Verführt von einer Highlanderin - Stephanie Laurens - E-Book

Verführt von einer Highlanderin E-Book

Stephanie Laurens

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Beschreibung

Ein attraktiver Gentleman, eine verführerische Lady aus den Highlands und eine Anziehung, die sich nicht aufhalten lässt ...

Marcus Cynster glaubt an das Schicksal, bisher hat ihn dessen Ruf aber noch nicht ereilt. Wie wird seine Zukunft aussehen? An wessen Seite wird er sein Leben verbringen? Eines weiß er sicher: Es wird nicht Niniver Carrick, seine betörende aber starrköpfige Nachbarin. Denn Niniver hat der Liebe längst abgeschworen, um als Oberhaupt der Carricks für den Wohlstand der Familie zu sorgen. Ein Mann würde sie nur von ihrem Pflichten ablenken. Doch ihre vielen Verehrer kümmert das wenig, und schon bald beginnt der Kampf um die Hand der Schönen. Aus Verzweiflung bittet Niniver Marcus schließlich um Hilfe. Er soll sich als ihr Geliebter ausgeben, um die Bewerber abzuwimmeln. Das Schicksal jedoch hat andere Pläne, und so wird aus einem gewitzten Plan bald verführerische Realität …

Die Reihe »Cynster, eine neue Generation« bei Blanvalet:
1. Eine Liebe in den Highlands
2. Schottische Versuchung
3. Verführt von einer Highlanderin
4. Eine skandalöse Leidenschaft
5. Ein verheißungsvolles Abenteuer
6. Wie zähmt man eine Lady?
7. Der irische Gentleman

Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 568

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Buch

Marcus Cynster glaubt an das Schicksal, bisher hat ihn dessen Ruf aber noch nicht ereilt. Wie wird seine Zukunft aussehen? An wessen Seite wird er sein Leben verbringen? Eines weiß er sicher: Es wird nicht Niniver Carrick, seine betörende aber starrköpfige Nachbarin. Denn Niniver hat der Liebe längst abgeschworen, um als Oberhaupt der Carricks für den Wohlstand der Familie zu sorgen. Ein Mann würde sie nur von ihren Pflichten ablenken. Doch ihre vielen Verehrer kümmert das wenig, und schon bald beginnt der Kampf um die Hand der Schönen. Aus Verzweiflung bittet Niniver Marcus schließlich um Hilfe. Er soll sich als ihr Geliebter ausgeben, um die Bewerber abzuwimmeln. Das Schicksal jedoch hat andere Pläne, und so wird aus einem gewitzten Plan bald verführerische Realität …

Autorin

Stephanie Laurens begann mit dem Schreiben, um etwas Farbe in ihren wissenschaftlichen Alltag zu bringen. Ihre Bücher wurden bald so beliebt, dass sie ihr Hobby zum Beruf machte. Stephanie Laurens gehört zu den meistgelesenen und populärsten Liebesromanautorinnen der Welt und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in einem Vorort von Melbourne, Australien.

Von Stephanie Laurens bereits erschienen

Ein feuriger Gentleman · In den Armen des Spions · Eine stürmische Braut · Ein süßes Versprechen · Ein widerspenstiges Herz · Stürmische Versuchung · Ein sinnliches Geheimnis · Triumph des Begehrens · Duell der Sehnsucht · Eine ungezähmte Lady · Gespielin der Liebe · Meisterin der Verführung · Verwegene Geliebte · Eine Liebe in den Highlands · Schottische Versuchung

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Stephanie Laurens

VERFÜHRT

VON EINER

HIGHLANDERIN

Roman

Deutsch von Christiane Meyer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »A Match for Marcus Cynster« bei MIRA Books, Canada.

Published by Arrangement with Savdek Management Pty Ltd

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Covergestaltung: punchdesign

Covermotive: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von © Lee Avison/Trevillion Images, stock.adobe.com (V_Saratovtseva; robert) und Jeff Dalton/Shutterstock.com

JF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24157-5V005

www.blanvalet.de

Prolog

April 1849

Carrick Manor

»Miss Niniver? Sind Sie hier?«

Die junge Frau blickte vom seidigen Kopf des Hirschhunds auf, den sie gerade streichelte, und seufzte leise, als sie Fergusons Stimme erkannte.

Sie hockte in einer Box des Hundezwingers, der sich in der Scheune des alten Egan befand und durch Trennwände unterteilt worden war, damit jeder Hund seinen eigenen Rückzugsort hatte, und für einen flüchtigen Moment war Niniver Carrick versucht, einfach dort zu bleiben, wo sie war – sicher und geborgen in ihrer Zuflucht, umgeben von ihren Hunden.

Doch wie immer rief sie die Pflicht, zerrte an ihr und brachte sie dazu, seufzend aufzustehen. Nachdem sie sich das Heu von ihrem Reitrock geklopft hatte, steckte sie widerwillig den Kopf in den Gang hinaus und blickte nach vorn zum Eingang.

»Ich bin hier. Was ist los?«

Der langjährige Butler ihres verstorbenen Vaters kam weiter in die Scheune hinein. Er war ein Mann mittleren Alters, ernst und würdevoll, und gehörte wie alle Angestellten des Gutes zu einer der Clanfamilien.

»Es geht um Master Nolan.«

Gemeint war ihr älterer Bruder, der nach dem Tod von Manachan Carrick vor gut zehn Monaten gleichermaßen die Position des Clanchefs wie die des Gutsherrn übernommen hatte, woran weder er noch die Mitglieder des Clans sich wirklich schon gewöhnt hatten. Nicht einmal diejenigen, die auf Carrick Manor lebten und arbeiteten, wussten so recht, wie sie Nolan ansprechen sollten. Das ehrerbietige »Sir« vermieden sie geflissentlich.

Ferguson sah sie mit einem Ausdruck des Bedauerns an.

»Sean hat Bescheid gegeben, dass Master Nolan sich in einer äußerst schlechten Verfassung befindet und dass er mal wieder wie ein Besessener tobt. Deshalb bittet er Sie, dringend zu kommen.«

Niniver nickte, wirkte aber zugleich ratlos. Genauso wie die Dienerschaft und die Gutsarbeiter, die zumeist seit Jahren für den Clanchef und seine Familie arbeiteten, wusste sie nicht so recht, was eigentlich los war mit Nolan. Seit sein Vater unter merkwürdigen Umständen gestorben und sein älterer Bruder überraschend verschwunden war, legte er nämlich ein sonderbares Verhalten an den Tag.

Kurz nach der Beerdigung von Manachan, dem weithin angesehenen und von seinen Leuten verehrten Patriarchen, war Nolan auf einen schmalen Felsvorsprung des Coran of Portmark geritten, einem der niedrigeren Hügel der Gebirgskette, die den Besitz der Carricks durchzog. Sean, der Stallmeister, war dem verwirrten jungen Mann aus Sorge, ihn könnte in der wilden, unwegsamen Gegend ein Missgeschick ereilen, heimlich gefolgt und hatte Nolan auf dem Felsen sitzen und in die Ferne blicken sehen, hinüber zu Loch Doon und den Rhinns of Kells. Daraufhin war er erst mal beruhigt gewesen. Es wirkte wie ein Ausritt, um nach den vorausgegangenen turbulenten Ereignissen erst mal wieder zur Ruhe und zur Besinnung zu kommen.

Erst als Nolan immer häufiger Ausflüge zum Felsvorsprung unternahm, seit einer Weile sogar täglich, hatte Sean Verdacht geschöpft, dass es damit eine besondere Bewandtnis haben musste, und war ihm erneut in das zerklüftete Gelände gefolgt.

Was ihn zutiefst erschrocken hatte, war die Tatsache, dass Nolan angefangen hatte, dort laut vor sich hin zu reden und zu schimpfen, wobei die Selbstgespräche meist in einen Tobsuchtsanfall mündeten.

Seit er das zum ersten Mal beobachtet hatte, war der Stallmeister immer näher herangeschlichen, um den jungen Mann, der entweder völlig verzweifelt war oder am Rande des Wahnsinns stand, belauschen zu können.

Gegenstand seines Zorns war Nigel, sein älterer Bruder, der in Abwesenheit wegen Mordes verurteilt worden war. Eindeutig schien festzustehen, dass er seinen Vater vergiftet hatte, um ein Leben in Saus und Braus führen zu können, darüber hinaus wurde er verdächtigt, zwei Frauen ermordet zu haben: die ranghöchste Dienstmagd sowie ihre Schwester, die Heilerin des Clans.

Offenbar hatte er geahnt, dass man ihm auf die Schliche gekommen war, denn er war noch am Tag von Manachans Tod spurlos verschwunden. Inzwischen wurde spekuliert, dass er sich in die Kolonien abgesetzt hatte und sich somit außer Reichweite des Gesetzes befand.

Zurückgelassen hatte er seinen jüngeren Bruder, der sklavisch an ihm gehangen und so manche Verfehlung des skrupellosen, geldgierigen Bruders toleriert, wenn nicht gar mitgetragen hatte.

Gut möglich, dass Nolan das mittlerweile zutiefst bereute und sich schuldig fühlte.

»Also gut, ich komme«, versprach Niniver, streichelte die neugierig schnüffelnden Hunde noch einmal und verließ den Zwinger.

Sie konnte sich denken, was man von ihr wollte.

Schließlich war sie gelegentlich selbst mit Sean zum Felsvorsprung geritten, um sich anzuhören, wie Nolan dort mit Nigel sprach, als wäre er anwesend. Wie er wütende Anschuldigungen ausstieß und den Bruder für die finanziellen Schwierigkeiten verantwortlich machte, die dadurch zustande gekommen waren, weil er Geld veruntreut hatte, und mit denen der Clan jetzt zu kämpfen hatte. Vor allem er als neuer Gutsherr, auf dessen Schultern eine schwere Verantwortung lastete.

Eine zu schwere womöglich für einen jungen Mann, der auf diese Aufgabe nie vorbereitet worden war.

Ninivers Meinung nach hatte Nolan sich anfangs zwar mit Elan in seine Pflichten gestürzt, im Laufe der Wochen und Monate jedoch war deutlich geworden, dass er zunehmend an der Bürde zerbrach.

Sie und Norris, der jüngste ihrer drei Brüder, hatten den beiden Ältesten, von denen sie mehr als fünf Jahre trennten, nie besonders nahegestanden, aber in den vergangenen acht Monaten hatte Nolan sich noch weiter von ihnen zurückgezogen – fast wie ein Einsiedlerkrebs, der sich in seinem Haus verkroch. Die Kluft zwischen ihnen war zu einer riesigen Schlucht geworden, die zu überwinden geradezu unmöglich schien.

Und Niniver versuchte es erst gar nicht mehr.

Jetzt ließ sie sich zunächst einmal genauer von Ferguson ins Bild setzen und erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass die Oberhäupter von vier Clanfamilien sich bereits am Felsvorsprung aufhielten: Bradshaw, Forrester, Phelps und Canning.

Sie zog die Reithandschuhe aus ihrer Tasche. »Werden Sie ins Herrenhaus zurückkehren, oder werden Sie ebenfalls mitkommen?«

»Die anderen haben mich gebeten, dass ich dabei sein soll«, entgegnete Ferguson ruhig. »Also werde ich mit Ihnen reiten.«

Aha, so lief das also, schoss es Niniver durch den Kopf. Offenbar wollten die Männer einen Beschluss im Rat des Clans herbeiführen, und dafür waren die Stimmen von fünf Ältesten notwendig, zu denen neben ihnen selbst ihr langjähriger Butler Ferguson gehörte.

Dass die Leute mehr und mehr an der Fähigkeit ihres neuen Oberhaupts zu zweifeln begannen, den Clan verantwortlich zu führen, seine Interessen kompetent zu vertreten und sich um die Bedürfnisse der einzelnen Familien zu kümmern, das kam nicht sonderlich überraschend und war letztlich ein offenes Geheimnis.

Offenbar schickten sie sich jetzt an, ihn mit ihren Bedenken zu konfrontieren und ihn möglicherweise als Clanchef abzuwählen, was gleichzeitig den Verlust des Gutes bedeuten würde. Deshalb wollten sie Manachans Tochter, die davon ebenso betroffen wäre, dabeihaben. Schließlich würde es für sie nicht einfach sein, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, zu verlieren.

Sie hielt ihr Gesicht der Frühlingssonne entgegen und schloss die Augen, atmete bedächtig ein und aus. Alles, was sie empfand, war das Gefühl, dass das, was nun geschehen würde, unvermeidbar war. Dass sie sich auf einer Straße befand, von der es kein Zurück gab. Stumm presste sie die Lippen aufeinander und ging hinüber zu ihrem großen rotbraunen Wallach Oswald, der schon friedlich wartend am Zaun stand.

Ein Zeichen, dass Ferguson nicht an ihrem Einverständnis gezweifelt hatte.

Nachdem sie Oswald in einiger Entfernung bei den anderen Pferden angebunden hatte, stieß Niniver zu den vier Männern, die sich in einer kleinen Höhle oberhalb des schmalen Felsvorsprungs, auf dem Nolan immer Zuflucht suchte, versteckt hielten.

Drei von ihnen hatten ihre Söhne mitgebracht, darunter Sean, der Stallmeister.

Leise begrüßten sie einander und beobachteten den jungen Gutsherrn, der ein Stück unter ihnen rastlos hin und her lief, wobei er ihnen die Hälfte der Zeit den Rücken zuwandte. Von vorne sahen sie ihn nur dann, wenn er sich abrupt umdrehte. Zum Glück hob er nie den Kopf und blickte nicht ein einziges Mal in ihre Richtung. Und der stürmische Wind, der heulend über den Gebirgskamm fegte, verhinderte, dass er sie hören konnte, trug hingegen seine Worte in ihre Richtung.

Die gesamte letzte Woche hatte Niniver ihren Bruder nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte seine Mahlzeiten allein in der Bibliothek zu sich genommen und jeglichen Kontakt vermieden – nicht bloß zu ihr und Norris, sondern zum gesamten Haushalt. Bei seinem Anblick erschrak sie.

In den vergangenen Tagen schien eine weitere unheilvolle Veränderung in ihm vorgegangen zu sein.

Er war zum Zerrbild eines Verrückten geworden. Seine weit aufgerissenen Augen schauten wild, seine Miene war gehetzt, seine blonden Haare standen strähnig und stumpf in alle Richtungen ab, seine sonst blasse Haut wirkte gerötet und fleckig.

Ein Jammer, zumal Nolan früher sehr auf sein Äußeres geachtet und sich sorgfältig gepflegt hatte, wozu nicht zuletzt gehörte, dass er sich gut und teuer zu kleiden pflegte. Jetzt dagegen sahen seine Sachen aus, als hätte er tagelang darin geschlafen, und machten einen schmuddeligen Eindruck.

Noch verstörender war die Art, wie er sich bewegte. Sein Gang war ruckartig, als wäre er eine Marionette, die von einem dilettantischen Puppenspieler geführt wurde, und als hätte er selbst keinerlei Kontrolle mehr über seinen Körper. Und was erst die Worte anging, die ihm über die Lippen kamen … Unglaublich.

»Du verdammter Mistkerl! Woher sollte ich wissen, dass es so kommen würde? Aber du wusstest es, oder? Du wusstest es und hast nie einen Ton gesagt! Und jetzt muss ich irgendwie damit klarkommen, ohne zu wissen, wie. Alle beobachten mich ständig und erwarten, dass ich so bin wie Papa und dass alles funktioniert … Es ist hoffnungslos! Nichts geht, absolut nichts!«

Nolan raufte sich die Haare, das gerötete Gesicht vor Anstrengung und Schmerz verzerrt, und riss sich mit einem Klagelaut ein paar Strähnen aus. Seine Stimme wurde zunehmend leiser, dunkler, rauer.

»Ich ertrage das nicht. So habe ich es nie geplant. Ich kann nicht weiterhin so tun, als ob, wenn ich in der Falle sitze. In der Falle, sag ich dir!« Er presste die Worte heraus: »So sollte es eigentlich nicht kommen.«

Er klang schrecklich, und keiner der heimlichen Beobachter zweifelte daran, dass sie einen Menschen vor sich hatten, der langsam wahnsinnig wurde.

Niniver gab sich einen Ruck, raffte ihren Reitrock und schaute sich um. Ungefähr zehn Meter trennten sie vom Felsvorsprung und von ihrem Bruder.

»Was haben Sie vor?«, erkundigte Ferguson sich.

»Was wohl? Ich werde zu ihm hinuntergehen und mit ihm sprechen.«

»Das können Sie nicht tun«, warf Canning erschrocken ein. »Das ist zu gefährlich. In dem Zustand ist mit ihm nicht mehr vernünftig zu reden.«

»Trotzdem muss ich es versuchen.« Niniver erwiderte den Blick des Pächters. »Wir alle wissen, wohin das hier führt, doch er ist und bleibt mein Bruder. Und irgendwie müssen wir ihn schließlich von hier wegbringen.«

Keinem der Männer gefiel der Vorschlag, aber keiner maßte sich das Recht an, ihr zu widersprechen.

Als sie sich anschickte, zu ihm herunterzusteigen, trat Sean vor und erklärte: »Ich werde Sie begleiten.«

»Nein, lieber nicht. Wenn er Sie bemerkt, wird er komplett durchdrehen. Schlimm genug, dass er überhaupt in einem solchen Zustand ist – einen Zusammenbruch können wir nicht riskieren.«

Der Stallmeister, bekannt für seine Sturheit, schüttelte resolut den Kopf und sah sie streng an.

»Und wir können nicht zulassen, dass Sie ihm allein gegenübertreten. Das zu verhindern, sind wir unserem verstorbenen Herrn schuldig. Ich werde mich etwas im Hintergrund halten, das verspreche ich. Zumindest solange Sie nicht zu nah an ihn herangehen.«

Sie verzog das Gesicht, nickte jedoch. »Also gut, machen wir das«, sagte sie und spähte noch einmal zu Nolan, bevor sie sich auf den Weg machte.

Mit Entsetzen sah sie, wie ihr Bruder unvermittelt mit beiden Händen seinen Kopf packte und so fest zudrückte, dass Sehnen und Muskeln an seinen Händen und Armen hervortraten. Dann krümmte er sich, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, als hätte er unerträgliche Schmerzen, um sich kurz darauf aufzurichten und die Arme auszubreiten.

»Du verdammter Mistkerl!«, schrie er. »Du hättest lieber mich umbringen sollen!«

Gleichzeitig machte er einen Schritt nach vorn und ließ sich über den Rand des Felsvorsprungs fallen. Ein dumpfer Aufprall drang aus der Tiefe zu den erstarrten Zuschauern hinauf.

Es war das grauenvollste Geräusch, das Niniver je gehört hatte.

Der Schock machte sie alle sprachlos. Sean fand als Erster das Wort wieder.

»Ich glaube es nicht. Der Lump hat sich umgebracht.«

Gemeinsam kletterten sie das kurze Stück auf den Vorsprung hinunter, wo soeben Nolan noch auf und ab gewandert war, und spähten über den Rand in eine schroffe Felsspalte hinab, aus deren steinigen Wänden dichte Büsche und Gräser sprossen. Sie machten es unmöglich, auf den Grund zu schauen und zu erkennen, was sich in der dunklen Tiefe verbarg.

Undenkbar auch hinabzuklettern. Als einzige Möglichkeit blieb ihnen das Abseilen. Zwei der Pächter, die neben der Landwirtschaft noch Schafzucht betrieben, hatten Seile an ihren Sätteln, mit denen sie normalerweise verirrte Tiere einfingen. Jetzt würden sie dazu dienen, Sean und Matt, seinen Sohn, in die Felsspalte hinabzulassen.

Mit verschränkten Armen beobachtete Niniver das grauenvolle Schauspiel. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sah sie wortlos zu, wie die beiden Männer über den Rand des Felsvorsprungs abgeseilt wurden. Zwischen ihnen baumelte ein drittes Seil für Nolan, den sie bergen sollten.

Nachdem sie in den Schatten verschwunden waren, mussten die Männer, die sie hielten, immer wieder Seil nachgeben. Keiner von ihnen hatte mit einer solchen Tiefe gerechnet, und erste Befürchtungen kamen auf, die Seile könnten nicht reichen. Insofern atmeten alle erleichtert auf, als die Spannung nachließ. Ein Zeichen, dass Sean und Matt den Grund der Felsspalte erreicht hatten. Im nächsten Moment dann ein erschrockener Aufschrei.

Niniver runzelte verwundert die Stirn – die beiden sollten sich eigentlich klar darüber gewesen sein, was sie dort unten erwartete.

»Hat einer verstanden, was sie gerufen haben?«

Fragend sah sie Ferguson an, der wie alle anderen den Kopf schüttelte. Die Stimmen wurden durch die zerklüfteten Felsen so verzerrt, dass außer unverständlichen Wortfetzen nichts oben ankam.

Plötzlich bewegte sich das dritte Seil, das für Nolans Leichnam gedacht war, und kurz darauf gaben Sean und Matt ein Zeichen, dass sie hochgezogen werden wollten. Der Stallmeister schob sich als Erster über die Kante. Sein wettergegerbtes, für gewöhnlich rötliches Gesicht war kalkweiß.

»Was ist los?«, fragte Niniver sichtlich alarmiert.

»Wir haben Nolan gefunden«, schnaufte Sean, während er schwerfällig auf die Beine kam. »Tot, wie nicht anders zu erwarten. Sein Körper ist völlig zerschmettert. Kein Wunder, bei dem Sturz ist bestimmt kein Knochen heil geblieben.« Er zögerte eine Sekunde und platzte dann mit einer weiteren Schreckensbotschaft heraus: »Außerdem lag er auf einer weiteren Leiche, eher einem Skelett. Nigel, den Resten der Kleidung nach zu urteilen.« Den armen Mann überlief ein Zittern. »Nolan hat nicht zufällig immer wieder diese Stelle aufgesucht und hier mit Nigel geredet. Er wusste, dass er dort unten lag.«

Niniver blinzelte verwirrt, in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

»Nigel soll sich gleichfalls von diesem Vorsprung gestürzt, also Selbstmord begangen haben? Das vermag ich mir nicht vorzustellen.«

Verlegen kratzte Sean sich am Kopf.

»Na ja, Selbstmord war es eher nicht. Nolans Jagdmesser, das er angeblich vor einem Jahr verloren hat, steckte zwischen seinen Rippen.«

Eine Weile standen sie stumm da, dann gab sie ein leises »Aha« von sich, einen Laut der Erkenntnis. Und tatsächlich hatte sich in diesem Moment, nachdem sie die Ereignisse des letzten Jahres noch einmal blitzschnell hatte Revue passieren lassen, ein ganz neues Bild ergeben.

Sie blickte in die Runde. Anders als die anderen war sie nicht überrascht. Vielmehr war das Gegenteil der Fall – endlich ergab alles einen Sinn.

Es dauerte einige Stunden, die beiden Leichen aus der Felsspalte zu bergen und sie nach Carrick Manor zu transportieren. Trotz der fortgeschrittenen Skelettierung war Nigel leicht zu identifizieren. Seine Überreste waren noch in die Kleider gehüllt, die er zur Hochzeit ihres Cousins Thomas Carrick mit Lucilla Cynster getragen hatte – das letzte Mal, dass er gesehen worden war.

Die nächsten Tage verbrachte Niniver hauptsächlich damit, sich mit jenen Clanältesten, die in der Nähe lebten, in der Bibliothek zu beraten. Schließlich mussten die Weichen für den Clan neu gestellt werden.

Norris war ebenfalls anwesend. Als Jüngster war er immer außen vor geblieben, war nicht mit den Problemen innerhalb der Familie behelligt worden, jetzt bekam er zum ersten Mal alles hautnah mit.

Stück für Stück versuchten sie gemeinsam, Licht ins Dunkel der vielen dubiosen Todesfälle zu bringen, die sich innerhalb kurzer Zeit bei den Carricks selbst und in ihrem Umkreis ereignet hatten. Niniver erinnerte sich mit einem Mal wieder an eine Äußerung Nolans, die er im Zuge der Ermittlungen zum rätselhaften Tod der beiden Burns-Schwestern von sich gegeben hatte und mit der er, ohne es direkt auszusprechen, den Verdacht auf seinen älteren Bruder gelenkt hatte.

Ein Grund, warum sie Sean nach Ayr geschickt hatte, einem kleinen Städtchen, in dem sich die vergnügungssüchtigen Brüder oft aufgehalten hatten. Dort sollte er die Richtigkeit einer weiteren Angabe überprüfen, die Nolan seinerzeit gemacht hatte.

Ninivers Befürchtungen wurden bestätigt.

»Und was jetzt? Sollen wir die Behörden einschalten?«, stellte Ferguson zur Diskussion, als sie über das weitere Vorgehen beratschlagten.

Mehr oder weniger war seine Frage an Niniver gerichtet, die an dem riesigen repräsentativen Schreibtisch ihres Vaters saß und auf die sich erwartungsvoll die Blicke aller Anwesenden richteten.

Der Schwur, den sie stumm am Grab ihres Vaters gesprochen hatte, hallte in ihrem Kopf wider.

Ich werde alles tun, um sicherzustellen, dass all die Fehler, die von deinen Kindern gemacht wurden, wiedergutgemacht werden und dass der Clan zu alter Einigkeit und Stärke und zu altem Wohlstand zurückfindet. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht und was ich tun muss, um dein Erbe zu bewahren und den Clan so zu führen, wie du es dir gewünscht hättest.

Es war alles gewesen, was sie als Wiedergutmachung für den Tod ihres Vaters anzubieten vermocht hatte. Würde sie mehr über die Umtriebe ihrer Brüder gewusst haben, hätte sie ihn vielleicht davor bewahren können, von einem seiner Söhne vergiftet zu werden.

Leider ließ sich Geschehenes nicht rückgängig machen, und so war es jetzt ihre vorrangige Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichkeiten und die Schuldfrage endgültig geklärt wurden.

»Wir müssen die Behörden auf jeden Fall über Nolans Tod informieren und ihnen alles mitteilen, was wir bislang herausgefunden haben und wissen. Ohne allerdings gleichzeitig die ganze Angelegenheit an die große Glocke zu hängen. Sonst lassen sich am Ende die Gazetten in Ayr und Dumfries und womöglich sogar in Glasgow und Edinburgh wochenlang genüsslich über den moralischen Verfall in unserem Clan aus.«

»Ganz bestimmt werden Sie von uns in dieser Hinsicht keine Einwände hören«, meldete sich Phelps zu Wort, und alle anderen nickten. »Der Clan hat genug gelitten, wir müssen nicht zusätzlich unsere schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit waschen und uns zur Zielscheibe des Geredes machen.«

»Dann wäre das ja geklärt«, erklärte Niniver daraufhin. »Wir werden den Arzt herbitten, damit er sich die Leichen ansieht, und Schreiben an folgende Personen aufsetzen: Sir Godfrey Riddle, Lord Richard Cynster und Thomas Carrick. Ich werde diese drei Herrschaften bitten, heute Nachmittag herzukommen. Wir sollten schauen, ob wir die Angelegenheit mit ihrer Hilfe in den Griff bekommen – sie kennen die Situation des Clans und sind bestimmt bereit, uns dabei zu helfen, alles Nötige mit möglichst wenig Aufheben zu erledigen.«

Niemand widersprach ihr. Eine halbe Stunde später nahm Sean die Briefe entgegen und ritt los, um sie den Adressaten zu überbringen.

Der Arzt erschien als Erster, untersuchte die Toten und versprach, seinen Bericht an den Vorsitzenden des Magistrats zu schicken, der als Friedensrichter in der Region für die Rechtsprechung zuständig war. Sir Godfrey selbst erschien um Punkt zwei Uhr. Seine Miene war äußerst besorgt.

»Niniver, meine Liebe.« Wie ein guter Onkel ergriff er ihre Hände und drückte sie. »Das muss ganz schrecklich für Sie sein.«

Mit undurchdringlicher Miene neigte sie den Kopf. Wie sollte sie erklären, dass Nolans Tod sie nach der Erschütterung, die der Giftmord an ihrem Vater und Nigels Verschwinden in ihr ausgelöst hatte, eher wieder stabilisiert hatte, weil sie sich in ihrer Menschenkenntnis neu bestätigt fühlte. Und weil sie endlich alles durchschaute, was sie die letzten Monate schlicht nicht verstanden hatte.

Was ihren Kummer und ihre Trauer betraf … Diejenigen, die ihre Tränen verdient hatten, waren seit fast einem Jahr tot. Ihr fehlte einfach die Energie, noch einen weiteren Toten zu beweinen.

Zumindest keinen, der es nicht wert war.

Sir Godfrey ließ ihre Hand los, als Lord Cynster und Ninivers Cousin Thomas auf den Hof ritten – gefolgt von einer Kutsche, die in einem weiten Bogen vor die Eingangstreppe fuhr und dort anhielt.

Thomas stieg von seinem Pferd, warf Sean die Zügel zu und eilte zu der Karosse, um seiner Schwiegermutter Catriona und seiner schwangeren Frau Lucilla beim Aussteigen behilflich zu sein.

Dafür dass ihre Schwangerschaft noch nicht sehr weit fortgeschritten war, wies die Cynster-Tochter bereits einen deutlichen Bauch auf, und allseits wurde gemunkelt, dass es Zwillinge würden. Was offenbar keiner von ihnen als Problem betrachtete, denn die werdende Mutter wurde ganz normal behandelt und benahm sich ganz normal. Nicht einmal beim Treppensteigen jammerte sie.

Wenngleich sie nicht explizit darum gebeten hatte, freute Niniver sich, dass die Damen mitgekommen waren. Nachdem sie Wangen gestreichelt, Hände gedrückt und gedämpfte Begrüßungsworte gesprochen hatte, führte sie ihre Gäste in den Salon, wo Norris wartete.

Eigens für den Besuch hatte sie überdies angeordnet, dass das Mobiliar so umgestellt wurde, dass man eine große Runde bilden konnte. Lucilla nahm auf einem der Sofas Platz, wo sich ihr kurz darauf Thomas zugesellte, ihre Eltern setzten sich auf das Sofa gegenüber, während Sir Godfrey, Niniver und Norris die Sessel nahe dem Kamin wählten.

Nachdem sie alle noch einmal offiziell willkommen geheißen hatte, wandte die junge Gastgeberin sich an den amtlichen Vertreter.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern einige Leute aus meinem Clan hinzubitten, da einige der Entscheidungen, die hier und heute gefällt werden, sie unmittelbar betreffen.«

Der Friedensrichter nickte. »Gewiss. Das ist für Sie alle eine fürchterliche Sache.«

Auf einen Wink Ninivers kamen Ferguson, die Haushälterin Mrs. Kennedy, Bradshaw, Forrester, Canning, Phelps und Matt herein. Sean bildete die Nachhut und schloss die Tür hinter ihnen. Sie nahmen Platz auf den hochlehnigen Stühlen, die zuvor aus dem Speisezimmer geholt und zwischen die Sofas und Sessel gestellt worden waren.

Niniver suchte für einen Moment Thomas’ Blick, ehe sie Sir Godfrey ansah.

»Es ist wohl das Beste, wenn ich kurz zusammenfasse, was passiert ist. Dann können wir besprechen, was daraus zu schließen ist beziehungsweise zu welchen Erkenntnissen ein Teil von uns schon gekommen ist. Schlussendlich müssen wir noch einmal über die Umstände sprechen, was es mit den Todesfällen von Papa und den Burns-Schwestern auf sich hatte, die ja von einer Reihe mysteriöser Vorkommnisse begleitet waren.«

»Ich verstehe. Fahren Sie fort«, forderte sie der Gesetzesvertreter auf.

Als Erstes schilderte sie die Ereignisse, die sich vor Nolans Sprung in die Tiefe zugetragen hatte, und Sean und sein Sohn wurden von dem Magistrat befragt, was sie genau gesehen hatten, als sie auf dem Grund der Felsspalte die Leichen entdeckt hatten.

»Also«, meldete sich Thomas zu Wort. »Es deutet einiges darauf hin, dass Nolan in Wirklichkeit der Mörder war und Nigel eines seiner Opfer. Da dieser nirgendwo beliebt war, konnte man ihm leicht unterstellen, dass er für alles verantwortlich war.«

»Hm!« Unter seinen buschigen Augenbrauen hervor betrachtete Sir Godfrey Niniver. »Sie haben erwähnt, dass Sie noch weiteren Dingen nachgegangen sind. Was genau meinen Sie damit?«

»Im Zuge der Ermittlungen zum Tod der Burns-Schwestern sagte Nolan aus, dass er und Nigel sich zu der Zeit, als Faith und Joy ums Leben kamen, in Ayr aufgehalten und die Nacht dort in einem gewissen Etablissement verbracht hätten. Als feststand, dass er Nigel getötet haben musste, schickte ich Sean nach Ayr, um die … äh … Damen zu fragen, ob sie sich noch an die fragliche Nacht erinnerten …«

Das Thema war ihr sichtlich peinlich, und Hilfe suchend sah sie Sean an, der sofort für sie einsprang und weiterberichtete.

»Also, wir dachten, dass die Damen sich bestimmt selbst nach so langer Zeit noch daran erinnern könnten, falls einer der beiden Carricks sie vorzeitig verlassen hatte.«

»Und? Haben sie sich erinnert?«, warf Lord Cynster interessiert ein.

»Ja. Sie erinnerten sich daran, dass der Blonde, zweifelsfrei Nolan also, am Abend nach Hause geritten sei. Eines der Dämchen will gehört haben, dass er damals zu Nigel sagte, er habe vergessen, ein paar Bücher zu verstecken, die niemand zu Gesicht bekommen dürfe, und dass er versprach, am nächsten Morgen zurück zu sein.«

»Den Brunnen der Bradshaws muss er allerdings früher vergiftet haben, vermutlich in der Nacht zuvor, denn die Familie lag ja seit dem Morgen todkrank in ihren Betten und wartete dringend auf die Hilfe der Heilerin, die dann durch das Gift im Wasser starb«, folgerte Thomas und sah zu dem betroffenen Pächter hinüber.

Norris seufzte. »Und wir hatten alle Nigel im Verdacht – ihm haben alle solche Gemeinheiten zugetraut, Nolan nicht. Dazu benahm er sich immer viel zu zurückhaltend.«

Niniver wandte sich erneut an den Friedensrichter. »Niemand hat Norris und mich je nach unserer Meinung gefragt. Ob wir beispielsweise glaubten, dass Nigel unseren Vater vergiftet haben könnte.« Sie hielt eine Weile inne, um nachzudenken. »Sicher war unser ältester Bruder in gewisser Weise gewissenlos und korrupt und lediglich auf seinen Vorteil bedacht. Was ihn ja in Verdacht geraten ließ. Andererseits war Nolan ebenfalls alles andere als ein Unschuldslamm.«

»Wie meinst du das?«, warf Thomas ein.

»Nun ja«, fuhr sie fort. »Er nahm es Papa sehr, sehr übel, dass er sich allein um Nigel kümmerte. Nicht unbedingt aus Liebe, sondern weil er der Erstgeborene war und damit automatisch als sein Erbe galt, und der musste für seine künftige Rolle ausreichend vorbereitet werden. Seine anderen Kinder schien er kaum wahrzunehmen. Nolan hat ihn dafür gehasst, ohne diesen Hass auf Nigel zu übertragen. Zum einen schien er sich fast sklavisch an ihm zu orientieren und so was wie sein Schatten zu sein, zum anderen merkte man, dass er ihn in manchen Dingen beeinflusste, denn er war der Klügere und Raffinierte, was er aber gut versteckte. Als Kind bekam ich das manchmal mit, wenn ich mich scheinbar unauffällig mit ihnen im selben Zimmer aufhielt. Ich war ja nur die dumme kleine Schwester. Später haben weder Norris noch ich viel von Nigel und Nolan mitgekriegt. Wir waren auf Carrick Manor, während die beiden die Gegend unsicher machten. Ayr, Dumfries, Glasgow, Edinburgh. Wie auch immer … Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Verhältnis zueinander sich großartig verändert hat oder dass sie sich persönlich verändert haben.«

»Und dann?« Der Friedensrichter schaute sie auffordernd an, als sie innehielt.

»Als dann der Verdacht auftauchte, Nigel habe Papa vergiftet und beim Tod von Joy und Faith Burns die Hände im Spiel, Nolan jedoch immer außen vor blieb, wusste ich einfach nicht mehr, was ich denken sollte … Ich konnte es nicht verstehen. Es war alles so undurchsichtig und widersprüchlich. Aber als Nigel anscheinend geflohen war, begann ich an die Verdächtigungen, die gegen ihn erhoben wurden, mehr und mehr zu glauben. Und als Nolan sich anfangs gewaltig ins Zeug legte, sah ich das als weitere Bestätigung, dass Nigel für alles ganz alleine verantwortlich gewesen war.« Sie holte Luft und fügte hinzu: »Und vor allem hätte ich nie für einen Moment geglaubt, dass Nolan Nigel getötet haben könnte. Wenn Nolan jemals einen Menschen geliebt hat, dann war es Nigel.«

Im Salon machte sich betretenes Schweigen breit, das Catriona durchbrach.

»Und das hat Nolan schließlich den Verstand gekostet, dass er denjenigen, den er liebte wie sonst keinen, getötet hat. Töten musste. Zu sehr fürchtete er sich davor, Lucilla als ausgebildete Heilerin würde erkennen, dass Manachan vergiftet worden war und die ganze Geschichte herauskäme. Um erst gar keinen Verdacht gegen sich aufkommen zu lassen, hat er beschlossen, seinen Bruder zu opfern. Es schien ja zu funktionieren. Nachdem Nigel spurlos verschwunden war, zweifelte niemand mehr an seiner Schuld. Nolan hatte den Behörden und der Gesellschaft einen Verbrecher geliefert, sodass wieder Ruhe einkehren konnte. Wenigstens war das seine Hoffnung gewesen. Mit den Stimmen in seinem Kopf hat er nie gerechnet.« Catriona blickte in die Runde. »Den einzigen Menschen töten zu müssen, den er je geliebt hat, hat Nolan am Ende in den Wahnsinn getrieben.«

»Wenn ich etwas sagen darf …«, meldete Phelps sich zu Wort. »Mir scheint, dass Nolan ursprünglich vorhatte, Nigel am Leben zu lassen, damit er das Amt des Gutsherrn bekleiden konnte, während er selbst als kluger Kopf im Hintergrund die Fäden ziehen wollte. Und erst aus Angst, der Tod seines Vaters könnte als Giftmord enttarnt werden, hat er Nigel umgebracht. Vielleicht war es ja eine Kurzschlusshandlung. Dann würde das, was wir auf dem Felsvorsprung gesehen und gehört haben, einen Sinn ergeben. Er wurde seine Schuldgefühle einfach nicht los.«

»Und es erklärt«, sagte Ferguson, »warum Nolan immer wieder zum Felsvorsprung ritt, um mit Nigel zu reden … Er wollte ihm nahe sein.«

Nachdem er lange bloß zugehört hatte, mischte Thomas sich wieder in die Diskussion ein.

»Ich stimme dem zu. Wenn wir unterstellen, dass Nolan Rache an Manachan nahm, weil der ihn stets vernachlässigt hatte, und dass er zudem Nigel als Gutsherrn kontrollieren und lenken wollte, dann zeigt das eines: Nolan beanspruchte Einflussnahme ohne Verantwortung. Egal was passierte, Nigel wäre an allem schuld gewesen. Das war Nolans wirkliche Rache. Er wollte die Fäden ziehen, die gemäß Manachans Wunsch Nigel in der Hand halten sollte.«

Abschließend kamen sie noch einmal auf verschiedene Punkte zurück, betrachteten sie im Lichte dessen, was sie inzwischen wussten, und bewerteten manche neu. Grundsätzlich jedoch bestand Einigkeit darüber, wann und wodurch die Serie der verhängnisvollen Ereignisse auf Carrick Manor ihren Lauf zu nehmen begonnen hatte.

Sir Godfrey kam das Schlusswort zu. »Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass Nolan von Anfang an der Hauptschuldige war. Sowohl was den Tod des alten Gutsherrn als auch den der Burns-Schwestern betrifft.« Sir Godfrey richtete den Blick auf Niniver. »Ich werde meine Verurteilung von Nigel zurücknehmen, kann mir indes vorstellen, dass es im Sinn der Familie wie des Clans ist, dass wir all das ohne großes Aufheben über die Bühne bringen, oder?«

Erleichterung erfüllte Niniver. »Ganz richtig. Der Clan hat durch den Skandal um den Mord an Papa genug gelitten. Wir würden es begrüßen, wenn wir das nicht ein weiteres Mal durchstehen müssten.« Sie sah zu Sir Godfrey hinüber. »Trotzdem müssen wir Nigels Namen irgendwie reinwaschen. Ist es möglich, das zu schaffen, ohne einen weiteren öffentlichen Skandal zu riskieren?«

Der Friedensrichter hob die Augenbrauen und sah fragend Richard Cynster an, der daraufhin einen Vorschlag unterbreitete.

»Was wäre, wenn wir Nolans Selbstmord als Schuldeingeständnis verstehen? Was es ja im Grunde genommen tatsächlich war.«

»Ganz davon abgesehen, sehe ich ohnehin keine Veranlassung für eine Gerichtsverhandlung, da der Mörder ja freiwillig aus dem Leben geschieden ist«, warf Thomas ein. »Es gibt also niemanden mehr, den man anklagen und für den Mord bestrafen müsste.«

Sir Godfrey schien erleichtert und nickte entschieden, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte.

»Ja. Das wird funktionieren.«

Am Ende einigte man sich darauf, dass Nigel vom Mord an seinem Vater und von dem Verdacht, etwas mit dem Tod der Burns-Schwestern zu tun zu haben, freigesprochen werde, ohne großes Aufheben zu machen, während man gleichzeitig Nolans Selbstmord als Schuldgeständnis werten wollte.

Catriona, die als Lady of the Vale eine enge Verbindung zum Pfarrer der Gegend hatte, erklärte sich bereit, Reverend Foyle über die Angelegenheit zu informieren und so den Weg zu ebnen, damit der Clan eine angemessene Beerdigung planen konnte.

Als alles besprochen und geklärt war und die Versammlung sich aufgelöst hatte, fühlte sich Niniver unglaublich erschöpft. Thomas, ihr Cousin, verabschiedete sich als Letzter von ihr. Er war sieben Jahre älter als sie, und von daher war ihre Beziehung nie besonders eng gewesen. Dennoch hatte sie in ihm stets einen echten Carrick gesehen, einen Mann vom Schlag ihres Vaters und einen Mann, auf den man sich verlassen konnte.

»Das ist das Ende einer finsteren Zeit für den Clan und für die Familie«, sagte er tröstend zu ihr, bevor er zu Lucilla in die Kutsche stieg. »Ich bin immer da, wenn du mich brauchst.«

Sie hatte das Verständnis in seinen braunen Augen lesen können und war ihm dankbar. Schließlich wusste sie nicht, was jetzt werden würde, nachdem der Clan und das Gut führungslos waren. Niniver war entschlossen, alles zu tun, um für die Zukunft die richtigen Weichen zu stellen. Immerhin war sie ein Mitglied des Clans und jetzt das älteste von Manachans Kindern.

Obwohl sie völlig fertig war und sich am liebsten in ihr Zimmer zurückgezogen hätte, musste sie noch ein wichtiges Gespräch führen.

Sie fand Norris in der Bibliothek. Er stand an einem der hohen Fenster und blickte auf die Landschaft hinaus, über die sich allmählich die Dunkelheit senkte. Sie nahm an, dass er wusste, was kommen würde, und dass er gewartet hatte, um mit ihr zu sprechen.

Ein Seufzen unterdrückend, setzte sie sich auf die Lehne eines der Sessel.

Norris drehte sich um und blickte sie im Halbdunkel an. Nach einer Weile fragte er: »Und jetzt?«

»Was wohl?« Sie straffte die Schultern und hob den Kopf. »Jetzt berufen wir ein Treffen des Clans ein, um einen neuen Gutsherrn zu wählen.« Auffordernd ruhte ihr Blick auf ihm. »Wirst du dich zur Wahl stellen?«

Der jüngere Bruder lachte. Es war ein hohles, leicht spöttisches Lachen.

»Nein. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, den Clan anzuführen. Eigentlich solltest du wissen, dass ich mich nie sonderlich für den Clan und genauso wenig für das Gut interessiert habe.«

Niniver hatte nichts anderes erwartet, sie kannte Norris besser als alle anderen. Von Anfang an war er nie wirklich beachtet worden, vielleicht weil es bereits zwei Söhne gab. Nicht allein der Vater hatte ihn schlicht übersehen, sondern auch der gesamte Clan. Das hatte ihn geprägt, ihn unzugänglich gemacht, zumal die Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben an.

Insofern war seine Schwester der einzige Mensch, dem er je nahegestanden hatte und den er nicht ignorierte. Nicht einmal Freunde hatte er, weil er dem Lebensstil der jungen Männer von den anderen Gütern nichts abzugewinnen vermochte. Seine Interessen waren rein akademischer Natur, und das zählte wenig in der rauen, wilden Landschaft am Rande der Highlands.

»Also, was wirst du machen?«, hakte Niniver nach.

Wenngleich nicht viel älter, hatte sie sich für diesen in sich zurückgezogenen Bruder immer verantwortlich gefühlt und sich von seiner harten äußeren Schale nicht abschrecken lassen. Sie spürte, dass sich darunter ein weicher Kern verbarg und dass Norris sie ungeachtet seines spröden Verhaltens im Grunde seines Herzens liebte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so schnell würde entscheiden müssen, nur werde ich hier mein Glück nicht finden. Das war mir schon als kleiner Junge klar.« Er schob die Hände in die Hosentaschen und zuckte die Achseln. »Um ehrlich zu sein, hatte ich nie das Gefühl, es in diesem Haus, in dieser Gegend überhaupt finden zu können. Ich gehöre einfach nicht hierher.«

Sie sagte nichts, wartete schweigend ab, was er noch vorbringen würde.

Halb zum Fenster gewandt und in Richtung Osten zu den Bergen blickend, setzte er nach einer Weile erneut zum Sprechen an und eröffnete ihr, wie er sich sein Leben in Zukunft vorstellte.

»Ich muss mir etwas Eigenes aufbauen, muss nach meiner Façon glücklich werden. Und um das tun zu können, muss ich hier weg. Ein für alle Mal. Für immer, ohne je zurückzukehren. Und bis auf das Erbe von Papa erwarte ich kein Geld, also keinen Anteil an den Erträgen des Gutes etwa, sag das den Clanältesten.«

Wenngleich sie mit Derartigem gerechnet hatte, traf sie die Erkenntnis, dass sie bald gar keine Geschwister mehr hatte, mit voller Wucht.

»Wohin wirst du gehen?«

Erneut zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht nach St. Andrews. Vielleicht kann ich mir dort an der Universität eine Stelle als Lehrer suchen und gleichzeitig wissenschaftlich arbeiten. Wer weiß? Ich werde morgen früh aufbrechen.«

»So bald?« Niniver atmete hektisch ein und erhob sich. »Dann reitest du einfach so davon?«

Norris nickte ernst und entschlossen. »Ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen.«

Es lag ihr auf der Zunge zu sagen, dass er damit genauso sie zurücklassen werde, dass er sie allein ließ mit der Aufgabe, sich hier um alles zu kümmern, worauf sie nie vorbereitet worden war … Aber nein. Der Versuch, ihm zu erklären, was das bedeutete, wäre sinnlos. Noch weniger allerdings würde sie ihn umstimmen können, zu bleiben und die ihm zustehende Position des Clanchefs und Gutsherrn doch noch zu übernehmen.

»Geh nicht, ohne dich zu verabschieden«, war das Einzige, was sie herausbrachte.

»Wir sehen uns beim Frühstück«, versprach er nach kurzem Zögern, ging zur Tür und verließ den Raum.

Niniver sank in den großen Schreibtischsessel ihres Vaters. Sobald Norris abreiste, stand sie allein da. Der Clan würde zusammentreten und ein neues Oberhaupt wählen, dem zugleich das Gut zustand. Ihr würde als Letztes die Pflicht zufallen, dafür zu sorgen, dass alle Besitztümer ordnungsgemäß übergeben wurden. Alles bis auf das Privatvermögen und einige persönliche Dinge. Den ganzen großen Rest: die Möbel, das Geschirr, die Bücher, die Pferde und Kutschen, sogar die Hirschhunde, würde sie an das neue Clanoberhaupt übergeben müssen. Alles, was diesen Ort zu ihrem Zuhause gemacht hatte.

Was würde sie tun, nachdem die Übergabe des Hauses abgeschlossen war?

Sie wusste es nicht, saß einfach da und starrte ins Nichts, während sich vor dem Fenster endgültig die Dunkelheit herabsenkte und die Schatten in dem riesigen Haus immer tiefer wurden.

Anders als Norris, der von einem Leben in einer anderen Umgebung träumte, sträubte sich in ihr alles, das Land, auf dem sie aufgewachsen war, zu verlassen. Hier waren ihre Wurzeln, hier war sie auf eine Weise verankert, die sie sich nicht zu erklären vermochte. Seit ihrer Kindheit hatte sie das so empfunden. Im Schoß des Clans aufgewachsen, schien es ihr unvorstellbar, sich anderen Menschen anzuschließen, und sie wusste sich nicht einen einzigen Grund vorzustellen, warum sie das tun wollte.

»Ich werde bleiben«, murmelte sie trotzig. »Egal was passiert, ich werde einen Weg finden, um bleiben zu können. Vielleicht erlaubt es mir ja der nächste Gutsherr, den ungenutzten Flügel wieder zu öffnen und mich dort einzurichten.«

Den Kopf leicht schräg gelegt, dachte sie über ihre Optionen nach. Abgesehen davon, dass sie zu sehr an allem hing, um es zu verlassen, musste sie noch den Schwur erfüllen, den sie ihrem toten Vater gegeben und in dem sie sich verpflichtet hatte, begangene Fehler wiedergutzumachen und den Clan zu neuer Größe und neuem Wohlstand zu führen. Anders als ihre Brüder glaubte sie an den Clan, glaubte an Richtig und Falsch, an bindende Verpflichtungen und feierliche Schwüre. Sie glaubte daran, denjenigen, die ihr etwas gegeben hatten, etwas zurückgeben zu müssen.

»So oder so – ich werde einen Weg finden«, machte sie sich selbst Mut und erhob sich.

Im Laufe der vierundzwanzig Jahre ihres Lebens hatte sie immer wieder auf diesen Grundsatz zurückgegriffen, wenn es einmal kritisch zu werden drohte. Und dieses Mal würde es ihr ebenfalls helfen, davon war sie überzeugt.

Drei Tage später wurden Nigel und Nolan beerdigt. Angesichts der Umstände war die Atmosphäre völlig anders als bei einer normalen Beisetzung wie zuletzt etwa bei ihrem Vater. Manachan war vom Clan verehrt und im ganzen Bezirk respektiert worden, während Nigel und Nolan gerade mal als Söhne des Patriarchen toleriert worden waren.

Zu Ninivers Leidwesen tauchten unerwartet ausgerechnet einige Freunde auf, die genauso waren wie sie: dandyhaft, verantwortungslos und genusssüchtig. Lautstark begrüßten sie einander und ergingen sich in dubiosen Erinnerungen an die beiden Verstorbenen, die nicht gerade ein gutes Licht auf deren Lebenswandel warfen.

Niniver ignorierte sie und unterhielt sich lieber mit den Mitgliedern des Clans.

Im ersten Moment war sie überrascht gewesen, wie viele zur Beerdigung erschienen waren. Dann hingegen war ihr klar geworden, dass die seltsame und eher triste Zeremonie nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Familien des Clans das Ende einer langen Phase der Unsicherheit und Unruhe bedeutete.

Alles hatte mit Manachans schleichender Krankheit begonnen, die, wie man inzwischen wusste, durch die ständige Zufuhr kleiner Mengen Gift bedingt war und ihn zwang, immer mehr Aufgaben bei der Verwaltung des Gutes an Nigel zu delegieren, der wiederum mit unsinnigen und leichtfertigen Maßnahmen für Verwirrung und Misstrauen sorgte und das Gut überdies in eine finanzielle Schieflage brachte. Während dieser zwei Jahre hatten viele das Vertrauen in die Führung des Clans verloren.

Während Nigel im Familiengrab der Carricks beigesetzt wurde, bekam Nolan ein kleines Grab in einer abgelegenen Ecke des Friedhofs, wie es üblich war für Selbstmörder, denen man den geweihten Boden vorenthielt. Dass er vor allem ein Mörder war, das war mit Sir Godfreys Zustimmung weitgehend unter der Decke gehalten worden. Niniver war die Erste, die eine Schaufel voller Erde auf seinen Sarg warf. Mit versteinerter Miene folgten die Ältesten des Clans ihrem Beispiel.

Und dann war es vorbei.

Niemand hatte das Bedürfnis, länger zu bleiben als unbedingt nötig. Alle waren froh, alldem hier den Rücken kehren zu können, und stiegen in die Wagen und Kutschen, mit denen sie gekommen waren. Lediglich einige der Freunde von Nigel und Nolan umringten sie noch, um ihre fragwürdigen Beileidsbekundungen loszuwerden und instinktlos von erlebten Abenteuern mit den Brüdern zu schwärmen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, luden die Möchtegerndandys Niniver zu einem Picknick ein und ließen sich trotz ihrer höflichen Ablehnung nicht abwimmeln. Glücklicherweise griff Thomas ein und verjagte mit einigen passenden Worten und einem finsteren Blick die Bande. Anschließend begleitete er sie noch zu ihrer Kutsche.

Endlich war alles vorbei. Sie lehnte den Kopf an die Polster und schloss die Augen, vermochte kaum die Tränen zurückzuhalten, die mit einem Mal unaufhaltsam in ihr hochstiegen.

Ihre Familie hatte sich aufgelöst – es gab sie nicht mehr. Thomas war der einzige Blutsverwandte, den sie näher kannte, und natürlich würde sie sich immer an ihn wenden können, aber er hatte ein eigenes Zuhause gefunden, seinen eigenen Platz als Gefährte an der Seite der zukünftigen Lady of the Vale, die dereinst die Nachfolge ihrer Mutter als Priesterin einer in der Region verehrten uralten Gottheit, der Lady, antreten würde.

Sie war allein. Vollkommen allein. Sie hatte keinen Platz, keine Aufgabe, kein Leben.

Letztlich war sie diejenige, die einsam zurückgelassen worden war.

Das Einzige, was sie aufrecht hielt, war die Hoffnung, im Clan einen neuen Platz, eine neue Rolle zu finden, selbst wenn sie bislang nicht wusste, wie das überhaupt aussehen könnte.

Es half nichts, sie musste zuversichtlich bleiben und ihre Gedanken immer auf das richten, was als Nächstes anstand, und das war erst einmal die Wahl des Clanchefs, die für heute angesetzt war.

Seufzend öffnete sie die Augen und schaute aus dem Fenster. So oder so, sie würde einen Weg finden.

Als sie zurück ins Herrenhaus kam, teilte einer der Diener ihr mit, dass Mr. Purdy im Salon auf sie warte. Er war der Anwalt des Clans, der die Übergabe des Besitzes von der Familie des verstorbenen Oberhaupts auf die des neuen überwachen und beurkunden musste. Niniver verbarg ihre Gefühle hinter einer undurchdringlichen Maske, bevor sie sich in den Salon begab.

Mr. Purdy war ein gepflegter älterer Herr mit klugen braunen Augen. Nachdem er ihre Hand geschüttelt und wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte, kam er gleich auf das bevorstehende Treffen zu sprechen.

»Wissen Sie bereits, wem sich der Clan bei seiner Wahl zuwenden wird?«

Sie setzte sich ihm gegenüber auf das zweite Sofa und schüttelte den Kopf.

»Nein, es gibt einige Älteste, die das Amt durchaus übernehmen könnten. Ich selbst habe mich bei den Diskussionen im Vorfeld lieber zurückgehalten. Unter den gegebenen Umständen glaube ich, dass ich die Entscheidung, wer der neue Gutsherr wird, in keiner Weise beeinflussen sollte. Insbesondere nicht angesichts des Chaos, das in den letzten beiden Jahren geherrscht hat und das von meinen Brüdern angerichtet wurde. Jetzt muss endlich wieder eine starke Hand her – jemand, der über Sachverstand und echte Führungsqualitäten verfügt.«

Der Anwalt runzelte die Stirn. »Sie haben noch einen Bruder, wenn ich mich recht entsinne. Er muss etwa zweiundzwanzig Jahre alt sein, oder?«

»Norris. Er hat es kategorisch abgelehnt, sich als Clanchef zur Wahl zu stellen. Nicht wegen seines Alters, sondern wegen anderer Interessen. Er hat Carrick Manor schon verlassen, um sich an einem anderen Ort ein anderes Leben aufzubauen.«

Purdy schürzte die Lippen und nickte schließlich. »Wenn er das Amt definitiv nicht übernehmen will, ist seine Abreise wohl die beste Entscheidung gewesen.«

Zu demselben Schluss war Niniver gekommen. Ob beabsichtigt oder nicht: Norris’ Weggang würde dem Clan die Entscheidung erleichtern, denn sicherlich wäre er niemals erste Wahl gewesen.

Die Tür ging auf, und Ferguson kam herein. Erleichterung spiegelte sich auf seinem Gesicht.

»Da sind Sie ja, Miss«, sagte er, bevor er sich dem Besucher zuwandte. »Mr. Purdy.« Sein Blick wanderte zurück zu Niniver. »Wenn Sie dann mitkommen wollen. Die Mitglieder des Clans warten in der Bibliothek.«

Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass man sie zur Wahl hinzubitten würde, das war nicht üblich. Vielleicht war es eine letzte Ehrerbietung ihrem Vater gegenüber, dass sie als seine Tochter seine Familie repräsentieren durfte, deren Namen der Clan immerhin trug, obwohl die große Mehrzahl inzwischen andere Familiennamen führte. Echte Carricks gab es nicht mehr viele.

»Ja, natürlich«, willigte sie ein und erhob sich. »Ich hätte nicht gedacht …« Lächelnd wandte sie sich Purdy zu. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Sir?«

Offenbar war der Anwalt nicht weniger verwundert, und unverhohlene Neugier stand in seinem Blick, als er den Kopf neigte.

»Selbstverständlich, Miss Carrick. Ich werde hier auf sie warten.«

Kurz fragte sie sich noch, warum Purdy sie so seltsam gemustert hatte, dann wanderten ihre Gedanken zu dem angesetzten Treffen, und sie folgte Ferguson in die Bibliothek.

Entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, sah sie sich um – und bemerkte, dass jeder im Raum sie anblickte. Was sollte das alles? Warum diese Aufmerksamkeit? Sie blinzelte verwirrt. Es waren viel mehr Menschen da, als sie erwartet hatte. Jeder Stuhl war besetzt, und nicht wenige Männer standen sogar.

Hinter ihr räusperte Ferguson sich geräuschvoll und bedeutete ihr, auf dem Sessel am Schreibtisch Platz zu nehmen.

Sie tat es, doch ihre Verwirrung wuchs. So langsam verstand sie die Welt nicht mehr. Offensichtlich war der Sessel, auf dem ihr Vater und Großvater und viele vor ihr gesessen hatten, für sie freigehalten worden. Dabei hätte er eigentlich für den zukünftigen Gutsherrn reserviert werden müssen.

Ohne eine Ahnung zu haben, was das alles sollte, ließ sie ihre Blicke über die Versammlung schweifen. Nicht weit von ihr stand Bradshaw, ein energischer Mann, dessen Bereitschaft, sich für das Wohl des Clans einzusetzen, allgemein bekannt war. Ein kleiner Nachteil war seine Streitlust. Forrester neben ihm, ein weiterer Kandidat, der seine gesamte Familie mitgebracht hatte, galt als stiller, verlässlicher Mensch. Vielleicht als ein bisschen zu still. Sie betrachtete den Rest und suchte nach einem Zeichen. Vergeblich. Alle schienen gottergeben der Dinge zu harren, die da kommen würden.

Niniver fühlte sich bei ihrem Anblick an ein Buch über die französischen Adligen erinnert, die vermutlich ähnlich fatalistisch darauf gewartet hatten, dass die Guillotine fiel.

In diesem Augenblick sah sie, dass Sean ihr ein Zeichen gab. Ihre Verwirrung wuchs noch, als sie registrierte, dass alle sie erwartungsvoll ansahen.

Um Gottes willen, dachte sie. Wollten die Leute etwa, dass sie die Versammlung leitete? Wie sollte das gehen? Darauf war sie schließlich durch nichts und niemanden vorbereitet worden. Aber offenbar war es so. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Herausforderung anzunehmen.

Ein letztes Mal holte sie tief Luft, legte die gefalteten Hände auf den Schreibtisch und räusperte sich. Ihre Stimme klang ein wenig heiser, als sie zu sprechen begann. Zum Glück kannte sie den Wortlaut der traditionellen Einleitung, die bei einer Wahl gesprochen wurde.

»Nach alter Sitte haben wir uns heute hier zusammengefunden, um einen neuen Gutsherrn zu wählen.« Sie sah zu Ferguson hinüber, der neben dem alten Egan stand, und sprach ihn direkt an. »Haben Sie eine Liste mit den möglichen Anwärtern?«

»Es steht lediglich ein Name darauf«, erwiderte der Butler in seiner gewohnt würdevollen Art.

»Bloß einer?«

Zwar würde das die Angelegenheit sehr erleichtern, aber sie war sich sicher gewesen, dass sich mindestens drei Familien um den Posten streiten würden – die Bradshaws, die Phelps und die Cannings.

»Wir haben uns in den vergangenen Tagen, seit dem Tod Ihres Bruders, intensiv unterhalten«, setzte Ferguson zu einer Erklärung an. »Um ehrlich zu sein, haben wir uns bereits lange vorher Gedanken über die Frage nach einem Nachfolger gemacht, als abzusehen war, dass es nicht mehr so weitergehen konnte mit ihrem Bruder. Tatsächlich gibt es nicht mehr als eine Person, der alle Familien des Clans zu folgen bereit sind. Und diese Person soll das neue Oberhaupt werden.«

Forschend musterte sie die Gesichter Bradshaws, Forresters und all der anderen. Die Männer und ihre Frauen nickten zustimmend.

»Nun gut, dann müssen wir ja nicht einmal wählen. Und für das neue Oberhaupt hat das den Vorteil, sich des uneingeschränkten Rückhalts des gesamten Clans sicher sein zu können.« Sie blickte Ferguson an. »Und wie lautet der Name?«

Der Butler lächelte. »Der Name lautet Niniver Eileen Carrick.«

»Ja?«

Sie glaubte, dass sie zu einer irgendeiner Stellungnahme aufgefordert wurde, dass sie eine Frage überhört hatte oder weiß Gottes was.

»Also, wie lautet der Name?«

Jetzt konnte sich Ferguson nicht einmal mehr ein Grinsen verkneifen.

»Niniver Eileen Carrick, das ist der Name, der auf unserer Liste steht.«

Sie hatte das Gefühl, in Ohnmacht fallen zu müssen. Ungläubig riss sie die Augen weit auf und schnappte nach Luft.

»Wollt ihr wirklich alle, dass ich eure neue Clanchefin und eure neue Gutherrin werde? Eine Frau, das hat’s ja noch nie gegeben.«

Die Emotionen drohten sie zu überwältigen. Die Bestätigung, die sie erhielt, als sie ein weiteres Mal in die Runde blickte, machte sie fassungslos. Diese unerwartete Wendung ihres Schicksals war einfach zu viel für sie. Nachdem sie sich bereits allein und heimatlos gesehen hatte, nun das … Ein ungeheures Gefühl von Dankbarkeit und Glück überwältigte sie, und dann kam ihr plötzlich in den Sinn, dass sie jetzt wirklich die Gelegenheit haben würde, ihren Schwur zu erfüllen, den sie ihrem toten Vater an seinem Grab gegeben hatte.

Aber sie wollte mehr wissen, die Hintergründe erfahren, um die Entscheidung besser zu verstehen. Mit der Zungenspitze fuhr sie sich über die trockenen Lippen.

»Warum ich?«

Eine Wortmeldung jagte die nächste. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass alle ihr Heranwachsen voller Bewunderung verfolgt und in ihr die Frau gesehen hatten, die über mehr Potenzial verfügte als ihre Brüder, worin sie durch Nigels und Nolans Verhalten zusätzlich bestätigt worden waren. Die Leute des Clans hatten gesehen, hatten verstanden und entsprechend gewählt.

Zutiefst bewegt vom dem in sie gesetzten Vertrauen, vom dem unerschütterlichen Glauben an sie, fand Niniver keine Worte, das auszudrücken, was sie empfand.

Was nichts daran änderte, dass es sie beflügelte und erst gar keine Bedenken aufkommen ließ, ob sie dem Amt denn gewachsen war.

Sie wollte und konnte nicht ablehnen, hatte gar keine Wahl – ganz davon abgesehen, dass sie sich auch keine wünschte. Rasch schluckte sie den Kloß herunter, der in ihrem Hals steckte, räusperte sich, um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen, und sagte klar und vernehmlich: »Danke, ich nehme die Wahl an.«

Und mit diesen schlichten Worten stieg sie zur Lady des Carrick-Clans auf.

Kapitel 1

März 1850

Niniver beugte sich tief über Oswalds Hals und ließ den großen rotbraunen Wallach laufen. Der Wind strich über ihre Wangen und zerrte einige Strähnen aus dem Knoten, zu dem sie ihr Haar gebunden hatte. Es war ihr egal. Sie wollte einfach nur mit dem Wind fliegen und für einen Moment alles andere vergessen.

Außer dem Donnern der schweren Hufe hörte sie nichts, außer dem Spiel der kräftigen Muskeln auf dem Pferderücken sah sie nichts. Frustration und Enttäuschung, die sie beinahe überwältigt hatten, wurden in den Hintergrund gedrängt, während sie über die Felder jagte.

Bei diesem wilden Ritt gab es in ihrem Kopf keinen Platz mehr für ihre Verärgerung und ihren Unmut über das idiotische Verhalten gewisser Leute. Was dachten die sich bloß? Dachten sie überhaupt? Oder reagierten sie einfach auf eine Situation, die sie nicht deuten konnten?

Von Carrick Manor, dem für diese Gegend ziemlich pompösen Herrenhaus, war sie nach Osten in Richtung der weiten Felder geritten. Sie wollte, sie musste galoppieren. Leider endeten die Ländereien des Clans an der Straße. Vor ihr war bereits vage der Schotterstreifen zu sehen. Für gewöhnlich wäre sie langsamer geworden, hätte die Zügel angezogen und wäre umgekehrt.

Heute hingegen nicht.

Sie beugte sich noch etwas tiefer über das Pferd und ließ Oswald weiter voranpreschen. Heute brauchte sie mehr als sportliche Betätigung und Bewegung. Heute brauchte sie so etwas wie einen Exorzismus, der sie reinigte und beruhigte – bevor sie die Nerven ganz verlor und sich zu einer übertriebenen Reaktion hinreißen ließ, die den Stolz und das Selbstbewusstsein einiger junger Burschen aus ihrem Clan, die Grund und Gegenstand ihres Zorns waren, auf ewig und drei Tage verletzen würde.

Sie lockerte die Zügel, sodass Oswald mühelos über die Steinmauer sprang, die die Grenze des Carrick’schen Besitzes markierte, um jenseits der Straße über eine weitere Mauer zu springen, hinter der die Ländereien des alten Hennessy begannen. Sie war nicht mehr dort gewesen, seit Marcus Cynster das komplette Anwesen gekauft hatte.

Normalerweise vermied sie es, auf fremdem Terrain zu reiten, aber in ihrer gegenwärtigen Verfassung brauchte sie einen langen, sehr langen Ausritt. Außerdem sagte sie sich, dass es schon mit dem Teufel zugehen müsste, wenn sie ihren Nachbarn ausgerechnet heute zufällig auf einem seiner Felder treffen würde.

Sie ging davon aus, dass sie bis zum Ende des Tales reiten, umdrehen und zurückjagen würde, ohne dass sie irgendwer bemerkte. Unter dieser Prämisse gab sie sich dem Augenblick hin, wurde eins mit ihrem Pferd und galoppierte ungestüm durch das lange, schmale Tal.

Als sie die Anhöhe am Ende erreichte, gönnte sie Oswald, der vernehmlich schnaufte, eine Ruhepause. Nicht dass er sich auf dem Weg zurück überanstrengte. Außerdem hatte sie auf einer Anhöhe ein idyllisches Plätzchen gefunden mit einem Baum, dessen Blätterdach genug Schatten spendete, damit sie und Oswald sich darunter erholen konnten.

Von hier aus konnte sie sogar das Gutshaus der Hennessys sehen. Erbaut aus roten Ziegelsteinen, die inzwischen stark verblichen waren, und ergänzt mit Fenster- und Türstürzen aus heimischem Naturstein und einer Veranda am Eingang, stand es umgeben von den üblichen Nebengebäuden auf einer leichten Erhebung. Aus zwei der vielen Schornsteine stieg Rauch auf.

Während sie die friedvolle Szenerie in sich aufnahm, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.

Seit fast einem Jahr war sie nunmehr das Oberhaupt des Carrick-Clans. Die ersten Monate zwischen Spätfrühling und Herbst waren sehr anstrengend und arbeitsreich gewesen – nicht allein für sie, sondern für den gesamten Clan. Gemeinsam mit dessen Ältesten hatte sie Stück für Stück herausgefunden, welches Ausmaß die Veruntreuung ihrer Brüder gehabt hatte.

Dass man ihnen nicht auf die Schliche gekommen war, lag an einer raffinierten doppelten Buchführung, die Nolan ersonnen hatte. Deshalb hatte er auch unbedingt jene Kontobücher verstecken müssen, in denen die wahren Finanzen des Clans aufgelistet waren und die die prekäre Lage verdeutlichten. Warum er das allerdings ausgerechnet an jenem Abend tun wollte, als die Burns-Schwestern starben, blieb sein Geheimnis. Vermutlich hatten sie etwas belauscht oder gesehen, was Nolan dann wiederum mitbekommen und sie ausgeschaltet hatte, bevor sie irgendjemandem von ihrem Verdacht erzählen konnten.

Es war eine ernüchternde Zeit gewesen, doch immerhin hatte sie es geschafft, die Finanzen notdürftig zu sanieren und die Einnahmen des Gutes wieder etwas zu steigern. Man war also auf dem richtigen Weg.

Niniver hätte folglich allen Grund zur Freude gehabt, wäre mit Beginn des Herbstes nicht ein Problem ganz anderer Art aufgetreten. Mit einem Mal hatten die jungen Burschen, jetzt wo sowieso weniger Arbeit auf dem Gut anfiel, plötzlich angefangen, über sie nachzudenken.

Aus dem einzigen Grund, weil sie noch immer unverheiratet war.

Dass es ihr als Lady des Clans nicht unbedingt bestimmt war zu heiraten, begriffen die Schwachköpfe nicht. Und erst recht nicht, dass ihr bei all den Schwierigkeiten, die sie ohnehin zu bewältigen hatte, nicht unbedingt der Sinn nach romantischen Abenteuern stand.

Leider konnte sie nicht einfach dazwischengehen und sie zur Rede stellen. Schließlich musste sie gewisse Rücksichten auf den Clan nehmen, der sie, eine Frau, gegen alle Gepflogenheiten und Traditionen zum Oberhaupt gewählt hatte. Das durfte sie sich nicht verscherzen. Und würde es auch um keinen Preis tun. Ihr vorrangiges Ziel musste sein, im Sinn und zum Wohle des Clans alle Probleme zu regeln und alle auftauchenden Schwierigkeiten zu meistern.

Dennoch war die Situation prekär. Wie sollte sie die aufdringlichen Verehrer loswerden, ohne sich Gegner im Clan zu machen. Und einen von ihnen zu heiraten und ihm die Zügel zu übergeben, was vermutlich alle anstrebten, kam um nichts im Leben infrage. Deshalb war der Gedanke an eine Ehe von vornherein nicht verlockend. Nichtsdestotrotz wünschte sie sich einen Partner an ihrer Seite, der sie unterstützte, aber genug Stärke besaß, die ihr übertragene Führungsrolle zu akzeptieren und hinter ihr zurückzustehen.

Die meisten Männer schienen das anders zu sehen. Sie waren so blind, dass sie ihre Zurückhaltung nicht wahrnehmen wollten und unverdrossen glaubten, dass sie, wenn sie sie heftig genug bedrängten, bestimmt in eine Heirat einwilligen und ihnen dann nach und nach die Führung des Clans überlassen würde.

An diesem Nachmittag beispielsweise war sie auf dem Weg in die Stallungen auf Clement Boswell und Jed Canning gestoßen, die sich auf dem Hof geprügelt hatten. Um sie. Sie hatten sogar die Frechheit besessen zu behaupten, dass sie ihnen Gefälligkeiten gewährt habe. Die beiden hatten sie nicht früh genug entdeckt, um den Mund zu halten.

Am liebsten hätte sie ihre Köpfe zusammengestoßen und ihnen einen Denkzettel verpasst, doch was konnte sie als zierliches Wesen gegen zwei baumlange Muskelpakete ausrichten und anderes tun, als verächtlich an ihnen vorbeizugehen. Zu ihrem Bedauern hatte sie das nicht getan, sondern die Nerven verloren. Hatte sie mit gellender Stimme beschimpft und sich aufgeführt wie ein alter Drachen, wie eine zänkische Kratzbürste.

Mit einer mörderischen Wut auf alle Männer hatte sie sich anschließend in Oswalds Sattel geschwungen und es zum ersten Mal als Vorteil betrachtet, dass ihr geliebtes Reittier ein Wallach und kein Hengst war.

Jedenfalls hatte sie der Zwischenfall dazu gebracht, allerlei Überlegungen anzustellen, die sämtlich in der Erkenntnis gipfelten, dass sie einen Beschützer brauchte. Jemanden, der an ihrer Seite stand, um das zu tun, was sie als Frau nicht schaffte – nämlich ihre Möchtegernverehrer einzuschüchtern, damit sie die Tatsachen akzeptierten, ihren Standpunkt respektierten und sie in Ruhe ließen.