Waldwissen - Peter Wohlleben - E-Book
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Waldwissen E-Book

Peter Wohlleben

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Beschreibung

Der Wald ist so viel mehr als Bäume! In ihrem ersten gemeinsamen Werk, das umfassend wie nie in die Geheimnisse des Waldes einführt, vereinen Deutschlands berühmtester Förster Peter Wohlleben und der renommierte Biologe Pierre L. Ibisch ihre herausragende Expertise und die neuesten Erkenntnisse der internationalen Wissenschaft. Sie bringen Licht ins Dickicht eines hoch komplexen Ökosystems. Anhand faszinierender Beispiele aus der Natur zeigen sie das ungeahnte Zusammenspiel der Pflanzen, Tiere, Mikroben, Viren, Pilze auf – eine Welt, in der kein Element ohne das andere existieren kann. Sie lassen uns den Wald erleben, wie wir ihn noch nicht kannten: als Supercomputer, Bioreaktor, Baumeister und Regenmacher. Auch wir Menschen sind Teil dieses fein austarierten Systems. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse geben aber auch Anlass, unseren Umgang mit dem Wald kritisch zu hinterfragen. Unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere gesamte Entwicklung ist untrennbar mit dem Wald verbunden. Die Autoren zeigen, wie sehr nicht nur unsere Vergangenheit, sondern vor allem auch unsere Zukunft vom Wald abhängt. Doch wie können wir die Wälder bewirtschaften, ohne dabei unsere Lebensgrundlagen zu zerstören? Gemeinsam blicken die Waldexperten in die Zukunft des Waldes und damit in die Zukunft des Menschen, der ohne Wald nicht sein kann.

  • Tiefe Einblicke in ein komplexes Ökosystem: geballtes Wissen, verblüffende Einsichten, ungeahnte Zusammenhänge
  • Das umfassendste Buch zum Thema Wald – mit vielen Fotos, anschaulich und opulent bebildert

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Seitenzahl: 990

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Zum Buch:

Was bedeutet uns der Wald?

Ohne Holz wäre kaum eine menschliche Errungenschaft möglich gewesen. Unsere Bauten und Kulturgüter, die Eroberung der Welt mit Schiffen, das Feuer, die Kohle – der Mensch hätte sich ohne Wald nicht so entwickelt, wie er es tat. Doch nicht nur unsere Vergangenheit ist ohne den Wald nicht denkbar, auch eine Zukunft kann es für uns Menschen ohne den Wald nicht geben. Wälder steuern aktiv die Wasserkreisläufe dieser Erde, kühlen wirksam die Landschaften und beheimaten eine bislang nur ansatzweise erforschte Anzahl von Arten.

Doch können wir genügend Wälder bewahren, um ihre erstaunlichen Fähigkeiten und positiven Effekte für uns und unseren Planeten zu erhalten? Die Wege der überkommenen Forstwirtschaft führen in die Sackgasse. Höchste Zeit, unseren Umgang mit dem Wald grundlegend neu zu denken!

Für ihr erstes gemeinsames Werk, das umfassend wie nie in die Geheimnisse des Waldes einführt, stützen sich Deutschlands berühmtester Förster Peter Wohlleben und der renommierte Biologe Pierre L. Ibisch auf die aktuellsten Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft. Anhand faszinierender Beispiele aus der Natur zeigen sie das ungeahnte Zusammenspiel der Pflanzen, Tiere, Mikroben, Viren und Pilze auf – eine Welt, in der kein Element ohne das andere existieren kann. Auch wir Menschen nicht.

»Warum sollten wir uns überhaupt mit dem Thema Wald beschäftigen? Weil wir erstens ohne Wald nicht existieren würden, und weil wir zweitens in der Lage sind, den Wald zu vernichten, dies auch fortgesetzt tun und bislang nicht besonders erfolgreich darin sind, dieser negativen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Doch wenn wir ein menschenwürdiges Leben für alle ermöglichen wollen, hat der Schutz der Ökosysteme unseres Heimatplaneten höchste Priorität.«

Zu den Autoren:

Peter Wohlleben, Jahrgang 1964, wollte schon als kleines Kind Naturschützer werden. Er studierte Forstwirtschaft und war über zwanzig Jahre lang Beamter der Landesforstverwaltung. Heute arbeitet er in der von ihm gegründeten Waldakademie in der Eifel und setzt sich weltweit für die Rückkehr der Urwälder ein. Er ist Gast in zahlreichen TV-Sendungen, hält Vorträge und Seminare und ist Autor von Büchern zu Themen rund um den Wald und den Naturschutz. Mit seinen Bestsellern »Das geheime Leben der Bäume«, »Das Seelenleben der Tiere«, »Das geheime Netzwerk der Natur«, »Das geheime Band zwischen Mensch und Natur« und »Der lange Atem der Bäume« hat er Menschen auf der ganzen Welt begeistert. Alle zwei Wochen erscheint sein GEO-Podcast Peter und der Wald.

Für seine emotionale und unkonventionelle Wissensvermittlung wurde ihm 2019 die Bayerische Naturschutzmedaille verliehen. 350.000 Menschen sahen im Kino den 2020 erschienenen Film zum gleichnamigen Buch »Das geheime Leben der Bäume«. Peter Wohlleben ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Prof. Dr. Dr. h. c. Pierre L. Ibisch, Jahrgang 1967, ist habilitierter Botaniker, Biologe und Professor für »Nature Conservation« an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE). Seit 1991 sammelt er umfangreiche Erfahrungen in der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien sowie vielen weiteren Ländern in Lateinamerika, Asien, Europa und Afrika. Er ist Entdecker zahlreicher neuer Pflanzen- und Tierarten. Zwei Orchideen, eine Bromelie und eine Froschart wurden nach ihm benannt. Er forscht u.a. zur ökosystembasierten nachhaltigen Entwicklung, zu Ökosystemen und Klimawandel, zu Waldnaturschutz und zu Auswirkungen der Waldbewirtschaftung und engagiert sich in der Politikberatung. Die Nationale Forstuniversität der Ukraine in Lviv verlieh ihm 2019 die Ehrendoktorwürde. Aufgrund seiner Verdienste im Waldnaturschutz wurde er 2022 mit der NABU-Waldmedaille ausgezeichnet. Pierre Ibisch ist verheiratet und hat drei Kinder.

Gewidmet dem Andenken des Eberswalder Wissenschaftlers

Alfred Möller

*12. August 1860; †4. November 1922,

der vor einem Jahrhundert im Wald ein Lebewesen, einen Organismus sah und damit die Forstwissenschaften gegen sich aufbrachte;

der, sich mit Charles Darwin und Alexander von Humboldt verbunden fühlend, die Wälder der Welt vergleichend betrachtete, von den Kronen der Bäume bis tief in den Boden hinein, so weit sich die äußersten Wurzelenden und Verzweigungen erstrecken;

der auch die Welt im Kleinen würdigte, in Demut vor unserem unzureichenden Wissen.

PETER WOHLLEBENPIERRE L. IBISCH

WALD

WISSEN

VOM WALD HER DIE WELT VERSTEHEN

Erstaunliche Erkenntnisse über den Wald,den Menschen und unsere Zukunft

Mit diesem Buch wird das Buchen-UrwaldProjekt von Wohllebens WALDAKADEMIE in der Eifel unterstützt.

Von Natur aus wäre Deutschland zu über 90 Prozent von Wald bedeckt, der größte Teil davon Buchen- oder Buche/Eichen-Mischwälder. Alte Buchenwälder sind die Regenwälder Europas, und ähnlich wie in den Tropen ist es auch um sie sehr schlecht bestellt. Buchenwälder ab Alter 180 haben nur noch einen Anteil von 0,16 Prozent an der Landfläche. Die Buchenwälder des UrwaldProjekts werden konsequent geschützt und für kommende Generationen erhalten.

In dem Wald-Schutzgebiet in der Eifel wird auf natürliche Weise CO2 in alten Wäldern gespeichert und somit das Klima entlastet. Gleichzeitig übernimmt das Projekt auch eine wichtige Rolle im Erhalt der Biodiversität.

Durch das Einscannen dieses QR-Codes gelangen Sie auf die Website von Wohllebens WALDAKADEMIE und können den Buchen-Urwald, den Sie mit dem Kauf dieses Buches schützen helfen, live erleben.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2023 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Covergestaltung: Eisele Grafik-Design, München,unter Verwendung der Fotos von Andreas Vitting/Mauritius Images und

A_nella/Bigstock (Cover) und Andreas Vitting/Mauritius Images (Rückseite)sowie Macrovector./Bigstock (Innenklappen)

Layout und Gestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Illustrationen: Nadine Gibler

Bildredaktion: Tanja Zielezniak

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29422-9V004

www.Ludwig-Verlag.de

INHALT

Vorwort

Warum gerade Wald?

Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume

Wälder sind Systeme

Wälder sind unberechenbar

Viele Teile, noch mehr Wechselwirkungen

Biodivers: Die Vielfalt des Lebens

Der Einfluss von »untoten« Akteuren

Komplexität: unkalkulierbar, überraschend, unterschätzt

Alle sind wichtig, aber manche Komponenten sind wichtiger

Ordnung ist auch keine Lösung

Chaos und schöpferische Zerstörung

Weshalb Natur weder vorhersagbar noch steuerbar ist

Der verschachtelte »Waldorganismus«

Symbiose: vom Gegeneinander zum Miteinander

Das »Wood Wide Web«

Junkies und Drogendealer

Wir sind alle Flechten: Von Überorganismen und Holobionten

Unterschätzt und unfassbar: Pflanzen und ihre Mikrobiome

Mikroben können die Toleranz von Pflanzen gegenüber dem Klimawandel fördern

E pluribus unum: Ist der Wald ein Organismus?

Vernetzte Computer: Informationsverarbeitung in Waldökosystemen

Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Leben als Informationsmanagement

Ein gutes Gedächtnis ist auch eine Frage des Alters

Viel hilft nicht immer viel

Information, Sex und Fitness

Von Kommunikation zu Funktion … und Intelligenz

Alles ist Energie

Energie gewinnen, nutzen und speichern, ohne in Flammen aufzugehen

Ist am Ende alles nichts?

Wälder als Zeitmaschinen

Mit knapper Energie wirtschaften: Effizienz, Suffizienz und Resilienz

Baumeister der Kohlenstoffwelt

Warum eigentlich Kohlenstoff?

Schwer und hoch, jung und alt

Tot oder lebendig

Wenn Holz mulmig wird, lebt der Wald

Waldphysik: Wälder als Wasserspeicher und Klimaanlagen

Am Anfang war das Wasser

Waldwasser(werke)

Die Kraft des »grünen Wassers«

Regen- und Wettermacher: Fliegende Flüsse und Wald-Wasser-Pumpen

Nachbarschaft und Fernbeziehungen im Ökosystem

Wälder für Menschen, Menschen für Wälder

Sozialökologische Systeme: einfach nur sozial und ökologisch?

Ökonik: Vom Haushaltssystem Wald für das Wirtschaften lernen

Wald und Mensch – die kurze Geschichte einer langen Beziehung

Waldworte

Waldbilder

Waldbegriffe und die Frage des Systems

Begriffe als Programm

Abteilungen und Bestände: vom Zergliedern und Bauen des Waldes

Naturnaher Waldbau – eine Nebelkerze?

Vom Waldorganismus zum Ökosystem

Wohlergehen von Wald und Mensch

Was macht den Wald gesund?

Zeit und Raum

Je wilder, desto besser

Was macht den Wald krank?

Holznutzung und Forstwirtschaft

Pflanzungen

Brandgefährlich und mehr als das: Gefährdungen jenseits der forstlichen Nutzung

Menschengemachte Klimakrise und die vermeintliche Anpassung

Die »Krankheiten« des Waldes – und ihre Ursachen

Patient Wald – was ist mit seinen Pfleger:innen los?

Das Trauma der Forstwirtschaft: Bedeutungsverlust

Mein Wald, mein Eigentum, mein Recht?

Mangel an (Ge-)Wissen und Gewissheit

Entwicklung neu definieren

Wer wir sind und was wir wollen sollten

Was ist ein gutes Leben?

Ökosystemleistungen als wesentliche Grundlage menschlichen Wohlergehens

Mensch und Wald: vom Leben und Fühlen

Warum Waldbewirtschaftung?

Wem dient die Waldbewirtschaftung?

Verunsicherung als Herausforderung

Vom Wirtschaften und Wissen

Sozialökologisches Wirtschaften und Haushalten

Ziele und Messung von wirtschaftlichem Erfolg

Risikomanagement und Wirtschaften

Erfassung und Bewertung von Waldökosystem und Bewirtschaftung

Aus Erfahrung klüger werden: (Nicht-)Wissen und adaptives Management

Eine Frage der Gerechtigkeit: Sozialökologische Wald-Governance

Vier Grenzlinien, den Wald betreffend: Aktuelle Herausforderungen und Aufgaben

Organisation und Kontrolle des Waldbetriebs

Kommunikation und Teilhabe

Sozialökologische Waldpolitik

Die 20 Prinzipien der sozialökologischen Waldbewirtschaftung – ein Manifest

Der neue Kompass für den Wald – eine Orientierung

Holzhunger: Förderung versorgender Ökosystemleistungen

Wie kommt das Holz aus dem Wald?

Neue Bäume

Sündenkäfer und Sündenböcke

Pflegen mit der Säge?

Ernten, aber bitte maßvoll!

Von Wiesen und Plantagen zurück zu echtem Wald

Holz ist nicht alles: Förderung regulierender Ökosystemleistungen

Weg und Steg

Pflanzen

Waldbaden und Co.: Förderung kultureller Ökosystemleistungen

Erschließung und Technik

Pflanzen und pflegen

Jagdfrei – Waldtiere ohne Scheu

Motorsäge kontra Tourismus

Organisation von touristischen Angeboten

Waldbewirtschaftung nur im Wald?

Zukunft: Wie kann und sollte es weitergehen?

Ohne Radikalität geht es nicht!

Für eine Klimaflurbereinigung

Angst und Trauer transformieren

Waldwissen und Waldfühlen: Hoffnung zum Schluss

 

Anmerkungen

Bildnachweis

VORWORT

Wälder sind nicht nur wunderbare, vielfältige Ökosysteme, sie haben auch eine zentrale Bedeutung für das Leben auf der gesamten Erde. Sie steuern aktiv die Wasserkreisläufe, kühlen die Landschaften und sind Heimat für eine erst ansatzweise erforschte Vielzahl von Arten.

Die zentrale Frage ist, ob wir genügend Wälder bewahren können, um all ihre Fähigkeiten zu erhalten. Dem steht unser Hunger nach Holz im Wege, den wir ebenfalls befriedigen wollen. Die einfachen Antworten, die die Forstwirtschaft bisher bereithielt, führen inzwischen endgültig in die Sackgasse. Nicht nur global, sondern auch direkt vor unserer Haustür sterben bereits jetzt Tausende von Quadratkilometern von Fichten- oder Kiefernplantagen. Sie wurden im Glauben gepflanzt, Wald bestehe im Wesentlichen aus Bäumen, und diese könne man so manipulieren, dass neben einer Menge Holz auch alle anderen Wohltaten der Wälder automatisch geliefert würden. Dem würden die Bäume und ihre Mitlebewesen heftig widersprechen, wenn sie denn nur könnten. Stattdessen stellen sie ganz still nach und nach ihre Arbeit ein, was wir meist erst bemerken, wenn es für die jeweiligen Flächen bereits zu spät ist.

Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir den Wald lieben – und weil wir uns Sorgen um ihn machen. Ein Leben ohne Bäume, ohne Vögel unter dem raschelnden Blätterdach alter Buchen, ohne moosbewachsene Stämme, ohne Pilze im modrigen Totholz, ohne die würzige Luft an warmen Sommertagen oder ohne knarzendes Holz, wenn der Wind durch den Wald fegt, ist für uns nicht vorstellbar. Deswegen möchten wir alles versuchen, diesen Quell des Lebens und der Freude für uns alle zu erhalten.

Und es gibt bereits Strategien, wie wir das gemeinsam erreichen können.

Dazu entführen wir Sie zunächst in die faszinierende Welt des Allerkleinsten, um zu schauen, wie Moleküle, Bakterien und Pilze zusammen mit den Bäumen und allen anderen Lebewesen einen gewaltigen Organismus bilden, der über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. Anschließend laden wir Sie zu einer Achterbahnfahrt ein: Es geht steil hinunter in die Tiefen der menschlichen Hybris, die im Gewand der Forstwirtschaft glaubt, Wald bauen zu können, und die katastrophalen Folgen dieser Handlungen ohne Bedenken anderen in die Schuhe schiebt. Im Looping der Klimakatastrophe kann uns Hören und Sehen vergehen.

Aber keine Sorge, es geht auch wieder bergauf. Wir denken über unsere Rolle in der Welt nach und lernen von der Natur, anders zu wirtschaften als bisher. Dabei versuchen wir uns an Lösungen, die keine starren Rezepte beinhalten, sondern flexibel und dauerhaft lernend mit (und nicht gegen den Wald) arbeiten.

Wald ist ein Bioreaktor mit zentraler Bedeutung für das globale Ökosystem, von dem wir Menschen nur eine abhängige Komponente darstellen. Deshalb kann Waldbewirtschaftung nur ökologisch erfolgen. Und sie muss mit den und für die Menschen erfolgen, ein Wirtschaften als soziale Leistung sein … sozial-ökologisch!

Sozialökologische Waldbewirtschaftung unterscheidet sich grundsätzlich von der traditionellen Forstwirtschaft. Diese werden wir kräftig durchleuchten, um zu sehen, wie weit sich Anspruch und Wirklichkeit mittlerweile voneinander entfernt haben.

Unser Ausblick in die Zukunft gibt durchaus Anlass zur Hoffnung – wenn wir erkennen, dass wir immer noch Bestandteil der irdischen Ökosysteme sind. Deshalb muss der Schutz dieser Ökosysteme unseres Heimatplaneten oberste Priorität haben, um ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen.

Buchenurwald von Uholka-Shyrokyi Luh in den ukrainischen Karpaten (Pierre L. Ibisch, Juni 2019)

Warum gerade Wald?

Warum sollten wir uns überhaupt mit dem Thema Wald beschäftigen? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Weil wir erstens ohne Wald nicht existieren würden, und weil wir zweitens in der Lage sind, den Wald zu vernichten, dies auch fortgesetzt tun und bislang nicht besonders erfolgreich darin sind, dieser negativen Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Aus dieser simplen Einsicht entstehen zwangsläufig viele neue komplizierte Fragen: Warum hat die Menschheit es trotz jahrtausendealter Einsicht, dass der Wald so bedeutsam ist, nicht geschafft, die gesellschaftliche Entwicklung ohne Waldzerstörung zu betreiben? Wäre die Entkopplung der Entwicklung vom Holzkonsum und von der Waldvernichtung überhaupt ein gangbarer Weg? Wieso ist es der Forstwirtschaft, die sich seit über 300 Jahren auch weltweit verbreitet hat, nicht gelungen, den Niedergang von Wäldern aufzuhalten? Ist die Walderhaltung eine Frage, die mit mehr Hintergrundwissen besser gelöst werden kann? Benötigen wir womöglich neues oder anderes Wissen? Oder geht es weniger um Wissen als vielmehr um Politik? Brauchen wir zur Walderhaltung eine »waldökologischere Politik« oder eine »politischere Waldökologie«?

Wälder faszinieren Menschen seit jeher. Der Wald ist ein Ort, an dem viele Lebewesen offenkundig größer und langlebiger sind als wir selbst. Das allein regt zum Nachdenken an. Alte Bäume verbinden uns mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Wälder sind unübersichtlich und vielfach immer noch unergründlich und geheimnisvoll. Sie bilden damit einen Gegensatz zu unserer modernen Lebenswelt aus Menschengemachtem, unserer Umgebung, die von geraden Linien und rechten Winkeln geprägt ist, von Planung und Berechenbarkeit. Wälder können wild sein, das heißt, sie haben ihren eigenen »Willen«; was in ihnen geschieht, folgt eigenen Regeln. Wälder warten mit Überraschungen auf, sie können gefährlich sein für diejenigen, die sich nicht in ihnen auskennen. Sie können uns aber auch schützen und (ver)bergen. Wälder sind mal dunkel, mal licht, grün, bunt, kühl, feucht, riechen nach Holz, Erde oder Moder. Sie sprechen unsere Sinne an, stimulieren unsere Fantasie und Kreativität.

Dennoch: Die allermeisten Menschen auf diesem Planeten leben nicht im Wald und besuchen ihn auch nicht. Hat er womöglich mit der Alltagswelt gar nichts mehr zu tun, ist die dünne Nabelschnur gerissen, die noch unsere Großeltern mit ihm verband? Wie sehr dieser Eindruck trügt, werden wir im weiteren Verlauf des Buches sehen.

Wir leben nun im Zeitalter des Menschen, Wissenschaftler haben es Anthropozän genannt. Der Grund dieser Benennung ist beunruhigend: Die Menschheit kann die Entwicklung unseres Planeten beeinflussen, wie es zuvor nur Asteroiden oder geologische Kräfte vermochten. Wir sind von der Evolution befähigt worden, erheblichen Einfluss auf die gesamte Biosphäre zu nehmen. Egal, wo sich das Leben befindet – in den Ozeanen, in den Wäldern oder auf den Bergen –, wir mischen uns ein. Unsere Aktivitäten verändern das Klima, und wir setzen Stoffe frei, die es zuvor niemals auf der Erde gab. Wir verursachen ein Aussterben von unzähligen Arten und beeinflussen den Kurs der Evolution auf der gesamten Erde. Diese Macht haben wir errungen, ohne dass wir es geplant hatten und ohne die Möglichkeit, uns zu verweigern. Immerhin sind wir nun auch in der Lage, die negativen Folgen unseres Tuns zu erkennen. Wir sind außerdem befähigt, nachzudenken und Verantwortung zu verspüren. Jetzt müssen wir daran arbeiten, das Verantwortungsgefühl in Handeln umzusetzen und die Biosphäre inklusive uns Menschen vor uns selbst zu schützen.

Unser durchaus legitimes Sehnen nach Wohlergehen und Entwicklung hat vielen Menschen Wohlstand beschert – und uns allen nunmehr auch gigantische Probleme. Große Krisen und Herausforderungen halten uns in Atem: Der globale Klimawandel, Versorgungsschwierigkeiten, Verknappung von Wasser, Energie und Böden, Hunger, Krankheiten, Konflikte und Kriege. Warum sollten wir uns eigentlich um den Wald scheren, wenn doch vielleicht viele andere Fragen deutlich dringlicher sind?

Zuweilen hört man heute schon Stimmen – sogar von ehrlich um die Zukunft besorgten Wissenschaftlern –, dass wir es leider so weit haben kommen lassen, dass die Weltrettung nun etwas »schlampig« passieren müsse.1 Man habe einfach keine Zeit mehr für Purismus. Es wäre zwar ganz schön, auch viele natürliche Wälder zu erhalten, aber das ginge halt nicht mehr.

Weltrettung auf Kosten der letzten Wälder? Tatsächlich ist die Geschichte der menschlichen Zivilisationen in besonderem Maße davon geprägt, dass Wald weichen musste, damit immer mehr Menschen immer besser leben konnten. Wo Wald wächst, können meist nicht in intensiver Form Nahrungsmittel produziert werden. Wald konkurriert mit uns Menschen um Raum, den wir zu benötigen scheinen, um unsere Siedlungen zu bauen, unsere Äcker zu bestellen und unsere Nutztiere aufzuziehen. Aber Wald ist auch im Weg, wenn wir uns auf unseren Straßen und Schienen schnell durch die Landschaft fortbewegen wollen, und scheint selbst im modernen Zeitalter in industrialisierten Ländern zu viel Platz einzunehmen, den wir dringend benötigen, um mithilfe von Photovoltaik und Windkraftanlagen erneuerbare Energien zu gewinnen, um das gigantische Klimaproblem lösen zu können. Wald wird dabei so schlecht verstanden, dass wir meinen, ihn einfach versetzen zu können. Wird ein alter Baumbestand gerodet, so pflanzt man andernorts einen neuen. Aber die junge Plantage kann den beseitigten Wald nicht ersetzen, sondern lediglich das Gewissen beruhigen.

Eine wesentliche Rechtfertigung für den Wunsch, Wald zu bewahren, ist, dass wir von seinen Produkten profitieren wollen. Den allermeisten Menschen – und vor allem jenen, die mit der Bewirtschaftung von Wäldern Geld verdienen wollen oder müssen – würde in diesem Zusammenhang das Holz einfallen. Auch wenn uns Menschen die Wälder häufig im Weg standen, so hat uns das Holz der Bäume doch überhaupt erst ermöglicht, den Siegeszug um die Welt anzutreten.

Am Anfang war das Feuer. Es erlaubte uns, Nahrung besser verdaulich zu machen, ja, neuartige Nahrungsmittel, die ungekocht giftig oder unbekömmlich sind, für unsere Ernährung zur Verfügung zu stellen. Mithilfe von Feuer konnten wir jagen und unseren Lebensraum effektiv gestalten. Brennholz war der erste Garant dafür, dass wir uns von den Unbilden der Natur ein wenig unabhängig machen konnten. Es erlaubte uns, in kalte und bis dahin nicht für das menschliche Leben geeignete Weltgegenden vorzustoßen. Man konnte irgendwo von Bäumen eingefangene Sonnenenergie an andere Orte transportieren und die Wärme dort zeitverzögert wieder freisetzen. Brennholz ermöglichte, ausgeprägte kalte Jahreszeiten zu überstehen und Licht ins Dunkel von Höhlen und Häusern zu bringen.

Brennholz war auch der erste Treibstoff der Moderne. Die Verbrennung von Bäumen trieb Dampfmaschinen an und leitete somit den Beginn der Industrialisierung ein.2 Nachdem das Verbrennen von Holz jenseits von Lagerfeuern und gemütlichen Öfen oder Kaminen in Industrieländern etwas aus der Mode gekommen war, wurde es gerade in jüngerer Zeit als vermeintlich umweltfreundlicher Brennstoff sogar zur Stromerzeugung in Holzkraftwerken wiederentdeckt.

Holz ebnete uns auch als Baustoff den Weg in die Zivilisation. Waffen, Ackergeräte, Behälter wie Fässer oder Eimer, Möbel und nicht zuletzt Häuser halfen Menschen dabei, sich das Leben zu erleichtern und etwas unabhängiger von der Natur und von einer unregelmäßigen Ressourcenversorgung zu werden. Tatsächlich müsste die Steinzeit vermutlich eher Holzzeit heißen,3 da viele Instrumente und Werkzeuge wie Beile, Pfeile, Bögen und Hacken vor allem aus Holz bestanden und nur zu einem kleinen Teil aus Stein. Als die Menschen im Gebiet des heutigen England vor etwa 5000 Jahren tonnenschwere Steinblöcke bis zu 250 Kilometer durch die Landschaft bewegten und in Stonehenge eine einzigartige Kultstätte schufen, gelang ihnen dies nur mithilfe von Holz. Damals schon müssen gewaltige Eingriffe in Wälder erfolgt sein. Was viele nicht wissen: Ganz in der Nähe von Stonehenge wurde auch eine Holz-Kultstätte geschaffen, ihr Name ist Woodhenge.4

Woodhenge ist eine Kultstätte aus kreisförmig angeordneten Pfählen und nur 3 km entfernt vom weltberühmten Stonehenge gelegen. Es zeigt, dass Holz auch für die kulturelle Entwicklung eine wichtige Bedeutung hatte. Da nur die Pfostenlöcher den Lauf der Zeit überdauert haben, wurde die Anlage rekonstruiert.

Während die Metalle irgendwann die Steine aus der menschlichen Werkzeug-Technologie verdrängten, blieb das Holz weiterhin präsent – nicht nur in Form von Betten, Regalen, Kisten und Paletten, sondern auch bei der Herstellung von Instrumenten der Hochkultur wie etwa Violinen oder Klavieren. Auch beim Gebäudebau gilt Holz aktuell als besonders modernes Material.5 Einem großen Teil der Menschheit beschert es bis heute in Form von Balken und Latten ein Dach über dem Kopf, und es kommt selbst beim Errichten von Gebäuden aus Glas, Stahl und Beton als Verschalung oder Gerüst zum Einsatz.

Holz spielte auch auf unserem Weg in die Globalisierung schon früh eine zentrale Rolle. Es war der Baustoff der Flotten, mit denen einige Gesellschaften sich anschickten, andere Weltgegenden für sich zu entdecken und sie als Kolonien zu unterwerfen. Dies begann in der Antike, und die Mittelmeerregion gilt als warnendes Beispiel dafür, wie Schiffs- und Siedlungsbau sowie Landwirtschaft und Holzkohlegewinnung Waldökosysteme unwiederbringlich schädigen oder gar verschwinden lassen können.6 Im Falle des Mittelmeerraums wird auch deutlich, wie die Zerstörung von Umweltressourcen zur Schwächung und zum Zerfall von politischen Systemen beitragen kann. Dass die dortige Geschichte trotz Waldzerstörung fortgesetzt wurde, lag allerdings nur daran, dass Ressourcen aus anderen Weltregionen herbeigeschafft werden konnten.

Holzknappheit hat vor allem in Europa Umweltgeschichte geschrieben. In mehreren Ländern waren nach dem Mittelalter Wälder in einem derartig schlechten Zustand, dass die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen bedrohlich erschienen. Der Bergmann Hans Carl von Carlowitz aus Sachsen erlangte dadurch Berühmtheit, dass er dazu aufrief, sich aus wirtschaftlichen Gründen systematisch der Holzproduktion zu widmen. Im Jahr 1713 schrieb er sein Werk Sylvicultura oeconomica. Damit schlug vielleicht nicht wirklich die Geburtsstunde der Nachhaltigkeit, aber es erfolgte die Erfindung der Forstwirtschaft im Sinne eines planvollen Anbaus von Bäumen ähnlich dem Getreide auf Feldern, um benötigte Holzressourcen »nachzuhalten«, also besser kontrollieren zu können.

Bahia im Osten Brasiliens:Ein außergewöhnlich artenreicher Küstenregenwald wurde für die Rinderhaltung zerstört(Pierre L. Ibisch, April 2015)

Trotz dieser alten Bedenken und Lösungsansätze schreitet die Waldvernichtung weltweit vor allem wegen der Ausbreitung der Landwirtschaft, aber auch angetrieben von der Gier nach wertvollen Urwaldhölzern voran. Selbst in industrialisierten Ländern wie Deutschland, in denen es kein nennenswertes Bevölkerungswachstum gibt, werden nach wie vor Wälder für das Anlegen von Tagebauen oder den Straßenbau gerodet. Letztlich bedeutet dies, dass diese Wälder der Gesellschaft nichts – oder im Vergleich zu den alternativen Flächennutzungen nicht genügend – wert sind.

Allein aus der Holznutzungsperspektive liegt es nahe, sich intensiv für Wald und sein Fortbestehen einzusetzen. Inzwischen ist längst klar, wie sehr vor allem funktionstüchtige Wälder Teil unseres globalen Lebensraums sind und wir deshalb ohne sie gar nicht existieren könnten. Wenn ein solcher Garant der menschlichen Existenz und unseres Wohlergehens verloren geht, müssten Ökonom:innen und Politiker:innen eigentlich ein Marktversagen diagnostizieren und gegensteuern. Das ist bisher aber kaum der Fall. Damit ergeht es dem Wald nicht besser als den anderen Bestandteilen des globalen Ökosystems, die wir schon länger als Lebensgrundlagen erkannt haben, ganz gleich, ob es sich um Meere und Fische, fruchtbare Böden, biologische Vielfalt oder gar das Weltklima handelt.

Und was ist mit den jahrzehntelangen internationalen politischen Bemühungen, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu stoppen? Die Vereinten Nationen haben etwa 1992 zu einem Erdgipfel mit dem Thema »Umwelt und Entwicklung« eingeladen. Das Ergebnis waren globale Umweltgesetze, sogenannte Konventionen. Diese beschäftigen sich etwa mit dem Klima, der biologischen Vielfalt oder der Wüstenbildung. Auch eine Konvention zur Erhaltung der Wälder lag auf dem Verhandlungstisch, die allerdings nicht ernsthaft in Betracht gezogen wurde. Kann es tatsächlich eine Weltrettung ohne Wälder geben?

Leider hat die Erhaltung von Wäldern einen noch schlechteren Stand als andere Felder der Umweltpolitik. In Bezug auf den Wald scheinen die klar definierten, mehr oder weniger kurzfristigen ökonomischen Interessen mit den langfristigen »Nachhaltigkeitszielen« besonders unvereinbar. Das gilt in waldreichen Ländern wie Brasilien, Kanada oder Russland, die sich schwertun, eine effektive Walderhaltung auch nur zu beschließen, weil mit Waldumwandlung oder Holznutzung außerordentlich viele kurzfristige Entwicklungsoptionen und Gewinnmöglichkeiten verbunden zu sein scheinen. Aber dies ist selbst in Industrieländern der Fall, die nicht mehr über sehr viel Wald verfügen und schon gar nicht ihre Wirtschaftskraft aus dem Wald schöpfen. So wurde etwa die Bemühung der Europäischen Kommission, in der EU eine Waldstrategie auf den Weg zu bringen, von Mitgliedsstaaten wie Deutschland bekämpft, die dies mit einer Unausgewogenheit der Strategie begründeten. Die Betrachtung der Umweltziele (Klima und Biodiversität) sei zu einseitig, und der Beitrag bewirtschafteter Wälder und von Holz zur Bioökonomie würde vernachlässigt. Ohnehin wolle man sich nicht von der Staatengemeinschaft in den Umgang mit den Wäldern reinreden lassen. Dieselben Staaten kritisieren allerdings Länder wie Brasilien dafür, dass sie nicht genug für die Walderhaltung täten.

Kann dieses kurzsichtige Verhalten damit zu tun haben, dass viele Menschen Wald nicht wirklich kennen? Dem kann auf den folgenden Seiten abgeholfen werden!

Die Insel Vilm in der Ostsee steht seit 1936 unter Naturschutz, war ab 1959 ein abgeschirmter Ferienort der DDR-Regierung und gehört seit 1994 zum Biosphärenreservat Südost-Rügen.1527 gab es den letzten großen Holzeinschlag, ab 1812 wurde die Holznutzung ganz eingestellt. Der kleine »Urwald« ist auch ein europäisches Vogelschutz- und Fauna-Flora-Habitat-Gebiet (Pierre L. Ibisch, Mai 2017)

Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume

Wälder sind Ökosysteme. Der Begriff leitet sich ab vom altgriechischen Oikos, Haushalt. Systeme sind ein organisiertes und geordnetes Ganzes. Leicht zu verstehen ist das ohne Erläuterung tatsächlich nicht. Was sollen denn Haushaltssysteme in der Natur sein?

Es ist fast paradox. Die irdische Natur umgibt uns ganz direkt, und unsere Existenz hängt komplett von ihr ab. Aber es fehlen uns immer noch die allgemein verständlichen Worte, die für alle widerspiegeln, worum es geht.

Es steckt so viel in diesem Begriff und im Konzept des Ökosystems, dass er oftmals vereinfacht wird, um ihn auch jenseits von Fachkreisen verwenden zu können.

Ein Ökosystem wird häufig darüber definiert, dass es aus lebenden Organismen, einer Lebensgemeinschaft oder Biozönose, und einem Lebensraum, dem Biotop, besteht. Diese Definition wird dem Schöpfer der Idee, Arthur Tansley, allerdings nicht gerecht, der ja just das Ökosystem erfand, um den Begriff Gemeinschaft zu vermeiden. Es ging dabei doch wesentlich um das System und das Systemische, also das Zusammenwirken, und nicht nur um das Ergebnis der Teile.

Zum einen gilt: »Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume«, zum anderen ergibt sich nicht automatisch ein Ökosystem dadurch, dass man diverse Lebewesen zusammen an einem Ort hält. Zoologische oder Botanische Gärten sind keine Ökosysteme, sondern müssen mühsam gepflegt und gewartet werden, damit sie erhalten bleiben. Was also macht einen Wald »Öko« und was zum »System«?

Das Ökosystemverständnis ist so wichtig, dass es sich lohnt, hier etwas genauer hinzuschauen. Dabei müssen nicht nur die zentralen Bestandteile von Ökosystemen verstanden werden, sondern vor allem auch die Prozesse in ihnen, der Treibstoff, der sie am Laufen hält, ihre Wirkungen und Funktionen. Ökosysteme wie Wälder zu verstehen und zu bewirtschaften, bedeutet daher weniger, die Einzelteile möglichst genau zu kennen und einzeln zu bearbeiten, als vielmehr, in Zusammenhängen zu denken. In den folgenden Abschnitten werden wir uns deshalb mit vielerlei physikalischen, chemischen und biologischen Zusammenhängen der Wälder vertraut machen. Wer von Bäumen und Wäldern leben will, darf Moleküle genauso wenig ignorieren wie das Phänomen des Lebens an sich. Und, keine Sorge, auch der Mensch kommt noch hinzu – als Teil der Ökosysteme.

Die einzelnen Teile im Verhältnis zum Ganzen

Gedacht sei an dieser Stelle des herausragenden Forschers und Denkers Alexander von Humboldt.

Folgen wir seinem »Bestreben, die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen«. Auch wenn es scheinbar »nur« um den Wald geht, mögen wir uns einem kosmischen Humboldtschen Wissenschaftsverständnis verpflichtet sehen. »Es sind (...) die Einzelheiten im Naturwissen ihrem inneren Wesen nach fähig wie durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig zu befruchten«,1 und »in der Lehre vom Kosmos wird das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen betrachtet«.2

1A. von Humboldt (1845): Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Vollständige Ausgabe in 2 Bänden. Faksimile hrsg. von H.M. Enzensberger, Eichborn, Frankfurt, 2004. S. 3.

2Ebenda. S. 25

Wälder sind Systeme

»Es ist an der Zeit, die rein reduktionistische molekulare Sichtweise durch eine neue und wirklich ganzheitliche Sichtweise der lebenden Welt zu ersetzen, bei der Evolution, Emergenz und die der Biologie innewohnende Komplexität im Vordergrund stehen.«

Carl Woese (2004)1

Wir benutzen das Wort System recht häufig in der Alltagssprache. Im Altgriechischen bedeutet systema ein »organisiertes Ganzes, ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes«. Es geht aus dem Wortstamm synistanai, »zusammenfügen, organisieren, in Ordnung bringen«, hervor. Die Bedeutung gemäß einer »Reihe von zusammenhängenden Prinzipien, Fakten, Ideen usw.« kam erstmals in den 1630er-Jahren auf. Die Benutzung als »tierischer Körper als organisiertes Ganzes, Summe der Lebensprozesse in einem Organismus« ist seit den 1680er-Jahren belegt.2

Seit der Antike fragten sich Menschen, warum es in der Natur eine Ordnung gibt, wie Formen entstehen und alles zusammengehört. Erst im 20. Jahrhundert entstand eine allgemeine Systemtheorie, die von Ludwig von Bertalanffy vorgeschlagen wurde.3 Sie hat viele Wissenschaften befruchtet und führte zu einem gänzlich neuen Denken in Zusammenhängen. Systemik ist eine Grundbedingung für die Wissenschaft vom Haushalt in der Natur, die Ökologie.

Systeme bestehen aus verschiedenen Komponenten, die miteinander in Wechselwirkung treten. Sie interagieren und tauschen etwas aus, was jeweils Wirkungen hervorbringt. Die wichtigste Konsequenz ist, dass diese Komponenten ein größeres Ganzes bilden, das ganz andere Eigenschaften hat als die Einzelteile. Dieses Phänomen nennt man Emergenz. Systeme haben neu entstehende, also emergente Eigenschaften. Systeme können lebendig sein, aber auch unbelebt. Unbelebte Systeme sind zum Beispiel die Atome oder Moleküle, die jeweils aus einzelnen Komponenten bestehen. Diese können sich anziehen und Bindungen eingehen. Wenn etwa zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom miteinander reagieren und ein Molekül bilden, entsteht ein Wassermolekül. Aus unsichtbaren Gasen wird bei bestimmten Temperaturen eine sichtbare Flüssigkeit mit emergenten Eigenschaften, die nichts mit den Eigenschaften der beiden Gase zu tun haben.

Aus einzelnen Kohlenstoffatomen werden im Verbund Diamanten, Graphit oder Fullerene. Drei unterschiedliche Stoffe, weich, hart, löslich, elektrisch leitend oder eben auch nicht. Allein zwischen dem fast wertlosen Schmiermittel Graphit und den so wertgeschätzten Diamanten könnte der wahrgenommene Unterschied kaum größer sein. 20 Gramm Graphit kosten 50 Cent, 20-Gramm-Diamanten können schon mal Dutzende von Millionen Euro kosten. Im Falle des Kohlenstoffs entscheiden die räumliche Anordnung und die Art, wie die Kohlenstoffatome miteinander verbunden sind, über die emergenten Stoffeigenschaften. Hier gilt schon einmal die erstaunliche Einsicht: Nicht die Teile bestimmen die Eigenschaften dessen, was ist, sondern deren Wechselwirkungen!

Kohlenstoff ist für das Leben – im wahrsten Sinne des Wortes – von elementarer Bedeutung. Und wenn sich zu sechs Kohlenstoffatomen zwölf Wasserstoff- und sechs Sauerstoffatome hinzugesellen, kann Glucose beziehungsweise Traubenzucker entstehen. In der Natur ist eine solche chemische Reaktion die Grundlage von fast allem Leben, das wir kennen. Es sind einzellige Algen oder die Chloroplasten in den grünen Pflanzen, die schrittweise zunächst Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen und dann Kohlendioxid, ein Molekül aus einem Kohlenstoffatom und zwei Sauerstoffatomen, mit dem Wasserstoff reagieren lassen, sodass am Ende Glucose und wieder Wasser entsteht. Sie benötigen dafür Lichtenergie, die von der Sonne kommt. Außerdem wird der Sauerstoff als Abfallprodukt frei. Der Prozess heißt Photosynthese, also »Licht-Herstellung«.

Mit großer Kraft und Anpassungsfähigkeit können Wälder die unmöglichsten Standorte bezwingen. Eine »Felsenbuche« im Monte-Cimino-Urwald,Lazio, Italien, der zur UNESCO-Weltnaturerbestätte »Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas« gehört (Pierre L. Ibisch, September 2018)

Andere Organismen wie etwa die Tiere können eine Kette von chemischen Reaktionen in ihren Zellen ablaufen lassen, die die Photosynthese quasi umkehren können. Sie zerlegen Glucose mithilfe von Sauerstoff, produzieren dabei Wasser und Kohlendioxid und können so die Energie für ihr eigenes Leben gewinnen, welche zuvor von den Pflanzen im Zuckermolekül festgehalten wurde. Man bezeichnet den Vorgang als Atmung. Alle Lebewesen sind für sich genommen Systeme, die wegen der Zusammenarbeit ihrer Moleküle und Zellen existieren und funktionieren. In dem Moment, in dem diese Zusammenarbeit aufhört, sterben die Lebewesen und zerfallen in ihre Einzelteile.

Die streng organisiert ablaufenden Wechselwirkungen von Molekülen in Organismen, die etwas miteinander tun – in diesem Falle fressen die einen die anderen auf –, haben emergente Eigenschaften nicht nur des lebendigen Wesens, sondern auch des größeren Systems zur Folge. In diesem Falle bedeutet es, dass ein toter Lebensraum aus Gestein, Wasser und Gasen in der Atmosphäre belebt und damit zur Biosphäre wird. Die lebenden Organismen nehmen Einfluss auf ihre Umwelt. Wenn Pflanzen mehr Sauerstoff produzieren, als von den Tieren wieder veratmet wird, verändert sich die Zusammensetzung der Atmosphäre. Dies geschah zu Beginn der Evolution der Pflanzen auf ziemlich dramatische Weise. Nach der Entwicklung der Photosynthese reicherte sich vor etwa 2,2 Milliarden Jahren das zuvor unbekannte Gas Sauerstoff in der Atmosphäre an.4 Sauerstoff ist sehr reaktionsfreudig: Er bringt etwa Eisen zum Rosten, und wenn er auf Wasserstoff trifft, kommt es zu einer explosionsartigen Reaktion, und es entsteht Wasser. Für die frühen Organismen war dieser aggressive Sauerstoff zunächst einmal ein Gift. Sie mussten sich erst auf ihn einstellen und Strategien entwickeln, ihn unschädlich zu machen – bis sie dann sogar von ihm abhängig wurden.

Das ist typisch für Systeme: Die emergenten Eigenschaften können weitere Folgewirkungen und Kettenreaktionen auslösen, die oftmals auch auf die Auslöser zurückwirken. Das nennt man eine Rückkopplung. In diesem Fall »erfand« das Leben die Photosynthese und brachte mit dem Zucker Nährstoffe in Umlauf, welche neue Lebensformen wie zum Beispiel Tiere erst ermöglichten. Damit hat sich das Leben durch die Schaffung von Lizenzen für neue Organismen selbst verstärkt beziehungsweise vervielfältigt: eine positive Rückkopplung. Positiv war das allerdings nicht für die Alteingesessenen. Die Ur-Bakterien, die Archaeen, von denen die Evolution aller anderen Organismen ausging, wurden an Standorte verdrängt, an denen es keinen für sie giftigen Sauerstoff gibt. Sie leben beispielsweise in vulkanischen Quellen oder besiedelten nach der Evolution von Tieren deren Darm (was ein bisschen unfair für die »Erfinder« des Lebens klingt).

Der Sauerstoff wurde zum Motor der Evolution.5 Das Leben hat sich durch seine Produktion nicht selbst vergiftet, sondern vielmehr die Grundlage für die schiere Explosion von Lebensformen geschaffen. Bis dato waren alle Wesen darauf angewiesen, durch das Zerlegen von anorganischen Molekülen wie etwa Sulfaten zu existieren. Dann hat die Entwicklung der beiden Schlüsselinnovationen Photosynthese und Atmung eine regelrechte Eskalation von Rückkopplungen ausgelöst.

Die verschiedenen Wechselwirkungen in Systemen – Reaktionen, Gegenreaktionen, Rückkopplungen – bewirken nebenbei eine zentrale Eigenschaft von Systemen, die man als gegeben hinnimmt. Systeme organisieren sich nämlich selbst, ohne dass es extern angeordnet werden müsste. Weil Einzelteile zusammentreffen und interagieren, entsteht eine Ordnung, und es entwickeln sich oft auch Prozesse, die diese Ordnung und die Organisation noch verstärken oder stabilisieren. Moment: Die Moleküle in unserem Körper arbeiten miteinander und halten uns am Leben, ohne dass das zentral und im Detail irgendwo befohlen und gesteuert wird? Braucht es dafür nicht organisierende Kräfte? Ein wenig Geduld, diesen Nebel werden wir noch lichten.

Ein Ökosystem entsteht aus verschiedenen Lebewesen, die geordnet miteinander in Wechselwirkung treten. Allerdings ist die Ordnung und Zusammensetzung des Systems weniger streng geregelt als in den einzelnen Lebewesen selbst. Dennoch können Ökosysteme zu einem größeren Ganzen werden. Ein Waldökosystem unterscheidet sich von einem Moorökosystem oder einem Steppenökosystem durch die teilnehmenden Arten, die äußere Erscheinung und die speziellen Funktionen. Weil die Komponenten in einem System viel intensiver miteinander wechselwirken als mit anderen Teilen außerhalb, entstehen mehr oder weniger sichtbare Grenzen. Diese sind dabei trotzdem offen. Ein Vogel kann vom Wald auf einen angrenzenden Strand fliegen, Sand eines Dünenökosystems kann vom Strand in den benachbarten Kiefernwald verblasen werden. Dennoch bleibt Wald Wald und Düne Düne. Auch hier taucht dieselbe Frage wie bei unserem Körper auf: Wie erhalten und organisieren sich solche Ökosysteme?

Schauen wir uns eines dieser Systeme, den Wald, einmal genauer an. Sein auffälligstes Merkmal sind die Bäume. Sie erheben sich hoch über die Landoberfläche und damit über andere Pflanzen, ein systemischer Prozess par excellence: Grüne Pflanzen benötigen Sonnenlicht; je mehr davon zu haben ist, desto besser. Insofern ist es schlüssig, dass im Zuge der Evolution Konstruktionsmaterialien entwickelt wurden, die es Pflanzen ermöglichten, größer zu werden, näher und unbeschattet am Licht zu sein und eine Krone zu entwickeln, die viel größer ist als der Fleck, an dem sie wurzelten.

Einige Pflanzen wie die Lianen machten es sich leicht und begannen, an den Bäumen nach oben zu klettern. Andere, die sogenannten Aufsitzerpflanzen oder Epiphyten, machten es sich direkt oben an den Baumstämmen oder im Kronenraum auf den Ästen bequem. Weshalb Kraft in eine Stammbildung investieren, wenn das schon jemand anderes gemacht hat? Es gibt allerdings einen Haken: Die Lebensbedingungen sind hier deutlich extremer als am Boden. Pflanzen brauchen nicht nur Licht und Luft, sondern auch Wasser und Nährstoffe. Ohne Bodenkontakt ist an die beiden letztgenannten Stoffe kaum heranzukommen, außer, man ist besonders erfinderisch. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Ananasgewächse, die Bromelien. Einige bilden mit ihren Blättern einen riesigen Trichter, mit dem sie Regenwasser einfangen, je nach Art können es viele Liter sein. Und weil es nun quasi an der falschen Stelle sitzt, also nicht unten an den Wurzeln, sondern oben, wird das kühle Nass einfach über die Blätter aufgenommen.

Einige Pflanzen drehten im Laufe der Evolution den Spieß einfach um und starteten den Wettlauf um das Licht bereits im Ziel: Sie keimen zunächst oben auf einem Baum – die Samen können dort beispielsweise per Vogeltransport hingelangen –, senden Wurzeln zum Boden und erstarken dann. Solche Halb-Epiphyten können im Extremfall den ehemaligen Trägerbaum komplett umwachsen, ihn regelrecht erwürgen und dann seinen Platz einnehmen, wie etwa die Würgefeigen. Wer als Pflanze im Wald keinen Stamm bildet und einfach am Boden bleibt, muss sich mit wenig Licht begnügen oder die Zeit mit mehr Licht ausnutzen, in der Bäume – etwa im Frühjahr oder in einer Trockenzeit – keine Blätter haben.

All diese Innovationen in den Ökosystemen erfolgen durch das Zusammenspiel von Mutationen, also Veränderungen des genetischen Programms, welches die Lösungen für die verschiedenen Lebensleistungen in sich speichert, und die Selektion. Was sich bewährt, kommt voran. Je mehr Veränderungen und Herausforderungen es in einem System gibt, desto mehr müssen sich seine Komponenten daran »abarbeiten« und Lösungen finden. Die Entstehung der Bäume und der dreidimensionalen Struktur von Wäldern hat die Evolution der Wuchsformen- und Lebensstrategievielfalt von Pflanzen ungemein befeuert – wiederum ein Beispiel für die Eskalation von rückkoppelnden Prozessen.

Der Vorteil, Baum zu werden, ist so groß, dass der Baumwuchs in der Evolution viele Male unabhängig voneinander entwickelt wurde. Die baumförmigen Lebewesen stammen nicht alle von einem einzigen Ur-Baum ab. Vielmehr entstanden Bäume bei Farnen und Farnartigen, Schachtelhalmen, Nadelbaumartigen und Blütenpflanzen unabhängig voneinander und mehrfach. Die ersten Bäume existierten im Devon vor ca. 400 Millionen Jahren (Cladoxylopsida).6Eospermatopteris, ein Gewächs mit farnartigen Wedeln, wurde bereits 30 Meter hoch oder höher. Im Karbon, vor ca. 300 bis 360 Millionen Jahren, existierten ausgedehnte Sumpfwälder aus Sigillaria- und Lepidodendron-Bäumen aus der Verwandtschaft der Bärlappartigen mit einer hübschen Rinde, die knopf- oder rautenförmige Muster aufwies. Ihre Überbleibsel sind noch heute unterirdisch massenhaft vorhanden und werden von uns ans Tageslicht geholt – als Kohle. Im Zeitalter der Dinosaurier, dem Jura, traten erste Nadelbaumartige auf, die schon heutigen Bäumen nahestanden. So ähneln einige bis 170 Millionen Jahre alte Fossilien von Ginkgo-Bäumen noch heute lebenden Verwandten.7

Kohlendioxid: kleines Molekül, große Klimawirkung

Das CO2-Molekül ist etwas ganz Besonderes, weil es in der Atmosphäre mit unterschiedlichen Licht- und Wärmestrahlungen jeweils anders umgeht. Licht- und Wärmestrahlung mit großen Wellenlängen werden absorbiert, kurzwelliges Licht nicht. Das führt dazu, dass energiereiches Licht aus dem Weltraum auf die Erdoberfläche wie von einer Glasscheibe durchgelassen wird. Aber ein großer Teil der von der Erde reflektierten Wärmestrahlung bleibt in dem die Erde umgebenden Treibhaus gefangen. Dies führt zur Erwärmung, und deshalb reguliert die CO2-Konzentration der Atmosphäre die Temperatur. CO2 wird aus dem Erdinnern etwa bei Vulkanausbrüchen freigesetzt. Würde das Kohlendioxid nicht wieder eingefangen, wäre mit einer stetigen Erwärmung zu rechnen. Das Einfangen passiert unter anderem bei der Entstehung von Lebewesen mit Kalkschalen – Wasser, Calcium und CO2 reagieren zu Calciumcarbonat, dem Kalk. Wenn die Kalkschalen von Meereslebewesen wie Foraminiferen oder Muscheln und anderen auf den Ozeanboden sinken, bildet sich Kalkstein, der den Kohlenstoff für Jahrmillionen aus der Atmosphäre fernhalten kann. Der andere Mechanismus des Kohlenstoff-Einfangens geschieht über die Photosynthese der Pflanzen, die aus Luft und Wasser Zucker produzieren und den Grundstein für sämtliche Biomassebildung legen.

In früheren Erdzeitaltern war die CO2-Konzentration der Atmosphäre wesentlich höher: Vor etwa 60 bis 52 Millionen Jahren waren 2000 von jeder Million Teilchen in der Atmosphäre Kohlendioxid (also 2000 »Promillionstel« oder ppm beziehungsweise 2 Prozent). Als es viel CO2 in der Atmosphäre und eine überaus produktive Vegetation auf der Erde gab, lag auch der Sauerstoffgehalt höher. Das hatte zur Folge, dass etwa Insekten wie Libellen gigantisch groß werden konnten und eine Flügelspannweite von bis zu 70 Zentimetern erreichten.1 In dem Zeitraum vor 55 und 40 Millionen Jahren gab es einen sprunghaften Rückgang möglicherweise durch verringerte CO2-Ausgasung durch geologische Prozesse. Ab einer Zeit vor etwa 24 Millionen Jahren scheint die CO2-Konzentration der Atmosphäre unter 500 ppm geblieben zu sein und blieb auch viel stabiler als vorher.2

Wissenschaftler haben im Rahmen der Klimawandelforschung die Zusammenhänge zwischen den globalen Temperaturen und der Kohlendioxidkonzentration intensiv untersucht. Dem Treibhaus-Bild folgend unterscheiden sie Heiß-, Warm- und Kühl- und Eishauszeiten. Die verschiedenen Klimaperioden entstanden aus einem Wechselspiel unter anderem von geologischen Ereignissen, der Lage der Kontinentalplatten auf der Erde, der Sonneneinstrahlung, der Eis- und Gletscherbildung sowie der Vegetationsentwicklung. Auch die Klimaentwicklung ist ein systemischer Prozess, der sich aus den Wechselwirkungen der Komponenten ergibt. Das führte dazu, dass sich nicht ständig die gleichen Klimazustände wiederholten, sondern dass auch immer wieder gänzlich neuartige Situationen hervorgebracht wurden.

Ab der Zeit der Dinosaurier (Kreidezeit) gab es für viele Millionen Jahre Warm- und Heißhauszustände, die mehr als 5 bis 10 °C wärmer waren als heute. Vor 34 Millionen Jahren ging das Warmhaus Erde in einen Kühlhauszustand über. Die Temperaturen sanken stark ab, die Antarktis vergletscherte. Die später folgende Eishauszeit war davon geprägt, dass auch die Nordhalbkugel mal mehr und mal weniger vergletscherte. Die periodisch wiederkehrenden Eiszeiten wurden ein wichtiger Treiber von biologischer Evolution und ökologischen Prozessen in Nordamerika und Eurasien. Sie hatten aber auch in den Tropen bedeutsame Auswirkungen, da in den kalten Zeiten weltweit weniger Niederschläge fielen.

Seit ca. 3,3 Millionen Jahren sind Klima, Atmosphäre und Biosphäre in einen Zustand eingetreten, den es vergleichbar in den 60 Millionen Jahren und wohl noch viel länger zuvor niemals gegeben hat.3 Neben der Verteilung der Kontinente auf dem Globus dürfte unter anderem auch das Leben (vor allem in den Ozeanen) für den neuen Zustand bedeutsam gewesen sein.

1C. Barras (2019): Scientists have discovered the world’s oldest forest—and its radical impact on life. Science: 10.1126/science.aba6333.

2P. Pearson & M. Palmer (2000): Atmospheric carbon dioxide concentrations over the past 60 million years. Nature 406, 695–699. 10.1038/35021000.

3T. Westerhold et al. (2020): An astronomically dated record of Earth’s climate and its predictability over the last 66 million years. Science, 369, 1383–1387. 10.1126/science.aba6853.

Die Entstehung von Bäumen gab der Evolution auf der Erde eine völlig neue Richtung: Wälder begannen, in das Weltklima einzugreifen. Im Karbon entstanden dadurch, dass die Bäume der ersten großen Wälder große Mengen Kohlendioxid aufnahmen und ihre Stämme schließlich in den Sümpfen nur unvollständig zersetzt wurden, erstmals große, von Landorganismen verursachte Kohlenstofflager. Kohlenstoff ist nicht nur als Bauelement für das Leben von zentraler Bedeutung, sondern nimmt – in Verbindung mit Sauerstoff oder Wasserstoff – in der Atmosphäre steuernden Einfluss auf die Lebensbedingungen. Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4) sind wichtige Treibhausgase, die dafür sorgen, dass auf der Erde eine für das Leben günstige Temperatur herrscht.

Die in der Erdgeschichte neu auftretende Ausbildung von kohlenstoffreichen durchwurzelten Waldböden wird dazu beigetragen haben, dass der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre sank und sich damit das Klima veränderte. In der Silurzeit (vor 443,4 bis ca. 419 Millionen Jahren) waren die Böden schon beeindruckend dicht und tief von Wurzeln durchzogen. Im Devon (vor 419 bis ca. 359 Millionen Jahren) wurden dann Holzpflanzen und Bäume dominant, was zu einem noch höheren Kohlenstoffverbrauch führte und die späteren Eiszeiten (seit 34 Millionen Jahren) zumindest zu einem Teil mitbewirkt haben dürfte.8

15–20 Millionen Jahre alt: Fossile Bäume geben Hinweise auf frühere Waldökosysteme. Der »steinerne Wald« von Sigri auf der griechischen Insel Lesbos war zu Lebzeiten unter anderem von Kiefern, Zedern und sequoiaartigen Nadelbäumen sowie Hainbuchen, Erlen, Eichen, Lorbeerbäumen, Zimtbäumen, Pappeln geprägt. Ein subtropisch-tropischer Wald, wie er in Europa nicht mehr existiert (Pierre L. Ibisch)

Die größte Herausforderung bei der Entwicklung von Bäumen ist nicht die Bildung und Gewährleistung von soliden und haltbaren Stämmen, sondern die Wasserversorgung von den Wurzeln nach oben in die Blätter. Auch in diesem Zusammenhang kam es zu überaus bedeutsamen systemischen Konsequenzen und emergenten Eigenschaften im Wald. Die ersten einzelligen Pflanzen schwammen im Wasser und brauchten es nur aufzunehmen. An Land mussten die Pflanzen beginnen, mit Wasser zu wirtschaften. Die Wasseraufnahme erfolgte zunächst mehr oder weniger passiv. Viele Moose etwa saugen sich mit Wasser voll, können aber auch wieder austrocknen, ohne abzusterben. Moderne Pflanzen entwickelten eine Art Wasserleitungen, damit das Wasser vom Boden zum Ort der Photosynthese gelangen kann. In den Blättern verdunstet es, es entsteht ein Verdunstungssog, der Wasser nachliefert. In großen, teils über 100 Meter hohen Bäumen wird das allerdings immer schwieriger.

Mit der Größe der Bäume wächst natürlich auch der Wasserbedarf – so kann eine ausgewachsene Buche über 1000 Quadratmeter Blattoberfläche haben. Das bedeutet wiederum, dass die Durchwurzelung des Bodens in Wäldern intensiver erfolgen muss als etwa bei Gräsern und Kräutern in Steppen. Vor allem müssen die Wurzeln tiefer reichen – was nebenbei noch notwendig ist, um die riesigen Stämme zu verankern. Gleichzeitig führt die stärkere Durchwurzelung zu Veränderungen im Boden selbst. Die Verwitterung von Gestein wird beschleunigt, der Boden wird stärker aufgelockert, durchlüftet und mit nährstoffreichen Ausscheidungen angereichert, die für andere Organismen bedeutsam sind.

Mit den ersten Bäumen und Wäldern entstand nicht nur oberirdisch ein neuartiger Lebensraum, sondern auch unterirdisch ein ganz neues Reich des Lebendigen, die sogenannte Rhizosphäre,9 der von Wurzeln durchzogene belebte Boden. Die Entstehung der Wälder begann in Sümpfen und auf fruchtbaren Böden; erst mit etwas Verzögerung schafften es die Bäume im mittleren Karbon dann auch, nährstoffarme Tonböden oder Quarzsande zu besiedeln.

Es bleibt immer wieder festzuhalten: Evolution ist ein unfassbar dynamischer Prozess, der in Systemen stattfindet. Lange Zeit wurde die Evolutionstheorie als Prozess der Artbildung erzählt. Deshalb herrschte der Eindruck vor, dass die Evolution allein die Tier- und Pflanzenarten an sich betraf. Tatsächlich wurde aber die biologische Evolution von einer ökologischen begleitet. Es haben sich nicht nur die Komponenten verändert, sondern auch das größere Ganze, die Umwelt der Lebewesen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen.

Überdeutlich wird nach der Erläuterung der wenigen Beispiele, dass gewisse Eigenschaften von Organismen neue Bedingungen für ihr eigenes Gedeihen sowie neuartige Lebensräume und neue Möglichkeiten für Wechselwirkungen mit und zwischen anderen Organismen schaffen, oder einfach ausgedrückt: Mit der Entwicklung eines neuen Lebensraumtyps, den Wäldern, wuchs auch die Vielfalt der Tiere auf dieser Erde deutlich an.10

Und noch etwas wird klar: In Systemen mit sehr vielen unterschiedlichen Komponenten gibt es sehr, sehr viele Möglichkeiten für Wechselwirkungen zwischen ihnen. Wird Ihnen langsam schwindelig? Uns auch, und deshalb ist es an der Zeit, über Komplexität nachzudenken.

Artenzahlen im mittleren Paläozooikum (bekannte Fossilien)

Nachdem Bäume und Wälder häufiger und vielfältiger wurden, stieg auch die Vielfalt von anderen Organismengruppen an.

Quelle: G.J. Retallack (1997): Early forest soils and their role in Devonian global change. Science 276: 583-585.

Wälder sind unberechenbar

Wir haben verstanden, dass Wälder komplexe Systeme sind, in denen sehr viele unterschiedliche Komponenten miteinander verknüpft sind. Sie sind deshalb manchmal nicht einfach zu begreifen.

Viele Teile, noch mehr Wechselwirkungen

Komplexe Systeme sind Systeme, bei denen man nicht einfach von ihren Eigenschaften auf ihr Verhalten schließen kann. Sie sind immer wieder für Überraschungen gut. Einfachere Systeme wie etwa Atome, die aus den Bestandteilen Elektronen, Protonen und Neutronen sowie deren Einzelteilen wie den Quarks bestehen, sind noch relativ leicht vorhersagbar. Die Vielfalt der Atomarten hält sich mit 118 inzwischen bekannten chemischen Elementen in Grenzen.

94 Elemente kommen in der Natur vor, 83 existieren seit Entstehung der Erde, die anderen wurden vom Menschen erzeugt. Aus diesen Elementen – wie Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff oder Eisen – besteht alles, was Materie ausmacht: alle Gase, Flüssigkeiten oder Feststoffe. Es wurde schon erwähnt, dass selbst mit relativ einfachen Atomen (denken Sie an Kohlenstoff, der als Diamant oder Graphit daherkommen kann) bereits einige Vielfalt in die Welt kommt. Atome können unter bestimmten Umständen bei gleicher Protonenzahl unterschiedlich viele Neutronen haben. Solche Atome mit mehr oder weniger Neutronen haben allerdings ähnliche Eigenschaften. Man nennt sie Isotope. Dabei sind zum Beispiel Sauerstoffatome mit 18 Neutronen (18O) etwas schwerer als diejenigen mit 16.

Die Summe und die Teile: Wie viele Molekülarten gibt es eigentlich? Und aus wie vielen Atomen und Molekülen bestehen lebende Systeme?

Chemiker haben in einer Datenbank von Molekülen aus bis zu 17 Atomen 2,5 Millionen Moleküle gelistet.

Im Zusammenhang mit pharmazeutischer Forschung wurde errechnet, dass auf Grundlage von 17 Atomen – und zwar nur aus den Elementen Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Silizium sowie Halogenen – theoretisch 166,5 Milliarden verschiedene Moleküle hervorgebracht werden könnten. Die synthetische Chemie hat bislang ungefähr 60 Millionen verschiedene Verbindungen erzeugt.1

Lebewesen und die wichtigsten organischen Moleküle kommen allerdings auf Grundlage von sehr viel weniger Elementen und Molekülen zustande, die sich nicht in beliebiger Weise miteinander verbinden können. Ein menschlicher Körper besteht aus einer nicht wirklich vorstellbaren Zahl von Atomen (7x1027), aber nur aus wenigen Bauteilen:

zu 65 Prozent aus Sauerstoff (24 Prozent der Atome),

zu 18,5 Prozent aus Kohlenstoff (12 Prozent der Atome), zu 10 Prozent Wasserstoff (62 Prozent der Atome),

zu 3,2 Prozent aus Stickstoff (1,1 Prozent der Atome),

zu 1,5 Prozent aus Calcium (0,22 Prozent der Atome),

zu 1 Prozent aus Phosphor (0,22 Prozent)

– also zu 99 Prozent aus nur sechs Elementen. Hinzu kommen dann noch elf Spurenelemente. Dafür ist unser Körper tatsächlich erstaunlich komplex.

1L. Ruddigkeit et al. (2012): Enumeration of 166 billion organic small molecules in the chemical universe database GDB-1. J. Chem. Inf. Model. 52: 2864-2875.

Die Vielfalt der Eigenschaften der Materie wächst, wenn sich unterschiedliche Atome verbinden. Chemiker studieren, wie die Elemente miteinander in Wechselwirkung treten. Sie verbinden sich zu Molekülen wie Wasser, Sulfat oder Glucose.

Biodivers: Die Vielfalt des Lebens

Am Beispiel von uns Menschen schauen wir uns einmal an, wie die Komplexität von Lebewesen entsteht: Die vielen Atome und Moleküle bilden Zellen, die sich wiederum zu Geweben und Organen organisieren. Die Zahl dieser Zellen ist ebenfalls sehr groß:11 3,72 Billionen. Selbst wenn nicht jegliche Zelle mit allen anderen in Wechselwirkungen treten kann, explodieren die Zahlen möglicher Interaktionen und Prozesse in unserem Körper.

Die Komplexität wächst, wenn wir die nächste Ebene betrachten. Es gibt ungefähr acht Milliarden Menschen, die potenziell miteinander oder auch mit den sehr vielen anderen Lebewesen auf der Erde, die gemeinsam das globale Ökosystem bilden, interagieren können. Der Mensch ist nur eine von vielleicht bis zu zehn Millionen unterschiedlichen Arten12 (von denen allerdings bisher geschätzt 86 Prozent an Land und 91 Prozent in den Ozeanen noch gar nicht entdeckt und wissenschaftlich beschrieben wurden). Alle diese Arten bestehen wie Homo sapiens auch aus Tausenden, Millionen, Milliarden, Billionen von einzelnen Lebewesen.

Die meisten bisher unbekannten Tier- und Pflanzenarten werden in den Tropen entdeckt. Überraschend ist, dass selbst in sehr gut erforschten europäischen Ländern offenkundig manche Organismengruppen noch nicht gut bekannt sind. Wissenschaftler fanden im Rahmen einer Studie in Süddeutschland, dass allein bei den vier Zweiflüglerfamilien Trauer-, Gall- und Zuckmücken sowie Buckelfliegen noch 1800 bis 2200 Arten unbekannt sein dürften.13

Eine andere Studie hat sich mit Pilzen beschäftigt, die in Kirschbäumen in Deutschland Krankheiten des Holzes verursachen. Auch hier war das Ergebnis verblüffend: Insgesamt wurden 82 Arten mit hoher und 20 Arten mit geringer Sicherheit identifiziert. Darüber hinaus konnten etwa 70 Arten keiner bekannten Art zugeordnet werden, was zeigt, dass selbst Kirschholz in einer gut erforschten Region wie Deutschland einen Lebensraum darstellt, der eine große Anzahl wohl neuer, noch unbeschriebener Arten beherbergt.14 Dies gilt wohl für alle Lebensräume, wenn man etwas genauer nachforschen würde.

Taxonomie: Das Leben bekommt Namen

Der schwedische Biologe Carl von Linné führte ab den 1740er-Jahren die systematische Namensgebung von Arten ein. Mutmaßlich nahe verwandte Arten werden in Gattungen mit lateinischen Namen zusammengefasst, wie etwa alle Eichen in der Gattung Quercus. Der Artname entspricht dann dem Vornamen beim Menschen, steht aber an zweiter Stelle. Quercus rubra etwa ist die Roteiche, und die Korkeiche heißt Quercus suber. In den mehr als 250 Jahren seit den Anfängen der Taxonomie wurden bisher übrigens nur 1,2 Millionen Arten identifiziert und klassifiziert – weniger als 15 Prozent der 2011 geschätzten Gesamtzahl. Und wenn sie nicht (aus)gestorben sind … würde es bei dem bisher beobachteten Entdeckungstempo noch fast ein halbes Jahrtausend dauern, bis alle Arten erfasst wären.1

Früher wurden Arten nur nach ihrem Aussehen und typischen Merkmalen klassifiziert. Inzwischen kommen zusehends genetische Methoden zum Einsatz, die einen quantitativen Vergleich der Ähnlichkeit des Erbmaterials erlauben.

Lange Zeit ging man davon aus, dass neue Arten nur durch Aufspaltung innerhalb der Art entstehen. Während dies zweifelsohne ein wichtiger Prozess bei der Bildung von biologischer Vielfalt ist, wird die Bedeutung von Innovationen durch Kooperation, Kombination und Fusion zwischen und von verschiedenen Arten immer besser erkannt. Je mehr darüber bekannt wird, wie sehr Organismen miteinander wechselwirken, sich zusammentun, über Artgrenzen hinweg genetisches Material austauschen, sich untereinander verbinden und verbünden, um zu Überorganismen zu werden, desto schwieriger wird die Definition von Arten.

1L. Sweetlove (2011): Number of species on Earth tagged at 8.7 million. Nature 10.1038/news.2011.498.

Allein im Jahr 2019 wurden ca. 1900 neue Pilzarten beschrieben.15 Im Rahmen einer der vielen Veröffentlichungen zu diesen neuen Pilzarten wurden nicht nur 72 neue Arten vorgestellt, sondern auch 28 neue Gattungen, also sich wirklich deutlich von bisher existierenden Pilzen unterscheidende Formen.16 Zu den neuen Gattungen gehörten unter anderem auch Pilzfunde aus Deutschland wie Jeremyomyces auf Zweigen der Silberweide, Piniphoma auf Holzresten der Kiefer und Typhicola auf Blättern von Rohrkolben. Weitere neue Arten fanden sich zum Beispiel auf Blättern oder Zweigen von Walnuss, Schwarzerle oder Stieleiche. Neben Deutschland mit 47 Arten gehörten 2019 auch die europäischen Länder Italien (63) und Spanien (75) zu den Top-ten-Ländern mit den meisten Pilzneuentdeckungen.17 Während bei den Pflanzen weltweit wohl sicher mehr als die Hälfte der Arten beschrieben sind, sind noch mehr als 90 Prozent der Pilze unbekannt, somit also fast alle.18

Und das war noch nicht alles. Die vorgenannte Schätzung von zehn Millionen Arten weltweit schließt nicht einmal die Lebewesen ohne Zellkern ein, also keine Bakterien. In ihrem Falle ist leider auch die Unterscheidung von Arten noch schwieriger als bei anderen Organismen. Die Vielfalt ist so riesig, dass man den Überblick verlieren könnte. Forschende behelfen sich im Falle der Bakterien häufig mit dem Begriff der »taxonomischen Einheiten«.

Ausgerechnet von Bakterien, bei denen wir nicht genau wissen, wie wir sie als Arten voneinander abgrenzen sollen, gibt es am meisten einzelne Lebewesen. In einer Studie in Norwegen wurden 30 Gramm des Oberbodens eines Buchenwalds untersucht. Pro Gramm Boden wurden 1,5 Milliarden Bakterien gezählt. Die Forschenden nahmen an, dass sich diese Winzlinge in rund 40 000 häufige »Arten« einteilen lassen könnten.19 Unter Berücksichtigung zusätzlicher seltener »Arten«, die schwer nachweisbar sind, wurde geschätzt, dass in der 30-Gramm-Bodenprobe unter Umständen bis zu eine Million Bakterienarten gelebt haben könnten.20 Noch gehen die Meinungen diesbezüglich auseinander: Eine aktuelle Studie geht bei Bakterien weltweit von einer geringeren Zahl aus, nämlich von 0,8–1,9 Millionen taxonomischen Einheiten.21

Es kann immer wieder verblüffen (oder auch entsetzen), dass wir Menschen zwar die Biosphäre massiv umgestalten und zerstören sowie nicht zuletzt durch einen von uns entfesselten Klimawandel global die Lebens- und Entwicklungsbedingungen gründlich infrage stellen, aber bislang noch nicht einmal die grundlegende Frage beantworten können, wie viele Lebensformen es eigentlich gibt. Nun mag man das im Falle der so schwierig zu unterscheidenden Einzeller noch halbwegs verstehen können. Aber ob wir wenigstens wissen, wie viele Baumarten es auf der Erde gibt, die die Wälder der Erde prägen? Die Antwort lautet schlicht: Nein, auch das nicht. Vielmehr kam eine umfangreiche internationale Studie auf Grundlage einer großen Datenbank zum Ergebnis, dass wohl noch ungefähr 9200 Baumarten wissenschaftlich entdeckt werden müssen.22 Bislang sind weltweit rund 64 000 Baumarten beschrieben worden. Von diesen kommen 43 Prozent in Südamerika vor, 22 Prozent in Eurasien, 16 Prozent in Afrika, 15 Prozent in Nordamerika und 11 Prozent in Ozeanien.23 Allein in Südamerika wird erwartet, dass zu den bisher beschriebenen 27 200 Arten noch ca. 3900 neue hinzukommen könnten.

Ständig veröffentlichen Wissenschaftler:innen die Beschreibungen von neuen Baumarten. Manchmal widmen sie diese bekannten Persönlichkeiten, was helfen kann, eine größere Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass wir unsere größten Mitlebewesen erst nach und nach kennenlernen. So tauchte Anfang 2022 das Annonengewächs Uvariopsis dicaprio aus dem Ebo-Wald Kameruns in den Nachrichten auf.24 Die Entdecker der Art ehrten mit dem Namen den amerikanischen Schauspieler Leonardo DiCaprio, der sich intensiv für Naturschutz in diesem Gebiet eingesetzt hat. Tatsächlich ist der Baum ein Beispiel für die vielen Arten, die, kaum entdeckt, schon auf die Roten Listen der bedrohten Lebensformen gesetzt werden. Viele von ihnen sind sehr selten und haben häufig nur ein kleines Verbreitungsgebiet in botanisch wenig erforschten Gegenden.

Manchmal sind diese in begrenzten Regionen endemischen neuen Arten so einzigartig und haben keine näheren Verwandten, dass die Botaniker:innen mit der Neubeschreibung gleich eine neue Gattung etablieren. So geschah es im Falle von Aenigmanu alvareziae aus dem Manú-Nationalpark in Peru, die 2021 beschrieben wurde.25 Entdeckungen von auffälligen neuen Arten kommen aber auch immer wieder in besser bekannten Gebieten vor. So wurde 2021 die Wongawalla-Walnuss (Endiandra wongawallanensis) in Queensland, Australien gefunden.26 Von diesem Baum existieren allerdings nur 1000 Exemplare.27 Nur wenige Dutzend Überlebende gibt es von der nächsten Kandidatin: Sie wurde 1994 im australischen Blue-Mountains-Nationalpark entdeckt und Wollemia nobilis getauft. Der Baum ist ein Araukariengewächs und ein lebendes Fossil. Ein solcher Baum war zuvor nur von Millionen Jahre alten Fossilien bekannt.

Mehrere Gründe haben dazu geführt, dass die Baumartenzahl der Wälder der Erde sehr unterschiedlich ist. Die meisten Baumarten finden sich in den feuchten Tropen. Die für das Pflanzenwachstum zur Verfügung stehende Sonnenenergie ist hier am größten, was die Möglichkeiten der Evolution besonders befeuert, zumindest, wenn genug Wasser vorhanden ist. Die Vielfalt der Topografie, des Klimas und der Böden kurbelt die Baumartenzahl zusätzlich an.

Es spielt also für die Baumartenvielfalt auch eine Rolle, ob Ökosysteme in der Vergangenheit klimatisch besonders stabil waren. Gerade in einigen Gebirgen gibt es Gebiete, die in der jüngeren Erdgeschichte weniger von Klimaschwankungen betroffen waren. Sie hatten die wichtige Funktion von Refugien,28