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Dieser Band enthält folgende Krimis: Kubinke im Fadenkreuz (Alfred Bekker) Das Mädchen vom Silbernen Hering (Fred Wiards) Die Tote im Unterholz (Peter Haberl) Fleming Stone und der Wille zum Mord: Kriminalroman (Carolyn Wells) Der Berliner Kommissar Harry Kubinke gerät ins Visier eines kriminellen Clans aus dem Wedding. Gleichzeitig erschüttert eine Reihe von Morden die Bundeshauptstadt, bei denen ein Spezialgewehr für Scharfschützen eine Rolle spielt. Kubinke und sein Team müssen alles daransetzen, die Hintermänner zu finden. Für den Kommissar selbst wird dieser Fall eine Frage von Leben und Tod.
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Vier Spitzenkrimis für lange Herbstabende
Copyright
Kubinke im Fadenkreuz
Das Mädchen vom Silbernen Hering: Ostfrieslandkrimi
Die Tote im Unterholz
Fleming Stone und der Wille zum Mord: Kriminalroman
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Kubinke im Fadenkreuz (Alfred Bekker)
Das Mädchen vom Silbernen Hering (Fred Wiards)
Die Tote im Unterholz (Peter Haberl)
Fleming Stone und der Wille zum Mord: Kriminalroman (Carolyn Wells)
Der Berliner Kommissar Harry Kubinke gerät ins Visier eines kriminellen Clans aus dem Wedding. Gleichzeitig erschüttert eine Reihe von Morden die Bundeshauptstadt, bei denen ein Spezialgewehr für Scharfschützen eine Rolle spielt. Kubinke und sein Team müssen alles daransetzen, die Hintermänner zu finden. Für den Kommissar selbst wird dieser Fall eine Frage von Leben und Tod.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author / COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Ein Harry Kubinke Krimi
Der Berliner Kommissar Harry Kubinke gerät ins Visier eines kriminellen Clans aus dem Wedding. Gleichzeitig erschüttert eine Reihe von Morden die Bundeshauptstadt, bei denen ein Spezialgewehr für Scharfschützen eine Rolle spielt. Kubinke und sein Team müssen alles daransetzen, die Hintermänner zu finden. Für den Kommissar selbst wird dieser Fall eine Frage von Leben und Tod.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
CopyrightEin CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Alle Rechte vorbehalten.
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Alfred Bekker: Kubinke im FadenkreuzKommissar HARRY KUBINKE ermittelt in Berlin.
Kommissar RUDI MEIER ist sein Kollege.
*
Ein dummes Gefühl, wenn man weiß, dass man sich im Fadenkreuz eines Killers befindet…
Das war in Kreuzberg vor einer urigen Kneipe, an deren Außenwand noch ein großer roter Stern und ein Anarchisten-Zeichen aufgemalt war. Man fühlte sich irgendwie in die Achtziger zurückversetzt, als die die Stadt voller Punks und Hausbesetzer gewesen war und alle möglichen Politsekten des linken Spektrums hier das Straßenbild geprägt hatten. Alternative, Anarchisten, Autonome…
Damals alles junge Leute, inzwischen aber in Jahre gekommen.
So wie der Inhaber der Kneipe. Sein Outfit war originalgetreu. Wer seine Figur über die Jahre behält, kann seine Sachen ewig tragen.
Seine Klamotten waren dieselben geblieben. Etwas ausgebleicht von unzähligen Wäschen, aber dieselben, so als wollte er ein einsames Fanal gegen den Konsumterror setzen. Nur er selbst hatte sich verändert. Er trug immer noch die Haare zu einem Zopf zusammengefasst, nur waren es inzwischen sehr viel weniger Haare. Und sie waren grau. Die kahle Stelle am Hinterkopf wirkte wie eine Mönchstonsur.
„Willste ‘nen Kaffee?”, fragte er.
„Ja”, sagte ich. „Immer noch der Magenunfreundliche aus Nicaragua?”
„Ist für die Solidarität.”
„Schon klar.”
„Sind gute Projekte.”
„Hoffe ich.”
„Ey, echt!”
„Echt.”
Der Sowjet-Stern und das Anarcho-Zeichen waren von dem Kneipier in all den Jahren immer wieder sorgfältig nachgemalt worden. Die einzigen Stellen an dieser Fassade, die einen gepflegten Eindruck machten.
Für mich waren der Sowjet-Stern und das Anarcho-Zeichen eigentlich Gegensätze. Aber den Kneipier schien das nicht weiter zu jucken. Das war eben Hausbesetzer-Nostalgie. Inzwischen hatte der Typ wahrscheinlich seit Jahrzehnten einen ganz spießigen Mietvertrag.
Man schrieb 2018, aber ein Besuch hier war immer wie eine Reise mit der Zeitmaschine in die 80er, die Zeit des Kalten Krieges, der Mauer und die Zeit von Präsident Reagan, der von Gorbatschow forderte, die Mauer niederzureißen.
Ich traf mich in diesem Lokal normalerweise mit einem Informanten. Mein Kollege Kommissar Rudi Meier war auch dabei.
Diesmal trafen wir uns genauer gesagt eigentlich nicht in dem Lokal, sondern davor, denn der autonom-alternative Kneipier hatte ein paar Stühle auf den Bürgersteig gestellt. Eine Genehmigung hatte er dazu mit Sicherheit nicht. Aber ein bisschen Revoluzzertum musste ja sein.
Wir saßen mit dem Informanten zusammen und der sagte mir: „Ich wills heute kurz machen, Harry.”
„Wieso nicht?”
„Jemand mag dich nicht.”
„Das wäre nicht das erste Mal.”
„Tu nicht so, als würdest du nicht wissen, was ich meine, Harry. Jemand sehr Mächtiges mag dich nicht und nach allem, was ich gehört habe, hat er auch Grund dazu, dich zu hassen.”
„Es wird viel geredet.”
„Er will dich umlegen, Kriminalhauptkommissar Harry Kubinke. Du sollst ausradiert werden. Es ist eine Frage der Ehre. Die Sache mit seiner Schwester lässt ihm keine andere Wahl.”
Kopfgeld auf mich, Harry Kubinke. Das war im Prinzip nichts Neues.
„Sag mal, wieso beschäftigen wir dich eigentlich als Informanten, wenn du uns nur Dinge erzählst, die wir sowieso schon wissen?”, fragte ich.
Wie ich schon erwähnte, ich hatte schon die ganze Zeit über ein mulmiges Gefühl gehabt. Man entwickelt im Laufe der Zeit in diesem Job einen sechsten Sinn für sowas.
Und ich war nun wirklich lange genug dabei, um diesen besonderen Sinn für die Gefahr entwickelt zu haben. Ein Sinn, der einem mitunter das Leben retten konnte.
Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung, warum ich gerade in diesem Augenblick auf auf das dritte Obergeschoss im Haus schräg gegenüber blickte. Tatsache ist, dass es geschah. Ich sah einen Mann ein Gewehr in meine Richtung halten. Ein Scharfschützengewehr.
Ich war im Fadenkreuz.
Der Informant hatte ganz Recht.
Der Typ, den ich geärgert hatte, würde die Sache mit seiner Schwester nicht auf sich beruhen lassen.
Er sagte einfach einem seiner Leute bescheid und schickte einen Typ, wie den dort oben im dritten Obergeschoss, um mich zu erledigen.
„Runter, Rudi!”, rief ich.
Ich warf mich zu Boden und riss den Informanten mit mir.
Der Schuss ging dicht an mir vorbei und blieb in der Wand stecken.
Genau im roten Sowjet-Stern.
Ich rappelte mich auf, rettete mich ein geparktes Fahrzeug. Inzwischen hatte ich meine Dienstpistole in der Faust. Aber ernsthaft daran denken, sie zu benutzen, konnte ich in dieser Situation natürlich nicht; die Gefahr, Unbeteiligte zu treffen, war viel zu groß.
Ein paar weitere Schüsse ließen die Scheiben des Fahrzeugs zersplittern, hinter dem ich mich verschanzt hatte.
Spätestens jetzt war klar, dass ich gemeint war.
Rudi hatte unterdessen den Informanten gesichert und war mit ihm in das Lokal geflohen.
Die ersten Passanten bemerkten jetzt, was geschehen war und gerieten in Unruhe.
Panik war jetzt nur eine Frage der Zeit.
Ich sah, dass die Gestalt, die auf mich geschossen hatte, jetzt nicht mehr am Fenster zu sehen war.
Also tauchte ich aus meiner Deckung hervor. Ich lief über die Straße. Ein Lieferwagen musste bremsen. Dann erreichte ich das Gebäude, aus dem geschossen worden war.
Einen kurzen Moment hielt ich inne.
Dann nahm ich einen schmalen Durchgang, der zu einem Hinterhof führte.
Manchmal muss man sich einfach in sein Gegenüber hineinversetzen.
Ich hätte jedenfalls anstelle des Killers versucht, hinten aus dem Haus zu kommen - und nicht vorne.
Und genau da fand ich ihn dann auch.
Er hatte das Gewehr, mit dem er auf mich geschossen hatte, noch in der Hand und rannte auf einen Wagen zu.
„Stehen bleiben, Kriminalpolizei!”, rief ich und hob die Waffe.
Er drehte sich um und feuerte sofort.
Ich schoss ebenfalls.
Seine Kugel pfiff dicht an meinem Kopf vorbei.
Mein Schuss traf besser. Getroffen wankte er zurück. Er ließ mir keine andere Wahl, als nochmal zu feuern, denn der Kerl legte erneut auf mich an.
Wie ein gefällter Baum fiel der Killer zu Boden.
Ich senkte die Waffe.
Dass der Kerl tot war, daran konnte kein Zweifel bestehen.
*
Es dauerte nicht lange, bis die Identität des Killers festgestellt worden war. Es handelte sich um einen vorbestraften alten Bekannten. Einen, der bekanntermaßen für Farid Abu-Jamal arbeitete, den Anführer des Abu-Jamal-Clans aus dem Wedding.
Und Farid Abu-Jamal war der Mann, mit dem ich mich angelegt hatte. Oder besser gesagt: Der sich mit mir angelegt hatte.
Es ging um seine Schwester.
Und so, wie die Sachlage sich nunmal darstellte, konnte ich nicht damit rechnen, aus dieser fiesen Nummer so schnell herauszukommen.
*
Vielleicht sollte ich jetzt mal erzählen, wie der ganze Ärger anfing. Das war zwei Wochen vor diesem Schusswechsel, der mich um ein Haar das Leben gekostet hätte und am Ende mit dem Tod des Killers endete.
Ich war zusammen mit Rudi auf einer Polizeidienstelle, irgendwo im Wedding. Wir mussten mit einem Kollegen sprechen, um bestimmte Sachverhalte zu ermitteln. Worum es da gig, tut hier nichts zur Sache.
Jedenfalls ging es auf diesem Polizeirevier ziemlich hoch her.
Das ist manchmal so. Randalierende Betrunkene oder Drogensüchtige - das kann schonmal eine explosive Mischung ergeben. Festgenommene, die logischerweise nicht damit einverstanden sind, das sie festgenommen wurden und so weiter.
In diesem Fall war es eine junge Frau, die randalierte.
Sie schrie, schlug um sich und hatte eine Spritze in der Hand. Die Augen waren auf unnatürliche Weise geweitet. Sie stand ganz sicher unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen. Mochte der Teufel wissen, was sie geschluckt hatte. Es machte sie jedenfalls zu einer unberechenbaren Furie. „Ey, isch mach euch AIDS!”, schrie sie. „Ich stech euch und mach euch alle AIDS! Ihr verdammten Wichser und Nazis!”
Sie machte ausholene Handbewegungungen und ließ die Nadel durch die Luft schnellen wie einen Dolch.
Dann stürmte sie auf einen Kollegen zu, der wie gelähmt am Schreibtisch saß.
Ein Schrei kam aus ihrer Kehle.
Die Nadel war in ihrer Faust.
Ich schnellte vor und versetzte der Irren einen kräftigen Tritt zwischen die Beine, um sie zu stoppen.
Ich gebe zu, der Tritt war sehr kräftig. Ich habe schließlich mal Fußball gespielt, auch wenn ich es nie nicht gerade zu Real Madrid geschafft habe.
Aber mit dem, was dann geschah, hatte wirklich niemand rechnen können. Und ich werde es auch ganz bestimmt nie vergessen.
Die Frau explodierte nämlich.
Und zwar im wortwörtlichen Sinn.
Es gab einen dumpfen Knall und und im nächsten Moment gab es in dem ganzen Großraumbüro der Dienststelle wirklich niemanden mehr, dessen Kleidung nicht blutbesudelt gewesen wäre.
*
Am übernächsten Tag, als ich Kriminaldirektor Hoch gegenübersaß, hatte ich den Schock noch nicht wirklich überwunden.
„Was hätte ich tun sollen?”, fragte ich. „Zulassen, dass diese Frau mit ihrer Spritze auf den Kollegen einsticht?”
„Natürlich nicht, Harry”, sagte Kriminaldirektor Hoch. „Sie haben völlig richtig gehandelt. Und trotzdem…”
„Trotzdem was?”
„Trotzdem haben wir jetzt ein Problem.”
„Sie meinen: Ich habe jetzt ein Problem.”
„Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Harry.”
„Umreißen Sie mir mal das Problem.”
„Zunächst einmal darf ich mich wiederholen: Man kann Ihnen keinen Vorwurf machen. Sie haben völlig richtig gehandelt. Ich hätte an Ihrer Stelle hoffentlich dasselbe getan.”
„Das klingt, als käme das dicke Ende noch!”
„Es gibt einen entscheidenden Umstand, den Sie nicht wissen konnten.”
„Und der wäre?”
„Ich habe den gerichtsmedizinischen Bericht und diverse Zeugenaussagen von dem betreffenden Revier. Und ein ballistisches Gutachten. Die Frau hatte in ihrer Vagina eine Pistole.”
„Die sollte da nicht sein.”
„Nein, sollte sie nicht.”
„Und wie kam die Waffe dort hin?”
„Die spannendere Frage ist: Wieso war sie immer noch dort? Die Frau ist offenbar sehr schlampig durchsucht worden. Jedenfalls nicht so, wie das den Regeln entspricht.”
„Sieht so aus.”
„Als Sie zugetreten haben, ist die Waffe losgegangen. Den Rest brauche Ihnen ja nicht zu schildern.”
„Von dem, was Sie den Rest nennen habe ich wahrscheinlich noch Albträume, wenn ich schon pensioniert bin”, meinte ich.
„Sie können von Glück sagen, dass der Schuss nicht noch jemanden verletzt hat”, sagte Kriminaldirektor Hoch. „Dem Bericht der KTU nach ist er in die Decke gegangen.”
„Tja…”
„Ihr Problem ist jetzt ein anderes, Harry.”
„Wer war denn die Frau?”
„Genau damit hängt es zusammen. Die Frau war Yasemin Abu-Jamal. Die kleine Schwester von Farid Abu-Jamal…”
„...dem Clan-Chef aus dem Wedding!”
„Genau.”
„Der muss jetzt seine Ehre wiederherstellen. Und das kann er nur, indem er mich tötet.”
„Ja, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit.”
„So?”
„Es ist noch schlimmer, Harry.”
„Was kann man Schlimmeres tun, als die Lieblingsschwester des Abu-Jamal-Chefs explodieren zu lassen? Ich nehme an, alle Argumente, die in Richtung Notwehr oder Nothilfe gehen, zählen da nicht viel.”
„Wie ich schon sagte: Es ist noch schlimmer, Harry. Sie haben nämlich durch Ihren beherzten Tritt Farid Abu-Jamal ein Riesenproblem abgenommen.”
Ich runzelte die Stirn.
„Wie denn das?”
„Er braucht jetzt nur Sie zu töten, Harry - und nicht mehr seine Schwester, was ihn in Gegnerschaft zu seinem Geschäftspartner Victor Brilanow von der Russen-Mafia brächte, von dem er eigentlich lieber gerne Drogen aus Usbekistan beziehen würde…”
„Das verstehe ich jetzt nicht”, gestand ich.”
Kriminaldirektor Hoch lächelte nachsichtig. „Yasemin war keineswegs Farids Lieblingsschwester, sondern eher das Gegenteil. Sie war das schwarze Schaf der Familie.”
„Ich nehme an, sie wollte sich nicht bevormunden lassen.”
„Mit Drogen handeln ist in der Familie in Ordnung, Drogen nehmen nicht. Und davon abgesehen hat sie ihrem Bruder das Schlimmste angetan, was man man ihm nur antun konnte.”
„Ist sie mit einem Deutschen durchgebrannt?”
„Schlimmer.”
„Ist auf den Strich gegangen?”
„Schlimmer.”
„Ich glaube nicht, dass es was mit Religion zu tun hatte.”
„Hatte es auch nicht. Sie ist auf den Strich gegangen, aber nicht für irgendwen, sondern in einem Bordell, dass unter der Kontrolle von Victor Brilanow steht. Und der hat das natürlich überall verbreitet. Das war die maximale Demütigung. Farid hätte seine Schwester und am besten auch Victor Brilanow töten müssen, damit man ihn überhaupt noch Ernst nimmt. Aber das konnte er nicht, weil er von dessen Stoff aus Usbekistan abhängig ist.”
„Sowas nennt man eine Zwickmühle.”
„Das ist noch nicht alles! Farid konnte bis jetzt auch nicht seine Schwester umbringen, was seine Pflicht gewesen wäre! Denn dann hätte er Victor Brilanow herausgefordert und der wäre wiederum gezwungen gewesen, etwas gegen Farid zu unternehmen!”
„Schließlich kann der nicht einfach ein Mädchen aus seinem Bordell umbringen lassen!”
„Genau! Aber jetzt haben Sie ihm seinen Job abgenommen und er kann mit Victor Brilanow Frieden halten. Außerdem wird er sich darauf konzentrieren, Sie zu töten, Harry. Und dabei wird sein ganzer Clan hinter ihm stehen.”
Ich atmete tief durch.
„Wirklich schöne Aussichten”, sagte ich.
Zwei Wochen geschah nichts.
Ich dachte schon, die Sache würde sich vielleicht doch von allein regeln.
Tat sie aber nicht.
Ich hatte es geahnt.
Zwei Wochen geschah nichts, dann geschah das Attentat vor dem Anarcho-Lokal in Kreuzberg.
Der Killer war tot.
Aber der war ohnehin nur ein Werkzeug gewesen.
Ein Werkzeug für Farid Abu-Jamal.
*
Ein paar Tage später informierte mich mein Chef darüber, dass der ballistische Bericht zu der Waffe vorlag, mit der auf mich vor dem Anarcho-Lokal geschossen worden war.
„Das ist ein Scharfschützengewehr, wie es normalerweise nur von SEK-Kommandos oder bei der Bundeswehr benutzt wird”, sagte Kriminaldirektor Hoch. „Eine sehr gute Waffe. Heißt nach ihrem Konstrukteur: Weitz.”
„Nie gehört.”
„Ist sehr selten. Und die Waffe, die wir sichergestellt haben, ist so gut wie neu gewesen. Die wurde vorher wahrscheinlich noch nie benutzt.”
Ich zuckte mit den Schultern.
„Der Killer ist tot”, gab ich zu bedenken.
„Und Tote können nicht mehr aussagen.”
„So ist es. Und einen Hinweis darauf, wen Farid Abu-Jamal als nächstes anheuert, können wir uns durch dieses Gewehr auch nicht erhoffen.”
Hoch sah mich an. „Ich frage mich nur, wer zurzeit so etwas hier in Berlin verkauft…”
„Nun…”
„Es gibt da ein paar Gerüchte, Harry.”
„Dann vermute ich mal, dass wir sehr bald wieder auf eine solche Waffe stoßen werden.”
„Ja, das ist zu befürchten”, war auch Kriminaldirektor Hoch überzeugt. „Ach übrigens, wenn Sie angesichts der jüngsten Ereignisse etwas Urlaub machen wollen…”
„Nein”, sagte ich.
„Wirklich nicht?”
„Wirklich nicht.”
Mein Chef hob die Augenbrauen.
Seine Hände steckten in den tiefen Taschen seiner Flanellhose.
Die Hemdsärmel waren aufgekrempelt.
„Ich habe es Ihnen angeboten”, sagte er dann.
„Schon klar.”
„Und ich habe Sie auch auf die Möglichkeit hingewiesen, psychologische Betreuung zu bekommen.”
„Ich bin schon eine Weile im Dienst und weiß, wie die Dinge laufen”, sagte ich.
Kriminaldirektor Hoch nickte. „Gut, ich wollte nur sichergehen.
„Was passiert jetzt mit Farid Abu-Jamal?”
„Nichts. Wir können ihm nichts nachweisen.”
Ich atmete tief durch. „Hatte ich mir fast gedacht. Das heißt dann wohl, ich muss auf mich selbst aufpassen.”
Ich hatte für mich entschieden, einfach das zu tun, was ich am besten konnte. Meinen Job. Am besten, man ließ sich nicht beirren oder einschüchtern. Wenn man das nämlich erstmal zulässt, dann kann man alles vergessen.
Hört sich alles allerdings leichter an, als es in Wahrheit ist.
Tage vergingen.
Sammelten sich zu Wochen.
Aber mir war klar, dass es nicht vorbei war.
Ganz bestimmt nicht.
*
Der Mann mit dem dunklen Haarkranz und der Narbe am Kinn hatte ein verkniffenes Gesicht. Entschlossenheit blitzte in seinen Augen. Er sah durch das Zielfernrohr des Spezialgewehrs. Im Fadenkreuz sah er das Gesicht der Bundeskanzlerin. Der Schütze hielt die Waffe so, dass das Fadenkreuz genau über der Stirn war. Gut so, dachte er. Da gehört es hin, dieses Kreuz.
Er drückte ab.
Die Kugel traf genau zwischen die Augen. Der Kopf zerplatzte. Blutrot troff es herab.
Zufrieden senkte der Schütze die Waffe und juckte sich dann auf eine recht auffällige Weise an der Narbe an seinem Kinn.
„Sie hat es nicht anders verdient“, murmelte er.
*
„Ein guter Schuss“, sagte der andere Mann – hochgewachsen, dunkelhaarig und gut trainiert. Unter dem linken Auge war ein dunkler Punkt, den man auf den ersten Blick für ein Muttermal halten konnte. Wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass es eine Tätowierung war. Eine Träne.
Der Kahlköpfige grinste. „Gute Waffe“, meinte er. „Und darauf kommt es, sage ich Ihnen. Auf die Waffe. Und es gibt keine zweite wie diese hier. Das können Sie mir glauben.“
„Wenn Sie das sagen, Herr Weitz.“
Der Kahlköpfige grinste breit. „Ich habe sie konstruiert. Ich kenne jede Schraube an dem Ding und ich sage Ihnen, es ist nie wieder eine Handfeuerwaffe mit einer vergleichbaren Zuverlässigkeit hergestellt worden.“ Er hob die Augenbrauen. „Sie können damit jemandem auf anderthalb Kilometer das Auge ausschießen, wenn Ihre Hand ruhig genug ist.“
„So anspruchsvoll bin ich gar nicht.“
„Das sollten Sie aber sein, Herr. Wer weiß, gegen wen man sich noch alles verteidigen muss! Die Regierung ist wie eine Krake. Eines Tages kriegt die jeden. Sie werden es auch noch sehen. Und am Ende sind Sie auf sich allein gestellt, wenn diese Arschlöcher Sie mit allen Tricks fertig zu machen versuchen.“
Zusammen gingen sie die fast fünfhundert Schritte, die zwischen ihrem Standort und dem Ziel lagen.
Sie erreichten einen Baum mit stark überhängenden Ästen.
Ein Seilstück hing von einem dieser Äste herab.
Es baumelte.
Die Melone, die Weitz damit befestigt hatte, war durch den Schuss auseinandergeplatzt. Irgendwo lag ein Computerausdruck, der ein Foto vom Gesicht des Bundespräsidenten zeigte.
„Sie haben einen eigenartigen Humor, Herr Weitz.“
„Wie?”
„Ich meine es ernst!”
„Wieso Humor?“
„Naja, ich meine, dass Sie die Melonen, auf die Sie schießen, mit Fotos bekannter Leute bekleben.”
„Ja, und?”
„Mit Politikern und so – Sie wissen schon, was ich meine. Tut mir leid, das finde ich schräg.“
„Ich finde es schräg, wie diese Bande von Parasiten unser Land ausbeutet und sich von all denen einlullen lässt, die das Recht auf Waffenbesitz zurückzudrängen versuchen! Aber ich sage immer, wenn ich meine Waffe nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen darf, wie in Berlin, dann ist das der erste Schritt in die Diktatur.“
Weitz bückte sich, hob den Fetzen auf, der von dem Foto der Kanzlerin übrig geblieben war. Sein Gesicht bekam für einen kurzen Moment einen zufriedenen Ausdruck, als er sah, dass der Schuss mit dem Spezialgewehr genau zwischen die Augen gegangen war.
So, wie es sein sollte, ging es Weitz durch den Kopf.
„Ich nehme die Waffe“, sagte der andere Mann. „Haben Sie auch Munition dafür?“
„Ja, habe ich. Die Waffe ist übrigens so konstruiert, dass Sie auch problemlos Standardmunition verwenden können. Und so, wie es aussieht, werden Sie das auch bald müssen, denn ich kann Ihnen bei den Spezialprojektilen nicht garantieren, dass Sie die noch lange nachbestellen können. Mein Vorrat geht nämlich zur Neige – und ein paar bewahre ich für meine eigenen Zwecke auf. Ich will schließlich vorbereitet sein, wenn es soweit ist und alles zusammenbricht.“
Der Mann mit der Träne unter dem Auge runzelte die Stirn. „Die kleinen Modifikationen, die wir besprochen haben – bis wann können Sie die durchführen?“
„Ist alles in ein paar Tagen fertig.“
„Dann komme ich am Dienstag zu Ihnen raus.“
„Nein, nicht Dienstag. Dienstag bin ich in Berlin. Kommen Sie Sonntag Abend oder erst Donnerstag. Und bringen Sie den Betrag in bar mit. Ich misstraue der Regierung und dem Bankensystem. Die überwachen doch, wo jeder Cent bleibt und am Ende drehen sie einem einen juristischen Strick daraus, wenn sie es brauchen und einen aus dem Weg räumen wollen. Da kann ich Ihnen Stories erzählen... Da fallen Sie vom Glauben ab, sag ich Ihnen.“
*
Ich traf mich mich mit einem Informanten aus dem Wedding. Aber diesmal nicht auf der Straße.
Wir gingen in einen Schwulen-Club.
Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dort nicht jemanden anzutreffen, der dem Abu-Jamal-Clan angehörte.
Selbst wenn diese Typen mir auf Schritt und tritt gefolgt wären - dorthin wäre mir keiner von ihnen gefolgt. Schon, damit sie dort nicht gesehen wurden und jemand das weiter erzählte.
„Du kannst Farid eine Botschaft ausrichten?”, fragte ich.
„Wie stellst du dir das vor?”, fragte der Informant.
„Ja, was ist? Kannst du oder kannst du nicht? Sonst hast du doch immer so groß herumgetönt, dass du das könntest. Und jetzt, wo ich diesen Kanal mal brauche ist bei dir Sendepause?”
„Das habe ich nicht gesagt.”
„Also, was ist nun?”
„Okay, was soll das für eine Botschaft an Farid sein?”
„Sag ihm, dass ich die Sache gerne aus der Welt schaffen würde. Wir können uns treffen. Nur er und ich.”
„Keine Mikros und so?”
„Nein.”
„Keine Kameras und ein SEK-Kommando im Hintergrund?”
„Nur er und ich”, wiederholte ich. „Ich sage ihm Ort und Zeit.”
„Hm…”
„Wenn er will. Und wenn er den Mut dazu hab.”
„Ich weiß nicht, wie er darauf reagiert.”
„Ich auch nicht.”
Der Informant lachte. „Das stimmt natürlich…”
„Ich höre von dir, okay?”
„Du hörst von mir.”
*
„Keine Ahnung, ob das wirklich eine gute Idee war”, meinte mein Kollege Rudi Meier, als wir später in unserem Dienstwagen saßen.
„Das weiß ich auch nicht. Aber irgendetwas muss ich tun.”
„Kann ich nachvollziehen.”
„Mal sehen, was aus der Sache wird.”
Erstmal schien es so, als würde nichts daraus.
Ich hörte jedenfalls in der Sache nichts mehr.
Naja, ich hatte eigentlich auch nicht wirklich viel erwartet.
Erstmal…
*
Es war ein Dienstag.
Ein Dienstag, der schon schlecht begann, denn als ich meinen Kollegen Rudi Meier morgens an der bekannten Ecke abholte, um mit ihm zum Präsidium zu fahren, fuhr uns der unvorsichtige Fahrer eines alten Ford hinten drauf. Der Schaden an meinem Dienstporsche hielt sich zum Glück in Grenzen. Etwas eingedrücktes Blech, das war alles. Es hätte schlimmer kommen können.
Da der Unfall erst abgewickelt werden musste und wir anschließend in der Fahrbereitschaft sicherstellen mussten, dass die Reparatur durchgeführt wurde, erreichten wir das Büro unseres Chefs mit leichter Verspätung.
Kriminaldirektor Jonathan D. Hoch stand am Fenster und hatte dabei die Hände in den tiefen Taschen einer Flanellhose vergraben. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt, die Krawatte gelockert.
„Ich weiß, dass wir etwas spät dran sind“, begann ich.
Aber Kriminaldirektor Hoch ging darauf gar nicht weiter ein. „Es hat eine Leiche im Park gegeben“, eröffnete er. „Maik Ozanali, 52 Jahre alt, Anwalt. Ozanali hat bis vor kurzem bei der Staatsanwaltschaft gearbeitet und war dort Spezialist für Fälle, die mit Geldwäsche und organisiertem Verbrechen zu tun hatten. Es wäre also nicht unwahrscheinlich, wenn es da einen Zusammenhang gibt.“ Kriminaldirektor Hoch sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Der Anruf von der Kollegen kam vor zehn Minuten. Die Untersuchung am Tatort dürfte gerade angelaufen sein.“
„Dann werden wir uns am besten sofort auf den Weg machen“, sagte ich.
„Lassen Sie keine Zweifel daran, dass wir vom BKA die Ermittlungen übernehmen, Harry“, ermahnte mich Kriminaldirektor Hoch. „Die Informationen sind zwar noch recht spärlich, aber eigentlich besteht für mich kein Zweifel, dass die Sache in unseren Zuständigkeitsbereich fällt.“
„In Ordnung.“
Es klopfte. Mandy, die Sekretärin unseres Chefs brachte ein Tablett mit dampfenden Kaffeebechern herein.
„Sie gehen schon wieder?“, fragte sie, als Rudi und ich uns in Richtung Tür bewegten.
Kriminaldirektor Hoch deutete auf die drei dampfenden Becher, die Mandy inzwischen auf den Tisch des Besprechungszimmers gestellt hatte. „Harry und Rudi haben dafür leider keine Zeit mehr, aber lassen Sie sie ruhig hier. Ich trinke alle drei.“
„Wie Sie meinen, Herr Hoch“, sagte Mandy.
*
Da der Dienstporsche repariert werden musste, nahmen Rudi und ich uns ein Fahrzeug aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft. Es handelte sich um einen unauffälligen Ford.
Leider verfügte der nicht über einen Bordrechner mit TFT-Bildschirm, wie er in den Dienstporsche eingebaut war.
„Der Name Ozanali kommt mir bekannt vor“, sagte Rudi und ging dabei mit seinem Smartphone ins Netz, um zumindest die wichtigsten, öffentlich zugänglichen Informationen suchen zu können.
„Hat sich selbstständig gemacht, als der neue Oberstaatsanwalt ihm erklärt hat, dass seine Karriere nicht weiter nach oben gehen wird.“
„Woher weißt du das denn, Harry?“
„Habe ich von Manuel Schneyder gehört. Und der hat es von Ozanali selbst.“
Manuel Schneyder war einer unserer Verhörspezialisten im Innendienst. Und die hatten naturgemäß viel mit Anwälten und Staatsanwälten zu tun, denn bei einer großen Zahl von Vernehmungen bestand entweder eine oder beide Seiten auf eine Anwesenheit. Und natürlich fiel da auch schon einmal das eine oder andere private Wort.
„Ein Anwalt, der die Seiten wechselt“, meinte Rudi. „Erst jagt er Geldwäscher und zuletzt verteidigte er wahrscheinlich genau solche Typen, die er zuvor gejagt hat. Muss auch eigenartig sein.“
„Anwalt und Staatsanwalt dienen beide dem Recht“, sagte ich.
„Kann ja sein. Muss aber trotzdem eigenartig sein, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen. Wäre interessant zu erfahren, wieso er sich mit seinem beiden Vorgesetzten überworfen hat.“
„Jedenfalls finanziell gesehen dürfte der Ausstieg kein Nachteil für Ozanali gewesen sein“, vermutete ich. „Ich nehme an, dass er mit seinem Spezialwissen bei allen Gangstern Berlins, die ein paar schmutzige Koffer mit Euros weiß zu waschen hatten und dabei erwischt wurden, gerne und zu lukrativen Honoraren engagiert wurde.“
„Willst du ihm daraus einen Vorwurf machen?“, fragte Rudi. „Das war nunmal sein Spezialgebiet! Als Anwalt konnte er ja wohl schlecht als Verteidiger von Verkehrssündern anfangen!“
Wir erreichten schließlich den Tatort. An diesem Dienstag war es zwar kalt, aber es schien die Sonne. Wir stellten den Ford aus unserer Fahrbereitschaft auf einem der Parkplätze ab und wir stiegen aus.
Einige Einsatzfahrzeuge der Schutzpolizei waren hier ebenfalls bereits zu finden. Ein Kollege notierte die Nummernschilder der anderen parkenden Fahrzeuge. Eine vorsorgliche Maßnahme. Jeder, der hier seinen Wagen abgestellt hatte, war möglicherweise auch ein wichtiger Zeuge.
Wir zeigten unsere Dienstausweise.
Der Polizeimeister sah auf.
„Icke bin beeindruckt”, sagte er ironisch.
„Na dann”, sagte ich.
„Kommissar Schaluppke erwartet Sie schon“, erklärte er.
„Christian Schaluppke?“, fragte ich. Ich kannte Schaluppke nämlich von einem gemeinsamen Sicherheitstraining im Umgang mit Handfeuerwaffen, zu dem nach und nach sämtliche Polizeieinheiten Berlins geschickt worden waren, nachdem ein psychisch kranker Mehrfachmörder auf dem Weg zum Gericht trotz Handschellen und Fußfesseln einem Kollegen die Waffe abgenommen und damit ein Blutbad angerichtet hatte. Christian und ich hatten uns gut verstanden. Ich hatte nichts dagegen, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Der Kollege beschrieb uns knapp den Weg zum Tatort, und wir machten uns auf den Weg. Aber die Beschreibung des Kollegen hätten wir streng genommen gar nicht gebraucht.
Auch auf den Rasenflächen des angrenzenden Parks standen mehrere Einsatzfahrzeuge – sowohl von der Schutzpolizei, als auch vom Rettungsdienst sowie von der Abteilung Kriminaltechnische Untersuchung, dem zentralen Erkennungsdienst, der von allen Berliner Polizeieinheiten genutzt wird.
Der Bereich um den Tatort war mit Flatterband abgegrenzt. Schaulustige standen außerhalb davon und sahen zu, wie ein halbes Dutzend Kollegen und Kolleginnen die Grasfläche nach irgend etwas absuchten.
Der Tote war bereits in einen Zinksarg gelegt worden.
Ich bemerkte Dr. Bernd Heinz, einen Gerichtsmediziner der Abteilung Kriminaltechnische Untersuchung. Er winkte uns kurz zu. Jetzt bemerkte uns auch Kollege Schaluppke, der uns bis dahin den Rücken zugewandt hatte.
Wir stiegen über das Flatterband und gingen zu ihnen hin. Unsere Ausweise trugen wir gut sichtbar, damit di Kollegen Bescheid wussten, dass wir dazugehörten.
„Hallo Harry! Hallo Rudi!“, begrüßte uns Dr. Heinz. „Ich habe das Wesentliche gerade schon mit Kollege Schaluppke besprochen. Aber für euch auch nochmal das Wesentliche: Letale Schussverletzung. Die Kugel drang fast genau dort, wo sich die Nasenwurzel befindet, in den Schädel ein. Kaliber kann ich euch erst sagen, wenn ich mit der Obduktion fertig bin.“
„Die Kugel ist nicht ausgetreten?“, fragte ich.
„Nein, sie ist noch im Schädel.“
„Spezialmunition“, meldete sich Christian Schaluppke zu Wort. „Muss sowas Ähnliches sein, was wir auch benutzen.“
Ich wusste natürlich, was Christian meinte. Moderne Waffen haben oft eine enorme Durchschlagskraft. Ein einziger Schuss kann unter Umständen nacheinander mehrere Körper durchschlagen. Gerade bei Polizeieinsätzen zur Geiselbefreiung und ähnlichem würde ein Schusswaffeneinsatz zwangsläufig Unbeteiligte in Mitleidenschaft ziehen, wenn man nicht die richtige Munition benutzt.
„Unser Täter scheint ja richtig rücksichtsvoll zu sein“, sagte Rudi stirnrunzelnd.
Christian deutete in Richtung einer Baumgruppe, die sich ungefähr zweihundert Meter entfernt befand. Links davon waren die Piers und die Anlegestellen der Fähren zur Statue of Liberty zu sehen.
„Aus Turguts Richtung wurde geschossen“, erklärte Christian Schaluppke.
„Turgut?“, echote ich.
Tatsächlich entdeckte ich unseren Chefballistiker Turgut Özdiler. Er kauerte in einiger Entfernung am Boden und führte gerade eine Laserpeilung durch, um den Einschusswinkel näher zu bestimmen und hatte uns noch nicht bemerkt. Er stand anschließend auf und ging auf die Baumgruppe zu.
„Ihr Kollege meint, dass der Schuss ungefähr von der Baumgruppe aus abgegeben worden sein muss“, berichtete Christian.
„Auf zweihundert Meter?“, staunte ich.
„Ein guter Schütze“, kommentierte Rudi.
„Einem Scharfschützen mit einem sehr guten Gewehr und einer hervorragenden Zieloptik“, stellte Kommissar Schaluppke klar. „Die Bäume dort sind im übrigen auch die einzige Möglichkeit für den Täter gewesen, Deckung zu finden. Ihr Kollege meinte allerdings, dass er da noch etwas überprüfen will. Sie fragen ihn am Besten gleich selbst danach.“
Das Gebiet um die Baumgruppe war ebenfalls mit Flatterband abgegrenzt worden. Mehrere Kollegen des Erkennungsdienstes stöberten dort herum, das Gesicht dabei stets aufmerksam auf den Boden gerichtet.
Es war ja schließlich möglich, dass der Täter dort irgend etwas hinterlassen hatte.
„Ihr braucht mich dann ja hier nicht mehr“, meinte Dr. Heinz. Er wandte sich an mich. „Der Tote kommt jetzt zu uns ins Labor. Wenn sich dabei nichts Außergewöhnliches ergibt, dann habt ihr das vorläufige Ergebnis noch heute Mittag. Ich schlage vor, dass das Projektil dann gleich in die KTU-Labors geht, oder besteht ihr darauf, es bei euch zu untersuchen?“
„Nein, nein“, wehrte ich ab. „Wir wollen das Ergebnis so schnell wie möglich.“
„Gut“, nickte Dr. Bernd Heinz. „Wir hören dann voneinander.“
Bevor der Tote fortgebracht wurde, hatte ich noch kurz Gelegenheit, einen Blick auf ihn zu werfen. Sein Blick war starr. Das Einschussloch war ziemlich klein – aber das erstaunt nur diejenigen, die zu viele Action-Filme gesehen haben. Das Einschussloch ist meistens klein, die großen Wunden entstehen bei Austritt des Projektils. Und das war in diesem Fall im Körper geblieben und steckte jetzt vermutlich in der hinteren Schädelwand oder vielleicht auch in den Halswirbeln. Er trug einen grauen Dreiteiler, darüber einen ebenfalls grauen Mantel. Die Schusswunde hatte offenbar nicht stark geblutet. Das weiße Hemd und die sehr gediegen wirkende Krawatte mit dem Anker darauf, hatten kaum Blut abbekommen. Nur ein paar Spritzer, die so klein waren, dass man genau hinsehen musste.
Aber es gab einen roten Fleck in Bauchhöhe, der irgendwie gar nicht dazu passte.
Ich fragte Kollege Schaluppke danach.
„Herr Ozanali aß ein Sandwich, als er erschossen wurde.“
„Verstehe“, murmelte ich.
„Aber ich verstehe nicht, wieso jemand so früh am Morgen sich in den Park begibt und dort ein Sandwich isst!“
„Ditte ist nicht so schwer zu verstehen”, sagte Schaluppke.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Ach, nee?”
„Das mit dem Sandwich, meine ich. Oder Stulle, wie das richtig heißt.”
„Aha. Und ich dachte, sowas nennt man Döner.”
„Die gibt es hier in der Nähe“, erklärte Schaluppke. „Was soll es dafür eine Erklärung geben? Ich nehme an, Herr Ozanali hatte einfach Hunger und zu Hause nichts gefrühstückt.“
„Trotzdem eigenartig“, meinte Rudi. „Zur Tatzeit dürften vor allem Jogger hier im Park gewesen sein. Und Leute, die ihre Hunde ausführen.“
„Vergessen Sie die Angler am See nicht“, meinte Schaluppke.
„Meinetwegen. Und Ozanali kommt hier in Schlips und Anzug hin, um ein Sandwich zu essen?“
„Die Kollegen haben einige Zeugenaussagen aufgenommen. Vielleicht ist etwas dabei, was man verwerten kann, Harry.“
„Sag mal – noch was anderes, Christian….“
„Schieß los!“
„Hatte ich das falsch in Erinnerung oder seit wann bist du bei der Mordkommission? Ich dachte, du wärst auf deiner Dienststelle bei der Einheit, die sich mit organisiertem Verbrechen beschäftigt?“
„Bin ich auch immer noch, Harry. Wenn jemand einen Mann mit Ozanalis Vergangenheit erschießt, dann riecht das doch nach organisiertem Verbrechen. Und ich denke, deswegen seid ihr auch hier.“
„Stimmt“, musste ich zugeben, während der Tote weggetragen wurde.
„So wie es aussieht, wir ja nun Ihr Team den Fall an sich ziehen, aber wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätten wir das getan. Und ich gehe jede Wette ein, dass das kein gewöhnlicher Mordfall mit persönlichem Hintergrund ist.“
„Ozanali hat sich hier mit jemandem getroffen“, vermutete Rudi. „Und zwar unter quasi konspirativen Umständen. Dabei bekommt er eine Kugel in den Kopf.“
„Noch ist das eine Vermutung“, gab Schaluppke zu bedenken. „Aber genau so könnte es gewesen sein.“
Etwas später wurden wir zu der Baumgruppe gerufen, von der aus offenbar geschossen worden war.
„Wir haben die exakte Position, von der aus geschossen wurde“, erklärte Turgut Özdiler. „Um eine Patronenhülse zu hinterlassen war der Täter zu clever, aber wir haben einen Fußabdruck, der ihm vielleicht gehört. Größe 42.“ Turgut seufzte. „Ja, ich weiß, das könnte nahezu jeder sein, aber es ist ein Anfang.“ Unser Kollege zeigte uns dann die Stelle, von der seinen Messungen nach geschossen worden war. Der Täter hatte einfach direkt neben einem Baum gestanden. Ein paar Sträucher hatten ihn zusätzlich verborgen. In aller Ruhe hatte er dort offenbar auf sein Opfer gewartet. „Der Killer hat die perfekte Position gewählt“, stellte Turgut klar.
„Sieht alles nach einem Profi aus“, war Rudi überzeugt.
„Womit es wohl immer eindeutiger wird, dass der Fall in unsere Zuständigkeit fällt“, meinte ich und wandte mich an Schaluppke. „Tut mir leid, Christian.“
„Kein Problem. Es ist nicht so, dass wir sonst nichts zu tun hätten und etwas dagegen hätten.“
*
Später suchten wir die Kanzlei auf, die Ozanali nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst bei der Staatsanwaltschaft gegründet hatte. Ozanali & Partner stand an der Tür. Das Wort Partner konnte Einzahl oder Mehrzahl sein. Wer damit gemeint war, sollten wir wenig später erfahren.
Eine Sekretärin brachte uns in das Büro von Linda Kalbitz. Zumindest war das der Name, der an der Tür stand.
„Kommissar Harry Kubinke, BKA“, stellte ich mich vor und hielt ihr meine Dienstmarke entgegen. Ich deutete auf Rudi. „Dies ist mein Kollege Kommissar Meier. Sind Sie Linda Kalbitz, die Partnerin von Herrn Ozanali?“
„Ja, das bin ich“, nickte sie. „Was kann ich für Sie tun?“
Sie war schätzungsweise Anfang dreißig, hatte brünettes, adrett frisiertes Haar und trug ein knapp sitzendes Business-Kostüm. Um Partnerin einer Kanzlei zu sein, war sie entschieden zu jung. Aber offenbar hatte sich für sie bei Ozanali eine einmalige Karrierechance ergeben. Vielleicht war sie auch einfach nur sehr gut in ihrem Job.
„Wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen“, eröffnete ich. „Herr Maik Ozanali ist heute Morgen ermordet worden.“
Ihr Gesicht veränderte sich. Sie schien ehrlich betroffen und überrascht zu sein, ehe sie wieder ihren geschäftsmäßigen, freundlichen und angesichts dieser Nachricht sehr gefassten Gesichtsausdruck aufsetzte. „Lassen Sie uns bitte allein“, wandte sie sich an die Sekretärin, der in diesem Moment sämtliche Gesichtszüge entglitten und die fast fluchtartig den Raum verließ.
Manchmal sprechen Gesichter Bände.
Linda Kalbitz bot uns einen Platz an.
Wir setzten uns.
„Was ist genau passiert?“, fragte Linda Kalbitz, nachdem sie sich gefasst hatte.
„Das versuchen wir herauszufinden“, sagte ich.
„Herr Ozanali wurde heute früh in einem Park erschossen“, erläuterte Rudi. „Wir nehmen an, dass der Täter ein professioneller Killer war und es Zusammenhänge zum organisierten Verbrechen gibt und der Mord entweder etwas mit seiner ehemaligen Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft oder mit seinen gegenwärtigen Mandanten zu tun hat. Offenbar hat er sich im Park mit jemandem getroffen, leider wissen wir nicht mit wem.“
„Da werde ich Ihnen leider nicht weiterhelfen können“, sagte Linda Kalbitz. „Erstens werde ich ganz sicher nicht ohne einen richterlichen Beschluss dazu über Mandanten, Termine und Ähnliches aussagen. Sie wissen, dass das Gesetz da auf meiner Seite ist und wenn Sie nicht stichhaltig begründen können, wieso diese Auskünfte für Ihre Ermittlungen unerlässlich sind, dann wird kein Richter in Berlin...“
„Hören Sie, ich wollte eigentlich nicht von Ihnen juristisch bekehrt werden, sondern ich brauche Ihre Hilfe, um einen Mord aufzuklären“, unterbrach ich sie. „Und eigentlich hatte ich gedacht, dass das auch Ihr Interesse ist.“
„Selbstverständlich, Herr Kubinke.“
„Dann schlage ich vor, dass Sie uns einfach alles mitteilen, was irgendwie mit Herrn Ozanalis Tod in Zusammenhang stehen könnte. Es geht uns nicht darum, Sie dazu zu bringen, das Vertrauen Ihrer Mandanten aufs Spiel zu setzen.“
„Es freut mich, dass Sie diesen Punkt immerhin anerkennen, Kommissar Kubinke“, sagte Linda Kalbitz kühl. „Genau darum geht es nämlich.“
„Berührt Sie eigentlich der Tod von Herrn Ozanali?“
Sie hob die Augenbrauen.
Die Art und Weise, mit der sie mich ansah, ließ mich stutzen.
Meine Frage schien sie ziemlich überrascht zu haben. Für einen Moment gab sie die glatte, kontrollierte Fassade mit dem geschäftsmäßigen Lächeln wieder auf.
Sie schluckte. „Hören Sie, diese Nachricht ist für mich ein Schock. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist noch nicht einmal klar, wie es ohne Maik hier weitergehen soll. Es kann sein, dass Maiks Tod auch das Ende dieser, wie Sie sehen, ziemlich kleinen Kanzlei bedeutet und ich mir wieder einen Job als angestellte Anwältin suchen muss. Und davon abgesehen, war er ein netter Kerl! Aber...“
Sie sprach nicht weiter. Ihr Blick wirkte in sich gekehrt. Erst jetzt zeigte sich in ihren sonst so kontrollierten Zügen jene Traurigkeit, die man angesichts einer solchen Nachricht eigentlich erwartet. Zumindest dann, wenn der Ermordete einem nicht völlig gleichgültig gewesen ist.
„Sie wollten noch etwas sagen“, hakte ich schließlich nach, als diese Pause des Schweigen sich etwas zu sehr in die Länge zog.
„Wissen Sie, ich weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll.“
„Sagen Sie einfach, was Sache ist“, schlug ich vor.
„Ich bin zwar Partnerin in der Kanzlei, aber in manche Dinge hat Maik mich nie einbezogen. Er hatte noch aus seiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft viele Kontakte zu Informanten und reichlich dubiosen Leuten, die ihn mit Informationen versorgten, die er bei der Ausübung seiner Mandate nutzen konnte.“
„Und Sie meinen, mit so jemanden hat er sich heute Morgen getroffen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist nur eine Vermutung.“
„Haben Sie irgendeine Vermutung, wer es auf Herrn
Ozanali abgesehen haben könnte? Jemand, der ihn vielleicht so hasst, dass er einen Killer auf ihn ansetzt? Schließlich hat sich Herr Ozanali in seiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft ja wohl sicherlich auch Feinde gemacht.“
„Davon können Sie ausgehen“, nickte Linda Kalbitz. „Aber das war alles vor meiner Zeit und ich kann Ihnen wirklich nichts weiter dazu sagen.“
„Was haben Sie gemacht, bevor Sie bei Ozanali & Partner angefangen haben?“, fragte ich.
Sie sah mich etwas überrascht an. „Ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, wieso Sie mich jetzt in den Fokus Ihrer Aufmerksamkeit stellen“, sagte sie und hob dabei das Kinn.
„Und ich weiß nicht, weshalb es ein Problem sein sollte, diese einfache Frage zu beantworten“, gab ich zurück. „Im Zweifelsfall wird man mir diese Auskünfte auch bei der Anwaltskammer geben können. Sie werden irgendwo studiert haben und Ihre bisherige Tätigkeit als Anwältin wird wohl auch kaum unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden haben! Es wird ehemalige Mandanten geben, die vielleicht etwas auskunftsfreudiger sind und abgesehen davon...“
„Ich habe nach dem Studium bei verschiedenen Kanzleien in München und Frankfurt gearbeitet, bevor es mich nach Berlin verschlug“, erklärte sie. „Und außerdem bin ich in der glücklichen Lage etwas Geld geerbt zu haben, was sicher ganz hilfreich dabei war, die Chance zu bekommen, Partner eines so renommierten Anwalts wie Herrn Ozanali zu werden. Reicht Ihnen das als vorläufige Auskunft?“
„Als vorläufige Auskunft, ja“, gab ich zurück.
Ich fragte mich unwillkürlich, woher dieser feindselige Tonfall bei ihr kam. Schließlich wollten wir doch nichts anderes, als herauszufinden, wer den Mann getötet hatte, von dem doch angeblich auch ihre eigene berufliche Zukunft ganz maßgeblich abhing.
Aber offenbar schien sie zu glauben, dass wir ihr irgendwie etwas am Zeug flicken wollten. Befürchtete sie, dass wir bei unseren Ermittlungen auf Dinge stießen, die unter der Decke bleiben sollten?
Ich reichte ihr meine Karte.
„Seien Sie so freundlich und stellen Sie uns eine Liste sämtlicher Mandantschaften zusammen, die Ihre Kanzlei seit ihrer Gründung übernommen hat. Und zwar möglichst schnell. Wir können natürlich auch dafür sorgen, dass ein richterlicher Beschluss Sie dazu zwingt. Für uns hätte das den Nachteil, dass es zu einer Verzögerung kommt, die nur dem Täter nützt. Für Sie wiederum bedeutet es, dass Sie den Umfang ihrer Auskünfte nicht mehr selbst bestimmen können.“
„Ich lasse Ihnen die gewünschten Daten zukommen“, versprach Linda Kalbitz.
Ihr Lächeln wirkte so säuerlich, wie es selten bei einer Frau ihres Alters gesehen hatte.
Der PH-Wert musste auf jeden Fall im absolut toxischen Bereich liegen.
„Es wäre nett, wenn Sie dafür sorgen, dass diese Angaben sofort zusammengetragen werden“, sagte Rudi.
Linda Kalbitz rief daraufhin über die Sprechanlage die Sekretärin herein und gab ihr eher widerwillig entsprechende Anweisungen.
„Ich erledige das“, versprach sie. Die Sekretärin sah aus, als hätte sie vor wenigen Minuten noch geweint und nur notdürftig ihr Make-up gerichtet.
„Und ich werde Sie begleiten und kann Ihnen dabei auch noch ein paar Fragen stellen“, kündigte Rudi an. „Wie war nochmal Ihr Name?“
„Sybille Cromers“, gab die Sekretärin bereitwillig Auskunft. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Das Haar war blond gelockt. Und der wiederholte Seitenblick zu ihrer Chefin zeigte deutlich, wie wichtig es war, sie allein zu befragen. Allerdings hatte ich meine Zweifel, dass sie dabei auskunftsfreudiger sein würde als ihre Chefin.
Linda Kalbitz schien der Gedanke, dass sich Rudi ohne ihre Anwesenheit mit der Sekretärin unterhalten wollte, nicht zu gefallen. Ihre Mimik war da vollkommen eindeutig.
Allerdings sah sie im Moment wohl auch keine Handhabe, um das irgendwie verhindern zu können.
Ich wartete, bis Sybille Cromers und Rudi den Raum verlassen hatten.
„Kommissar Kubinke, ich habe heute noch ein paar dringende Mandantengespräche vor mir und werde zu einem Termin jetzt schon zu spät kommen. Einen weiteren habe ich bereits absagen müssen. Falls Sie also keine weiteren Fragen haben, möchte ich Sie bitten, mich nicht länger aufzuhalten.“
„Schon erstaunlich, wie sie einfach zur Geschäftsordnung übergehen“, fand ich. „Ich meine, die Kanzlei existiert noch nicht allzu lange, aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie doch in dieser Zeit wirklich sehr eng zusammengearbeitet haben. Schließlich sind Sie hier ja nun wirklich keine Großkanzlei, in deren Büro man sich vielleicht gegenseitig tagelang aus dem Weg gehen kann, wenn man an unterschiedlichen Fällen arbeitet.“
„Es wäre überaus liebenswürdig, wenn Sie auf den Punkt kämen, Herr Kubinke“, sagte Linda Kalbitz. Der Klang ihrer Stimme erinnerte an klirrendes Eis. Sie war gereizt. Und ich hatte das Gefühl, dass sie mir ein paar Dinge über Maik Ozanali hartnäckig verschwieg.
Ich sah sie an und sagte:
„Ich stelle mir vor, jemand hätte meinen Partner, Kommissar Meier, plötzlich über den Haufen geschossen. Da würde ich anders reagieren.”
„Ach, ja?”
„und ich komme ganz ehrlich immer noch nicht darüber hinweg, wie kühl Sie über den Dingen zu stehen scheinen.“
„Emotionen können teuer werden, Herr Kubinke.”
„Wer sagt das?”
„Das ist eine der ersten Lektionen, die ich als Anfängerin in meinem Job lernen musste.“
Ach je! Emotionen können teuer werden - wie das klang! Aber sie war nicht so cool und abgeklärt, wie sie mir glauben machen wollte. Das war alles Fassade. Ich frage mich immer wieder, wieso sich Menschen so viel Mühe damit machen, einem etwas anderes vorzumachen, wo doch die Wahrheit nur allzu offensichtlich ist. Schauspielerei beherrscht nicht jeder. Nicht wirklich gut jedenfalls.
Ich sagte:
„Dann scheinen Sie ja schnell gelernt zu haben!“
Ihr Lächeln war so dünn wie der Automatenkaffee auf mancher Dienstelle.
„Vielleicht ist genau das der Grund, warum ich in relativ jungen Jahren schon Partner einer Kanzlei bin.
„Wenn Sie das sagen…”
„Und so tragisch der Tod meines Partner ist, ich werde alles tun um zu verhindern, dass sich diese Tragödie auch noch auf weitere Personen ausweitet.“
„Anscheinend sind Sie rücksichtsvoll.”
„Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen.”
„Wen meinen Sie genau damit?“
„Womit?”
„Andere Personen.”
„Damit meine ich zum Beispiel Sybille, die ihren Job verlieren würde, wenn hier alles den Bach runtergeht. Und Mandanten, für die wir verantwortlich sind...“ Sie schluckte. Erst jetzt schien ihr aufzufallen, dass sie tatsächlich wir gesagt hatte. „Sie merken vielleicht, dass ich noch nicht wirklich umgeswitcht habe, Herr Kubinke.“
„Ja, das habe ich schon mitbekommen.“
„Sie tun alles, um den Täter zu finden, nicht wahr?”
„Natürlich.”
„Wirklich?”
„Das ist mein Job. Warum zweifeln Sie daran?”
Sie schluckte.
*
Wenig später saßen wir wieder in dem Ford aus dem Fahrzeugbestand unserer Fahrbereitschaft. Die Sekretärin hatte Rudi eine Liste der gegenwärtigen Mandaten der Kanzlei erstellt. „Interessante Leute darunter“, fand mein Kollege. „Mir würden allein bei einer oberflächlichen Durchsicht mehrere Namen einfallen, denen ich zutraue, bei Bedarf einen Profi-Killer zu engagieren.“
„Hast du noch irgend etwas aus der Sekretärin herausbekommen können?“
„Leider nicht, Harry. Die war so eingeschüchtert, dass sie nichts weiter rausgebracht hat. Allerdings hat sie der Tod ihres Chefs anscheinend sehr getroffen.“
*
Unsere nächste Adresse war ein exquisites Juwelengeschäft in Berlin Mitte. Klein aber fein, so lautete hier die Devise. Ozanali stand in großen Buchstaben über der Tür. Es gehörte nämlich Maik Ozanalis Ehefrau Joanna. Kollegen hatten sie bereits über den Tod ihres Mannes informiert. Zumindest diese unangenehme Pflicht blieb uns also erspart.
In der Gegend zu parken ist eine Wissenschaft für sich. Einen Stellplatz zu bekommen ist schiere Glücksache und die Plätze in den Tiefgaragen der Kaufhäuser sind meistens zu knapp bemessen. Wir waren deswegen gezwungen, den Ford in einiger Entfernung abzustellen und die letzten zehn Minuten zu unserer Zieladresse zu Fuß zu laufen.
Aber so ein kleiner Marsch kann ganz erfrischend ein.
Zumindest blieb uns auf diese Weise Zeit, sich zu überlegen, wie man einer Frau einfühlsam begegnen konnte, die soeben durch die Kugel eines skrupellosen Killers zur Witwe geworden war.
Eine Angestellte des Juweliergeschäfts geleitete uns in einen der hinteren Räume, wo sich unter anderem ein Büro befand. Dort fanden wir Joanna Ozanali. Sie saß in sich zusammengesunken in dem schweren Ledersessel hinter ihrem Schreibtisch. Auf diesem lagen ein paar Schmuckstücke und eine Lupe. Offenbar war sie gerade damit beschäftigt gewesen, diese Stücke zu begutachten und hatte dann irgendwann damit aufgehört.
Ihr Blick war ins Nichts gerichtet. Sie schien uns zunächst gar nicht zu bemerken. Die Angestellte sprach sie zweimal an, ehe sie schließlich aus ihrem Tranceartigen Zustand erwachte.
„Frau Ozanali?“, fragte ich dann. „Ich bin Kommissar Harry Kubinke vom BKA und dies ist mein Kollege Rudi Meier. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Natürlich“, murmelte sie.
„Ich weiß nicht, was die Kollegen Ihnen schon gesagt haben, aber...“
„Ein Scharfschütze hat meinen Mann auf dem Gewissen und ihn aus zweihundert Metern Entfernung erschossen“, fasste sie zusammen, was man ihr gesagt hatte.
Mich wunderte es, dass sie bereits diese Einzelheiten wusste.
Vermutlich hatte sie danach gefragt.
Im Allgemeinen ist es so, dass man mit Angehörigen, die genauen Details und Tatumstände erst nach einer Weile einigermaßen gefasst besprechen kann.
Schlimme Nachrichten brauchen einfach ihre Zeit, bis sie sich durch die Windungen des Gehirns hindurchgearbeitet haben und wirklich ins Bewusstsein gedrungen sind. Bei Frau Ozanali schien das jedoch anders zu sein.
Sie nickte der Angestellten zu und wies sie damit an, den Raum zu verlassen.
Sie zog sich daraufhin mehr oder minder geräuschlos zurück.
Joanna Ozanali deutete auf die edelsteinbesetzten Schmuckstücke auf ihrem Schreibtisch. „Das ist eine Arbeit, die viel Konzentration verlangt. Ich habe versucht mich damit etwas abzulenken, nachdem Ihre Kollegen von der City Police mir die Nachricht von Maiks Tod überbracht haben.“ Sie sah auf. Ihr Blick musterte mich einige Augenblicke auf seltsame Weise. „Es ist mir nicht gelungen“, stellte sie fest und ihre Stimme war so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.
Mir fiel auf, dass sie blonde Locken trug. Die Ähnlichkeit zu Sybille Cromers, der Sekretärin in der Kanzlei Ozanali & Partner war frappierend. Die beiden wirkten wie Schwestern – oder eigentlich schon eher wie Mutter und Tochter.
„Es freut mich, dass das BKA offenbar den Fall übernimmt“, sagte Joanna Ozanali schließlich. „Das bedeutet für mich, dass Sie die Sache die Priorität einräumen, die angemessen ist.“
„Wenn die zuständige Polizeidienststelle den Fall übernehmen würde, dann hieße das nicht, dass man dort diesen Fall für weniger wichtig erachten würde“, stellte ich klar.
„Mag sein, Herr Kubinke. Aber auf Grund der früheren Tätigkeit meines Mannes bei der Staatsanwaltschaft, gibt es da ja dann doch ein paar besondere Umstände, wie Sie zugeben werden.“
„Wir gehen bisher davon aus, dass es sich um einen professionellen Auftragsmord handelt“, sagte Rudi. „Haben Sie eine Ahnung, wer ein Motiv gehabt hätte, Ihrem Mann einen Killer auf den Hals zu hetzen?“
„Fahren Sie zur JVA Moabit. Oder wahlweise zum Knast in Tegel. Da gibt es wahrscheinlich ganze Zellentrakte, in denen nur Personen einsitzen, die Grund genug haben, meinem Mann irgend etwas übel zu nehmen, Herr Kubinke. Und streng genommen müssen Sie mich auch auch dazuzählen.“
Rudi hob die Augenbrauen. „In wie fern?“, fragte er.
„Maik hatte ein Verhältnis mit seiner Sekretärin. Ich habe mit dem Geld, das ich durch mein sehr gut gehendes Geschäft erwirtschaftet habe, ihm den Start seiner Kanzlei ermöglicht und das war dann sozusagen der Dank dafür...“ Ein bitterer Zug breitete sich jetzt für kurze Zeit in ihrem Gesicht aus. Maik Ozanali ist also seinem Typ treu geblieben, dachte ich. Rudi und ich hatten wohl beide das Gefühl, dass Joanna noch etwas sagen wollte und nur nach den richtigen Worten suchte. Deswegen schwiegen wir und warteten geduldig ab. „So ist nunmal das Leben“, fuhr sie schließlich fort. „Ich sage Ihnen das deshalb, weil Sie ja doch von der Affäre mit Sybille Cromers erfahren hätten und da dachte ich, ist es besser, gleich reinen Wein einzuschenken.“
„Wir wissen Ihre Offenheit zu schätzen“, erklärte ich.
„Auch wenn Maik und ich unsere Probleme hatten, ändert das nichts daran, dass sein Tod für mich ein schwerer Schlag ist und ich Sie bei Ihrer Suche nach dem Täter in jeder Hinsicht unterstützen werde.“
„Darauf werden wir sicher noch zurückkommen“, sagte Rudi.
„Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, dass wir trotz der gerade angedeuteten Probleme wieder enger zusammenkommen und unsere Schwierigkeiten überwinden würden. Und damit sie auch gleich die volle Wahrheit wissen, möchte Ihnen auch noch mitteilen, dass eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten existiert, die im Fall von Maiks Tod ausgezahlt wird.“
Ich war etwas verwundert darüber, dass sie uns ein mögliches Mordmotiv nach dem anderen präsentierte. War das wirklich nur der Wunsch, mit offenen Karten zu spielen und die Erkenntnis, dass all die Fakten ohnehin im Laufe der Ermittlungen auf den Tisch kommen würden? Was man nicht verbergen kann, muss man betonen. Das schien Joanna Ozanalis Devise in diesem Punkt zu sein.
„Ja, Sie können davon ausgehen, dass all diese Dinge im Zuge der Ermittlungen überprüft werden und sich daraus natürlich entsprechende Fragen ergeben könnten“, nickte ich.
„Fragen?“ Sie lächelte matt. „Sie meinen, einen Verdacht.“
Ich atmete tief durch.
Sehr tief.
„Meinetwegen, ein Verdacht.“
Sie hob die Augenbrauen.
„Ich nenne die Dinge gerne beim Namen, wissen Sie?“
„Das tun wir auch.”
„So?”
„Wie hoch ist denn die Auszahlungssumme?“
„Eine Million Euro.
„Eine Menge Holz.”
„Und sie ist nicht auf Gegenseitigkeit gewesen, Herr Kubinke.“
„Eine Million Dollar ist wirklich eine hohe Summe.“
„Wissen Sie, das kommt noch aus unserer Anfangszeit. Damals war ich eine kleine Angestellte und Maik war bei der Staatsanwaltschaft und hat Jagd auf Gangster gemacht. Sein Spezialgebiet war damals schon die Geldwäsche und da hat er natürlich gewisse Leute dort gepackt, wo es ihnen am meisten wehtut! Bei ihren Gewinnen nämlich.“
„Das heißt, Sie haben damals schon befürchtet, dass Ihr Mann auf der Abschussliste dieser Leute stehen könnte.“
„Natürlich! Und Maik wollte, dass ich dann abgesichert bin. Mit den Jahren hat sich die Situation allerdings verändert. Ich habe mein Geschäft gegründet und verdiene schon lange mehr als mein Mann. Aber wie das so ist: So eine Versicherung verliert man aus den Augen und wir haben das aus irgendeinem Grund nie geändert. Ich hoffe, dass man mir daraus jetzt keinen Strick dreht.“
„Es ist nicht strafbar, Begünstigte einer Lebensversicherung zu sein“, wich ich aus.
„Nein, aber verdächtig. Und die Summe wäre auch hoch genug, um davon noch einen Profi bezahlen zu können.“
Ich ging nicht weiter darauf ein. Wieso Joanna Ozanali sich so hartnäckig selbst zu belasten versuchte, war mir noch nicht so ganz klar. Aber mein Instinkt zweifelte daran, dass sie irgend etwas mit dem Mord zu tun hatte. Trotz der mehr als stichhaltigen Gründe, ihren Mann zu hassen und vielleicht sogar aus dem Weg räumen zu wollen. Vielleicht war es einfach so, dass ihre Trauer über den Tod von Maik Ozanali letztlich doch einfach zu ehrlich erschien, als dass ich mir vorstellen konnte, dass sie die nur gespielt hatte. Und dass sie ansonsten eher unterkühlt wirkte und ihre Gefühle zurückhielt, ließ das für mich eher noch überzeugender erscheinen, als dass es irgendwelche Zweifel genährt hatte.
Andererseits kann man sich, was solch eine Einschätzung betrifft, sehr leicht vertun.
Ein guter Instinkt ist eine prima Sache – aber man sollte ihm auch nur bis zu einem gewissen Grad trauen.
„Ich habe noch eine andere Frage, Frau Ozanali“, sagte ich. „Was wissen Sie über die Gründe für das Ausscheiden Ihres Mannes aus dem Dienst bei der Staatsanwaltschaft?“
„Die offizielle Version oder die Wahrheit?“, gab sie zurück.
Ich hob die Augenbrauen.
„Ich nehme an, das war eine rhetorische Frage.“
„Wieso?”
„Nur so.”
„Die Arbeit meines Mannes wurde nicht richtig geschätzt. Wir haben nicht nur einmal darüber geredet. Fast jeden Tag hat er darüber geklagt.
„Wie meinen Sie das?”
„Er durfte die Arbeit machen, andere haben sich hinterher in das Kameralicht gestellt und sich mit irgendwelchen Ermittlungserfolgen gebrüstet.”
„Das klingt schlimm.”
„Und bei Beförderungen ist er geflissentlich übergangen worden.“
„Er war zum Schluss immerhin stellvertretender Leiter seiner Behörde.“
„Ja. Aber Friedhelm Dallhaus, der Mann, der sein Vorgesetzter wurde, hat ihm von Anfang an klar gemacht, dass er bei ihm keine Chance gehabt hätte. Maik drohte mit untergeordneten Aufgaben abgespeist zu werden. Und das wollte er sich nicht antun und dachte, es ist besser sich selbstständig zu machen.“
„Und hat ihn nicht irgendwie irritiert, jetzt solche Leute zu verteidigen, die er noch vor kurzem versucht hätte, in Moabit einzuquartieren?“
„Doch, das hat ihn irritiert, sehr sogar. Aber finanziell scheint es sich gelohnt zu haben. Ich habe zwar für die Anschubfinanzierung gesorgt. Schließlich mussten ja Büros eingerichtet und eine Sekretärin eingestellt...“ Sie brach ab. „Ja, das ist ein eigenes Thema, aber irgendwie komme ich immer wieder darauf zurück, wie Sie vielleicht verstehen werden.“
„Das verstehe ich durchaus”, sagte ich.
„Sie sind sehr verständnisvoll.”
„Ich gebe mir Mühe.”
„Na, das ist doch wenigstens etwas…”
*
Etwas später saßen wir wieder im Wagen. Wir hatten uns in der Nähe jeder ein vollkommen überteuertes Sandwich besorgt. Aber die Gegend war nunmal teuer und irgendwohin zu fahren, wo es preiswerter war, dazu hatten wir keine Zeit.
„Was hältst du von Joanna Ozanali?“, fragte Rudi.
„Da bin ich mir noch nicht sicher.“
„Traust du ihr zu, einen Profi engagiert zu haben, um ihren Mann umzubringen?“
„Ehrlich gesagt: Nein.”
Rudi hob die Augenbrauen.
„Wieso nicht?”
Ich zuckte mit den Schultern.
„Das ist nur ein Gefühl, nichts was auf irgendwelchen Tatsachen basiert. Davon abgesehen wissen wir nicht, ob es wirklich ein Profi war.“
„Aber der Schluss liegt doch angesichts der Umstände nahe, Harry!“
„Niemals zu früh festlegen, Rudi, das weißt du doch.“
„Es war ein sehr gezielter Schuss aus großer Entfernung.“
„Das heißt streng genommen nur, dass der Täter ein wirklich guter Schütze ist.“ Ich fädelte den Ford in den laufenden Verkehr ein. „Vielleicht ein ehemaliger Scharfschütze, ein Jäger, jemand der Teil eines SEK-Teams war – da gibt es viele Möglichkeiten.“
„Bin gespannt darauf, was die Ballistik sagt, Harry.“
„Ich auch.“
„Das Obduktionsergebnis an sich dürfte ja weit weniger spannend sein, denn es kann ja wohl niemand im Ernst daran zweifeln, dass die Todesursache die Kugel im Kopf war.“
Wir fuhren zum Präsidium.
Unser gemeinsames Dienstzimmer hatten wir kaum betreten, als unser Kollege Turgut Özdiler herein kam. „Harry! Rudi! Wir wissen jetzt, was für eine Kugel in Maik Ozanalis Kopf steckt“, erklärte er.
„Und?“
„Spezialmunition, wie ich mir schon dachte. Bei der Waffe handelt es sich um eine Weitz MXW-234.“
Ich wechselte mit Rudi einen kurzen Blick. „Nie gehört“, meinte mein Kollege und sprach mir damit aus der Seele. Ich bildete mir schon ein, mich mit Waffen aller Art auszukennen. Das bringt der Alltag in unserem Job nunmal so mit sich. Aber das Fabrikat, das Turgut uns genannt hatte, war mir vollkommen unbekannt.
„Eine Weitz?”,fragte ich. „Dieselbe Waffe, mit der auf mich vor der Anarcho-Kneipe geschossen wurde.”
„Das hatte ich nicht mehr gegenwärtig”, sagte Rudi.
„Die Weitz MXW-234 ist eine wahre Wunderwaffe”, sagte Kollege Özdiler.
„Was soll das Besondere an der Waffe sein?“, fragte ich.
„Sie ist gut.”
„Davon mal abgesehen.”
„Besonders gut.”
„Das sind andere auch, Turgut.”
„Ein Spezialgewehr für Scharfschützen. Gilt in Fachkreisen als eine der besten Waffen dieser Art, die jemals hergestellt wurden. Für eine Weile bestand sogar die Chance, dass die Weitz – übrigens benannt nach ihrem Konstrukteur – zur Standardwaffe für Scharfschützen in der U.S.Army, bei der Bundeswehr und bei den SEK-Teams verschiedener Polizeieinheiten wird. Aber daraus ist aus unerfindlichen Gründen nichts geworden.“
Ich stutzte.
„Und was waren das für Gründe?“, fragte ich, denn so wie das jetzt aus Turgut Özdilers Mund klang, war diese Waffe ein technisch gesehen ziemlich unschlagbares Produkt.
Eine Superwaffe.
„Könnte sein, dass es mit dieser Waffe nicht möglich ist, Standardmunition zu verschießen. Aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht.”
„Sondern?”,hakte ich nach.
„Ich würde eher vermuten, dass die Herstellerfirma nicht imstande gewesen wäre, die entsprechende Stückzahl innerhalb einer vertretbaren Zeit zu liefern.“
„Also eine seltene Waffe“, schloss ich.
Turgut Özdiler grinste. „Eine sehr seltene Waffe“, stellte er klar. „Und das dürfte uns die Suche nach dem Täter erheblich vereinfachen.“
„Wie viele von diesen Gewehren gibt es denn?“
„Nicht einmal hundert.”
„Weltweit?”
„Ja.”
„Das ist wirklich nicht viel”, sagte Rudi.
„Ich habe mich bereits im Netz informiert. Dieser Weitz ist mit seiner Firma vor einigen Jahren pleite gegangen.“
„Obwohl die Waffe, die er konstruiert hat, doch so gut war?“, wunderte ich mich.
Unser Kollege zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht hat er sich einfach übernommen, Harry. Inzwischen tummelt Norman Weitz sich auf radikalen Internet-Seiten, auf denen die Auflösung der BRD und ein Steuerboykott propagiert wird, weil der Staat seine Bürger sowieso nur ausbeutet und bevormundet.“
„Ist Weitz ein sogenannte Reichsbürger?”, fragte ich.
Der Kollege nickte.
„Sowas in der Art.”
„Es müsste sich bei einer so kleinen Anzahl von Waffen doch feststellen lassen, wo die einzelnen Exemplare geblieben sind“, meinte Rudi.
Turgut nickte erneut. „Ist schon in die Wege geleitet.“
„Ist mit speziell dieser Waffe schon einmal ein Verbrechen begangen worden?“, fragte ich.
„Mit der am Park eingesetzten Mordwaffe nicht – aber vor einem halben Jahr hat es einen Fall gegeben. Jörn Mackelhoff, Mitglied eines SEK-Teams der Polizei von München, hat einen Vorgesetzten mit einem Weitz-Gewehr erschossen. Hintergrund ist wohl ein Eifersuchtsdrama. Der Vorgesetzte hatte etwas mit Mackelhoffs Frau. Und ein Zusammenhang mit unserem Fall kann ich da, abgesehen vom Waffentyp, auch nicht erkennen.“
„Hm.”
„Und dann natürlich der tote Killer, der vor dem Anarcho-Lokal auf dich geschossen hat und von dem wir denken, dass der Abu-Jamal-Clan ihn geschickt hat.”
Rudi sagte: Für eine sop seltene Waffe ist sie in letzter Zeit aber ziemlich beliebt bei den Mördern.”
*
Am Spätnachmittag besuchten wir noch einige der Zeugen, deren Aussagen und Personalien am Tatort von den Kollegen der aufgenommen worden waren.
Darunter war auch Josephine Bringemeyer.
Sie nannte sich Objektkünstlerin und wohnte zur Untermiete in einem ehemaligen Lagerhaus.
Als Atelier eigneten sich die hohen Räume sicherlich hervorragend.
Vorausgesetzt, man hatte das nötige Geld, um sich die hohen Heizkosten leisten zu können und hatte nichts dagegen, in einer Umgebung zu wohnen, die in etwa so wohnlich wie eine Autowerkstatt war.
Josephine Bringemeyer bat uns herein.
Das erste, was mir auffiel, war eine lebensgroße Gestalt aus Pappmaché, die Josephine Bringemeyer bemalt hatte. Es roch nach Farbe. „Ich kann Ihnen leider nicht die Hand geben“, sagte sie. „Es sei denn, Sie haben nichts dagegen, wenn sie Farbe abbekommen!“
„Muss nicht unbedingt sein“, gab ich zurück.
„Und es wäre nett, wenn Sie die Tür schließen würden.“
„Sicher.“
Rudi übernahm das. Die Tür war eine relativ schwer zu bewegende Schiebetür. Rudi musste sich ganz schön anstrengen. Die Tür hatte offen gestanden, als wir die Wohnung betraten. Vermutlich um zu lüften.
Josephine Bringemeyer wischte sich die Hände mit einem Lappen ab und betrachtete dabei ihren Pappmaché-Kameraden. Es befanden sich noch einige weitere, schwer zu definierende Objekte im Raum. Darunter eine Vogelscheuche, deren Kopf eine Maske von Donald Trump trug und ein Mobile, das aus kleinen Engeln mit Totenschädeln bestand. Der Luftzug, den schon unser Auftreten verursachte, reichte aus, um sie durcheinander fliegen zu lassen.
In einer Ecke stand ein Bett, daneben ein Tapeziertisch mit Computer und mehreren Papierstapeln. An der Wand hing eine Collage aus den Schnipseln von Zeitschriften.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie.
Wir zeigten ihr unsere Ausweise, die sie mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. „Wir kommen wegen des Mordanschlags, der sich im Park ereignet hat“, sagte ich. „Mein Name ist Kommissar Kubinke und das ist mein Partner Kommissar Meier. Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“
Sie sah mich an.
„Schade“, sagte sie.
„Was meinen Sie damit?“
„Ich hatte schon gehofft, dass Sie vielleicht ein finanziell gut ausgestatteter Galerist wären, oder wenigstens ein Privatkäufer, dem es etwas wert ist, ein echtes Josephine-Bringemeyer-Unikat in der Wohnung zu haben.“
„Tut mir leid, aber damit können wir leider nicht dienen“, sagte Rudi.
Josephine Bringemeyer sah Rudi einige Augenblicke lang an. Dann kehrte ihr Blick wieder zu mir zurück. „Eigentlich habe ich Ihren Kollegen schon alles gesagt. Viel zu sehen war da ja auch nicht... Ich habe nicht einmal den Schuss gehört. Dieser Mann ist einfach tot umgefallen und hatte eine Schusswunde im Kopf.“ Josephine Bringemeyer schluckte. „Schrecklich!“
Sie rieb noch etwas an ihren Händen herum. Dabei stiegen offenbar nochmal die Erinnerungen an das schreckliche Geschehen im Park in ihr hoch. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. Sie wirkte plötzlich sehr angespannt, auch wenn sie versuchte, dies mit einem ziemlich verkrampften Lächeln zu überspielen.
„Jeder Hinweis, jede Beobachtung kann uns eventuell weiterbringen“, sagte ich. „Auch wenn es Kleinigkeiten sind, die Ihnen vielleicht gar nicht wichtig vorkommen.“
„Ich verstehe“, murmelte sie.
„Wir möchten Sie deswegen bitten, dass wir alles nochmal genau durchgehen.“
„Wissen Sie, ich bin morgens im Park, um die Hunde auszuführen und...“
„Sie haben Hunde?“, unterbrach ich sie.
Josephine Bringemeyer schüttelte den Kopf „Es sind nicht meine Hunde. Wissen Sie, meine Kunst bringt leider noch nicht so viel ein, dass ich alleine von diesen Werken leben könnte. Darum habe ich verschiedene Jobs. Einer davon ist es, die Hunde von Leuten auszuführen, die dafür keine Zeit haben. Und davon gibt es in Berlin eine ganze Menge.“
„Verstehe“, nickte ich.
„Aber um die Zeit sind sowieso fast nur Leute mit Hunden oder Jogger im Park unterwegs. Ich gehe also mit den Hunden daher und hatte gerade etwas Mühe mit einem Terrier, der meinte, er müsste sich unbedingt mit dem Schäferhund eines älteren Herrn anlegen, da fiel dieser Schuss – beziehungsweise er muss gefallen sein, denn gehört habe ich ihn ja nicht.“
Ich holte eine Skizze des Tatorts hervor. „Können Sie mir ungefähr sagen, wo Sie gestanden haben?“, fragte ich.
„Natürlich.“
Sie deutete mit dem Finger auf die Stelle.
„Ein anderer Zeuge, der tatsächlich einen Schäferhund hat, steht auch auf unserer Liste. Wissen Sie noch, wo der stand?“
Sie deutete mit ihrem Zeigefinger an einen Punkt, der ziemlich genau mit den Angaben übereinstimmte, die unsere Kollegen von der City Police von diesem Zeugen erhalten hatten.
„Dann war da noch so ein sportlicher Kerl, der aussah, als würde er für den Ironman trainieren. Der hat gleich den Notarzt angerufen und sich dann um den von der Kugel getroffenen Kerl gekümmert. Da war allerdings nichts mehr zu machen.“