändern. Sie waren alle zu jung, um ihre Berufe zu wählen, mußten aber später dabei bleiben. Und sie blieben dabei.
Der Jüngste war etwas stiller und unschlüssiger als seine Schwestern. Er studierte später an der technischen Hochschule in Wien und schloß mit dem Ingenieursdiplom ab. Kurz darauf wurde er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs Offizier wie sein Vater.
An der Isonzofront wurde er Essensträger, geriet ziemlich weit nach vorn wie viele andere und bekam dafür das Eiserne Kreuz, wie andere auch. Das Vaterland war dankbar. Vaterländer geben sich gerne dankbar, solange sie zufriedengestellt werden. Sie wechseln Regierungsformen, oft auch Namen, aber sie bleiben so lange als nötig dankbar und anonym. Bis es dann soweit ist.
Vorerst ging es gut, er heiratete kurz nach Abschluß des Studiums eine junge hübsche Frau aus Wildon in der Steiermark. Der Sohn, der bald zur Welt kam, hieß Wolfgang Felix, wieder wurde das Glück beschworen. Sie zogen in die Steiermark und wieder nach Wien. In Wien kam die Tochter zur Welt, die gar nicht die seine war.
In der großen Wohnung neben dem Wiener Rathaus tauchten Schleichhändler auf, nicht ganz die aus dem Dritten Mann, sie spielten schlechter. Es zog in der Wohnung, die allmählich einer Lagerhalle glich, Pakete wurden geholt und abgeladen.
Kurz darauf im Jahr 1941 begannen die Deportatio-nen. Die hübsche, unterhaltende Frau aus der Steiermark ließ sich scheiden, hatte wenig Lust, ihn zu retten. Das hätte sie mit dem Sohn aus dieser Ehe – nach den damaligen Nazigesetzen – ohne weiteres können. Aber ohne weiteres tun viele wenig, wenn es sich nicht rasch lohnt – oder »auszahlt«, wie die Wiener sagen.
Der Vater des Jüngsten war 1931 an einem Herzleiden rasch gestorben. Seine Mutter, die jüngste der drei Schwestern und er selbst hatten auch mit dem Sterben kein Glück. Zuerst die Einweisung in ein Zimmer einer großen Wohnung, zugleich damit der Zwang, den Judenstern zu tragen, und der Transport über die Schwedenbrücke, der offene Lastwagen, der windige Tag im Mai. Für den Jüngsten, seine wenig ältere Schwester und seine Mutter endete er mit dem Umzug in ein Todeslager. Es bleibt die Hoffnung, daß es Minsk war, oder die größere Hoffnung, daß sie unterwegs erschossen wurden. »Auf Wiedersehen«, sagte ein Ordner, »unter besseren Auspizien.«
Einige Monate später sah die Kassierin eines Kinos, in das ich öfter ging, als sie das Billet abriß, kurz auf und sagte: »Die Vorstellung hat schon begonnen, aber Sie kommen noch hinein.« Und fügte etwas leiser hinzu: »Sie wissen doch, was mit Ihren Angehörigen geschehen ist?« Ich erwiderte: »Ich kann es mir vorstellen.« »Man kann sich nichts vorstellen«, sagte die Frau. »Man erfährt es immer neu.« In diese Vorstellung kam ich knapp zurecht. Aber der Film, auf den es ankam, war gerissen.
Das Mißtrauen gegen den Staat, gegen jeden Staat, Verwaltungsgremien, Ämter, die ziemlich unzugänglichen edlen Bauten, in denen die Ministerien, Behörden, zuständige Kanzleien und Büros, im Kriegsfall sicher auch Stabsbüros, untergebracht sind, begann bei mir früh. Ich fragte wie fast jeder vieles in der Zeit des Heranwachsens. Nach dem Staat fragte ich nicht. Er hatte für mein Empfinden zu viele Gesichter, eines überdeckte das andere, und eine staatliche Stelle stand wachsam für die andere. Man kam da nicht durch.
»Wenn ihr euch nicht festhalten laßt, gehe ich zum Wachmann«, erklärte das Kindermädchen fast täglich während unserer eintönigen Spaziergänge. Dieser oft herbeizitierte Wachmann war für mich die erste leibhaftige Staatsform. Damals wußte ich noch nichts von Thoreau und schon gar nichts von seinem Essay »Über die Pflicht des Ungehorsams gegen den Staat«. Der kam mir sehr spät in die Hand, und zu dieser Zeit hatte ich schon genügend Erfahrungen gesammelt.
»Das sind Juden«, erklärte die Greißlerin schräg gegenüber der Wohnung unserer Großmutter, wenn wir zu ihr um Milch oder Zucker kamen, und zeigte über den Ladentisch auf uns hinunter. Das vorher eilige und drängelnde Publikum, das sie anbiedernd »Theres« nannte, kam wieder langsam zurück und betrachtete meine Schwester und mich. Wir gingen rasch wieder hinaus, kamen atemlos bei unserer Großmutter an und erzählten kein Wort davon.
Statt dessen begannen wir, um den Wohnzimmertisch zu laufen. Auf Strümpfen und nicht lange, denn schon bald klopfte die unter uns wohnende Partei, wie man sagte (und mir scheint der Ausdruck heute nicht schlecht gewählt), mit dem Besen an ihre Decke.
Der Boden unter unseren Füßen war also nicht da, um sich darauf zu bewegen. Es war ein fester Boden, aber ein Boden ohne Gewähr. Fest und ohne Gewähr, unter ihm lauerten die Besenstiele, auf denen angeblich die Hexen davonflogen, wenn ihre Feste zu Ende waren. Und auch aus diesem Fußboden ergab sich für mich eine deutliche Folgerung für die Beschaffenheit des Staates.
Einmal rief jemand: »Der Justizpalast brennt.« Das berührte mich nicht. »Justizpalast«, das klang ohne Feuer fast bedrohlicher als im Feuer. Soweit die ersten Erfahrungen. Später wurden diese Erfahrungen massiver, und der Preis für sie wuchs rasch und begann nicht erst nach dem hier begeistert begrüßten Überfall Hitlers, sondern vor allem nach seinem Ende rasch zu steigen.
Zwar gab es jetzt einen anderen Staat, einen Staat, in dem man nicht aus dem Haus gezerrt und ermordet werden konnte, aber schon wieder einen Staat mit verschlossenen Türen und mit dem amtlichen Tonfall, der sich in Wien häufiger und rascher als anderswo dem Zynismus nähert.
Die Formulierungen der Behörden waren jedenfalls vor und nach dem Krieg dieselben und haben sich für mich bis heute nicht wesentlich geändert. »Schlafen S’ in der Hängematt’n«, hieß es, als ich, nachdem meine Mutter Wohnung und ärztliche Praxis verloren hatte, auf dem Wohnungsamt vorsprach. Auch heute bekommt man, wenn man eine Anfrage bei Behörden riskiert, besonders bei untergeordneten Stellen, den Eindruck, an eine Mauer zu stoßen.
Was mich von Thoreau unterscheidet: Er kann sich, wie er schreibt, einen guten Staat vorstellen, auch wenn er ihn noch nie gesehen hat. Ich nicht. Wo Ordnung geschaffen werden muß, liegt Willkür immer nahe genug. Der Staat verlangt nach Staatstheorien, Theorien verwandeln sich leicht in Devisen, Devisen in Maximen und Maximen in Willkür. Da ich nicht die sogenannte »Gnade der späten Geburt« hatte – eine absurde Formulierung, die wie »Holocaust« überdeckt und verfälscht, anstatt zu definieren –, wurden mir diese Übergänge massiv klar.
Der Vater meiner Großmutter war ein Angestellter der Nordbahn. Seine erste größere Stellung war die des Stationsvorstands eines kleineren und unbekannten Ortes. Auschwitz. Später bekam er den Auftrag, die bosnischen Bahnen auszubauen. Die Wiener Behörden waren zufrieden. Weitere Aufträge bekam er, da er die jüdische Religion, an die er nicht glaubte, nicht aus Karrieregründen ablegen wollte, nicht mehr. Er starb sicherlich in dem Bewußtsein, nicht viel getan zu haben, ich hoffe, er starb ruhig.
Meine Großmutter hatte dieses Glück nicht, sie wurde gemeinsam mit den jüngeren Geschwistern meiner Mutter nach Minsk deportiert, gefoltert und im Mai 1942 ermordet.
Mein Großvater hatte mehr Glück. Er brachte es zwar nur zu einem bescheidenen Offiziersrang, da er ebenfalls nicht bereit war, die ungeliebte und ungeglaubte jüdische Religion abzulegen, aber er starb ruhig in seinem Schlafzimmer, meine Mutter behandelte ihn und legte zuletzt ihre Hand auf seinen Kopf. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof, einem Teil des Zentralfried- hofs (Viertes Tor), beerdigt, und ich trug wie meine Schwester einen Trauerflor über den Ärmeln unserer Klosteruniform. Nicht ohne einen gewissen Stolz.
Meine Großmutter wäre glücklich, und mein Großvater wäre stolz, wenn sie von Ihrem Preis erführen. Auch meine Mutter, die sehr alt wurde und es noch leicht hätte erleben können. Aber jetzt ist niemand mehr da für Stolz oder Freude. Dazu kommt, daß ich kein dem Staat ergebener Dichter bin, auch wenn das nicht unbedingt in diesem Preis impliziert ist. Wie schon gesagt, ich fürchte das Wort »Staat«, und nicht nur das Wort.
Die Bezeichnung »Dichter« empfinde ich für meine Person als lächerlich. Abgemildert: »Staat«, das klingt mir zugleich starr und amorph. »Dichtung« klingt mir zu vage, zu sehr nach einer Wolke, die rasch zerblasen werden kann. Es wird immer um Genauigkeit gehen, die gerade im Bereich der Literatur leicht abhanden kommt.
Die Sommer meiner frühen Kindheit verbrachten meine Schwester und ich häufig in Alt-Aussee, einem Ort, der für uns nicht zu leisten gewesen wäre. Um uns aber diese Feriensommer leisten zu können, übernahm unsere Mutter die ärztliche Betreuung eines Kinderheims. Ihr Gehalt bestand vor allem in unserem unentgeltlichen Aufenthalt, sehr zum Unterschied von dem unserer Gefährten dort, fast nur Kinder reicher Eltern und sich dessen sehr bewußt.