Die
Liebesfehde am Nordseestrand: Ostfrieslandroman
von Fred Wiards
Dörte Ekhoff liebt Hinnerk Husmann, den Inhaber einer
Tauchschule. Hinnerk macht sich an Rena heran, Dörtes Schwester,
von der er nichts weiß. Rena wird von Jasper Frerich bedrängt, ihn
endlich zu heiraten, braucht aber noch etwas Zeit, sagt sie. Als
Jasper eines Tages Hinnerk und Rena zusammen sieht, steht für ihn
die Sachlage fest. Aber kann es nicht auch ganz anders sein?
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
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Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
“Fred Wiards” ist ein Pseudonym von Alfred Bekker.
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
„Vorsicht!“, rief Coord Ekhoff, als das Boot plötzlich heftig
hin und her schaukelte. „Rena! Dörte! Seid ihr denn jetzt ganz
verrückt geworden! Wo habt ihr denn eure Gedanken?“
Sie waren zu dritt auf dem kleinen Boot – Coord Ekhoff und
seine beiden Töchter. Und das bedeutete nicht nur, dass es ziemlich
eng war, sondern dass jeder der drei auch sehr genau auf seine
Bewegungen achtgeben musste, damit das Fischerboot nicht kenterte.
Zwar waren sie alle drei gute Schwimmer, aber nach einem
unfreiwilligen Bad im eiskaltem Wasser der Nordsee stand Ekhoff
nicht der Sinn.
Und von seinen Töchtern war das eigentlich auch nicht
anzunehmen.
Die beiden bildschönen Mädchen sahen ihren Vater etwas
erschrocken an.
„Ja, was ist denn los mit euch?“, fragte Ekhoff. „Wenn man mit
dem Fischerboot auf die See fährt, ist das nicht gerade der
richtige Moment, um herumzuträumen.“
„Ach komm, Vater! Reg dich nicht auf, es ist ja nochmal gut
gegangen“, erwiderte Rena.
Ekhoff atmete tief durch.
„So gerade eben“, gab er dann zu. Seine umwölkte Stirn hatte
sich unterdessen aber schon wieder sichtbar geglättet.
Wirklich böse sein konnte er den beiden jungen Frauen sowieso
nicht.
Die Sonne stand schon tief über dem Horizont, der sich ringsum
erstreckte. Das Abendrot spiegelte sich auf der grauen
Wasseroberfläche.
Ekhoff Coord genoss diesen Anblick jedes Mal aufs Neue, wenn
er mit seinem Boot hinausfuhr. Das unablässige Schauspiel des
Meeres beeindruckte ihn immer wieder.
Daran hatte sich in all den Jahrzehnten nichts geändert, in
denen er nun schon seine Fischerei auf der Nordsee betrieb, deren
ungezügeltes Wasser seinesgleichen suchte.
Zusammen mit seinen Töchtern Rena und Dörte war er mit dem
Boot hinausgefahren, um die Reusen zu leeren. Die beiden Mädchen
waren zu hübschen, jungen Frauen herangewachsen und halfen fleißig
im elterlichen Fischerei-Betrieb mit.
Rena war die jüngere der beiden. Sie hatte blondes, leicht
gelocktes Haar, das sie mit einem Haarband zu bändigen pflegte.
Ihre grauen Augen waren von derselben Farbe wie die Oberfläche der
Nordsee bei gutem Wetter.
Ihre ältere Schwester Dörte hatte etwas dunkleres, aber immer
noch blondes Haar, das ihr bis auf die Schultern herabfiel. Sie
galt allenthalben als die Temperamentvollere und Mutigere der
beiden. Und so hatte Rena nicht selten das Gefühl, etwas ins
Hintertreffen zu geraten – besonders wenn es darum ging, einen der
ansehnlichen jungen Männer aus der Gegend anzusprechen.
Dörte wagte mehr und aufgrund ihrer charmanten Art gewann sie
auch fast immer. Sich einen Korb einzufangen, davor hatte das
Mädchen keine Angst. Außerdem spielte sie ganz gerne mit dem Feuer.
Rena war da von etwas vorsichtigerer und nachdenklicherer
Natur.
Im Ganzen waren die beiden Schwestern allerdings meistens ein
Herz und eine Seele – trotz oder gerade wegen ihrer
Unterschiedlichkeit.
Ekhoff wollte gar nicht daran denken, was geschehen würde,
wenn die beiden Mädchen irgendwann einmal nicht mehr im Betrieb
mithalfen. In diesem Fall musste er dann einen Gehilfen anstellen.
Auch wenn seine Frau ihm schon seit längerem riet, sich an diesen
Gedanken zu gewöhnen, so wollte der Fischer davon doch erst einmal
nichts wissen.
„Nein, Papa, du musst schon ein bisschen aufpassen, dass du
nicht vom Kurs abkommst!“, sagte Rena plötzlich.
Coord Ekhoff stellte fest, dass seine Jüngere recht
hatte.
Er war so in Gedanken gewesen, dass das Boot jene Uferstelle
mit ziemlicher Sicherheit verfehlt hätte, an der die Reusen
festgemacht waren. Selbst ohne Fernglas konnte man sie jetzt
bereits sehen. Die Pflöcke, an denen sie befestigt waren, ragten
leicht über die Wasseroberfläche.
Ekhoff riss die Pinne des Außenbordmotors herum, so dass das
Boot auf Kurs kam.
„Ja, ich war ein bisschen in Gedanken“, sagte Ekhoff. „Aber
das gilt heute ja wohl nicht allein für mich, oder?“
Sie erreichten gerade die Reusen, da tauchte in der Ferne ein
weißes Kajütboot auf, und die drei blickten einige Augenblicke lang
wie gebannt dorthin.
„Das ist die NORDMEERJUNGFRAU“, stellte Dörte fest und begann
zu winken.
„Lass doch, Dörte!“, meinte die Schwester. „Auf die Entfernung
sieht dich doch sowieso niemand!“
„Hinnerk wird mich schon bemerken“, meinte Dörte
selbstbewusst. „Wer weiß, vielleicht schaut er gerade jetzt mit dem
Fernglas in unsere Richtung …“
„Das ist doch Quatsch!“, stieß Rena hervor.
„Was bist du denn so widerborstig?“
„Du tust ja gerade so, als wärst gut bekannt mit
Hinnerk!“
„Und was würdest du sagen, wenn ich‘s wäre?“
„Dann würde ich sagen, dass du da gewiss nicht allein bist,
Schwesterherz!“
„Ich weiß gar nicht, was du hast, Rena! Du hast doch deinen
Jasper! Was ist denn dagegen einzuwenden, dass ich ihn mir genau
anschaue, wenn ein neuer Mann in der Gegend auftaucht!“
„Gegen das Schauen hat auch keiner was gesagt, Dörte!“
Ekhoff hatte seinen beiden Töchtern eine Weile erstaunt
zugehört. „Ja, was regt ihr euch denn auf? Hinnerk Husmann hat
scheinbar einen nachhaltigen Eindruck auf euch gemacht.“
Dörte zuckte die Achseln. „Ganz ansehnlich ist er ja …“
„… aber wie man so hört, lässt er auch nichts anbrennen“,
ergänzte Rena.
Dörte sah ihre Schwester mit erstauntem Gesicht an.
„Das braucht deine Sorge nicht zu sein – oder?“
Hinnerk Husmann war vor einiger Zeit in Greetsiel aufgetaucht
und hatte eine Tauchschule eröffnet. Ekhoff hatte es erst gar nicht
gefallen, dass dadurch mehr Touristen in die Gegend gezogen wurden.
Misstrauisch hatte er das Kajütboot Husmanns betrachtet und schon
geargwöhnt, dass das Treiben des Neulings vielleicht negative
Folgen für den Fischfang haben könnte. Inzwischen war er zu der
Erkenntnis gelangt, dass die Nordsee vielleicht doch groß genug für
sie beide war.
„Nun verdreht mal nicht vollends eure Hälse“, meinte Ekhoff
schließlich, während seine beiden Töchter dem weißen Kajütboot
nachblickten. „Oder wollen wir den Fang heute in der Reuse
lassen?“
Die beiden Mädchen lachten und dann machten sich die drei ans
Werk.
2
Es dämmerte schon, als Ekhoff mit seinen Töchtern zum
heimatlichen Fischerhaus zurückkehrte. Es lag idyllisch am Ufer des
Siels. Ein schmucker Bootssteg führte ins Wasser hinein.
Und ganz in der Nähe befanden sich ein paar
Räucherstuben.
Schon von Weitem sah Coord Ekhoff, dass zwei Personen auf dem
Bootssteg waren und ihnen zuwinkten. Die eine Person war seine
Frau. Und bei der anderen handelte sich um Jasper Frerich.
„Scheint, als wäre Besuch für dich da“, brummte Ekhoff zu
Rena. „Jedenfalls nehme ich an, dass Frerich deinetwegen gekommen
ist …“ Ekhoff seufzte. „Musste es denn ausgerechnet einer von denen
sein?“
„Ach, Papa! Hast du irgendetwas gegen Jasper vorzubringen? Er
ist ein ehrlicher arbeitsamer junger Mann – und für das, was damals
unserem Bruder passiert ist, kann er nichts!“
Das Gesicht Ekhoffs wurde düster.
„Eingebildet ist er, der Sohn des Kutterfischers! Hält sich
wohl für was Besseres als unsereins!“
„Das ist nicht gerecht, was du jetzt sagst!“, entgegnete Rena
sehr ernst.
Vor Jahren hatte Ekhoff neben seinen beiden attraktiven
Töchtern auch einen Sohn gehabt. Derk hatte er geheißen.
Zusammen mit Sören, Frerichs älterem Sohn, war er zu einer
ausgedehnten Wattenmeertour aufgebrochen. Die beiden jungen Männer
waren in die aufkommende Flut hineingeraten und nicht
zurückgekehrt. Später hatte man sie beide nur noch tot bergen
können. Seitdem war Ekhoff nicht gut auf alles zu sprechen, was den
Namen Frerich trug, denn er machte Sörens Leichtsinn für den Tod
seines Sohnes verantwortlich.
Allein, so pflegte er immer zu sagen, hätte Derk sich niemals
auf ein so riskantes Unternehmen eingelassen.
Und nun ging seine Tochter mit dem jüngeren Sohn des
Kutterfischers! Selbst von einer Verlobung war schon die
Rede!
Ekhoff konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihre beiden
Familien auf diese Weise miteinander verbunden sein sollten. Allein
der Gedanke daran war ihm schon unerträglich, denn jedes Mal, wenn
er Jasper sah, wurde er an diese tragische Geschichte erinnert. Die
Wunde in seinem Inneren, die nur sehr langsam heilen wollte, wurde
dann immer wieder aufs Neue aufgerissen.
Erschwerend kam noch hinzu, dass Jasper Frerich seinem älteren
Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten war und sich darüber hinaus
in seiner Freizeit auch, genau wie dieser, als eifriger
Wattenmeergänger betätigte.
Unwillkürlich ballte Ekhoff die Hände zu Fäusten, als er
Jasper auf dem Steg stehen sah.
Kann er sich nicht ein anderes Mädchen aussuchen?, ging es dem
Fischer ärgerlich durch den Kopf. Muss es denn ausgerechnet meine
Rena sein?
Andererseits war Coord Ekhoff Realist genug, um zu wissen,
dass er nichts dagegen unternehmen konnte. Aber vielleicht, so
hoffte er nach wie vor, würde das Mädchen doch noch zur Besinnung
kommen und sich anderswo nach einem geeigneten Mann
umschauen.
Manchmal wünschte er sich sogar, dass Rena etwas mehr von der
Leichtlebigkeit ihrer Schwester gehabt hätte. Dann hätte sie den
Fischersohn längst vergessen, davon war er überzeugt.
„Ich sage dir, der ist nichts für dich!“, meinte er, obwohl er
wusste, dass Rena ihm kaum zuhören würde. „Jasper ist genauso
leichtsinnig wie sein Bruder war. Du willst es nur nicht
wahrhaben!“
„Weil es auch nicht der Wahrheit entspricht, Papa!“, versetzte
Rena bestimmt.
„Mädchen, Mädchen! So gut kannst ihn noch gar nicht kennen“,
schüttelte Ekhoff den Kopf. „Jasper ist doch mit dem goldenen
Löffel geboren. Genau wie sein Bruder! Und nur deshalb ist er so
leichtsinnig. Lass dir das gesagt sein.“
„Ach, Papa! Wenn du die Vergangenheit doch nur vergessen
könntest!“
„Vergessen?“, fragte Ekhoff etwas unwirsch. „Du sprichst von
deinem Bruder!“
Rena seufzte. „Das vergesse ich schon nicht. Darauf kannst
dich verlassen! Aber ein bisschen freundlicher könntest du trotz
alledem zu Jasper sein.“
Das Boot erreichte bald den Steg. Rena sprang an Land und
machte es mit geschickten Handgriffen fest.
Ihre Mutter begrüßte die Ankömmlinge mit einem herzlichen
Lächeln. „Früh seid ihr diesmal zurück“, stellte Neele Ekhoff fest.
„Ich hoffe nur, dass auch etwas in den Reusen war!“
„Ja, ein bisschen war es schon“, murmelte Rena und blickte
geradewegs an ihrer Mutter vorbei.
„Ja, du hast Besuch, mein Kind“, kommentierte Neele. Dann
beugte sie sich etwas vor und murmelte in gedämpftem Tonfall: „Tu
mir einen Gefallen und lass es heute Abend nicht zu spät werden
…“
„Nein, das wird es schon nicht“, erwiderte Rena.
Und diese Erwiderung hatte ihren guten Grund.
In letzter Zeit hing zwischen den beiden nämlich ein bisschen
der Haussegen schief. Nicht, dass sie sich lauthals gestritten
hätten, aber Jasper redete dauernd vom Heiraten und das Mädchen war
sich einfach nicht sicher, ob sie dazu schon bereit war. Irgendwie
fühlte sie sich für solche Gedanken noch ein bisschen zu jung. Erst
einmal etwas vom Leben haben, bevor man sich die ganze
Verantwortung auf den Hals lädt!, sagte eine Stimme in Rena. Es gab
da noch eine zweite, widerstreitende Stimme, der es eigentlich kaum
schnell genug damit gehen konnte, vor den Altar zu treten und einen
eigenen Hausstand zu gründen. Aber die zweite Stimme war im Moment
noch die Schwächere.
„Moin, Jasper“, seufzte sie, als sie Frerichs Sohn
gegenüberstand. „Nett, dass du vorbeischaust …“
Einträchtig gingen sie den Steg entlang und erreichten
schließlich das feste Land.
Jasper Frerich war ein attraktiver junger Mann.
Hochgewachsen, mit breiten Schultern und hellwachen Augen, mit
denen er das Mädchen begehrlich anblickte.
„Ja, selbst in deiner Arbeitskleidung siehst du hübsch aus,
Rena“, meinte er anerkennend. „Und die ist ja nun nicht gerade
figurbetont …“
„Ach komm, Jasper!“
„Das war als Kompliment gemeint!“
Rena lächelte. „Ich habe es auch so aufgefasst. Aber du
übertreibst damit ein bisschen!“
„Ich sehe das schon richtig.“
„Ich werde mich trotzdem erst mal umziehen, bevor wir zwei was
unternehmen … und ich denke, da wirst du wohl kaum etwas dagegen
einzuwenden haben!“
Eine halbe Stunde später spazierten die beiden etwas abseits
des Fischerhauses am Ufer entlang. Die Nordseewellen um Greetsiel
herum strahlten in den unterschiedlichsten Rottönen. Die Sonne sank
immer tiefer und würde bald hinter der Kimm verschwinden. Die
Gestalten der beiden jungen Menschen warfen lange Schatten auf den
Boden.
Hand in Hand gingen die beiden jungen Leute eine ganze Weile
lang schweigend am Ufer entlang. Die einsetzende Flut kräuselte die
Wasseroberfläche und begann, kleinere Wellen zu erzeugen, die sich
unaufhaltsam das Ufer hinauf bewegten.
„Ich verstehe nicht, warum du die Sache noch so weit
hinauszögern musst, Rena“, begann Jasper schließlich mit dem Thema,
das das Mädchen schon die ganze Zeit über gefürchtet hatte und
dessentwegen sie sich auch gar nicht mehr so richtig auf die
Treffen mit dem attraktiven Fischersohn freute. „In ein oder zwei
Monaten könnten wir heiraten! Ja, das würde ein Fest …“
„Ach, Jasper – hat das nicht noch Zeit?“
„Aber wenn man sich doch liebt!“
„Auf der einen Seite hast du ja recht – aber …“
Rena sprach nicht weiter. Sie stockte und brach ab. Zu
ungeordnet waren die Gedanken in ihr, als dass etwas über ihre
Lippen kommen würde, das sie später vielleicht bereut hätte.
Sie wollte Jasper nicht verletzen. Und eigentlich mochte sie
ihn ja auch wirklich gern.
Könnte er mir nicht einfach ein bisschen mehr Zeit lassen?,
ging es dem Mädchen durch den Kopf. Sie konnte es nicht ausstehen,
zu etwas gedrängt zu werden. Das war schon als Kind so gewesen, und
ihre Eltern hatten das hin und wieder seufzend zur Kenntnis nehmen
müssen.
„Aber was?“, hakte Jasper jetzt nach.
Sie blieben stehen.
Ihre Blicke trafen sich. Jasper fasste sie bei den
Schultern.
Auf seiner Stirn stand eine ernste Falte.
Rena öffnete halb die Lippen. Sie wollte etwas sagen, brachte
aber nicht einen einzigen Ton heraus. Ein Kloß saß ihr im
Hals.
„Es ist wegen deines Vaters, nicht wahr?“, stellte Jasper dann
fest.
„Na …“
„Gib es doch ruhig zu! Wir zwei können doch ehrlich
miteinander sein! Ich nehme nicht an, dass dein Vater dir gegenüber
anders redet, als er es sonst im Ort tut, wenn er zum Beispiel beim
Wirt am Tresen sitzt!“
„Jasper …“, versuchte Rena ihren Freund zu beruhigen.
Aber das war im Grunde sinnlos.
Eigentlich hatte er ja recht, was Ekhoffs Einstellung
anging.
Nur stimmte es nicht, dass diese nun etwa der tiefere Grund
dafür gewesen wäre, dass Rena bislang auf Jaspers Heiratsabsicht
eher zurückhaltend reagiert hatte. Über die Ablehnung ihres Vaters
hätte sich das willensstarke Mädchen notfalls hinweggesetzt.
Irgendwann, so war ihre Überzeugung, hätte der dann schon seinen
Groll aufgegeben. Spätestens dann, wenn sich Enkel
einstellten.
„Dein Vater glaubt, dass ich genauso wäre wie mein Bruder. Das
ist doch richtig, oder? Und den macht er für den Tod seines Sohnes
verantwortlich – obwohl Derk gewiss ein genauso risikofreudiger
Wattenmeergänger gewesen ist wie Sören!“
„Ja, das mag schon sein, Jasper!“
„Mache ich vielleicht deine ganze Familie dafür
verantwortlich, dass mein Bruder im Meer ums Leben gekommen ist?
Das ist doch einfach lächerlich so etwas. Die zwei waren Freunde,
haben sich in Gefahr begeben und leider das Risiko falsch
eingeschätzt. Das ist alles. Und so traurig das auch sein mag –
aber soll diese Geschichte vielleicht die Zukunft vergiften? Unser
Leben?“
„Ach, Jasper …“
„Dein Vater wird schon über seinen Schatten springen“, war der
Fischersohn überzeugt. Ihrer beider Blicke trafen sich,
verschmolzen für Augenblicke miteinander. Rena hatte in diesem
Moment fast das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können. Er hingegen
schien nichts von dem erfasst zu haben, was in ihr vorging.
Rena seufzte.
„Mit meinem Vater hat das nichts zu tun“, sagte sie
dann.
Jasper sah sie etwas erstaunt an.
Einen Augenblick lang sagte er kein Wort. Dann ließ er ihre
Schultern los.
„Womit dann?“, fragte er nach. „Bist du dir vielleicht doch
nicht so sicher, ob du mich liebst? Glaubst du vielleicht, dass da
noch was Besseres kommt?“
Jasper atmete tief durch. Es war ihm anzusehen, wie sehr er
innerlich aufgewühlt war.
„Jasper, wie kannst du nur so etwas denken!“, erwiderte Rena.
„Natürlich liebe ich dich … Ich möchte nur, dass wir uns etwas mehr
Zeit geben. Wir sind doch jung! Läuft uns die Hochzeit vielleicht
davon?“
Jasper schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe dich nicht, Rena. Tut mir leid.“ Er schüttelte
wütend den Kopf.
Nun war es also richtig zum Streit zwischen ihnen beiden
gekommen. Das hatte Rena immer befürchtet. Deswegen war sie auch
Jasper gegenüber bislang nicht mit der vollen Wahrheit
herausgekommen.
Doch nun war es geschehen. Und Worte, die einmal gesprochen
waren, konnte man nicht wieder zurückholen.
„Ich frage mich, was wirklich hinter deiner Zögerlichkeit
steckt, Rena, oder besser gesagt: wer!“
„Jasper!“
„Ja, man muss doch nur eins und eins zusammenzählen, um darauf
zu kommen …“ Jasper fasste sich an den Kopf. „Nun ergibt alles
plötzlich einen Sinn!“
„Jasper! Das ist doch nicht wahr, was du da sagst!“
„Ach nein?“
Jasper hatte die Hände zu Fäusten geballt.
„Lass uns doch in Ruhe über alles reden. Was ist schon dabei,
wenn wir die Sache nicht so überstürzen?“
„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir alles noch einmal
überdenken, Rena.“
„Was soll das heißen?“, fragte Rena tonlos.
„Genau das, was ich gesagt habe. Nicht mehr und nicht
weniger.“
„Aber da ist wirklich kein anderer, Jasper! Das musst du mir
glauben!“
Rena nestelte am Jackenkragen von Jasper Frerich herum.
Dieser knurrte etwas Unverständliches vor sich hin.
„Ja, lange kannst mir doch sowieso nicht böse sein, Jasper!
Also lass es besser ganz!“
„Ganz verrückt machst du mich!“, erwiderte Jasper. Aber sein
Gesicht war schon wesentlich weniger ärgerlich. Doch ein gewisses
Misstrauen blieb. Und Rena wusste nur zu gut, dass sie dies auch
nicht im Handumdrehen ausräumen konnte.
Schließlich gab sich Jasper einen Ruck. Er legte den Arm um
Rena, und sie schmiegte sich an seine Schulter.
„Du musst nicht alles ernst nehmen, was ich so daher rede“,
meinte er dann. „Aber die Sache hat mich so aufgewühlt … Im Grunde
will ich doch nichts anderes, als mit dir zusammen glücklich
werden, Rena.“
3
Hinnerk Husmann blickte von der Veranda seiner Tauchschule aus
auf die abendliche Nordsee. Das Kajütboot, mit dem er seine
Tauchschüler hinausfuhr, lag gut vertäut an der Anlegestelle. Eike
Janssen, sein Gehilfe, hielt eine Angel in der Hand, aber das Glück
war ihm nicht hold. Immer wieder warf er den Köder aus, aber an
diesem Abend war es wie verhext. Er bekam nichts an den
Haken.
„Lass es gut sein, Eike!“, rief Hinnerk. „Heute fängst du doch
nichts mehr!“
Eike Janssen sah das etwas später selbst ein. Er rollte die
Angelschnur ein und kehrte in Richtung der Tauchschule
zurück.
Hinnerk Husmann hatte sie in einem leerstehenden Fachwerkhaus
eingerichtet, das zuvor schon jahrelang leer gestanden hatte.
„Ja, was machst denn für ein griesgrämiges Gesicht, Hinnerk?“,
meinte Eike. Er war einige Jahre älter als sein Arbeitgeber und
hatte zuvor als Seemann auf einem der Fischkutter gearbeitet. „Das
Geschäft geht doch nicht schlecht!“
„Hast du eine Ahnung“, murmelte Hinnerk, und sein Gesicht
verfinsterte sich dabei etwas.
Eike sah Hinnerk verwundert an.
„Ja, was soll das denn heißen? Waren denn nicht genug
Touristen auf dem Boot, die sich die Taucherei zeigen lassen
wollten? Mehr hätten wir doch kaum verkraften können – es sei denn,
du stellst noch ein paar Hilfskräfte ein. Aber so leicht wird wohl
niemand zu finden sein, der genug vom Tauchen versteht …“
„Unsere Kosten sind einfach zu hoch, Eike. Und jetzt am Anfang
drückt natürlich auch noch ein Berg Schulden. Ich muss mir was
überlegen.“
„Ich versteh das nicht“, schüttelte Eike den Kopf. „Die
Tauchschule ist doch gut angelaufen.“
„Nicht gut genug, Eike“, entgegnete Hinnerk Husmann. „Ich will
dir keine Angst machen, aber die Situation ist so ernst, dass es im
Handumdrehen vorbei sein kann.“
„Ich würde das sehr bedauern“, meinte Eike dann, nachdem er
einmal tief durchgeatmet hatte. „Schon deshalb, weil ich die Arbeit
sehr gerne mache … aber wenn‘s hart auf hart kommt, dann kann ich
jederzeit bei einem Fischer wieder anfangen!“
„Ich hoffe nicht, dass es soweit kommt!“
Eike Janssen nickte. „Es wird sich schon eine Lösung
ergeben.“
„Dein Wort in Gottes Ohr!“
„Mit ein bisschen mehr Zuversicht lebt es sich doch
entschieden leichter!“
Hinnerk Husmann schwieg dazu, dachte sich aber seinen Teil. Du
hast gut reden!, ging es ihm durch den Kopf. Dein Geld ist es ja
auch nicht, von dem alle Ausgaben bestritten werden müssen!
Dass es am Anfang nicht leicht sein würde, so ein Geschäft
aufzubauen, damit hatte er gerechnet.
Aber dass er schon nach so kurzer Zeit mit einem Bein im Ruin
stand, das konnte er selbst noch kaum glauben. Doch die Zahlen
waren eindeutig.
So oft er darin auch herumrechnete, sie wurden dadurch einfach
nicht rosiger. Sollte ich mich wirklich so verschätzt haben?, ging
es ihm durch den Kopf. Das Tauchen war seine Leidenschaft und
vielleicht hatte ihn das blind und leichtsinnig gemacht.
„Vergiss nicht, das das größte Kapital für uns dort liegt“,
hörte er nun die ermunternde Stimme seines Gehilfen, der bei diesen
Worten hinaus auf das Wasser deutete. „Es dürfte kaum ein Gewässer
mit so vielen Möglichkeiten geben. Ein Paradies für jeden
Taucher!“
„Ja, ich weiß“, seufzte Hinnerk. „Aber was auch immer werden
wird – dieser Tag ist erst mal vorbei … Für heute ist jedenfalls
Feierabend, ich werde versuchen, keinen Gedanken mehr an die Zahlen
zu verschwenden!“
Das war natürlich ein Wunsch, der sich wahrscheinlich nicht
realisieren ließ. Die Sorgen würden Hinnerk Husmann nicht
loslassen, so sehr er sich das auch gewünscht hätte.
Eike nickte und verabschiedete sich.
Einen Augenblick später hörte Hinnerk ihn mit dem Wagen
davonfahren.
Nachdenklich blickte Hinnerk Husmann dann eine ganze Weile auf
das weiße Kajütboot. Ein schöner Anblick, wie es da am Steg lag.
Hinnerk hatte viel in das Boot investiert. Ich hoffe nur, dass ich
das alles halten kann!, ging es ihm durch den Kopf.
4
Als Dörte Ekhoff die Tauchschule an diesem Abend erreichte,
sah sie Hinnerk Husmann in der Nähe des Stegs. Dörte war am
Flussufer entlanggegangen.
Aber es war durchaus kein Zufall, dass ihr Spazierweg sie
geradewegs an der Tauchschule vorbeiführte. Sie hatte gehofft,
Hinnerk hier zu treffen. Natürlich sollte es ganz zufällig
aussehen.
Und wie es schien, sollte das Mädchen Glück haben.
Hinnerk Husmann war sogar allein!
Dörtes Herz schlug etwas schneller.
Seit sie Hinnerk zum ersten Mal gesehen hatte, musste sie
dauernd an ihn denken. Immer wieder kreisten ihre Gedanken und
Empfindungen um diesen Fremden, der zur Nordseeküste gekommen war,
um hier Touristen das Tauchen beizubringen. Gut sieht er aus!,
dachte Dörte. Das dunkelblonde, leicht gewellte Haar, die
hochgewachsene Gestalt …
Jetzt nur nicht den Mut verlieren!, ging es ihr durch den
Kopf.
Die Mädchen aus Greetsiel waren ganz verrückt, seit Hinnerk
Husmann in die Gegend gekommen war. Und fast immer sah man ihn in
Begleitung. In der Disco rissen sich die jungen Frauen geradezu um
die Chance, mit Hinnerk über die Tanzfläche zu wirbeln. Er war
inzwischen überall als heiterer, geselliger Mensch bekannt, der
gerne scherzte und ein gekonnter Süßholzraspler war. Aber
festgelegt hatte er sich bislang wohl noch nicht. Jedenfalls hoffte
Dörte, dass es so war.
Sie fasste sich ein Herz und ging weiter.
„Hallo“, grüßte sie, als er sich eher zufällig nach ihr
umdrehte.
Er nickte ihr zu.
„Hallo!“ Sein Lächeln wirkte sympathisch. Der Blick seiner
braunen Augen ging Dörte durch und durch. „So allein am
Abend?“
„Ja, es ist nichts los heute im Ort.“
„Da sprichst du ein wahres Wort!“
„Aber das größte Schauspiel findet sowieso täglich hier
statt.“ Sie deutete zur Kimm, hinter der die Sonne inzwischen
versunken war.
„Du meinst den Sonnenuntergang in der Nordsee?“
„Ja. Ich glaube, mir wird es auch in Jahren noch nicht
langweilig, das anzuschauen!“
Hinnerk zuckte die Achseln. „Ich bin zwar noch nicht so lange
hier, aber ich kann wohl nachempfinden, was du meinst.“
Er zog ein wenig die Augenbrauen zusammen, als er sie
musterte.
„Bist du nicht Rena Ekhoff?“, fragte er dann. „Die Tochter des
Fischers?“
Dörtes Gesicht wurde dunkelrot, teilweise vor Scham, zum
anderen Teil aus Wut.
„Nein, ich bin nicht Rena!“, erwiderte sie, wobei sie sich
große Mühe geben musste, einen gekränkten Unterton zu verbergen.
Das fing ja gut an! Verwechselte dieser Mann sie einfach mit ihrer
Schwester!
Bin ich denn so unscheinbar?, ging es ihr ärgerlich durch den
Kopf.
Im Allgemeinen war es so, dass sie die Kontaktfreudigere und
Mutigere von beiden war, so dass man ihren Namen auch schneller in
Erinnerung behielt. Dass es mal umgekehrt sein könnte, passte Dörte
überhaupt nicht.
„Ja, aber …“
„Ich bin Dörte Ekhoff, nicht Rena. Das ist meine
Schwester!“
„Tut mir leid, dann habe ich euch wohl verwechselt!“
Dörte versuchte so zu tun, als hätte ihr das überhaupt nichts
ausgemacht. Sie zuckte die schmalen Schultern und meinte: „Woher
solltest du dich auch an mich erinnern? Wir haben uns ja auch beim
Fischerfest letzte Woche nur einen Tanz lang in den Armen
gehalten.“
Ein bisschen Verschnupftheit klang nun aber doch aus ihren
Worten heraus.
Und Hinnerk bemerkte das.
Er sah sie an.
„Ja, ich habe vielleicht den Namen verwechselt – aber das
Gesicht, das habe ich nicht vergessen!“, behauptete er. „Ich meine,
was ist schon ein Name? Es gibt sogar hier in Greetsiel mehrere
Mädchen, Rena oder Dörte heißen! Aber mit einem Gesicht ist das
etwas ganz anderes. Das ist einmalig. Und deines ganz
besonders.“
Dörte hob den Kopf.
„Ach, das sagst du jetzt so …“
„Ich sage nichts, was ich nicht auch so meine!“, erwiderte
Hinnerk im Brustton der Überzeugung.
„Ach, wirklich?“
Sie mussten beide lächeln.
„Natürlich!“, bekräftigte Hinnerk.
„Komisch, aber dir geht da ein ganz anderer Ruf voraus,
Hinnerk!“
Er näherte sich ihr etwas. Sie standen jetzt nur noch etwa
einen Schritt voneinander entfernt. Der Anfang ist gemacht!, dachte
Dörte. Er sah sie auf eine Weise an, die ihr gefiel.
Sie glaubte Schmetterlinge in ihrem Bauch zu haben.
Und gleichzeitig erhob sich eine warnende Stimme in ihrem
Inneren. Sei auf der Hut!, sagte diese Stimme. Du wärst nicht die
Erste, die auf dieses umwerfende Lächeln schon hereingefallen ist
und anschließend keinen freien Willen mehr hatte.
„Ja, wie das so ist, wenn ein Fremder in ein Dorf wie
Greetsiel kommt“, meinte Hinnerk dann, während Dörte wie gebannt an
seinen Lippen hing. Der Klang seiner Stimme schien sie zu
verzaubern. „Es wird eben viel geredet über den, der als Fremder
kommt! Das ist gewissermaßen ein Naturgesetz. Aber ich kann dich
beruhigen! Das meiste von dem, was du wahrscheinlich gehört hast,
stimmt nicht!“
„Dass du ein Süßholzraspler erster Klasse bist, stimmt aber!“,
erwiderte Dörte in gedämpftem Tonfall. „Davon habe ich mich heute
selbst überzeugen können …“
Hinnerk zuckte die Achseln. „Was bleibt mir anderes übrig –
wenn ich unverhofft einem so schönen Mädchen begegne?“
„Jetzt tust du es wieder!“
„Natürlich – ich werde durch deine Anwesenheit förmlich dazu
gezwungen!“
Sie lachten beide.
Und dann verschmolzen für einem Moment ihrer beider Blicke
miteinander.
Sie schwiegen, lauschten einen Augenblick den Wellen, die die
Flut vom Meer auf der Seeoberfläche bildete und in einem steten
Rhythmus ans Ufer spülte.
„Es freut mich sehr, dass wir uns heute Abend hier getroffen
haben“, sagte Hinnerk dann. Und das meinte er wirklich so, denn
Dörtes Anwesenheit hatte genau das bewirkt, wonach er sich zuvor so
gesehnt hatte.
Hinnerk hatte die Sorgen, die ihn plagten, für eine kurze Zeit
vollkommen vergessen.
„Es muss dabei nicht bleiben“, sagte sie dann. „Ich komme
öfter hier vorbei …“
„Warum habe ich dich dann nie bemerkt?“
„Vielleicht, weil du die Abende gewöhnlich in der Kneipe
verbringst!“ Dörte atmete tief durch. „Jetzt muss ich jedenfalls
wieder gehen“, sagte sie, obwohl sie eigentlich noch ganz gerne
geblieben wäre. Aber sie wollte sich ihm auf keinen Fall
aufdrängen. Umgekehrt sollte es sein! Hinnerk sollte an ihrer Angel
zappeln wie ein geköderter Fisch! Sie berührte ihn leicht am Arm.
„Mach‘s gut“, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
„Bis Morgen!“, rief ihr Hinnerk Husmann nach, nachdem sie
schon einige Meter hinter sich gebracht hatte. Dörte drehte sich
noch einmal um, sagte nichts, sondern lächelte nur.
5
Es war schon spät, als Jasper Frerich an diesem Abend nach
Hause kam. Die Sonne war längst untergegangen, und seine Mutter
hatte sich schon ein wenig Sorgen gemacht.
Ihr Mann hatte sie zu beruhigen versucht.
„Der Junge ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Du
solltest dich deswegen nicht verrückt machen!“
Aber inzwischen war Mitternacht vorbei. Und selbst, wenn
Jasper in die Kneipe ging, war er nie so lange weggeblieben.
Als er das Wohnzimmer betrat, wirkte Jasper sehr in sich
gekehrt und niedergeschlagen.
Der Fischer und seine Frau saßen an einem großen, rustikalen
Holztisch und sahen ihn fragend an.
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte
Frerich.
„Es ist nichts“, brummte Jasper.
Mit seinem Vater konnte er nicht darüber reden, dass der Abend
mit Rena nicht so verlaufen war, wie der junge Fischersohn sich das
eigentlich vorgestellt hatte. Zwar wusste Frerich, dass sich sein
Sohn hin und wieder mit der Tochter des Reusenfischers traf, aber
begeistert war er davon nicht.
Allein der Name Ekhoff erinnerte ihn an den schmerzlichen
Verlust seines älteren Sohnes. Ein Verlust, der durch nichts zu
ersetzen war.
Die Mutter sah ihren Sohn prüfend an.
„Ist es wegen des Mädchens?“, schloss sie messerscharf.
Jasper wich ihrem Blick aus.
Aber seine Mutter kannte ihn nur zu gut. Ihr etwas vorzumachen
war für Jasper nahezu unmöglich.
„Ja …“
„Nun setz dich mal und heraus mit der Sprache!“, forderte
Witta Frerich. „Habt ihr Streit, Rena und du?“
„Ich weiß nicht …“
„Was weißt du nicht, Junge?“
„Sie meint, dass wir uns noch Zeit lassen sollen mit dem
Heiraten. Aber ich bin da ganz anderer Ansicht. Und mittlerweile
weiß ich nicht mehr, ob ihre plötzliche Zurückhaltung nicht einen
anderen Grund hat.“
Witta Frerich hob die Augenbrauen.
„Was meinst du denn damit?“
Er zuckte die Achseln. „Vielleicht muss ich auch erst mal eine
Nacht über alles schlafen“, meinte er dann. Aber insgeheim wusste
er, dass er am nächsten Morgen auch nicht glücklicher sein würde.
Nachdem er und Rena auseinandergegangen waren, hatte Jasper noch
einen weiten Umweg gemacht und hatte dabei nachgedacht. Zu einem
Ergebnis war er allerdings bislang nicht gekommen.
Was soll ich tun?, fragte er sich.
Er liebte Rena von ganzem Herzen.
Aber auf der anderen Seite fraß das Misstrauen an ihm. Er
glaubte ihr einfach nicht, dass die Tatsache, dass das Mädchen mit
dem Heiraten noch warten wollte, nichts mit der Person des jungen
Tauchlehrers zu tun hatte.
„Ja, such dir ein anderes Mädchen, Junge!“, meinte der Vater.
„Es gibt doch genug attraktive junge Frauen hier im Tal, du bist
doch nicht auf Rena Ekhoff angewiesen!“
Jasper seufzte.
„Wenn das so einfach wäre“, meinte er. Aber sein Herz hatte da
auch ein Wörtchen mitzureden und das sprach eine ganz eindeutige
Sprache.
Jasper wünschte seinen Eltern eine gute Nacht.
Er hatte keine Lust, sich noch länger über die leidige
Angelegenheit zu unterhalten.
„Willst du nicht noch etwas essen?“, fragte die Mutter.
Jasper schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich habe keinen
Hunger“, behauptete er und ging dann die Treppe hinauf, die zu
seiner Kammer führte.
Witta Frerich sah ihren Mann mit besorgtem Gesicht an.
„Der Junge ist nicht wiederzuerkennen!“, meinte sie. „Früher
hat er solche Dinge doch immer viel leichter genommen.“
„Ja, Rena Ekhoff hat ihm wohl ganz gehörig den Kopf verdreht.
Viel mehr, als wir vielleicht ahnen.“
„Wenn man mal davon absieht, dass sie aus einer Familie kommt,
gegen die du gewisse Vorbehalte hast, dann ist doch eigentlich
gegen das Mädchen auch nichts einzuwenden, finde ich“, meinte Witta
Frerich. Und dann legte sie, als sie den erstaunten
Gesichtsausdruck ihres Mannes sah, ihre schmale Hand auf die seine
und lächelte ihn zärtlich an. „Ich glaube, du brauchst dir keine
Sorgen zu machen. So, wie es ausschaut, wird sowieso nichts aus den
beiden! Jedenfalls kein Paar!“
6
„Erzähl mal, Schwesterherz! Wo bist du denn mit Jasper
gewesen?“, erkundigte sich Dörte aufgeregt, als die beiden
Schwestern noch sehr spät bei Rena im Zimmer saßen. Das taten sie
oft. Und dann teilten sie ihre großen und kleinen Geheimnisse
miteinander.
„Ach, nichts besonderes“, meinte Rena mit einer wegwerfenden
Handbewegung. „Es ist so, dass es Jasper einfach nicht abwarten
kann …“
„Was – abwarten?“
„Nein, dass wir heiraten. Er redet von nichts anderem.“
„Er hat dich also gefragt!“
„Ja …“
„Und was hast du ihm gesagt? Die Hochzeit werdet ihr dann wohl
auf dem Frerich-Anwesen feiern müssen. Ich glaube nicht, dass Papa
so schnell seine Meinung über Jasper ändern wird.“
„Ach, Dörte!“, erwiderte Rena mit tadelndem Unterton.
Die spontane, lebendige Art und Weise ihrer Schwester ging ihr
manchmal auch etwas auf die Nerven. Vor allem hatte sie so eine Art
des Auftretens, dass man ihr nach und nach alles erzählte, was sie
wissen wollte.
„Du hast ihm doch keinen Korb gegeben, oder?“, fragte Dörte.
„Jasper ist der reichste Fischersohn in der Umgebung. Und attraktiv
ist er noch obendrein!“
„Nein, aber ich will noch nicht heiraten, Dörte. Erst noch …
etwas erleben, verstehst du, was ich meine?“
Dörte lächelte hintergründig. „Natürlich verstehe ich
das.“
Rena zuckte die Achseln. „Ich glaube, Jasper versteht das gar
nicht. Ich habe versucht, ihm zu das erklären, aber …“
„Ich wollte dir das nie so direkt sagen, aber …“
„Was?“, hakte Rena nach.
Dörte drehte mit dem Zeigefinger in ihrem Haar herum. Sie
zuckte die Schultern.
„Vielleicht ist er auch nicht der Richtige für dich!“
Rena machte eine wegwerfende Geste. „Ja, bei jeder anderen
würde ich darüber jetzt sehr ernsthaft nachdenken, aber bei dir
…“
Dörte tat sehr empört. „Wieso?“
„Ach komm, Dörte, das sagst du doch nur, weil du den
attraktiven Jasper am Ende für dich selbst willst! Ich kenne dich
doch!“
Die Mädchen lachten beide herzhaft und ziemlich laut.
Dann schraken sie plötzlich zusammen, und Dörte legte einen
Finger vor ihre Lippen. „Nicht ganz so laut, Schwesterherz, wir
sind schließlich die einzigen, die im Moment in diesem Haus noch
auf den Beinen sind!“
„Also gut.“
Dörte seufzte. Sie sah ihre Schwester unverwandt an und wurde
wieder ernst.
„Du kannst ganz beruhigt sein, aber für mich ist Jasper
nichts. Ganz bestimmt nicht!“
Rena atmete tief durch. Ihr Blick war jetzt nach innen
gerichtet. „Ich weiß ja im Moment nicht einmal mehr, ob ich ihn
selbst noch möchte …“ Dann hob sie den Kopf und blickte ihrer
Schwester direkt in die Augen. „Aber was ist mir dir?“, fragte sie.
„Wo warst du denn heute Abend?“
„Naja …“
„Was heißt hier naja? Irgendwo wirst du doch gewesen sein,
auch wenn Mama den Eindruck hatte, du wärst wie vom Erdboden
verschluckt gewesen. Und erzähl mir jetzt bloß nicht, dass du
mutterseelenallein am Strand spazieren gegangen bist und den
Anblick der Nordsee genossen hast!“
Dörtes Gesichtsausdruck veränderte sich.
Ihre Augen begannen zu leuchten und eine sanfte Röte überzog
ihre Haut. So manchem mag sie ja etwas vormachen können, dachte
Rena bei ihrem Anblick. Aber mir nicht. Bis über beide Ohren
verliebt ist sie! Fragt sich nur in wen.
„Wer ist es?“, fragte Rena dann. „Etwa Hinnerk Husmann?“
Dörte zuckte zusammen.
„Quatsch, Rena, wo denkst du hin? Meinst du, ich habe Lust,
mich in eine lange Schlange zu stellen, um mal geküsst zu werden?
Nein, nein!“
„Und wer dann?“
„Einstweilen ein Geheimnis, Schwesterherz!“
„Das ist nicht fair!“, protestierte Rena. „Ich offenbare dir
mein Innerstes und du …“
„Gib mir noch ein bisschen Zeit damit, Rena. Was du vom Jasper
verlangst, wirst du mir jetzt wohl auch nicht abschlagen können,
oder?“
Dörte sah auf die Uhr.
Dann meinte sie: „Es ist schon spät. In aller Frühe müssen wir
raus und die Reusen kontrollieren. Besser, wir schlafen jetzt ein
bisschen, sonst fallen wir morgen vielleicht tatsächlich ins
Wasser.“
Rena nickte und erhob sich von dem groben Holzstuhl, auf dem
sie gesessen hatte.
„Gute Nacht, Schwesterherz“, sagte sie.
„Gute Nacht.“
Als Rena die Kammer ihrer Schwester verlassen hatte, lag Dörte
noch lange wach da, starrte gegen die Decke und sah vor ihrem
inneren Auge sein Gesicht.
Das Gesicht Hinnerk Husmanns.
Ja, was für ein toller Typ!, dachte sie.
Aber ihr war klar, dass sie noch einiges auf die Beine stellen
musste, wenn sie ihn wirklich für sich gewinnen wollte. Und solange
sie das noch nicht hundertprozentig geschafft hatte, wollte sie
auch mit niemandem darüber reden. Nicht einmal mit ihrer Schwester,
mit der sie sonst alles teilte.
7
Als Dörte am Morgen erwachte, hatte sie das Gefühl, die ganze
Nacht kein Auge zugemacht zu haben. Ihr Kopf war voll von Gedanken.
Und die meisten davon drehten sich um Hinnerk Husmann.
Ja, sei nicht verrückt!, versuchte sich selbst zu sagen. So
verliebt sie auf der einen Seite auch war, so gefiel es ihr doch
andererseits nicht, dass ein Mann sie derart konfus machte.
Der Morgen verging mit Arbeit auf der Fischerei. Aber alle,
die ihr begegneten, bemerkten sehr wohl den besonderen Glanz ihrer
Augen und das verhaltene Lächeln, das ständig um ihre Lippen herum
zu sehen war.
„Nun sag schon, wer es ist“, raunte Rena ihr zwischendurch
einmal zu, als die beiden allein waren.
Aber Dörte weigerte sich.
„Es ist und bleibt ein Geheimnis“, erklärte sie. „Und dabei
wird es auch bleiben, ganz gleich, wie oft du mich noch mit deinen
Fragen löcherst.“
Am Nachmittag war die Arbeit getan, und Dörte war irgendwann
einfach verschwunden. Da das aber nichts ungewöhnliches war, machte
sich auch niemand weiter Sorgen darüber.
Sie hatte nur gesagt, dass sie etwas am Meer spazieren gehen
wollte, aber das nahm ihr ohnehin niemand ab.
Rena saß in sich gekehrt im Wohnzimmer. Erst hatte sie mit
einer Handarbeit angefangen, sie dann aber zur Seite gelegt und
versucht, sich in ein Buch zu vertiefen. Auch darauf hatte sie ihre
Gedanken nicht sammeln können. Immer wieder ging ihr das gestrige
Gespräch mit Jasper Frerich durch den Kopf.
Er war sehr verärgert gewesen, das war dem Mädchen wohl
klar.
Andererseits konnte sie auch nicht einfach seinem Verlangen
nachgeben, wenn sie das nicht auch selbst wollte.
Irgendwie werden wir uns schon sicherlich wieder miteinander
versöhnen!, machte sie sich selbst Mut. Ganz bestimmt, du wirst
sehen!
Sie seufzte.
Und dann ging ihr eine andere Frage durch den Kopf, die ihr
seit gestern ununterbrochen im Hirn herumspukte.
Liebst du ihn eigentlich noch?, fragte sie sich. Und selbst
wenn – hatte es Sinn, wenn sie ein Paar wurden, da ihre
Vorstellungen vom Leben doch offensichtlich viel unterschiedlicher
waren, als sie ursprünglich gedacht hatte?
„Ja, was sitzt du denn hier im Wohnzimmer wie ein begossener
Pudel?“, drang die Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken.
Rena schreckte auf.
Die Maria Ekhoff setzte sich zu ihr an den Tisch.
„Ich bin ein bisschen müde von der Arbeit, das ist alles“,
meinte Rena. „Das Einholen der Reusen ist ganz schön anstrengend …
Richtig Muskelkater habe ich gehabt!“
„Aber darüber hast du doch sonst nie geklagt!“
„Ich weiß auch nicht …“
Mit ihrer Mutter konnte sie unmöglich über das reden, was ihr
an schweren Gedanken im Kopf herumspukte. Schließlich war Jasper im
Hause Ekhoff nicht gerade wohlgelitten.
„Vielleicht solltest du es deiner Schwester nachmachen und
nicht immer zuhause hocken! Ist im Ort nichts los?“
„Mama!“
„Aber wenn du schon nichts zu tun hast, dann könntest den
Wagen nehmen und ein paar Besorgungen machen. Der Vater will den
Räucherschuppen reparieren, aber ihm fehlen die passenden Nägel …
Nein, was ist?“
Rena seufzte, dann nickte sie. Sie konnte das eigentlich nicht
abschlagen. Andererseits fürchtete sie, Jasper vielleicht zu
begegnen.
Aus dem Weg gehen konnte sie ihm ja schlecht …
Rena erhob sich und ihre Mutter nahm sie bei den Händen.
„Mädchen, wenn du irgendeinen ernsthaften Kummer hättest, dann
würdest du doch mit mir darüber reden, nicht wahr?“
„Natürlich.“
„Dann ist es ja gut.“
8
Rena nahm den Wagen und fuhr in den Ort. Gustav Meinert
betrieb dort einen Laden, in dem es von allem ein bisschen gab. Von
der Nudelkonserve bis zum Werkzeug, vom warmen Pullover bis zum
Nagel. Und selbst das eine oder andere Buch konnte man in den
völlig überfüllten Regalständern Meinerts finden.
Und wenn ihm auch die großen Warenhäuser Konkurrenz machten,
so hatte sich Meinert doch in all den Jahren auf seine treuen
Stammkunden verlassen können. Und das, obwohl bei ihm natürlich
alles ein bisschen teurer war.
Rena parkte den Wagen vor dem Laden und stieg aus.
Es war ein sonniger Spätnachmittag.
Richtig warm war es geworden, auch wenn sich im Westen über
dem Land Gewitterwolken auftürmten..
Mit schnellen Schritten und immer noch in Gedanken ging Rena
auf den Eingang des Meinert-Geschäfts zu. Ehe sie sich versah,
tauchte ein Schatten vor ihr auf. Sie prallte gegen den Oberkörper
eines hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes, der gerade aus der
Tür gekommen war.
„Hoppla“, sagte eine tiefe, angenehm klingende Stimme.
Um ein Haar wäre Rena zu Boden gefallen, aber der Mann hielt
sie an den Oberarmen.
Sie blickte auf.
Rena erkannte den jungen Mann sofort.
Jeder im Dorf kannte ihn, seit er mit seiner Tauchschule hier
in der Gegend von sich Reden gemacht hatte.
Es war Hinnerk Husmann.
„Entschuldigung, ich wollte dich keineswegs über den Haufen
rennen, aber …“
„Schon gut“, sagte Rena. „Es ist ja auch nichts Ernsthaftes
passiert.“
„Nein, das freut mich aber zu hören. Habe ich dich nicht
irgendwo schon mal gesehen?“
So ein Angeber!, dachte Rena ärgerlich. Das war doch wirklich
die billigste Art und Weise, eine Frau anzusprechen!
„Ja, ich kann mich nicht erinnern, dass wir zwei per du sind“,
erwiderte Rena etwas spitz.
Hinnerk sah sie erstaunt an.
Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass Rena gleich seinem
umwerfenden Charme erlag. Aber den Gefallen wollte ihm das Mädchen
nicht tun. So eingebildet, wie der ist, braucht der mal einen
gehörigen Dämpfer!, ging es Rena durch den Kopf.
Ihre Blicke trafen sich.
Einen Moment lang verschmolzen sie sogar miteinander.
Rena schluckte unwillkürlich.
Hinnerk lächelte gewinnend.
Er hob die Augenbrauen.
„Ja, so reserviert?“
Was bist doch für eine Närrin!, dachte Rena. Alle Mädchen an
der Küste würden dich darum beneiden, dass dieses Kerl dich
anspricht, und du lässt ihn am langen Arm verhungern! Aber ihr war
nicht nach Flirten zu Mute. Schließlich war da ja noch die Sache
mit Jasper …
Sie zupfte ihr Kleid zurecht. „Auf Wiedersehen, Herr
Husmann!“, sagte sie und wollte an ihm vorbei in den Laden Meinerts
hinein.
Aber Hinnerk hielt sie am Arm.
„Einen Moment, Fräulein Unbekannt!“
„Ja, was wollen Sie denn noch? Reicht es nicht, dass Sie mich
fast umgerannt haben?“
„Ich möchte, dass du mir Gelegenheit gibst, das wieder gut zu
machen.“
„Sie sagen schon wieder du, Herr Husmann!“
„Ich bin Taucher, wir duzen uns alle. Außerdem, wir sind
schätzungsweise etwa im selben Alter und sollten die Sache nicht
komplizierter machen, als nötig. Mein Name ist Hinnerk. Und wie
soll ich dich nennen?“
„Sie hatten mir doch schon einen Namen gegeben“, erwiderte
Rena.
Und langsam verflog der Ärger, den sie im ersten Moment
empfunden hatte. Selbst die Gedanken an den Krach, den sie mit
Jasper gehabt hatte, waren im Augenblick nicht mehr präsent. Jetzt
war es ein Spiel für sie, das Hinnerk angefangen und auf das sie
sich eingelassen hatte. Warum eigentlich nicht?, dachte sie. Mal
sehen, wie schlagfertig dieser Süßholzraspler wirklich ist … Ich
werde ihm jedenfalls nicht so leicht auf den Leim gehen!
Hinnerk lächelte.
„Fräulein Unbekannt – soll ich dich wirklich weiterhin so
nennen?“
„Klingt doch gut, oder nicht?“
„Lass mich raten, wie du heißt: Franka? Oder Kaatje?“
„Du wirst es schon noch herausfinden, wenn du dir ein bisschen
Mühe gibst!“
„Immerhin hast jetzt auch du gesagt!“
„Soll aber nicht zur Gewohnheit werden … Ich muss jetzt
wirklich weiter. Mein Vater braucht die Nägel, die ich ihm bringen
soll, heute noch – und nicht erst nach der nächsten
Sturmflut.“
Einen Augenblick lang nahm er ihre Hand und nickte dann.
„Vielleicht sehen wir uns ja in nächster Zeit mal, schöne
Unbekannte.“
„Das glaube ich kaum.“
„Ich hoffe doch!“
„Bei deinem Namensgedächtnis würdest du vermutlich auch beim
nächsten Mal nicht wissen, mit wem du es zu tun hast – selbst, wenn
ich dir meinen Namen jetzt gesagt hätte!“
Er lachte kurz auf.
Seine Augen leuchteten.
Und seine Stimme hatte jetzt ein ganz besonderes Timbre,
dessen Klang Rena durch und durch ging – auch wenn sich eigentlich
alles in ihr dagegen sträubte, sich so von diesem Mann verzaubern
zu lassen.
„Dieses wundervolle Gesicht werde ich ganz sicher nicht
vergessen“, erklärte er.
Einen Augenblick noch blickten sie sich an, dann wandte Rena
den Kopf, sagte ein schnelles „Tschüs“ und ging in Meinerts Laden
hinein.
9
Unterdessen hatte Dörte Husmanns Tauchschule erreicht. Sie war
am Ufer entlanggegangen wie am vergangenen Abend, und als sie sah,
dass die NORDMEERJUNGFRAU am Steg vertäut lag, machte ihr Herz
einen Sprung.
Er ist also nicht hinaus zu einer Tauchfahrt!, ging es ihr
durch den Kopf.
Guten Mutes ging sie zum Steg.
Eike Janssen, der Gehilfe Hinnerk Husmanns kam gerade von
Bord. Er hatte Werkzeug in den ölverschmierten Händen.
Offenbar hatte er irgendetwas an der NORDMEERJUNGFRAU
repariert.
„Hallo, Dörte“, sagte Eike etwas erstaunt, wobei er gegen die
Sonne blinzelte. „Scheint, als kämst du in letzter Zeit ziemlich
häufig hierher!“
„Ist Hinnerk nicht da?“
„Nein, der ist kurz ins Dorf gefahren.“
„Oh, da habe ich mir wohl den falschen Zeitpunkt ausgesucht,
um hier aufzutauchen.“
Eike schüttelte den Kopf.
„Nein, Hinnerk müsste eigentlich schon längst zurück sein.
Lange kann es wirklich nicht mehr dauern. Wenn du was von ihm
willst, wartest du am besten hier.“
Eike musterte sie eingehend. Und Dörte war dieser Blick
unangenehm. Sie hatte das Gefühl, als ob man ihr jede Gefühlsregung
an der Nasenspitze ansehen konnte. Natürlich war das Unsinn, aber
sie wollte auf keinen Fall, dass Eike Janssen im Dorf
herumerzählte, wie verrückt sie auf Hinnerk war. Das musste nun
wirklich nicht sein.
„Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit der NORDMEERJUNGFRAU?“,
erkundigte sich Dörte und deutete dabei auf das Werkzeug in Eike
Janssens Händen.
„Nur eine Kleinigkeit“, meinte er. „Ich hoffe, dass jetzt
wieder alles funktioniert. Da du die Tochter eines Fischers bist,
wirst dich ja wohl ein bisschen mit Motoren auskennen.“
„Sicher!“
„Dann kannst mir eben helfen. Brauchst nur einen Schalter
umzulegen, damit ich den Motor ausprobieren kann. Nur kann ich
dabei nicht gleichzeitig hineinblicken – wenn du verstehst, was ich
meine!“
„Ja, sicher!“
Dörte stieg über die Reling und kam an Bord. „Matrose zu Ihren
Diensten!“, lachte sie.
Der Schalter, den sie umzulegen hatte, befand sich direkt
neben dem Ruder. Eike ging indessen zu einer geöffneten Luke am
Heck, kniete sich nieder und blickte angestrengt hinein. Auf ein
Zeichen hin legte Dörte den Schalter um. Der Motor begann erst zu
brummen, dann knatterte er eine Weile vor sich hin, bevor er
schließlich erbärmlich zu stottern begann. Ein paar Augenblicke
später war die Maschine wieder aus. Eike fluchte leise vor sich
hin.
„Ich habe doch wohl nichts verkehrt gemacht!“, meinte Dörte
besorgt.
Eike schüttelte den Kopf.
„Nein, das nicht! Aber ich habe gedacht, dass ich mit dieser
elenden Maschine nun endlich fertig wäre! Aber wie es scheint, muss
ich nochmal ran!“
Dörte verließ ihren Platz am Ruder und näherte sich der
Motorluke, in die Eike sich jetzt tief hineinbeugte.
„Muss eine ziemlich Umstellung für dich gewesen sein, Eike“,
meinte Dörte. Sie hatte das Bedürfnis, irgendein Gespräch mit ihm
anzufangen, um sich die Zeit zu vertreiben.
„Ich versteh nicht ganz, was du meinst!“, dröhnte Eike aus der
Luke heraus.
„Nein, vom Kuttermatrosen zum Tauchgehilfen!“
Eike musste lachen.
„Ich bin froh, dass ich hier mein Auskommen habe.“
„Wann werdet ihr das nächste Mal hinausfahren?“
„Wenn ich das wüsste!“
Dörte hob die Augenbrauen. „Ja, was soll das denn
heißen?“
„Das Geschäft geht nicht so gut, wie Hinnerk und ich uns das
vorgestellt haben … Und dabei ist die Nordsee wirklich eine Perle.
Niemand, der einmal hinabgetaucht ist in diese wunderbare Welt da
unten, kann das je wieder vergessen.“
Dörte seufzte.
„Ich würde das auch gerne mal sehen“, sagte sie. „In die Tiefe
tauchen und …“ Dörte brach ab und setzte dann hinzu: „Aber das wird
wohl fürs Erste ein geheimer Traum bleiben.“
„Nicht unbedingt!“, sagte plötzlich eine sonore, angenehm
klingende Stimme in Dörtes Rücken.
Sie wirbelte herum und blickte direkt in die ruhigen, dunklen
Augen von Hinnerk Husmann. Er lächelte sie an.
„Oh“, entfuhr es Dörte. „Ich habe dich nicht herankommen
hören.“
„Ihr wahrt ja so ins Gespräch vertieft“, lachte Hinnerk.
„Außerdem bin ich das letzte Stück zu Fuß gegangen.“
Jetzt tauchte Eike Janssen aus der Motorluke hervor und sah
seinen Arbeitgeber mit gerunzelter Stirn an.
„Wieso das denn?“, erkundigte er sich.
„Eine Reifenpanne!“, berichtete Hinnerk.
„Hattest du denn keinen Ersatzreifen?“
„Nein, Eike. Den Ersatzreifen hatte ich ja schon längst
aufgezogen. Und genau der ist mir nun geplatzt.“
Eike seufzte hörbar und wischte sich mit der Hand über die
Stirn. „Scheint, als wären wir im Moment nicht gerade vom Glück
verfolgt, was?“
Einen Augenblick lang bemerkte Dörte auch auf Hinnerks Gesicht
einen düsteren Zug, aber der glättete sich sogleich.
„Immer optimistisch sein“, meinte er. Er wandte sich dem
Mädchen zu. „Jedenfalls ist das mein Motto. Was ist, möchtest du
nachher gleich mit hinausfahren? Eike und ich haben sowieso noch
eine Probefahrt mit der NORDSEEJUNGFRAU vor. Schließlich wollen wir
sicher sein, das alles funktioniert, wenn wir morgen wieder mit
Touristen hinausfahren.“
„Nun, ich hätte nichts dagegen.“
Hinnerk zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Ein kleiner
Tauchgang wäre natürlich inklusive …“
Der Blick, mit dem Hinnerk sie bedachte, ließ Dörte schlucken.
Das ist doch alles viel zu schön, um wahr zu sein!, ging es ihr
durch den Kopf. Alles schien wie von selbst genau in jene Richtung
zu laufen, die Dörte im Sinn gehabt hatte.
Ein bisschen musst du diesen vollendeten Charmeur aber noch
zappeln lassen, dachte Dörte bei sich.
Sie erwiderte sein Lächeln.
Dabei deutete sie in Eikes Richtung.
„Es dürfte aber noch ein kleines Problem dabei geben“,
erklärte sie.
Hinnerk hob die Augenbrauen. Er schwang sich über die Reling,
kam an Bord und war mit wenigen Schritten bei Dörte.
Ein leichter Wind kam auf und fuhr ihm durch das blonde
Haar.
„Probleme sind dazu da, dass man sie löst, oder?“
„Natürlich“, nickte Dörte.
Jetzt meldete sich Eike Janssen zu Wort. „Ich werde noch mal
an den Motor heran müssen“, meinte er. „Aus der Probefahrt wird
frühestens in einer halben Stunde etwas – vorausgesetzt diesmal
geht nichts daneben.“
10
„Was bist du denn so aufgekratzt, seit du aus dem Dorf zurück
bist?“, fragte Maria Ekhoff, nachdem Rena zurückgekehrt war. „Eine
richtig rosige Gesichtsfarbe hast du!“
„Du übertreibst, Mama!“ Rena schüttelte den Kopf. Es war ihr
peinlich, dass man ihr Innerstes so deutlich sehen konnte.
Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Genauso wenig wie die Tatsache, dass Hinnerk Husmann ihr seit
ihrer Begegnung vor Meinerts Laden nicht mehr aus dem Sinn gegangen
war. Immer wieder stieg in ihr die Erinnerung an sein
braungebranntes Gesicht auf, an das herausfordernde Lächeln und das
geradezu provozierende Selbstbewusstsein, mit dem er aufzutreten
pflegte. Im ersten Moment, als sie beide vor dem Laden
zusammengestoßen waren, hatte sie ihn innerlich verwünscht. Aber
jetzt war sie etwas milder gestimmt.
Irgendwie hatte es der junge Tauchlehrer geschafft, sie mit
seinem Charme einzuwickeln. Und das wiederum weckte zwiespältige
Gefühle in ihr.
„War irgendetwas besonderes beim Meinert?“, fragte Maria
Ekhoff.
„Mama! Was soll in unserem verschlafenen Ort schon besonderes
geschehen!“, wehrte das Mädchen ab.
Die Mutter musste schmunzeln. „Da hast du auch wieder recht,
Rena.“
Jetzt kam Coord Ekhoff von draußen herein.
Rena sah gleich, dass dem Vater irgendeine Laus über die Leber
gelaufen sein musste. Jedenfalls zerfurchten tiefe Falten sein
Gesicht.
Ehe Ekhoff etwas sagen konnte, hatte seine Frau bereits das
Wort ergriffen.
„Das Hotel Delfthalle in Emden hat angerufen! Sie möchten,
dass du ihnen wieder deine Schellfische lieferst …Warte, ich habe
alles aufgeschrieben.“
Ekhoff nickte und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
Dann wandte er sich an Rena. „Jasper Frerich ist da. Er wartet
draußen auf dich und will dich unbedingt sprechen – so als ginge es
um sein Leben!“
„Jasper?“, echote Rena. Mit allem hatte sie gerechnet, nur
nicht damit, dass Jasper so schnell wieder bei ihr auftauchen
würde. Und irgendwie war ihr die Aussicht, ihm gleich
gegenübertreten zu müssen, unangenehm. Was sollte sie ihm
sagen?
„Wenn es nach mir ginge, dann wäre Frerich längst auf dem
Rückweg“, meinte ihr Vater unterdessen.
„Was hast du ihm denn gesagt?“, fragte Rena aufgebracht. Sie
traute ihrem Vater durchaus zu, dass er mit seiner polternden Art
wie ein Elefant im Porzellanladen gewütet und dafür gesorgt hatte,
dass das Band zwischen ihnen nun vollständig zerschnitten
war.
Der Fischer zuckte die Achseln.
„Was soll ich ihm schon gesagt haben“, knurrte er, „nach mir
geht es in diesem Haus ja zuletzt. Und wie ich dich kenne, wirst
dich nicht davon abhalten lassen, ihm auf den Leim zu gehen! Ich
habe gesagt, dass du gleich kommst!“
Renas Herz klopfte wie wild.
„Du hättest ihn auch hereinbitten können, wie es sich
gehört!“, versetzte sie dann und lief zur Tür hinaus.
Da stand Jasper vor ihr.
Rena stutzte, als sie ihn erblickte. Richtig herausgeputzt
hatte er sich. Er trug ein Jackett mit Krawatte und Hemd. So
elegant pflegte er sich noch nicht einmal zum Ausgehen
herauszuputzen.
„Jasper“, murmelte Rena leicht verwirrt.
„Ich dachte, das wir uns wieder versöhnen könnten, Rena.
Vielleicht war ich bei unserem letzten Zusammentreffen ein bisschen
voreilig und …“ Er zuckte mit den Schultern und wirkte etwas
verlegen dabei. „Ich dachte, es wäre das Beste, die Uhr einfach
wieder zurückzudrehen …“
Wenn das nur so einfach möglich wäre!, ging es Rena durch den
Kopf. Aber was geschehen war, war geschehen. Und sie wusste nicht,
ob der Riss zwischen ihr und Jasper wieder zu kitten sein
würde.
Und dann war da das Gesicht Husmanns, das ihr einfach nicht
aus dem Sinn gehen wollte.
So sehr sie sich auch über Hinnerk geärgert hatte, so sehr
hatte sie doch auch das prickelnde Gefühl des Flirtens mit ihm
genossen.
„Hör mal, Jasper“, begann sie, sprach dann aber nicht weiter.
Ihr Kopf war plötzlich so leer. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen
sollte. Vielleicht wusste sie auch nur nicht, wie sie ihm
beibringen sollte, dass sie beide vielleicht doch nicht füreinander
bestimmt waren. So genau wusste sie das nämlich nicht mehr.
„Nein, hör du mir erst einmal zu“, sagte Jasper. „Was hältst
von einem stilvollen romantischen Abend in einem schönen Lokal.
Nicht hier in der Gegend, wo uns Hinz und Kunz kennen. Ich dachte,
wir fahren nach Emden rüber. Du weißt doch, wir waren schon mal bei
diesem Italiener …“
„Ich weiß, Jasper, aber …“
„Ein romantischer Abend bei Kerzenschein, Rena. Vielleicht
bringt uns das wieder zusammen.“ Er ging auf sie zum, nahm ihre
Hände. Ihr Herz klopfte. „Komm, zieh dir etwas Hübsches an und dann
lass uns fahren.“ Er deutete auf seinen Wagen, den er in
respektvoller Entfernung vom Fischerhaus abgestellt hatte.
Rena seufzte hörbar.
Ich kann es ihm in keinem Fall abschlagen, dachte sie. Aber ob
es die richtige Entscheidung war, sich von Jasper Frerich ausführen
zu lassen, wusste sie nicht.
11
Dörte tauchte aus dem Wasser empor. Hinnerk war kurz zuvor aus
der Tiefe aufgestiegen und hatte bereits die erste Sprosse der
Leiter erklommen, die von der NORDMEERJUNGFRAU hinab führte.
Jetzt reichte er Dörte seinen Arm und zog sie empor.
Nachdem es Eike gelungen war, den Motor der NORDMEERJUNGFRAU
doch noch in Gang zu bekommen, waren sie zu einer Probefahrt
hinausgefahren. Natürlich hatte Dörte sich nicht lange bitten
lassen, als Hinnerk ihr einen der Tauchanzüge angeboten hatte, die
sich an Bord der NORDMEERJUNGFRAU befanden.
Und es war in der Tat ein phantastisches Erlebnis
gewesen.
Das flirrende Licht der Sonne, das durch die Wasseroberfläche
drang und Fauna und Flora unter Wasser erstrahlen ließ … Das würde
Dörte nicht so schnell vergessen.
Ein paradiesisches Revier für jeden Taucher.
Allzu tief hatten sie nicht hinabtauchen können. Dazu war
Dörte einfach noch zu unerfahren.
Hinnerk half Dörte dabei, über die Reling an Bord zu klettern
und die Druckflasche vom Rücken zu nehmen. Fast eine Stunde waren
sie unter Wasser gewesen. Eine Zeit, die Dörte jetzt, im Rückblick,
kaum mehr als ein Augenblick gewesen zu sein schien.
„Oh, Hinnerk, es war wunderbar!“, stieß sie beeindruckt
hervor, als sie das Mundstück herausgenommen hatte und wieder
sprechen konnte.
Hinnerk, der nun auch seine eigene Druckflasche abgelegt
hatte, stand vor ihr.
Ihre Blicke begegneten sich und Dörte spürte die
elektrisierende Spannung zwischen ihnen. Im nächsten Moment gab
Hinnerk ihr einen Kuss. Ihre Lippen trafen sich schüchtern, dann
fordernder. Dörte schlang ihre Arme um seinen Hals, und Hinnerk
fasste sie um die Taille.
Ein Ruck ging in diesem Moment durch die NORDMEERJUNGFRAU und
riss die beiden ein Stück auseinander. Eike hatte den Motor
gezündet, das Boot setzte sich in Bewegung.
Dörte taumelte einen Schritt zurück, hielt sich dann aber an
der Reling fest.
„Ein bisschen mehr mit Gefühl!“, rief Hinnerk zu Eike
hinüber.
„Ja, das ist die fehlende Feinabstimmung!“, gab Eike
schulterzuckend und etwas hilflos zurück.
„Ja, ja!“ Hinnerk wandte sich wieder an Dörte. „Alles in
Ordnung?“
„Natürlich.“
„Hat dir jemand schon mal gesagt, dass du ein wunderschönes
Mädchen bist?“
„Kaum jemand so charmantes wie du, Hinnerk …“
Er strich ihr mit einer zärtlichen Geste eine verirrte Strähne
aus dem Gesicht. „Schon, als ich dich das erste Mal gesehen habe,
hast du mich regelrecht verzaubert.“
Dörte näherte sich ihm wieder etwas. Sie sah ihm direkt in die
Augen.
„Als du mich zum ersten Mal gesehen hast, da hast mich
überhaupt nicht bemerkt!“, erwiderte sie dann. Aber die Empörung,
die sie in diese Worte hineinzulegen versuchte, war nur gespielt.
Und Hinnerk spürte das natürlich.
Er hob die Augenbrauen.
„Ich – und dich nicht bemerken?“
„Natürlich! Ich war mit meiner Schwester dabei, als die
Tauchschule mit großartigem Brimborium eröffnet wurde.“
„Ja, da waren so viele Leute da …“
Dörte schlang wieder die Arme um seinen Hals, zog ihn sanft zu
sich herab und küsste ihn. „Und eine bessere Ausrede bin ich dir
nicht wert?“, fragte sie dann.
„Was heißt hier Ausrede?“
„Vielleicht will ich auch einfach nur, dass du nicht damit
aufhörst, mir so nette Sachen zu sagen“, murmelte Dörte.
„Das kannst du haben … So oft du möchtest, Dörte.“
Sie gingen unter Deck, wo Dörte sich in einer der Kabinen des
Taucheranzugs entledigte und sich wieder anzog. Später saß sie mit
Hinnerk zusammen am Bug der NORDMEERJUNGFRAU. Er nahm sie in den
Arm und sie lehnte den Kopf an seine Schulter, während sie sich
gemeinsam den faszinierenden Sonnenuntergang ansahen.
Ein einmaliges Farbenspiel war auf den heranbrandenden Wellen
zu sehen.
Es war schon spät, als sie schließlich zurück zum Steg an der
Tauchschule kamen. Die Dämmerung hatte längst eingesetzt und der
Mond ging bereits als weiße Halbkugel auf.
„Ich möchte, dass wir uns wiedersehen“, sagte Hinnerk.
Er sah Dörte dabei auf eine Art und Weise an, die ihr wohlige
Schauer über den Rücken jagte.
„Nichts dagegen“, flüsterte sie.
Sie legten schließlich an. Hinnerk sprang an Land und vertäute
die NORDMEERJUNGFRAU provisorisch. Dörte sah ihm dabei zu. Ja, das
ist eine andere Art Mann, als die Fischersöhne in der Umgebung!,
dachte sie. Irgendwie weltläufiger und gewandter wirkte er. Und das
gefiel ihr.
Er half ihr über die Reling und nahm ihre Hand dabei.
Dann standen sie sich auf dem schmalen Steg gegenüber.
Ein leichter Wind war aufgekommen und kräuselte das zuletzt
spiegelglatte Wasser des Großen Meeres.
„Soll ich dich nach Hause bringen, Dörte?“, bot Hinnerk
Husmann an.
Dörte schüttelte den Kopf und ordnete dabei mit ein paar
geschickten Handbewegungen ihr langes Haar.
„Nein, ich gehe zu Fuß“, erklärte sie. „So, wie ich gekommen
bin. Ein Stück am Meer entlang …“
„Aber es würde mir nichts ausmachen!“
„Ein anderes Mal, Hinnerk.“ Sie strich mit einer zärtlichen
Handbewegung über sein Kinn. „Gute Nacht“, hauchte sie.
Und damit war sie auch schon ein paar Schritte gegangen,
verließ nun den Steg und befand sich mit einem Sprung an
Land.
Hinnerk folgte ihr ein paar Schritte.
„Wann sehen wir uns wieder?“, rief er.
Dörte lächelte zufrieden. Zwischenzeitlich hatte sie schon das
Gefühl gehabt, das Heft des Handelns ganz aus der Hand gegeben zu
haben. Wie Wachs war sie unter dem Einfluss seines Charmes
zerflossen. Aber jetzt glaubte sie, die Fäden in diesem Spiel
wieder in Händen zu halten.
Er hat angebissen!, dachte sie.
Eine andere Erklärung konnte es für sein Verhalten nicht
geben.
Gut so!, überlegte sie. Aber auch wenn es mir sehr schwer
fällt und ich mich arg zurückhalten muss – allzu sehr will ich ich
mich ihm nicht an den Hals werfen!
„Dörte!“, rief er.
Sie winkte ihm zu.
„Bis bald!“, rief sie dann ziemlich unbestimmt, winkte noch
einmal und lief dann am Strand entlang.
12
Für Rena verlief der Abend nicht so schön. Auch Kerzenschein
und das romantische Ambiente des italienischen Restaurants, das vor
allem bei vielen Touristen regen Zulauf fand, konnte sie nicht
wirklich einander näherbringen.
Die meiste Zeit über war Rena mit Gedanken woanders.
Sie unterhielten sich kaum. Beide waren sie verlegen und
verkrampft. Jasper gab sich sichtlich Mühe, nicht in irgendein
Fettnäpfchen zu treten.
Er ist ja ein netter Kerl, dachte Rena. Aber ob er auch der
Mann fürs Leben ist?
Da hatte sie inzwischen doch ihre argen Zweifel.
Während der Autofahrt hatten sie die meiste Zeit über
geschwiegen.
Jetzt erreichten sie das Ekhoff-Haus am Seeufer. Jasper
stoppte den Wagen.
„Sehen wir uns in den nächsten Tagen mal?“, fragte er
dann.
„Naja, bei uns ist zur Zeit eine Menge zu tun“, sagte Rena
ausweichend. „Ich muss mal schauen …“
„Ja, ich versteh schon“, sagte Jasper.
Aber Rena bezweifelte das. „Jasper …“, murmelte sie, sprach
aber nicht weiter. Sie sahen sich an.
Jasper nahm ihre Hand und drückte sie.
„Ich liebe dich von ganzem Herzen, Rena. Und ganz gleich, wie
es im Moment auch zwischen uns aussieht – daran wird sich nie etwas
ändern“, erklärte er.
„Lass uns gegenseitig ein bisschen Zeit geben, Jasper!“
Er nickte. „Ich gebe dir alle Zeit der Welt, Rena.“
„Tschüs, Jasper!“
„Gute Nacht, Rena!“
Sie stieg aus und sah ihm noch einige Augenblicke lang nach,
als er mit seinem Wagen in der Dunkelheit verschwand.
Dann wandte sie sich zum Haus.
Später am Abend traf sie ihre Schwester noch. Sie bemerkte,
wie aufgekratzt diese war, aber alles Nachfragen half nichts.