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Nach außen hin ist West Ashby der gut aussehende Football-Held, der die Lawton Highschool zur Meisterschaft führen wird. Innerlich wird er jedoch von Ängsten um seinen krebskranken Dad zerfressen, und er kann mit niemandem darüber sprechen, da niemand davon erfahren soll. Als West eines Abends aber nicht mehr weiterweiß, vertraut er sich bei einer Party dem Mädchen an, das ihn bestimmt nicht verraten wird: Maggie, die seit einem schrecklichen Ereignis in ihrer Familie nicht mehr spricht. Umso mehr überrascht es West, als sie ihm plötzlich doch antwortet und dass er fortan an nichts anderes mehr denken kann, als an ihre sanfte Stimme und ihre weichen Lippen.
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Seitenzahl: 346
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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Heidi Lichtblau
ISBN 978-3-492-97316-8 Februar 2017 © by Abbi Glines 2015 Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Until Friday Night«, Simon Pulse, ein Imprint der Simon & Schuster Children’s Publishing Division, 2015 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016 Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München Covermotiv: Rka Barcza/EyeEm/Getty Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Für Kiki Maria und ihre schöne Tochter Mila. Kiki, du hast gesagt, du könntest es gar nicht erwarten, gemeinsam mit deiner Tochter meine Bücher zu lesen. Dieses hier ist euch beiden gewidmet. Dein schöner Geist lebt weiter. Mila, denk daran, dass du deine Mutter im Herzen immer bei dir trägst.
Ist sie nicht süß?
Ein Zuhause war das hier nicht. Doch ich wollte auch gar keines mehr – der Begriff weckte viel zu schmerzliche Erinnerungen.
Während der Hausführung spürte ich die Blicke meiner Tante und meines Onkels auf mir ruhen. Eine gewisse Hoffnung lag darin. Sie wünschten sich, es würde mir bei ihnen gefallen. Ich dagegen erhoffte mir schon lange nichts mehr und erinnerte mich auch gar nicht mehr daran, was für ein Gefühl das war.
»Wir haben oben ein Zimmer für dich hergerichtet«, meinte Tante Coralee vorsichtig. »Ich habe es in einem hübschen Himmelblau gestrichen. Soviel ich weiß, magst du die Farbe Blau.«
Richtig, einige Weihnachtsfeste zuvor hatte ich ein Faible für die Farbe Blau entwickelt. Und sogar das ganze Jahr über nichts als blaue Klamotten getragen. Allerdings gefiel mir die Farbe deshalb nicht zwangsläufig immer noch …
Ich folgte den beiden hinauf. Familienfotos hingen an den Wänden, und ich wandte den Blick schnell ab und starrte stur nach vorn. Auch bei uns im Haus hatte es solche Fotos gegeben, die meine Mutter stolz aufgehängt hatte. Doch diese Fotos täuschten nur etwas vor. Das Lächeln auf den Gesichtern war nur gestellt.
»So, da wären wir.« Auf der Mitte des Flurs blieb Tante Coralee stehen und öffnete die Tür zu einem großen Zimmer. Bis auf die blauen Wände war darin alles in Weiß gehalten.
Es gefiel mir. Hätte ich mich nicht vor meiner eigenen Stimme gefürchtet, hätte ich mich bei Tante Coralee bedankt. Stattdessen streifte ich meinen Rucksack von den Schultern, drehte mich zu ihr um und umarmte sie. Das musste reichen.
»Tja, ich hoffe es doch schwer, dass dir mein Zimmer gefällt«, ertönte eine tiefe Stimme an der Tür.
»Brady, lass den Unsinn«, mahnte Onkel Boone mit strenger Stimme.
»Hä? Ich wollte doch bloß nett sein«, erwiderte Brady. »Also irgendwie …«
An meinen Cousin Brady erinnerte ich mich nur vage. Bei Familientreffen hatte er sich nie mit mir abgegeben, sondern sich immer zügig mit dem Freund verdrückt, den er dabeihatte.
Nun lehnte er mit einem großspurigen Grinsen im Türrahmen, und das braune Haar fiel ihm über die Augen. Ach du Schreck, sie hatten mir sein Zimmer gegeben? Mist. Das wollte ich ihm nun wirklich nicht wegnehmen!
»Brady benimmt sich nur gerade etwas daneben«, erklärte Tante Coralee rasch. »In Wirklichkeit ist er mit seinem neuen Mansardenzimmer vollauf zufrieden. Schließlich hat er zwei Jahre an uns hingebettelt, dass wir das Dach für ihn ausbauen, damit er ein bisschen mehr Privatsphäre hat.«
Onkel Boone trat neben mich und legte seine große Hand auf meine Schulter. »Mein Sohn, du erinnerst dich an Maggie?« Seine Stimme ließ keinen Einwand zu.
Brady sah mich an. Zunächst genervt, dann etwas freundlicher und schließlich fast schon sorgenvoll. »Yeah, ich erinnere mich an sie.«
»Am Montag wirst du sie in der Schule herumführen müssen«, fuhr Onkel Boone fort. »Nachdem ihr beide in derselben Jahrgangsstufe seid, haben wir dafür gesorgt, dass ihr mehrere Kurse gemeinsam besucht, damit du ihr zur Not unter die Arme greifen kannst.« Mir schwante, dass Brady das schon alles wusste und die Information eher für mich gedacht war.
Seufzend schüttelte Brady den Kopf. »Ihr habt doch keine Ahnung«, murmelte er und verzog sich.
»Bitte, entschuldige Bradys Verhalten«, sagte Tante Coralee. »In letzter Zeit ist er so launenhaft, dass wir die halbe Zeit nicht wissen, was wir mit ihm anstellen sollen.«
Darauf hätte ich keine Antwort gehabt, selbst wenn ich geredet hätte.
Sie drückte meinen Arm. »Jetzt komm aber erst mal hier an. Pack deine Sachen aus und ruh dich aus. Falls du Gesellschaft brauchst: Ich bin in der Küche und bereite schon mal das Abendessen vor. Ach, und sieh dich ruhig überall um, wenn du magst. Fühl dich wie zu Hause.«
Da, wieder dieses Wort: zu Hause.
Nachdem Coralee und Boone gegangen waren, schaute ich mich in dem hübschen blauen Zimmer um und merkte zu meiner Überraschung, dass ich mich bereits geborgen fühlte. Wer hätte gedacht, dass sich dieses Gefühl je wieder bei mir einstellen würde?
»Du redest also wirklich nicht?« Ich wirbelte herum und sah, dass sich mein Cousin wieder in der Tür aufgebaut hatte.
Ich wollte nicht, dass er einen Brass auf mich hatte oder sich durch mich genervt fühlte. Wie aber konnte ich ihm beibringen, dass ich sein Leben nicht auf den Kopf stellen wollte und schon allein zurechtkam?
»Scheiße, das wird nicht einfach. Du bist …« Er lachte unsicher auf. »Das Ganze ist ja krasser als gedacht. Du hättest mir zumindest den Gefallen tun und hässlich sein können!«
Hallo?
Brad runzelte die Stirn. »Schau bloß, dass du keine Aufmerksamkeit erregst. Endlich hat meine Mom die Tochter, die sie schon immer wollte, aber für mich wird’s deshalb auch nicht leichter. Ich hab ein Leben, weißt du?«
Ich nickte nur. Logisch, dass er ein Leben hatte. Er war groß, mit dunklen Haaren und haselnussbraunen Augen, und seine breiten Schultern ließen erahnen, was für Muskeln sich unter seinem T-Shirt versteckten. Die Mädchen fuhren bestimmt alle auf ihn ab.
Ich hatte nicht vor, ihm in die Quere zu kommen, doch dass es so aussehen musste, nachdem ich sein Zimmer übernommen hatte, war klar. Und nun hatten mich seine Eltern auch noch in seine Kurse gesteckt!
Aber ich würde ihm beweisen, dass er sich keine Gedanken zu machen brauchte. Ich griff nach meinem Rucksack und holte den Block und den Stift heraus, den ich immer bei mir führte.
»Was tust du?«, fragte er verwirrt.
Schnell schrieb ich:
Ich komme dir nicht in die Quere, versprochen! Und du brauchst mir auch nicht in der Schule zu helfen. Aber lass deine Eltern einfach in dem Glauben. Ich komme auch so zurecht. Sorry, dass sie mir dein Zimmer gegeben haben. Wenn du willst, können wir das rückgängig machen.
Ich reichte Brady den Block. Als er meine Nachricht überflogen hatte, gab er ihn mir mit einem tiefen Seufzer zurück.
»Du kannst das Zimmer behalten. Mom hat recht, mir gefällt’s unterm Dach. Hab vorhin nur einen auf herzlosen Vollidioten gemacht. Und was die Schule angeht, da wirst du mich brauchen, ob du’s glaubst oder nicht.« Mit diesen Worten zog er ab.
Ich stand an der Tür und sah ihm auf seinem Weg runter zur Küche nach. Gerade wollte ich die Tür schließen, als Bradys Stimme heraufdrang.
»Was gibt’s zum Abendessen?«, rief er seiner Mutter zu.
»Spaghetti mit Hähnchengeschnetzeltem. Ich dachte mir, nachdem das dein Lieblingsessen ist, mag Maggie es vielleicht ja auch«, erwiderte Tante Coralee. »Ich wünschte, du würdest dir die Zeit nehmen, sie ein bisschen besser kennenzulernen«, setzte sie dann mit gesenkter Stimme hinzu.
»Hab gerade mit ihr geredet. Also, äh, sie hat mir geschrieben«, erwiderte er.
»Und? Sie ist doch eine ganz Liebe, findest du nicht?«
»Klar, Mom. Echt.«
So richtig überzeugt klang Brady allerdings nicht.
Ich hab dir doch gesagt, renn weg
Heute Abend würde ich mir die Kante geben. Das war mein fester Vorsatz.
Ich knallte die Tür meines Pick-ups zu und näherte mich dem Feld, auf dem das große Lagerfeuer die Dunkelheit erhellte und die Musik schon wummerte. Dieser Freitagabend war der letzte, bevor Football die nächsten drei Monate über wieder unser Leben beherrschte. Alle würden feiern. Pärchen würden auf den Ladeflächen ihrer Pick-ups rummachen, alle hätten ein Bier in der Hand, und bevor der Abend vorbei war, würde es mindestens einmal Zoff um ein Mädchen geben. Der Sommer endete, und unser Senior-Schuljahr begann.
Aber bevor ich nicht mindestens sechs Biere gezischt hätte, käme ich garantiert nicht in Partystimmung. Verdammt, der Anblick meines Dads, der Blut spuckte, während meine Mutter ihm mit angstvollem Blick den Schweiß von der Stirn tupfte, war einfach zu viel gewesen. Eigentlich hätte ich zu Hause bleiben sollen, aber dazu konnte ich mich einfach nicht überwinden. Denn leider kam jedes Mal, wenn es Dad übel wurde, der kleine Junge in mir zum Vorschein.
Ich liebte meinen Dad. Mein ganzes Leben lang war er mein Held gewesen. Wie konnte ich ihn da verlieren, Herrgott noch mal?
Ich schüttelte den Kopf, fuhr mir mit der Hand durchs Haar und riss fest daran. Am kommenden Freitagabend würde ich mit Schutzpolstern und Helm endlich wieder auf dem Footballfeld einlaufen. Aber ich wollte jetzt schon Schmerzen spüren. Mir war alles recht, was mich gegenüber der Realität betäubte.
Mein Handy vibrierte, und ich fischte es aus der Hosentasche. Jedes Mal, wenn es klingelte und ich nicht zu Hause war, bekam ich so einen Schreck, dass mir ganz schlecht wurde. Als ich auf dem Display den Namen meiner Freundin Raleigh entdeckte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Gott sei Dank war es nicht Mom. Mit Dad war also alles gut so weit.
»Hey, Raleigh!« Warum sie wohl anrief? Sie wusste doch, dass ich auf dem Weg zur Feldparty war.
»Holst du mich denn nun ab?« Sie klang verärgert.
»Na, du hast mich nicht drum gebeten. Und nun bin ich schon fast da.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder? Wenn du mich nicht abholst, dann komme ich auch nicht, West!« Sie war sauer auf mich. Andererseits: Wann war Raleigh das eigentlich mal nicht?
»Na, dann sehen wir uns wohl später. Hab heute Abend keinen Bock auf solche Spielchen.«
Raleigh hatte von der Krankheit meines Dad keinen Schimmer. Er wollte nicht, dass es sich herumsprach, also hielten wir den Mund. Trotzdem ließ sich so etwas in einer Kleinstadt nicht so leicht geheim halten, aber da das hiesige Krankenhaus für die Behandlung von fortgeschrittenem Darmkrebs nicht ausreichend ausgestattet war und wir ihn in das eine einstündige Fahrt von hier entfernte Krankenhaus von Nashville bringen mussten, ließ sich das machen. Zudem hatte meine Mom in Lawton kaum Freundinnen – und auch nie gehabt.
Als Kind hatte ich das nie kapiert, inzwischen aber schon. Meinen Dad hatte man auf der Highschool als den Hoffnungsträger des Ortes schlechthin gehandelt. Nachdem er auf der University of Alabama Football gespielt hatte und von dort in die Mannschaft der New Orleans Saints gewechselt war, erhoffte sich Lawton, durch ihn zu Ruhm und Ehre zu kommen. Unterdessen hatten sich meine Mutter – deren Vater quasi einen Großteil Louisianas besaß und die entsprechend wie eine Prinzessin aufgewachsen war – und mein Vater ineinander verliebt.
Doch die Karriere meines Dads bei den Saints fand durch eine Knieverletzung ein frühes Ende, und kurz darauf erfuhr er, dass seine Freundin von ihm schwanger war. Gegen den Wunsch ihrer Eltern heirateten die beiden, und er zog mit ihr nach Alabama zurück. Für unsere Stadt stellte sich das so dar: Dad war ihr Held gewesen, und meine Mom hatte ihn gestohlen. Selbst siebzehn Jahre darauf blieb man meiner Mom gegenüber noch immer auf Distanz. Mom schien das allerdings nichts auszumachen. Sie liebte meinen Dad, er und ich – wir waren ihre Welt. Mehr brauchte sie nicht.
»Hörst du mir eigentlich zu?« Raleighs schrille Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Raleigh und ich waren ein Paar der besonderen Art: Sie hing gern an meinem Arm, und ich fand ihren Körper heiß. Was Liebe oder Vertrauen anging: Fehlanzeige. Auf die Art dateten wir uns jetzt schon über ein Jahr, was unter anderem daran lag, dass sie sich prima auf Abstand halten ließ. Mehr Zeit konnte ich im Moment auch gar nicht erübrigen.
»Hör mal, Ray, allmählich kriege ich Kopfschmerzen. Ich brauch mal eine Auszeit. Legen wir doch eine Pause ein und reden nächste Woche darüber, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte ich auf. Ich wusste eh schon, dass Raleigh herumkreischen und drohen würde, dann eben mit einem meiner Freunde in die Kiste zu springen. Die Leier kannte ich in- und auswendig.
Es juckte mich nicht.
Ich beschleunigte meinen Schritt und marschierte zwischen den Bäumen und auf der Wiese zu dem offenen Feld, auf dem die Partys immer stattfanden. Es gehörte dem Großvater von Ryker und Nash Lee, zwei Cousins, die auch im Footballteam mitspielten. Schon seit den Highschool-Zeiten seiner Söhne stellte ihr Großvater dieses Feld für Partys zur Verfügung. Es lag abseits am Ortsrand, und weit und breit stand kein Haus in der Nähe außer seinem, doch selbst das lag noch gut eine Meile entfernt. Wir konnten also so laut sein, wie wir wollten, und brauchten keine neugierigen Blicke zu fürchten.
Ich sah mich am Feuer um und entdeckte Brady Higgens, meinen besten Freund. Schon seitdem wir als Knirpse erste Football-Erfahrungen gesammelt hatten, spielte er mir den Ball zu. Er war der beste Quarterback im ganzen Bundesstaat, und das wusste er auch.
Als er mich nun kommen sah, hielt Brady zur Begrüßung sein Bier hoch. Er hockte auf der Heckklappe seines Pick-ups, den er hergefahren hatte, damit wir zum Musikhören hinten den Generator nutzen konnten. Ivy Hollys saß zwischen seinen Beinen. Das überraschte mich gar nicht, die beiden hatten diesen Sommer viel zusammengesteckt. Ivy war eine Senior-Schülerin und die leitende Cheerleaderin. Seit Bradys Ex die Highschool beendet hatte und woandershin gezogen war, rechnete sie sich bei Brady Chancen aus.
»Wurde auch Zeit, dass du kommst.« Grinsend warf Brady mir eine Bierdose zu. Er trank nur selten. Nicht, dass er dagegen war, aber er wollte unbedingt im nächsten Jahr an der University of Alabama spielen. Den Wunsch hatte ich auch – früher mal. Nun lebte ich einfach von einem Tag auf den anderen und betete zu Gott, dass ich meinen Dad nicht verlor.
Inzwischen hielt ich es auf diesen Feldpartys überhaupt nur noch mit einem gewissen Alkoholpegel aus. Wenn ich meine Gedanken nicht betäubte, ließen sie mich nicht los.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Brady inzwischen ahnte, dass mir etwas zu schaffen machte, und wollte, dass ich es ihm erzählte. Von allen Frauen in der Stadt war seine Mom die einzige, die sich meiner Mom gegenüber je nett verhielt. Im Laufe der Jahre hatte sie uns viele Male zu sich zum Essen eingeladen. An Feiertagen brachte sie Red-Velvet-Cake vorbei, und während der Spiele blieb sie bei meiner Mutter stehen und unterhielt sich mit ihr. Ich fragte mich, ob sich meine Mom Coralee anvertraut hatte.
»Wo steckt Raleigh?«, fragte Ivy.
Die Antwort schenkte ich mir. Nur weil sie mit Brady zusammen war, hieß das noch lange nicht, dass ich auf ihre neugierigen Fragen eingehen musste. Stattdessen wandte ich mich Gunner Lawton zu. Ja, der hieß tatsächlich wie die Stadt! Sein Ururururgroßvater hatte sie nämlich gegründet, und den Lawtons gehörte hier alles. Trotzdem war Gunner ein spitzenmäßiger Wide Receiver, und das zählte hier am meisten.
»Alleine da heute Abend?« Ich sank auf den Heuballen neben dem Pick-up.
Gunner lachte in sich hinein. »Nein, bin nur gerade noch am Überlegen, welche es heute denn werden soll.« Gunner brauchte nur den kleinen Finger zu krümmen, schon kamen die Mädchen angerannt. So war das nun mal, wenn man in einer Kleinstadt im Geld nur so schwamm, einer der Stars des Highschool-Teams war und obendrein auch noch gut aussah. Gunner nutzte das schamlos aus.
»Reden wir doch über Football«, schlug Ryker Lee vor, der sich inzwischen zu uns gesellt hatte und sich nun neben Brady und Ivy auf die Ladeklappe schwang.
»Eigentlich würde ich mich erst mal gern darüber unterhalten, wieso du dir die Haare kurz geschoren hast«, erwiderte Brady grinsend.
Im vergangenen Jahr war Ryker ganz versessen auf Dreadlocks gewesen und hatte sich die Haare wachsen lassen. Umso mehr hatte es mich gewundert, als er kurz vor dem ersten Trainingstag mit raspelkurzen Haaren aufgetaucht war, nachdem er in den letzten Sommerwochen mit seiner Familie zu seiner Großmutter nach Georgia verschwunden war.
»Ich hatte die langen Haare einfach satt. Die Dreads mach ich mir, wenn ich erst mal Pro bin. Augenblicklich kann ich damit nichts anfangen«, sagte Ryker und strich sich mit der Hand über den Kopf. Er schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, doch dann stand er auf, ließ den Blick über das Feld schweifen und grinste einfach nur dämlich. »Ach, scheiß doch auf Football. Viel interessanter fände ich eigentlich, wer das dahinten ist!«
Ich folgte seinem Blick und entdeckte ein fremdes Gesicht. Es gehörte einem Mädchen mit perfekten rosigen Lippen, das abseits des Partygeschehens bei den Bäumen stand und mit den hübschesten grünen Augen, die ich je gesehen hatte, zu uns herüberschaute. Das lange, dunkle Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern.
Und erst dieser Körper. Heilige Scheiße, was der mit ihrem Sommerkleid anstellte!
»Vergiss es«, warnte mich Brady. Ich hätte ja gern zu ihm gesehen, um herauszufinden, was er von der Neuen dahinten wollte, wenn er schon ein Mädel bei sich sitzen hatte. Aber ich konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden. Sie wirkte so verloren. Gern hätte ich sie wieder in die Spur gebracht.
»Warum denn, Mann? Sie ist höllisch heiß und sieht aus, als bräuchte sie mich«, erwiderte Ryker.
»Das ist meine Cousine, du Vollhorst«, schnauzte Brady.
Seine Cousine? Seit wann hatte Brady eine Cousine?
Mit Mühe riss ich meinen Blick von dem Mädchen los. »Wo hast du plötzlich eine Cousine her?«
Er verdrehte die Augen. »Mensch, du hast sie doch selbst schon kennengelernt! Bei irgendeinem meiner Familien-Weihnachtstreffen in Tennessee, was allerdings schon ein paar Jährchen her sein dürfte. Sie wohnt jetzt bei uns. Lass einfach die Finger von ihr, okay? Sie ist nicht … Sie hat ein paar Probleme. Mit dir käme sie nicht klar«, sagte er und wandte sich dann an Ryker, »und mit dir genauso wenig.«
»Bei Problemen kann ich helfen! Da laufe ich zu Höchstform auf.« Ryker grinste breit.
So einen Spruch würde ich mir sparen. Ich hatte meine eigenen Probleme und wollte mir nicht noch mehr aufhalsen. Genau davon brauchte ich ja Ablenkung. Außerdem konnten die Probleme von Bradys Cousine längst nicht so schlimm sein wie meine. Meine toppten alles.
»Sie redet nicht«, fuhr Brady fort. »Sie kann nicht. Ich habe sie nur mitgenommen, weil meine Mom sie mir aufs Auge gedrückt hat. Sie tickt nicht ganz richtig, glaube ich.«
Ich warf einen Blick zu dem Mädchen zurück, aber es war verschwunden. Brady hatte also eine schöne, aber durchgeknallte Cousine, die nicht sprach. Abgefahren.
»So eine Schande! Da bekommen wir in diesem Jahr ein einziges neues Mädchen, das nach was ausschaut, und dann ist sie deine Cousine und stumm.« Verdrossen leerte Gunner seine Bierdose.
Ich merkte, dass Brady diese Bemerkung mächtig stank.
Doch Gunner hatte recht. Seit der Grundschule hatten wir in unserer Stadt dieselben Mädchen. Sie waren langweilig und oberflächlich, und mit allen Gutaussehenden war ich schon durch. Keine davon bot Ablenkung. Alle nervten tierisch.
Gunner stand auf. »Ich hol mir noch ein Bier«, verkündete er und stapfte davon. Gunner war unser Sicherheitsgarant. Wenn wir beim Trinken erwischt wurden, konnte uns sein Daddy mit seinem Einfluss bei der Polizei aus der Patsche helfen. Ehrlich gesagt fragte ich mich, ob die das nicht eh schon wussten und daher nie hier aufkreuzten.
Wieder fing mein Handy zu klingeln an, und mein Magen zog sich automatisch zusammen. Ich angelte es rasch aus der Tasche und entdeckte den Namen meiner Mom auf dem Display. Shit!
Wortlos stellte ich mein Bier ab, nahm das Gespräch aber erst an, nachdem ich mich ein Stück von den anderen wegbewegt hatte.
»Mom? Alles okay?«
»Aber ja. Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich dir Reste des Brathähnchens im Ofen warm halte. Und wollte fragen, ob du auf dem Heimweg im Supermarkt noch eine Milch mitnehmen könntest. Das wäre nett.«
Ich stieß die angehaltene Luft aus. Dad ging es gut. »Na klar, Mom.«
»Wird’s denn spät?« Sie klang angespannt. Irgendetwas hielt sie zurück. Entweder war es Dad übel oder ihm tat etwas weh.
»Ich, äh, nein, ich komme bald«, versicherte ich ihr.
Sie atmete erleichtert auf. »Gut. Dann fahr vorsichtig. Und schnall dich an. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch, Mom.«
Ich beendete das Gespräch genau in dem Moment, als ich bei meinem geparkten Pick-up ankam. Ich hatte nämlich schon heimfahren wollen, bevor sie mich überhaupt gefragt hatte, ob es spät werde. Es wurde immer schlimmer. Inzwischen schaffte es Dad kaum noch aus dem Bett. Und die verdammten Ärzte konnten nichts für ihn tun.
Meine Brust zog sich zusammen, und ich bekam kaum noch Luft. In letzter Zeit geschah das immer öfter. Es war, als würden sich meine Ängste um meine Kehle schlingen und zudrücken, bis ich keine Luft mehr bekam.
Wut stieg in mir hoch. Verdammt noch mal, das war nicht fair! Mein Dad war so ein guter Mensch – er verdiente das nicht. Und doch ließ Gott da oben so etwas einfach zu. Dabei brauchte meine süße Mom meinen Dad doch. Sie verdiente das auch nicht.
»Fuck!«, brüllte ich und schlug mit beiden Händen auf die Motorhaube meines Wagens. Dads Krankheit zerstörte uns alle, und doch konnte ich niemandem davon erzählen. Mitleid von Leuten, die keine Ahnung hatten, wie sich das anfühlte, war das Letzte, was ich brauchte.
Neben mir nahm ich eine Bewegung wahr und riss den Kopf herum, um zu sehen, wer meinen Ausraster mitbekommen hatte.
Das Sommerkleid erkannte ich als Erstes. Mit ihrer kurvigen Figur füllte Bradys Cousine es einfach perfekt aus.
Was hatte dieses Mädchen für ein Glück, dass es nicht sprechen konnte. Auf die Art musste es niemandem etwas vorspielen und konnte sich auch nicht verplappern. Sie neigte den Kopf zur Seite, als würde sie entscheiden wollen, ob ich gefährlich sei oder Hilfe bräuchte. Mit ihren sensationellen Haaren und vollen Lippen konnte sie mir bestimmt helfen. Mich einen Augenblick lang alles vergessen lassen. Die Hölle vergessen lassen, zu der mein Leben sich entwickelt hatte.
Ich ging auf sie zu. Eigentlich rechnete ich fast damit, dass sie wegrennen würde. Aber nix da.
Ich atmete scharf ein. Die Enge in meiner Kehle hatte sich etwas gemildert. »Gefällt dir, was du siehst?«, neckte ich sie in der Hoffnung, spätestens jetzt würde sie vor mir weglaufen. Es war unmöglich von mir, auf die Art gegen meinen Kummer anzugehen. Das verdiente sie nicht. Noch dazu war ich wütend und hatte – wie jetzt eigentlich fast immer – meine Gefühle nicht mehr im Griff. Wie alle anderen um mich herum, stieß ich sie zu ihrer eigenen Sicherheit von mir weg.
Sie reagierte nicht, doch ihr Blick war völlig klar. Entgegen Bradys Behauptung tickte sie sehr wohl richtig – das sah man. Ihr Blick war ja fast schon zu intensiv. Zu wissend.
»Willst du mich einfach so anstarren, als hättest du gern eine Kostprobe? Das wäre irgendwie unhöflich.«
Innerlich zuckte ich angesichts meiner fiesen Art zusammen. Meine Mom hätte sich für mich in Grund und Boden geschämt. Doch dieses Mädchen zwinkerte lediglich. Wich nicht vor mir zurück und gab auch keinen Mucks von sich. Brady hatte uns nicht verschaukelt: Sie redete wirklich nicht.
Doch auch so war klar, dass sie offensichtlich nicht an mir interessiert war. Komisch. Normalerweise waren die Mädchen doch ganz wild darauf, von mir geküsst zu werden!
Ich blieb vor ihr stehen und legte eine Hand auf ihre Wange. Gott, dieses Gesicht! Ich musste sie einfach berühren, um zu sehen, ob sie echt war. So vollkommen konnte man doch nicht sein. Irgendwelche Makel hatte doch jeder. Ich wollte ihre entdecken.
Ich fuhr mit der Daumenkuppe über ihre Unterlippe und merkte, dass sie keinen Lippenstift aufgetragen hatte, was sie bei ihren süßen rosigen Lippen wahrlich auch nicht nötig hatte.
»Es wird Zeit, dass du davonläufst«, warnte ich sie, obwohl eigentlich ich den Rückzug antreten sollte.
Sie blieb, wo sie war, und starrte zu mir auf. Mutig. Ohne mit der Wimper zu zucken. Nur der Pulsschlag an ihrem Hals verriet sie. Sie war nervös, aber entweder war sie zu verängstigt oder aber zu neugierig, um abzuhauen.
Ich machte einen weiteren Schritt und drängte sie an den Baum hinter ihr. »Ich hab dir doch gesagt, renn weg, Süße«, erinnerte ich sie, kurz bevor ich mit dem Mund ihre Lippen suchte.
Denk dir nichts, Süße
Auf keinen Fall wollte ich Brady ein Klotz am Bein sein. Am Freitagabend hatte Tante Coralee ihn gezwungen, mich auf diese Party mitzunehmen, und ich zeigte ihm gleich mal, dass ich ihn nicht nerven wollte. Die meiste Zeit saß ich abseits von den anderen allein im Dunkeln. Alle halbe Stunde schaute ich, ob Brady noch da war oder nach mir suchte, und verzog mich dann wieder in mein Versteck.
Ich konnte nur hoffen, dass so etwas jetzt nicht jedes Wochenende stattfand. Ich wollte so was nicht bei jeder Feldparty durchmachen müssen, auf die Brady ging. Viel lieber blieb ich auf meinem Zimmer und las. Allein auf einem dunklen Feld herumzuhängen war nicht mein Ding. Auch wenn etwas geschah, wodurch es nicht mehr ganz so … langweilig war.
Bei dem Gedanken an den Baum, unter den ich mich verzogen hatte, lief ich rot an. Dort hatte ich meinen ersten richtigen Kuss bekommen, und das von einem Jungen, den ich nicht mal kannte.
Er war so groß gewesen, und seine dunklen Haare hatten sich an den Enden so schön gewellt. Und erst sein Gesicht …! Es war, als hätte Gott alle perfekten männlichen Gesichtszüge ausgesucht und sie genau für diesen Typen zusammengesetzt.
Deswegen war ich allerdings nicht dort stehen geblieben, obwohl er mich zum Wegrennen aufgefordert hatte. Nein, seine Augen hatten den Ausschlag gegeben. Selbst in der Dunkelheit hatte ich darin Schwermut entdeckt, wie ich sie bislang nur in meinen eigenen gesehen hatte.
Er hatte seiner Mutter am Telefon gesagt, er würde sie lieben. Dann hatte er das Gespräch beendet und fluchend die Fäuste auf die Motorhaube seines Pick-ups gedonnert. Jemand, der so mit seiner Mutter redete, konnte kein schlechter Mensch sein. Er machte mir keine Angst.
Aber ich machte mir Sorgen um ihn, also blieb ich. Und dann hatte er mich geküsst. Erst war er grob gewesen, als wolle er mir wehtun, doch dann wurde er sanfter, und ich klammerte mich unwillkürlich an sein T-Shirt. Meine Knie gaben nach, und ich war mir nicht sicher, ob mir nicht ein leises Wimmern entfahren war oder mir nur danach gewesen war. Ich hoffte Letzteres. Im Hinblick darauf, wie abrupt er mich verließ, wäre mir das lieber gewesen. Außerdem wünschte ich, ich hätte mich nicht an ihn geklammert.
Es endete nämlich so plötzlich, wie es begonnen hatte. Auf einmal löste er sich wortlos von mir und sah mich dabei nicht mal an. Stattdessen wandte er sich ab, stapfte zu seinem Pick-up und brauste davon. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Ich wusste nur, dass er toll aussah, ihm irgendetwas schwer zusetzte und er mir einen ersten Kuss verpasst hatte, den ich niemals vergessen würde.
Als Brady sich zwei Stunden darauf schließlich zum Aufbruch entschloss, entdeckte er mich schlafend unter dem Baum. Er war genervt und sagte die ganze Heimfahrt über kein Wort. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich vermeiden konnte, dass mein Cousin mich hasste, und der Kuss trat darüber in den Hintergrund.
Als Brady am Sonntag zum Baden zu einem Freund gehen wollte, versuchte Tante Coralee mich zu überreden mitzugehen. Aber ich schrieb ihr auf einen Zettel, ich hätte meine Tage bekommen und mir sei nicht danach, und ich durfte zu Hause bleiben.
Brady war schließlich den ganzen Tag weg. Bestimmt, weil er befürchtete, dass mich seine Mom ihm sofort wieder aufdrängen würde, sobald er die Tür aufmachte.
Heute besuchte ich zum ersten Mal die neue Schule, weshalb sie Brady gleich eine ganze To-do-Liste überreichte, die nur mich betraf. Man konnte ihm seinen Frust ansehen, und er tat mir leid. Daher drückte ich ihm am Schuleingang eine Nachricht in die Hand.
Ich krieg das schon hin. Mach einfach, was du immer tust, und ich komm dann in den Unterricht. Nur weil ich nicht rede, heißt das nicht, dass ich nicht zurechtkomme. Ich erzähle deiner Mom, dass du alles getan hast, was sie dir aufgetragen hat. Aber ich möchte nicht, dass du mich überallhin mitnimmst. Ich möchte das allein schaffen.
Sonderlich überzeugt schien Brady zwar nicht zu sein, aber er nickte und trottete davon.
Zum Glück hatte Tante Coralee die im Sekretariat schon vorgewarnt, dass ich nicht sprechen würde. Sie hatten kein Problem damit, dass ich ihnen meine Antworten niederschrieb, gaben mir meinen Stundenplan und fragten, wo Brady stecke. Anscheinend hatte ihnen Tante Coralee auch gesagt, dass er mich herumführen würde. Ich schwindelte und schrieb, er sei aufs Klo gegangen und wir würden uns gleich wieder im Gang treffen.
Ein klein wenig hoffte ich ja – okay, ich hoffte es sogar sehr –, dass ich dem Typen von der Feldparty begegnen würde, denn ich wollte ihn so gern mal bei Licht sehen und außerdem herauskriegen, ob es ihm gut ging. Na, ein bisschen gab ich mich auch der Hoffnung hin, er würde mich vielleicht auch sehen wollen.
Stolz darüber, die Lage meines Spinds herausbekommen zu haben, machte ich mich auf die Suche nach ihm. Da die Gänge sich immer mehr mit Schülern füllten, von denen viele in ihren Spinden herumkramten, davorstanden und sich dagegenlehnten und mit jemandem herummachten, konnte ich allerdings die Nummern nicht erkennen. Es war praktisch unmöglich, die Nummer 654 zu finden.
»Alles gut?«, hörte ich Bradys Stimme hinter mir, und ich nickte, da er nicht mitbekommen sollte, dass es mir nicht so toll ging und ich vermutlich zu spät in den Unterricht käme.
»Wo ist dein Spind?«
Ich dachte darüber nach, wie ich darauf antworten sollte, und drückte ihm einfach den Zettel mit meiner Spindnummer in die Hand.
»Daran bist du schon vorbeigelaufen«, erwiderte er nach einem Blick darauf und wies mit dem Kopf den Gang zurück. »Komm, ich zeig ihn dir.«
Mir fehlte die Zeit, einen Einwand niederzuschreiben, und ich wäre ohne Hilfe ja tatsächlich aufgeschmissen gewesen. Also folgte ich ihm.
Wo ich mir mühsam einen Weg durch die Meute auf dem Gang hatte bahnen müssen, machte jeder Brady Platz, als wäre er Moses und würde den Gang übers Rote Meer antreten.
»Verdammt, knutscht mal ein Stück weiter rechts. Maggie kommt sonst nicht an ihren Spind ran«, erklärte Brady einem Pärchen, das sich mitten in einer Fummel-Session befand.
»Wer ist Maggie?« Das Mädchen drehte sich zu mir um. Sie hatte große braune Augen und einen olivfarbenen Teint, dazu tolles langes, schwarzes Haar.
»Meine Cousine.« Brady klang genervt.
»Du hast eine Cousine?«, fragte das Mädchen überrascht. Ihr Typ schob seine Hände von ihrem Po zu ihren Hüften hoch und zog sie an sich. Noch bevor ich sein Gesicht sehen konnte, trat Brady zurück und hielt die Tür meines Spinds für mich auf. »Bitte schön. Sag Bescheid, falls du mich noch mal brauchen solltest.« Damit marschierte er davon.
Ich stellte keinen Blickkontakt zu dem Pärchen neben mir her oder sah auch nur zu ihnen. Das Mädchen kicherte, dann hörte ich, dass der Junge ihr etwas zuflüsterte – ich hörte dabei deutlich das Wort stumm heraus. Anscheinend hatte Brady geplaudert. Na, auf die Art versuchte zumindest niemand, mich anzuquatschen.
»Sie spricht nicht?«, flüsterte das Mädchen laut genug zurück, dass ich es hören konnte.
Schnell verstaute ich alles bis auf mein Heft und das Buch für die erste Unterrichtsstunde in meinem Schließfach und schloss es wieder. Als ich mich umwandte, landete mein Blick auf den Händen des Typen, der damit inzwischen wieder den Po des Mädchens begrapschte. An solche Anblicke würde ich mich wohl gewöhnen müssen.
Als ich mit gesenktem Blick auf den Gang trat, stieß ich voll mit jemandem zusammen und wurde gegen das Fummel-Pärchen zurückgeschleudert.
»Scheiße, sorry«, sagte der Junge, mit dem ich zusammengestoßen war. Na toll. »Alles okay mit dir?«
Ich sah in die blausten Augen auf, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. In Kombination mit seinem hübschen mokkafarbenen Teint waren sie einfach der Hammer, doch leider handelte es sich nicht um meinen geheimnisvollen Typen.
»Pass doch auf!«, fauchte das Mädchen hinter mir und stieß mich von sich weg.
Das Buch und das Heft in meinen Händen flogen auf den Boden. Großartig, nun zog ich bestimmt noch mehr Blicke auf mich! Dabei hasste ich das. Doch heute ging es anscheinend nicht anders.
»Mensch, Raleigh, ich bin doch in sie reingelaufen, verdammt. Also chill gefälligst!« Der Junge beugte sich runter, um meine Sachen aufzuheben. Fasziniert betrachtete ich seine kräftigen Muskeln, die sich durch sein eng anliegendes, kurzärmeliges T-Shirt abzeichneten.
Raleigh lachte, aber es klang eher wie ein fieses Gackern. »Die ist stumm, Nash. Und sie ist Bradys Cousine. Du kannst dir deine galante Nummer also sparen. Die ist nicht dein Typ.«
Dann, hinter mir: »Führ dich nicht so auf, Babe.« Diese Stimme! Ich erstarrte. Diese Stimme kannte ich. Nein … das durfte nicht sein.
»Brady hat eine Cousine?« Nash richtete sich wieder auf und reichte mir meine Bücher.
Ich hatte Angst, mich umzudrehen und mich zu vergewissern. Vielleicht irrte ich mich ja. Der Typ, der mit dem Mädchen neben mir rumgemacht hatte, konnte nicht der sein, der mich am Freitagabend geküsst hatte. Der Typ, der mich geküsst hatte, war zu seiner Mutter nett gewesen. Konnte ein netter Typ ein anderes Mädchen küssen, wenn er schon eine Freundin hatte? War er tief in seinem Innersten doch nicht so nett? Während ich mir das Wochenende im Geiste immer wieder den Kuss in Erinnerung rief, hatte ich mir das fest eingeredet.
Mit möglichst unbeteiligter Miene nahm ich Nash die Bücher ab.
»Ja, hat er. Überraschung!« Wieder diese Stimme. Das war er. O Gott! … Das war so dermaßen er!
Stur starrte ich auf meine Bücher. Gerade lief ich rot an, das wusste ich, und hatte nur noch den Wunsch, allein sein zu können, um über diese Überraschung hinwegzukommen.
Mein Mr Mystery fuhr fort: »Sie ist wirklich ein Hingucker, aber Brady hat klargestellt, dass sie absolut tabu ist. Ray hat also recht. Lass gut sein. Ich tu’s auch.«
Aber er hatte es nicht gut sein lassen. Hatte er bei dem Kuss schon gewusst, dass Brady mich für tabu erklärt hatte? Tat er deshalb jetzt so, als würde er mich nicht kennen? Was für ein Arsch! Und von dem hatte ich mich küssen lassen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Normalerweise wurde ich nicht schwach, nur weil ein Kerl gut aussah. Mein Vater sah auch gut aus, und nicht einmal meine Mutter hatte ihm vertrauen können. So dumm war ich nicht. Noch mal würde mir so etwas nicht passieren.
»Hey, was meinst du mit ›Ich tu’s auch‹?« Raleigh hob die Stimme. Und stieß den Typen weg. Ich machte, dass ich von ihr wegkam.
»Sie ist ein Hingucker. So wie ich’s gesagt habe«, wiederholte er.
Er war ihr gegenüber absichtlich grausam und setzte mich dazu ein. Grausamkeit und herzloses Benehmen hasste ich. Mich packte die Wut, und ich hätte ihm zu gern die Meinung gegeigt. Ach, von wegen, ich hätte ihn gern angebrüllt! Aber daraus würde nichts.
Mein Gesicht glühte vor Beschämung, Wut und Enttäuschung. Ich wünschte, Brady hätte auf mich gewartet. Ich wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen musste, und ich konnte doch jetzt unmöglich meine Schultasche herausholen! Ich schaute mich im Gang nach der besten Fluchtroute um.
»Sie ist stumm!«, schnaubte das Mädchen. »Keine Ahnung, wieso ich’s eigentlich mit dir aushalte. Ich könnte jeden haben. Jeden, West. Ist dir das eigentlich klar?«
West. So hieß er also. Ein Mädchen musste wissen, von wem es seinen ersten Kuss bekommen hatte, und doch hätte ich ihn lieber nicht gekannt. Am liebsten hätte ich West und diesen Abend komplett aus meiner Erinnerung gelöscht.
»Mich könntest du nicht haben. Ich steh nicht auf Irre«, erwiderte Nash, und ich sah zu ihm auf. Er zwinkerte mir zu, und in seinen Augen lag ungezwungene Freundlichkeit. Dagegen nichts davon, was ich in Wests Blick entdeckt hatte. Warum konnte er mir nicht meinen ersten Kuss gegeben haben?
West gluckste über Nashs Bemerkung.
»Ha, ich würde dich gar nicht wollen!«, fauchte sie. »Mein Daddy erlaubt mir nur Dates mit Weißen!«
Ich erstarrte. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Nash war weder ganz weiß noch ganz schwarz. Er hatte eine wunderschöne Hautfarbe.
»Och, wie schade!« Nash wirkte belustigt. »Ich schätze, dein Daddy ist noch immer sauer, dass seine weiße Freundin einen Schwarzen geheiratet hat. Das ist Jahre her, Raleigh. So allmählich sollte er darüber hinweggekommen sein. Meine Mom ist es garantiert.«
Okay, wow! Kleinstädte waren wirklich, wirklich klein.
Nash sah zu mir. »Brauchst du Hilfe bei der Suche deines Klassenzimmers?«
Aber Raleigh wollte das nicht auf sich sitzen lassen. »Erlaubst du ihm etwa, so mit mir zu reden?«, fuhr sie West an.
»Na, na, na! Du hast damit angefangen. Er ist nur darauf eingestiegen«, erwiderte West.
»Wir sind fertig miteinander, West!«, rief sie und stürmte davon.
Ich wollte nur noch in mein Klassenzimmer! Ich griff nach der Karte, die ich in meine Hosentasche gesteckt hatte, und faltete sie auf, damit ich schauen konnte, wo ich hinmusste. Zitternde Hände hin oder her. Ich wollte auf der Stelle weg. Weg von West.
»Und, wo hast du nun deine erste Stunde?«, fragte mich Nash.
»Du, Raleigh hat dich nicht verarscht. Sie redet echt nicht«, sagte West hinter mir.
Eigentlich wollte ich zu keinem der beiden aufsehen, andererseits wollte ich doch gucken, ob dieser West auch wirklich derjenige welcher war. Die Stimme war dieselbe, aber ich musste das Gesicht sehen. Insgeheim klammerte ich mich immer noch an den dünnen Strohhalm der Hoffnung, dass der Junge, der mich geküsst hatte, besser war als der, der hinter mir stand. Und so drehte ich mich um.
Leider sah er im Hellen noch perfekter aus als im Dunkeln. Damit er mich nicht dabei erwischte, wie ich ihn anstarrte, sah ich schnell wieder auf meine Karte. Ich hasste ihn. Ich hasste jeden, der über die Gefühle anderer einfach so hinwegging.
»Wurdest du so geboren?«, wollte Nash wissen, und ich wünschte, er würde aufgeben. Was sollte ich nur mit ihm tun? Er war sehr nett, aber reden würde ich nicht mit ihm.
West bewegte sich und stand plötzlich mit absolut gelangweilter Miene vor mir. Dass seine Freundin gerade mit ihm Schluss gemacht hatte und davongestürmt war, schien ihn nicht die Bohne zu interessieren. Man musste schon sehr kaltschnäuzig sein, um so zu reagieren.
Ich linste zu ihm auf und entdeckte, dass er seine dunkelblauen Augen, die von langen, dunklen Wimpern umrahmt wurden, auf mich gerichtet hatte. So außergewöhnlich wie Nashs Augen waren sie zwar nicht – so hübsche Augen wie Nashs gab es bestimmt nicht noch mal –, doch es war darin noch so einiges zu lesen, was ich am Freitagabend übersehen hatte. Kummer, Angst, Reserviertheit. Wieder einmal also genau das, was ich jedes Mal sah, wenn ich in den Spiegel blickte.
»Fuck, von Nahem ist sie noch hübscher.« West legte den Kopf schräg und musterte mich. »Da ist es mir eigentlich egal, wenn sie nicht redet.«
Er sah mich an, als hätte er mein Gesicht am Freitagabend nicht in seinen großen Händen gehalten. Mein Magen verklumpte zu einem kranken Knoten. Mit Grausamkeit und Verrücktheit kannte ich mich aus. Ich hatte damit gelebt. Hatte sie miterlebt. Und mich davor gefürchtet. Hätte ich in seinen Augen nicht den Kummer und die Angst gelesen, dann hätte ich ihm eine runtergehauen. So aber wollte ich einfach nur weg von ihm. Er war kein guter Mensch. Irgendetwas hatte ihn so verkorkst. Während ich mich zum Stummsein entschlossen hatte, um mit meinem Kummer zurechtzukommen, hatte er sich entschieden, damit umzugehen, indem er andere verletzte.
»Sie ist stumm, du Hirni. Nicht taub!«, schimpfte Nash.
Ein schiefes Grinsen, das Wests Augen nicht erreichte, umspielte seine Lippen. Sahen seine Freunde es denn nicht? Wussten sie nicht, dass er mit seiner gemeinen Art irgendeinen Kummer zu verschleiern versuchte, der ihn nicht losließ?
»Denk dir nichts, Süße. Ich bin ein Arschloch«, sagte er, als müsse er sich entschuldigen. Aber wofür? Dass er mich geküsst hatte? Seine Freundin betrogen hatte? Oder dass er mit jedem Wort aus seinem Mund den herzlosen Vollidioten gab?
Cover & Impressum
1. Maggie – Ist sie nicht süß?
2. West – Ich hab dir doch gesagt, renn weg
3. Maggie – Denk dir nichts, Süße
4. West – Ich liebe dich, Mom
5. Maggie – Halt dich aus meiner Welt fern
6. West – Sie ist über mich hergefallen …
7. Maggie – Okay
8. West – Diese Saison rocken wir
9. Maggie – Ich habe jede Nacht Albträume
10. West – So aber habe ich durch mein Schweigen überlebt
11. Maggie – Zu Gelegenheiten wie dieser war ich froh …
12. West – Das Ende tut weh
13. Maggie – Dann solltest du halt nicht …
14. West – Bereust du denn etwas?
15. Maggie – Nun log ich auch noch. Fantastisch.
16. West – Sie gehörte mir nicht
17. Maggie – West zeigte mir …
18. West – So lustig waren wir doch gar nicht
19. Maggie – Du bist viel stärker, als du denkst
20. West – Das ist mein Junge
21. Maggie – Es dauert Jahre …
22. West – Wir sind nur Kumpels …
23. Maggie – Mit keinem sonst macht es Spaß …
24. West – Du hast sie nicht mehr alle …
25. Maggie – Ich brauche dich bei mir
26. West – Ich werde der Mann sein …
27. Maggie – Ich werde nichts zu bereuen haben
28. West – Diese fünf hatten ausgeharrt
29. Maggie – Ich nehm’s zurück
30. West – Ich durfte sie nicht verlieren!
31. Maggie – Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen
32. West – Das war eigensüchtig von mir …
33. Maggie – Vertraust du mir?
34. West – Nur. Mit. Mir.
35. Maggie – Und das lassen wir …
36. West – Sie hatte sich zu meinem Rettungsanker …
37. Maggie – Mein Mädel
38. West – Würde sie noch mit mir zusammen sein wollen?
39. Maggie – Wie soll ich je wieder von dir loskommen?
40. West – Maggie ist genau wie ihre Mom
41. Maggie – In ihrem stillen Wunderland …
42. West – Ich kann nicht deine Stütze sein
43. Maggie – Er war nicht allein. Ich war es.
44. West – Sonst verlierst du sie
45. Maggie – Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt …
46. West – Ich möchte dir gehören
47. Maggie – Wiederholung
48. West – Nimm dir alle Zeit der Welt
49. Maggie – Ich weinte um mich
Epilog – West
Danksagung
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