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Liebeskummer ist nichts für schwache Nerven: „Unscharfe Männer“ von Martina Bick jetzt als eBook bei dotbooks. Es war Liebe auf den ersten Blick! Zumindest für die junge Fotografin Lu. Nie hätte sie gedacht, dass es ihr ein Mann so antun kann. Doch als sie dem Kunststudenten Karl ein Zimmer in ihrer WG zur Verfügung stellt, ist es sofort um sie geschehen. Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass auch er mehr in ihr sieht als lediglich die kunstinteressierte Mitbewohnerin. Da hat sich Lu allerdings in eine Wunschvorstellung verrannt. Nun heißt es: den Mann vergessen und wieder zu sich selbst finden. Und das auf ihre eigene Art: Anstatt sich klischeehaft mit Schokoladeneis und Heulattacken über die unerwiderte Liebe zu trösten, greift die Künstlerin zu einer ganz eigenwilligen und krassen Idee … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Unscharfe Männer“ von Martina Bick. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 289
Über dieses Buch:
Es war Liebe auf den ersten Blick! Zumindest für die junge Fotografin Lu. Nie hätte sie gedacht, dass es ihr ein Mann so antun kann. Doch als sie dem Kunststudenten Karl ein Zimmer in ihrer WG zur Verfügung stellt, ist es sofort um sie geschehen. Und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass auch er mehr in ihr sieht als lediglich die kunstinteressierte Mitbewohnerin. Da hat sich Lu allerdings in eine Wunschvorstellung verrannt. Nun heißt es: den Mann vergessen und wieder zu sich selbst finden. Und das auf ihre eigene Art: Anstatt sich klischeehaft mit Schokoladeneis und Heulattacken über die unerwiderte Liebe zu trösten, greift die Künstlerin zu einer ganz eigenwilligen und krassen Idee …
Über die Autorin:
Martina Bick wurde 1956 in Bremen geboren. Sie studierte Historische Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Gender Studies in Münster und Hamburg. Nach mehreren Auslandsaufenthalten lebt sie heute in Hamburg, wo sie an der Hochschule für Musik und Theater arbeitet. Martina Bick veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane, Romane und Kurzgeschichten und war auch als Herausgeberin tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2001 war sie die offizielle Krimistadtschreiberin von Flensburg.
Bei dotbooks erscheinen außerdem Die Landärztin und Neues von der Landärztin sowie die Krimi-Reihe um Hauptkommissarin Marie Maas, die folgende Bände umfasst:
Der Tote und das Mädchen. Der erste Fall für Marie Maas
Tod auf der Werft. Der zweite Fall für Marie Maas
Die Tote am Kanal. Der dritte Fall für Marie Maas
Tödliche Prozession. Der vierte Fall für Marie Maas
Nordseegrab. Der fünfte Fall für Marie Maas
Tote Puppen lügen nicht. Der sechste Fall für Marie Maas
Totenreise. Der siebte Fall für Marie Maas
Heute schön, morgen tot. Der achte Fall für Marie Maas
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Neuausgabe April 2015
Copyright © der Originalausgabe 1993 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Motivs von Thinkstockphoto/istock
ISBN 978-3-95520-767-0
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Martina Bick
Unscharfe Männer
Roman
dotbooks.
»Schon der Inhalt des Beobachtungswahns legt nahe, daß das Beobachten nur eine Vorbereitung ist für das Richten und Strafen, und somit erraten wir, daß eine andere Funktion dieser Instanz das sein muß, was wir unser Gewissen nennen.«
Sigmund Freud
»Schattenschlaf, geflügelte Heiterkeit über Abgründen. Wenn einer den anderen nicht mehr umschlingt, still für sich gehen läßt, wenn der Polyp Mensch seinen Fangarm einzieht, nicht mehr den Nächsten verschlingt … Menschlichkeit: den Abstand wahren können.«
Ingeborg Bachmann
Freitag vor Pfingsten fing Lu an, ihre Wohnung zu putzen. Mit Pfingsten hatte das weniger zu tun, vielmehr mit der Ankunft von Karlheinz.
»Ich bekomme Besuch aus Stuttgart, Annmarie. Hier, lies mal.«
Sie zeigte Annmarie eine Postkarte, auf deren Vorderseite der »Goldene Fisch« von Paul Klee abgebildet war.
Annmarie lehnte in der Haustür, betrachtete abwechselnd den Wischlappen, der wie eine tote Katze auf dem Fußboden lag, Lus zerzausten Knoten, zu dem sie die halblangen, blonden Haare hochgebunden hatte, und die Postkarte, auf der in einer ziemlich unleserlichen Handschrift ein Datum dick unterstrichen war: »2. Juni. Gegen Abend. Hoffentlich paßt Dir das. Gruß Karlheinz.« Mehr konnte sie ohne Brille nicht entziffern.
»Und deshalb machst du Hausputz? Du hast ja sogar die Gardinen abgenommen.«
Lu war ein bißchen verlegen. Die Gardinen waren sowieso fällig gewesen. Außerdem war Karlheinz Nichtraucher, und in den Gardinen hielt sich der Gestank so lange. Sie mußte ihn ja nicht gleich vergraulen.
»Meinst du, man kriegt das wieder hin mit Teppichschaum?« Auf dem berberweißen Velours fiel neben verschieden großen und verschieden getönten Flecken und der durchgetretenen Stelle gleich hinter der Türschwelle Rollo auf, das Riesenbaby, der sich mit ausgestreckten Pfoten auf dem Rücken wälzte und abwechselnd nach rechts und links schnappte, als wolle er seine eigene Zunge fangen. Dann sprang er auf und leitete seine Begrüßung mit einem Kontrollschnüffeln an den intimen Körperteilen ein. 53 cm Risthöhe waren ihm dabei eine gute Hilfe, und er brauchte sich nicht, wie seine kleineren Kollegen, auf die Hinterbeine zu stellen.
Annmarie verscheuchte ihn und zeigte auf die Teppichstelle, auf der Rollo sich eben noch gewälzt hatte. Eine Spur von schwarzen Hundehaaren markierte den Ort des Geschehens. »Ich glaube, die Mühe kannst du dir sparen.«
Auch Annmaries Einkaufskorb wurde einer gründlichen Kontrolle unterzogen, dann untersuchte Rollo den Wischlappen, der immer noch im Flur lag, und begab sich in die Küche.
»Und was ist das für ein Typ?«
»Karlheinz ist Student, Nichtraucher, vielversprechend anständig und wohlerzogen. Das genügt doch wohl, um für ihn hier ein bißchen Ordnung zu schaffen, oder?«
Lu zwängte sich zwischen Wischeimer und Nachbarin durch die Tür und kletterte über die Kisten im Flur. Kurzzeitige Untermieterinnen hatten ihre alten Schuhe hinterlassen, Posterrollen, einen Sessel, der nie abgeholt worden war, einen Karton Krimis, die selbst Thea zu hart waren – und die konnte einiges ab –, und einen alten Schwarzweißfernseher, der brummte und das Bild wegkippte, wenn es spannend wurde.
All das wollte sie heute auf den Boden schaffen. Drei-Zimmer-Wohnung, das hörte sich großzügig an, und in den hohen Hamburger Altbauwohnungen konnte damit auch ein Palast gemeint sein, aber leider gehörte Lus Erdgeschoßwohnung nicht in diese Kategorie. Ihre Wohnung war eher ein Tunnel, der von der Helmutstraße, in deren Hausnummer sechs sie sich befand, bis in den Hinterhof zum Andersenplatz reichte. Dort diente ein immerhin handtuchgroßer Garten Rollo im Hochsommer als Räkelwiese – im Frühling, Herbst und Winter war es ihm da draußen natürlich zu unwirtlich. Drei Zimmer, Duschklo und Küche reihten sich wie aufgefädelt aneinander, begleitet von einem Flurschlauch, der im Falle von Untermieterinnen, mit denen man sich nicht verstand, sehr problematisch werden konnte. Carol zum Beispiel, eine Amerikanerin, die ihrer großen Liebe nach Hamburg gefolgt war und sich nach sechsmonatigem Honeymoon bei Lu als Untermieterin wiederfand, verzweifelt, depressiv und unerträglich, hatte immer demonstrativ ihre Zimmertür geschlossen, wenn Lu sich aus ihrem Hinterzimmer mit Blick auf den Garten in Richtung Küche in Bewegung setzte. Der Flur war knapp ein Meter zwanzig breit, dafür sieben Meter lang, da gab es kein Ausweichen. Man mußte hautnah aneinander vorbei. Und je mehr Kisten und Kartons, seien sie nun dem Nachlaß von Untermieterinnen oder Lus eigenem Sammeltrieb geschuldeter Plunder, sich im Flur an der Wand stapelten, desto hautnäher wurde die Begegnung. Die niedrigen Decken und die wenigen Sonnenstrahlen, die das Erdgeschoß erreichten, taten ein übriges, um den Tunnelcharakter zu verstärken.
Aber für Lu war ihre Wohnung ein Traumschloß, ein Versteck vor dem Rest der Welt, eine Oase der Ruhe, ein Nest, eine geräumige Hundehütte. Ein Ort, um den sie heiß gekämpft hatte. Und den Mietvertrag, allein auf ihren Namen, hätte sie sich zu Anfang am liebsten gerahmt an die Wand gehängt. Hier bin ich. Alle anderen haben zu klingeln.
»Hier.« Lu öffnete die Tür zum Mittelzimmer. »Habe ich nicht ein schönes Gästezimmer eingerichtet?«
Annmarie sah auf die Matratze am Boden, den beigefarbenen Sessel, der einmal ihrer eigenen Couchgarnitur angehört hatte, den Campingtisch mit dezenter Tischdecke. Das Fenster lag ganz in der Ecke und ging auf den Schacht.
»Willst du nicht ein paar von deinen Fotos aufhängen?«
Ich bin ein Voyeur. Ich bin so ein Schwein, das anderen Leuten in die Fenster guckt. Von morgens bis abends tue ich nichts anderes, als auf meiner Fensterbank zu lehnen und das Haus gegenüber zu beobachten. Und es geht viel vor in diesem Haus voller Schweine.
Es ist ekelhaft, was die Leute treiben, ich bin ja gezwungen, es mit anzusehen, ich weiß Bescheid. Und ich merke mir alles: Es wird einmal zur Sprache kommen. Am besten im Blick habe ich die kleine Schlampe im Erdgeschoß. Sie hat einen separaten Eingang, und ich bekomme genau mit, was vor sich geht. Die ist die Schlimmste von allen. Jede Bewegung von ihr registriere ich. Ihr Köter bellt ja laut genug, wenn sie das Haus verläßt. Sollte ich einmal eingenickt sein, werde ich gleich wieder wach von dem Gekläff. Jetzt hat sie auch noch die Gardinen abgenommen. Um so besser für mich.
Ich bin nur ein Wichser. Das gebe ich zu. Ich bin ein Spanner.
Bevor Lu zur Arbeit ging, hatte Rollo Anspruch auf seine morgendliche Runde. Er belauerte ihr Frühstück, und wenn sie dann aufstand, sich die Schuhe anzog und zur Hundeleine griff, war es aus mit seiner Fassung. Mit akrobatischen Verrenkungen und Luftsprüngen feierte er seinen Erfolg, und sein lautes Gekläff hallte zusammen mit Lus nutzlosem »Rollo, still jetzt«, »Rollo, bist du jetzt still«, »Verdammt, halt jetzt die Klappe« durch die Helmutstraße.
»Er freut sich doch so«, sagte die alte Dame von gegenüber, die sommers wie winters ihren grauen Kamelhaarmantel trug. »Er ist so ein guter Hund.«
Aber Lu konnte sich nicht an das heftige Gebell in ihrem Rücken gewöhnen, während sie die Haustür abschloß. Es tat ihr in den Ohren weh, und die Tür mußte trotzdem verschlossen werden. Rollo konnte auch anders bellen, bedrohlich tief und rollend oder ganz leise und wachsam. Das war in Ordnung. Nur dieses aufsässige Gekläff brachte sie auf die Palme. Es wurde eingesetzt, um sie unter Druck zu setzen, wie Strafmandate, Prüfungen oder Nörgelei. Und Lu haßte es, unter Druck gesetzt zu werden.
In der Fränkelallee strömten die Kinder zur zweiten Schulstunde. Rollo suchte sich seinen Weg durch die bunten Anoraks.
»Paß auf, ein riesengroßer Hund«, schrien sich die Kinder zu. Aber Rollo kümmerte sich gar nicht um sie. Seitdem Kampfhunde Kinder und Erwachsene angefallen und gebissen hatten und die Medien sich auf das blutrünstige Thema stürzten, hatte die Angst vor großen Hunden pathologische Ausmaße angenommen. So gefährlich manche Hunde und besonders ihre Halter sein mochten und zu allen Ängsten Anlaß gaben, so gut paßte die neue Panik ins Stadtbild: Alles, was unberechenbar, wild, neugierig oder ungezügelt ist, gehört eingesperrt und angeleint. Kein Tier achtet die Grenzen von mein und dein. Rollo steckte seine schwarze Nase in jede Einkaufstüre, die er erreichen konnte. In Tabakläden stand er sofort hinter dem Tresen und bettelte um Frolics. Eine offene Tür zum Schlachterladen begriff er als Einladung. Er sprang an fremden Autos hoch, wenn darin ein Kollege kläffte, und zerkratzte den Lack mit seinen abgewetzten Krallen. Vor allem aber bepinkelte er Gartenzäune, Mülleimer, Fahrräder, lieber noch Motorräder unter großen Plastikplanen und früher auch die Straßenauslagen der Obst- und Gemüsehändler. Bis Lu einmal einen häßlich grauweiß-gestreiften Baumwollrock kaufen mußte, weil Rollo ihn als zu seinem Revier gehörig gekennzeichnet hatte. Seither hatte sie ihm die Pinkelei an jedweden Geschäftsauslagen abgewöhnt.
Trotzdem konnte Lu nicht einsehen, warum sie Rollo an die Leine legen sollte. Er hatte nie begriffen, vernünftig damit umzugehen, sondern legte sich mit der Kraft seiner 45 kg in die Seile, als wären seine Vorfahren Schlittenhunde gewesen und nicht Schäferhunde aus der Beauce, einem stillen, landwirtschaftlich genutzten Departement zwischen Paris und Rennes. An jeder Straßenkreuzung wartete sie auf ihn und stand grundsätzlich an roten Ampeln, weil Rollo während der Grünphasen nicht aufzutauchen pflegte. Rollo gab das Tempo an, und das war geprägt von gut, mittelgut und schlecht riechenden Stellen und nicht von Ampeln, Uhren und Terminkalendern. Lu kassierte gleichmütig die Beschimpfungen der Mitbürger und Mitbürgerinnen, die sich – mit oder ohne Pinscher – empörten, wie man ein so gefährliches Tier frei herumlaufen lassen konnte. Denn gefährlich war er, weil er groß und schwarz wie ein Brikett war.
»Das sagen alle, daß ihr Hund nicht bissig ist. Aber das kann man doch nie wissen!« schrien ihr mindestens einmal am Tag kompakte Herren in Wolljacken und Schlägermützen nach, während sie ihre Dackel an Stretchleinen auf die andere Straßenseite zerrten und Verkehrsstörungen provozierten, denn Rollo hatte in seinen neun Lebensjahren einfach kein Gefühl für Straßenseiten bekommen. Und wenn so eine Dackeldame vor ihm hergezogen wurde, wie man einem Esel eine Möhre vorhält, damit er sich endlich in Bewegung setzt, klebte er mit seinem gut ausgebildeten Riechorgan am Hinterteil dieser Hundedame. Und es war ihm völlig gleichgültig, ob deshalb ein Mercedes bremsen mußte oder ein Lkw sich querlegte und was für Unverschämtheiten sich das fremde Herrchen und das eigene Frauchen von Straßenseite zu Straßenseite an den Kopf warfen oder was sie an tierpsychologischem Halbwissen austauschten. Mit ihm konnte das nichts zu tun haben.
Lu konnte nicht sagen, daß sie Rollo nicht schätzte. Daß sie ihn nicht insgeheim bewunderte wegen der Standhaftigkeit und Selbstsicherheit, mit der er für die Befriedigung seiner Bedürfnisse sorgte. Sie hätte nicht einmal abgestritten, daß sie selbst manchmal gern ein Hund gewesen wäre, mit fest umrissenem Revier, festgelegten Hierarchien, festgelegten Ritualen. Was sie allerdings sicher nicht sein wollte, war eine Hündin. Das war klar.
»Guten Morgen, Frau von der Heide.«
Lu sah nicht auf, und da sie den Mund voller Reißzwecken hatte, brauchte sie die Begrüßung auch nicht zu erwidern. Nicht einmal falsch grinsen, passend zum falsch-freundlichen Singsang in Frau Klages’ Guten-Morgen-Stimme. Die Feindschaft zu ihrer Chefin war so alt wie ihr Arbeitsvertrag hier: Sie galt vom ersten Tage an.
»Stellen Sie sich vor, Frau von der Heide, Remmer zieht seine Zeichnungen zurück. Hoffentlich haben Sie noch nicht angefangen, die Passepartouts dafür zu schneiden? Ich halte das für eine Unhöflichkeit ersten Grades. Das war natürlich das letzte Mal, daß wir uns von ihm auch nur etwas angesehen haben. Was halten Sie davon? Haben Sie wohl eine Zigarette für mich? Natürlich, Sie sind ja so eine Gute …«
Frau Klages kämpfte mit dem Feuerzeug und inhalierte gierig den ersten Zug.
»Ich bin natürlich wieder völlig überlastet. Mein Bruder hat es mir überlassen, sämtliche Importerklärungen für die neue Sendung aus den USA auszufüllen, und Sie wissen ja, wie unbeholfen ich in so etwas bin. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie überlastet ich bin. Ich darf mich doch eine Sekunde zu Ihnen setzen?«
Lu spuckte die letzten Heftzwecken aus und legte den Rahmen aus der Hand. Zurückhaltende Höflichkeit war ihr einziger Schutz gegen die Chefin. Trotzdem blieb eine Spur Demut und Unterwürfigkeit in ihr zurück, die beißend wie Sodbrennen in ihrer Kehle stand, wenn Frau Klages ihren Werkstattkeller wieder verließ und in die nobleren Etagen ihrer Galerie zurückkehrte. Lu war hier nicht nur zuständig für alle Fummel- und Dreckarbeiten, die in einer Galerie für zeitgenössische Kunst, wie sich der Laden selbstbewußt nannte, anfielen, sondern auch der gute Kellergeist, die allzeit bereitstehende seelische Mülltonne, wandelnder Zigarettenautomat, Auskunftei in besonders kitzligen Fragen des Zeitgeistes und überdies eine so billige wie willige Arbeitskraft, daß Frau Klages sie tief in ihr feindseliges Herz geschlossen hatte. Neben Demut und Unterwürfigkeit pflegte Lu also auch gründlich ihre Selbstverachtung in diesem Arbeitsverhältnis, das am Ende einer langen Reihe von Unternehmen stand, die sie als Aushilfsverkäuferin, Putzfrau, Bürohilfe, Vertretung und Halbtagskraft in den letzten Jahren mit ihrer tätigen Anwesenheit beglückt hatte.
»Aber irgendwo muß die Kohle ja herkommen«, murrte sie, als Frau Klages den Keller wieder verließ. Und wer weiß, was sie noch alles tun müßte, um ihr Geld zu verdienen, ehe die Welt die Fotografin Lu von der Heide entdeckte. Von Brünns unregelmäßigen Fotoaufträgen konnte sie unmöglich leben. »Du mußt deinen eigenen Stil finden oder dich anpassen«, hatte er gesagt. Aber mehr als daran arbeiten konnte sie nicht. Sie war eben nicht gut genug. Lu griff wieder nach dem Rahmen, der mit dem schauderhaften Gepinsel eines neuen US-Schützlings bespannt werden mußte, und steckte sich den Mund voll Reißzwecken, um dem Gejammer ein Ende zu bereiten.
Am 2. Juni machte Lu eher Schluß in der Galerie. Sie war nervös: ein fremder Mann in ihrer Wohnung, einer, den sie noch nie gesehen hatte und von dem sie nichts wußte, als daß er ihre Fotos schätzte.
»Vielleicht magst du ein paar Bilder zu meiner Ausstellung beisteuern?« hatte Karlheinz sie am Telefon gefragt. Eine aufgeregte Stimme, die dreimal Vor- und Nachnamen genannt hatte und am ersten Satz so lange herumstotterte, bis Lu auch ganz aufgeregt wurde. Warum bloß? Weil seit zwei Jahren kein Mann mehr in ihrer Wohnung übernachtete? Weil Männer einfach nicht mehr stattfanden? Weil sie beschlossen hatte, fünf Jahre eheähnliches Verhältnis waren genug? Jede Verliebtheit erschien ihr seitdem wie ein atemloses Davonrennen vor der Tatsache, allein zu sein, allein zu bleiben auch in der innigsten Umarmung. Schlimm genug, daß diese Erkenntnis zur Trennung von Klaus geführt hatte. Die Einsicht, einander nur in Ausschnitten zu begleiten und nahezukommen, war wie ein Messer, das alle gemeinsamen Fäden durchtrennte. Nichts ging mehr zusammen, außer Streit und Gezerre. Kein schlechter Kitt, wenn die Verliebtheit verbraucht war. »Ich war ein Jahr lang verliebt und habe mich vier Jahre lang getrennt«, faßte Lu diese fünf Jahre zusammen.
Keine Erfahrung, die man gern wiederholt.
Trennungen sind wie Todesfälle. Sie erfordern Trauerarbeit. Lu war mit Rollo durch die Elbmarschen gelaufen oder von den Landungsbrücken bis Blankenese. Sie sah die Wintersonne über der Elbe, die dicken Schlepper und die großen Kähne, die in die ganze Welt ausliefen; sie sah den Frühling an den schwarzen Zweigen der Erlen und Buchen aufwachen; sie spürte den letzten Rest Elbsand unter den nackten Füßen, und am Abend, mit der Sonne im Rücken, fühlte sich ihr müder, erschöpfter Körper vertraut an; er forderte Tribut. Ein Mann dagegen war die Antwort auf keine Frage.
Warum also diese Aufregung, weil ein junger Mann am Telefon das Stottern bekam? Warum fing sie selbst an zu stottern? Und was sie viel mehr beunruhigte: Die Stimme dieses Karlheinz wurde gelassener und ruhiger in dem Maße, wie ihre Finger feucht vor Aufregung den Hörer umklammerten. »Ja, ich würde dich auch gern einmal kennenlernen. Du kannst jederzeit hier in Hamburg bei mir wohnen. Ich habe Platz genug.«
Dachte er jetzt, sie hätte nur auf ihn gewartet? Sie wohnte allein, weil sie es sich so ausgesucht hatte! Sie wollte ihm nur mitteilen, daß er willkommen wäre. Statt dessen glitt das Gespräch gleich in die falsche Richtung – eine Frau allein, einsam und verlassen! Hätte sie doch gar nichts gesagt, nur ja und nein, sollte er sich doch selbst überlegen, ob er willkommen war.
»Du bist ja so atemlos«, sagte Karlheinz und wurde die Ruhe selbst.
»Ich bin etwas hektisch«, haspelte Lu und stolperte über die eigene Zunge. Ihr Herz raste, und die Luft blieb ihr jetzt ganz weg. »Außerdem habe ich mir gerade eine Zigarette angezündet.«
»Ach, du bist Raucherin? Ich bin recht militanter Nichtraucher.«
Lieber war sie eine unbeliebte Raucherin als das atemlose, aufgeregte Geschöpf, das nicht mal mehr eine Antwort stottern konnte.
»Ich schreibe dir, wenn ich weiß, wann ich in Hamburg sein werde. Telefonieren ist doch recht teuer. Machen wir erst mal Schluß, ja?«
Der sparsame Schwabe und die geschwätzige Hamburgerin – ja, hatte sie denn das Gespräch in die Länge gezogen? Dann wechselte die Stimme wieder, ganz Samt und Seide, so wie seine Handschrift. Fein und jederzeit bereit, in Falten zu fallen. Er komme bald, er freue sich schon drauf.
Lu war erschöpft nach diesem Telefonat, wie nach einem Drahtseilakt.
Man wird schrullig, dachte Lu, als Karlheinz drei Tage bei ihr hauste. Sie war kein Putzteufel, aber sie hatte gewisse Ordnungsprinzipien, die vielleicht für andere nicht einsehbar, für sie selbst aber lebenswichtig waren. Man mußte nicht gleich nach dem Essen das Geschirr spülen, das verdarb den Genuß am Nachtisch, an der Zeitung, an der Zigarette oder am letzten Glas Wein. Aber man mußte Teller und Tassen so stapeln und forträumen, daß man ungehindert die nächste Mahlzeit zubereiten konnte. Karlheinz wußte nichts davon. Teebecher und Brettchen befanden sich nach dem Frühstück genau dort, wo er sie benutzt hatte, statt auf der Ablage über der Waschmaschine, wo Lu benutztes Geschirr stapelte. Zuerst ließ sie seine Sachen stehen und hoffte darauf, daß ihm am Abend, wenn er heimkam, der Teebecher vom Morgen mitten auf dem Küchentisch auffallen würde. Er tat es nicht. Statt dessen arrangierte Lu den ganzen Tag ihre Einkäufe und Essensvorbereitungen, Zeitung und Hundefutter um Teebecher und Brettchen herum, bis sie es leid war und alles beiseite räumte.
Zeitungen, Zeitschriften und Bücher gehörten in ihrer Wohnung ebenso zum Inventar wie Hundehaare, Grünpflanzen oder ihr Fotomaterial: All das hatte keine festen Orte, sondern war überall. Bücher lagen nach Stapeln sortiert, weil sie sich immer schneller ansammelten, als sie gelesen und verdaut werden konnten. Es gab einen Stapel ›schon gelesen, aber noch nicht reif fürs Regal‹, das eine Art Friedhof war. ›Noch nicht gelesen‹ stapelte sich neben dem Schreibtisch, ›angelesen und zurückgestellt‹ neben dem Sessel, ›gelesen und zurückbringen‹ in die Bibliothek oder zu privaten Verleihern – gleich neben der Haustür auf dem Flurtisch. Aber das hatte nicht das Geringste mit Unordnung zu tun und erst recht nichts mit Unsauberkeit, von einem leichten Staubfilm auf den Büchern abgesehen. Karlheinz schien diese Ordnungsprinzipien nicht zu begreifen, und Lu war verblüfft, zwischen der aufgesparten Wochenendzeitung, dessen Feuilleton sie noch nicht gelesen hatte, ein Paar schmutzige Socken zu finden. Sie hatte ihm ein ganzes Zimmer überlassen; wieso mußte er seine Schmutzwäsche in ihrer Zeitung aufbewahren? Das Chaos in »seinem« Zimmer ließ sie kalt; sie schloß die Zimmertür, wenn er die Wohnung verlassen hatte. Aber nach und nach verwandelte er die ganze Wohnung in ein Chaos, das nichts mehr mit ihrer geordneten Unordnung zu tun hatte. Veranstaltungsprogramme, Zeitschriften, Studienunterlagen, Stadtplan und Hamburg-Infos lagen auf dem Tisch, auf dem Sofa, auf dem Boden, und Rollo stand unglücklich quiekend vor seinem nicht näher bezeichneten Lieblingsplatz zwischen Sessel und Bücherregal, wo ein Paar Schuhe in einer Plastiktüte stand, – als hätte Lu nicht eine ganze Ecke auf dem Flur für Schuhe reserviert. Man wird eigenartig, sagte sich Lu und räumte die Schuhe weg, damit Rollo Ruhe gab. Sie sollte Karlheinz einfach ihr Ordnungssystem erklären, aber das schien ihr so kleinlich, kleinkariert.
Karlheinz war gegen acht Uhr abends in der Helmutstraße aufgetaucht. Rollo begrüßte den Besuch mit Gebell und überbrückte die beiderseitige Verlegenheit, indem er sich zum Thema machte.
»Ein Hund! Tut der auch nichts?«
Rollo schnüffelte zentimeterweise Hosenbeine und Gepäck ab. Karlheinz war etwa einen Meter siebzig groß, schmal, mit einem wirren Stoß dunklem Haar auf dem Kopf. Er hielt die Arme abwehrend vom Körper weggestreckt und hatte seinen Rucksack Rollo vor die Nase fallen lassen wie ein Pfand. Als könne er das Tier damit besänftigen, glaubte er sofort und bedingungslos an Rollos reinrassige Abstammung – keine Selbstverständlichkeit – und erkundigte sich nach seinen hündischen und erbbedingten Eigenschaften. Eine Weile später war er schon bereit, den großen, schwarzen Hundekopf auf seinen Knien zu streicheln, und fühlte sich sogar geschmeichelt, als der Riese sich zu seinen Füßen niederließ und ihn aus bettelnden Augen ansah.
»Meinst du, Rollo mag mich?« fragte er und kraulte das schwarze Nackenfell.
Lu konnte das nicht mit Bestimmtheit beantworten.
»Im allgemeinen mag Rollo jeden, den ich mag.«
Karlheinz sah sie an. Prüfend, dann blitzten seine Augen. Er legte beide Hände auf den Hunderücken.
Schmale, feingliedrige Hände, die jeden Muskelstrang zu fühlen schienen. Im nächsten Augenblick aber wischten sie jeden Eindruck von Schwäche mit energischen, klaren Bewegungen fort. Ein womöglich leidenschaftlicher Mann. Aber etwas in ihm schien eingesperrt zu sein. Aus den Augen sprühte ungeheure Energie, die darauf verwandt wurde, sich selbst zu bändigen. Er spielte mit seiner Stimme wie mit einem Instrument. Sie näherte sich an und wich zurück, senkte sich wie ein Lot in einen Brunnen. Lu mußte lachen, bis sie glaubte, niemals so sehr gelacht zu haben, und mit einem einzigen Blick machte er sie wieder stumm. Schon am ersten Abend war ihr klar, daß sie im Begriff war, sich zu verlieben. Sie ließ alle Vorsicht fahren und fand es wunderbar.
Karlheinz studierte Kunstgeschichte und saß mit seinen sechsundzwanzig Jahren bereits an der Promotion, schrieb Artikel für Kunstzeitschriften, wurde um Gutachten gebeten und bereitete gerade seine zweite Ausstellung vor. Er bildete sich nichts darauf ein, sondern er schien es ganz normal zu finden, daß seine Fähigkeiten anerkannt und geschätzt wurden.
»Ich habe auch Kunstgeschichte studiert«, erklärte Lu, als er sich wunderte, daß sie Renaissance und Barock auseinanderhalten konnte. Sie hatte sich während des Studiums hauptsächlich mit dem weiblichen Akt beschäftigt. Dann kam die Fotografiererei dazu. Als sie die Möglichkeit bekam, ihre ersten Aktfotos auszustellen, hatte sie das Studium an den Nagel gehängt und wollte nur noch fotografieren. Und vor allem leben, statt Bücherweisheiten aneinanderzureihen. Und dann kam sowieso alles ganz anders.
»Aber ich habe das Studium abgebrochen.«
Karlheinz nickte gleichmütig und fragte nicht nach. Sie hätte ihm ihre Gründe gern erklärt, aber da es ihn nicht zu interessieren schien, drückte sie ihm die Möhren in die Hand.
»Die müssen geschält werden.«
Karlheinz sah auf.
»Mit diesem Messer?«
Sie gab ihm ein schärferes Messer.
»Hast du keinen Schäler?«
Sie nahm ihm die Möhren wieder ab und gab ihm die Paprikaschote zum Zerteilen. Ein bißchen unbeholfen schien er schon zu sein, der Herr Kunsthistoriker.
»Weißt du, ich muß hier in Hamburg ein paar Unterlagen einsehen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, ein oder zwei Wochen vielleicht.«
»Meinetwegen kannst du gerne so lange hier wohnen.«
Lu wandte sich mit den Möhren zur Spüle und wartete auf eine Bestätigung ihrer Einladung. Aber da kam nichts. Offenbar hatte er nichts anderes erwartet. Sein Kopf mit der dunklen Wolle beugte sich tief über die Paprikaschote, aus der er sorgfältig alle Kerne pulte. Er schien sich wohl zu fühlen. Und Lu fühlte sich wie eine große, runde Mutter mit vielen Röcken, unter die er schlüpfen konnte. Es rührte sie. Es machte sie glücklich.
Jetzt hat sie sich einen Typen geangelt, die kleine Schlampe im Erdgeschoß. Schon als er ankam, wußte ich, was da vor sich gehen wird. Mit seinem Rucksack und einer großen Tasche behängt stand er vor ihrer Tür und hat sich das ganze Haus angesehen. Auch hier rüber hat er geguckt. Hat seine Bedingungen abgeschätzt. Ich kenne die doch, diese Halunken. Aber mich hat er nicht bemerkt hinter meinem Fensterkreuz. Mit solchen werde ich noch leicht fertig. Sie hat ihm gleich einen Hausschlüssel zugesteckt, damit er sie befummeln kann, wann immer er will. Und was er will, das steht ihm im Genick geschrieben. Ich habe Erfahrung, ich weiß, wie die Kerle aussehen, die es immer nur auf das eine abgesehen haben. Tag und Nacht wird er an ihr rumfummeln, und sie, die Schlampe, läßt es zu. Es bringt mich zur Raserei. Ich sehe rote Flecken vor Wut, Kreise. Ich muß mich zwingen wegzusehen. Ich kann mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen als diese Qual, immer alles mit ansehen zu müssen!
Seitdem Wolfgang sie verlassen hatte, war Annmarie um die Hälfte dünner geworden. Früher aß und kochte sie nur von feinsten Zutaten, probierte laufend neue Rezepte, arbeitete mit gußeisernen Töpfen und mit rasierklingenscharf geschliffenen Messern, die sie leicht und geschickt handhabte. Sie buk traumhafte Souffles, setzte Marinaden an, garnierte Vorspeisen mit Kräutern, Nüssen, Obst, kochte und aß sich einmal quer durch die Weltgeschichte der Kochkunst. Lu profitierte nicht schlecht von dieser Sitte. Wann immer sie hungrig und genervt von ihren Jobs nach Hause kam, genügte ein Anruf, und sie konnte sich an einen gedeckten Tisch setzen. Aber seit Wolfgang sie verlassen hatte, war Annmarie zum Eßmuffel geworden, und wie sie jetzt in ihrer Küche saß, die Hände müde auf dem Bademantel abgelegt wie zwei tote Vögelchen, konnte sich Lu kaum mehr vorstellen, wie flink diese Hände Gemüsestifte geschnitzt und Eier verquirlt, Paniermehl und Käse gerieben oder Trauben entkernt hatten.
»Und dein Besuch«, fragte Annmarie müde. »Kann der nicht kochen?«
»Karlheinz? Ich glaube, er weiß nicht mal, wie man den Herd anstellt. Aber sonst …« Sonst was? dachte Lu.
»Wolfgang konnte gut kochen«, sagte Annmarie mit wackliger Stimme. »Das will alles nichts heißen.«
Früher hatte sich Annmarie einmal monatlich von Lu fotografieren lassen. Eine Jahresserie war fertig geworden.
Rund, beweglich und sprühend vor Lebenslust.
So ein Elend, dachte Lu und stand auf, um selbst den Kochlöffel zu schwingen.
Als sie in ihre Wohnung kam, klingelte das Telefon. Lu rannte über den Flur, weil der Apparat auf ihrem Schreibtisch stand. Aber als sie ihn erreichte, meldete sich niemand mehr. Sie hörte nur noch, wie nach einem kurzen Zögern die Verbindung unterbrochen wurde.
Langsam legte sie den Hörer auf die grüne Gabel und sah in den Garten, der ebenfalls üppig grünte. Vier von den dicken, gelben Rosen waren aufgeblüht; sie hatte den Busch im Herbst kräftig heruntergeschnitten. Ihr war sehr nach Rosen zumute in diesem Sommer. Sie hatte richtigen Heißhunger auf Rosen.
Sie zog ihren Baumwollpulli aus, stieg aus den Sandalen und streifte die Socken ab. Barfuß ging sie in die Küche. Karlheinz, eine halbleere Einkaufstasche über den Arm gehängt, stand am Küchentisch und starrte auf die Fotos.
»Was sind denn das für Fotos?« Er sah sie an, als hätte er einen prähistorischen Fund gemacht. »Wo hast du die her?« »Ich lasse immer bei PPS entwickeln. Das ist hier in der Nähe, im Bunker an der U-Bahn Feldstraße.«
Lu fuhr sich durch die Haare und griff nach einem der Gummibänder, die auf dem Kühlschrank herumlagen. Sie zupfte ein blondes Haarpärchen vom Gummi und band sich die Haare hoch.
»Hast du etwa diese Fotos gemacht?«
»Ja, wer denn sonst?« Sie nahm eine der Schwarzweißaufnahmen hoch, die auf DIN-A4-Format vergrößert war. »Das ist Imke. Sie ist schön, nicht? Ich will demnächst eine Serie auswählen und für einen Wettbewerb einreichen. Vielleicht haben wir ja Glück. Auf dem Zeitschriftenmarkt werde ich so was natürlich nicht los.«
Der Akt, schräg von hinten aufgenommen, mit zugewandtem, über die Schulter gedrehtem Gesicht, zeigte eine große, dicke, aber sehr graziöse Frau. Straffe Haut spannte sich über ihre Rundungen, und der Blick über die Schulter war weder frivol noch neckisch oder aufreizend. Es war ein nachdenklicher, konzentrierter Blick, der der Nacktheit Seriosität verlieh. Da zeigte sich ein Mensch, leicht vornübergebeugt, leicht gedreht und beobachtete den Beschauer. Ein kontrollierter Blick. Kein Blick in den Spiegel.
Karlheinz machte keine Anstalten, sich die Jacke auszuziehen oder die Tasche abzustellen. Er mußte gerade hereingekommen sein von seinem Einkauf im Bio-Laden. Müsli und Vorzugsmilch, fürchtete Lu, der Schlaffheit des Stoffbeutels nach zu urteilen. Warum er wohl nicht an den Einkauf fürs Wochenende gedacht hatte, an den Tee, der alle war, oder an eine Flasche Wein für Lu, um ihr eine Freude zu machen? Nicht mal ein Knochen für Rollo war dabei.
Karlheinz nahm ein weiteres Foto und noch eins. Er wühlte den ganzen Haufen durch. Weiter unten kamen die Profilaufnahmen von Habib.
»Du fotografierst auch Männer?«
Lu wollte einen Augenblick lang genervt sein, besann sich dann aber.
»Das ist Habib. Er wollte ein schönes Foto von sich.«
»Mit Erfolg. Was hat er denn da am Hals?«
»Die andere Hälfte seines Gesichtes ist verunstaltet. Er hat als Kind einen Napalmangriff überlebt.«
Karlheinz ließ das Foto fallen, als wäre es glühend heiß. Er sah erschrocken auf.
»Er ist Iraner.«
Karlheinz nahm das Foto wieder auf und stellte seine Tasche ab. Lu hörte die Milchflasche auf die Tischplatte stoßen. Er ergriff das Foto mit beiden Händen und sah es sich ganz genau an. Lu zeigte auf den schmalen Streifen an Habibs Hals. »Siehst du? Hier. Bis dahin gehen die Narben. Auch an der Nase sieht man sie. Dabei ist er schön, nicht?«
Karlheinz hielt das Foto fest in beiden Händen und studierte es wie einen kleingedruckten Fahrplan.
»Wie hast du das beleuchtet? Der Mann ist nicht schön. Er ist schön fotografiert.«
»Tageslicht. Ich arbeite meistens mit Tageslicht. Auch im Studio. Wenn man erst mal mit Technik anfängt, braucht man immer mehr. Reflektoren, Abblender, Rotlicht, Filter, schließlich einen Techniker, der einem alles einrichtet. Das kann ich mir nicht leisten. Ich bin schließlich Hobbyfotografin.«
»Das sind Profifotos.«
Lu raffte die Fotos zusammen. Wie albern, er wollte ihr nur schmeicheln.
»Warum machst du das, warum fotografierst du so … schwierige …« Karlheinz stockte und sah sie an. Sein Gesicht lag ganz offen vor ihr. Bewunderung, Staunen, Verwirrung. Lu wünschte sich plötzlich, er würde sie in die Arme nehmen und fest an sich drücken. Sie könnte ihm über die Wangen fahren, über die Haare, ihre Hände auf seine Schultern legen und danke sagen. Dafür, daß er ihre Arbeit schätzte, daß er sie sah. Aber sie preßte nur ihre Fotos an die Brust, als hätte sie schon zuviel gezeigt, oder als könnte er seine Meinung ändern. Plötzlich genau hinsehen und sagen: Oh, ich habe mich geirrt, das ist ja doch alles nichts wert.
»Kochen wir was?« fragte sie, und ihre Stimme kippte ein bißchen, war betont fröhlich. »Ich habe Hunger, du auch?«
»Ja! Ja!« Karlheinz zog mit heftigen Bewegungen seine Jacke aus und stellte Milch und Müsli auf den Tisch. »Du, ich habe aber gar nichts fürs Mittagessen eingekauft.«
»Ich aber. Was hältst du von Pfannkuchen?«
Zum vierten Mal begann Lu, die Zahlenkolonne zusammenzurechnen. Sie stimmte nie mit den Vorgaben von Frau Klages überein. Kein guter Anfang für die ehrenwerte Aufgabe, die ganze Kölner Expo selbständig vorzubereiten.
»Frau von der Heide, mein Bruder und ich haben beschlossen, daß Sie die Köln-Expo dieses Jahr allein vorbereiten können. Mein Bruder wird den ganzen Sommer in den Staaten sein und erst direkt zur Vernissage zurückkommen. Und ich bin einfach zu überlastet. Wenn ich allein an die Hamburger Verkaufsausstellung Anfang September denke … Und für Sie ist Köln doch eine schöne Aufgabe, nicht wahr?«
Von einer Gehaltserhöhung hatte Frau Klages auch gesprochen, vor allem aber von viel Arbeit, viel Organisation, viel Einsatz, viel Ehre. Für die Werkstattarbeiten sollte ein Student eingestellt werden. Lu mußte den weißen Kittel an den Nagel hängen und fand sich wieder in einem hinteren Büroraum mit einem sahnequarkgelben Telefon auf dem Schreibtisch, diversen Zetteln, Notizen und Arbeitsanweisungen in Frau Klages’ gotischer Spitzbogenschrift. Und wann arbeite ich mit der Kamera weiter? dachte Lu zwischen 8000 DM kalkulierten Hotelkosten und 710 DM Glasbruchversicherung. Soll ich die ganze Nacht im Labor stehen und morgens mit den ersten Sonnenstrahlen im Studio auftauchen? Imke wird mir was husten. Hier: Fahrtkostenabrechnungen, Anmeldebestätigungen, Drucktermine. Das soll ab jetzt der Lebensmittelpunkt sein. Vielleicht hatte Frau Klages ja die realistischere Einschätzung von Lus Fähigkeiten, vielleicht war sie nur eine gute Sekretärin mit der Lieblingsfarbe Grün, der Lieblingsblume Rose und dem Hobby Fotografieren. ›Und was fotografieren Sie am liebsten, Frau von der Heide?‹
Mollige, nackte Frauen!
Wie suchst du deine Modelle aus, was ist dein Konzept, wo hast du das gelernt? Einen ganzen Kübel voll Fragen hatte Karlheinz über sie ausgekippt zwischen Zwiebeln schälen, Champignons schneiden und Teig anrühren für die Pfannkuchen.
»Und warum sagst du, du wärst Hobbyfotografin? Das verstehe ich überhaupt nicht.«
»Ich lebe nicht von meinen Fotos, ganz einfach. Ich jobbe. Bin gerade aufgestiegen zur Allround-Managerin. Und die Fotos mache ich dann am Wochenende. Als Hobby. Was gibt es da nicht zu verstehen?«
Karlheinz saß am Tisch, das Messer, mit dem er sorgfältig wie ein Uhrmacher die Champignons säuberte und zerteilte, senkrecht aufgestellt, mit kerzengeradem Rücken, zornig.
»Warum sagst du das alles?«
»Weil es wahr ist! Ich kann Angeber und Aufschneider nicht leiden!«