Was dein Herz wünscht - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Was dein Herz wünscht E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Auf wunderbare Weise greift Gott in das Leben eines jungen Mädchens ein. Für Lilo eröffnet sich eine neue Welt: die des christlichen Glaubens mit seinen anderen Lebensformen. Sie erlebt eine innere Umwandlung, stellt sich bewusst in die Christus-Nachfolge und wird so anderen zur entscheidenden Hilfe. Dabei lernt Lilo, der Führung Gottes nicht davonzulaufen und ihre Wünsche seinem Willen unterzuordnen. Dass nach mancherlei Verwicklungen schließlich doch ihr Herzenswunsch sich erfüllt, und sie mit Benno einen gemeinsamen Weg beginnen darf, bedeutet beiden geschenktes Glück. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Was dein Herz wünscht

Fortsetzung von „… und haschen nach Wind“Band 16

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-137-4

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Was dein Herz wünscht

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Was dein Herz wünscht

„Ich habe Ihr Buch gelesen, Herr Sternkranz.“

Fragend blickt Werner seinen Vorgesetzten an. Er würde gerne wissen, wie Pfarrer Weilbronn sein Erstlingswerk beurteilt. Aber er kann doch nicht direkt danach fragen. Über das Gesicht des gepflegten, weißhaarigen Mannes meint er ein überlegenes Lächeln huschen zu sehen. Es ist kaum damit zu rechnen, dass ihm von dieser Seite Zustimmung entgegenkommt.

„Wann haben Sie die Sache denn geschrieben?“

„Gewöhnlich abends, Herr Pfarrer, oft bis tief in die Nachtstunden hinein.“

„Eben, eben – ich weiß doch, dass Sie tagsüber sehr beschäftigt sind!“

Werner Sternkranz ist sich nicht ganz klar, ob er die letzten Worte ernst nehmen oder als eine Rüge auffassen soll. Meint der alte Herr etwa, er habe durch das Schreiben dieser Broschüre – denn mehr ist es nicht – seine Pflicht versäumt?

„Ich will Ihnen ein andermal gerne sagen, was ich über Ihre literarische Arbeit denke, Herr Sternkranz. Im Augenblick scheinen Sie es eilig zu haben.“

„Ich bin auf dem Weg ins Gefängnis.“

„Ach?“

„Ja, Günther Schneid ist dort. Er kam eine Zeitlang in unseren Jugendkreis.“

„Gehört er etwa auch zu denen, die damals an der gemischten Freizeit im Gebirge teilnahmen?“

„Ja, er war auch dabei.“

Der Pfarrer schüttelt den Kopf. „Also, da können Sie mir schon leidtun, Herr Sternkranz!“

„Wie meinen Sie das, Herr Pfarrer?“

„Na ja! Die Sache hat doch eine ganze Reihe übler Begleit- und Folgeerscheinungen.“

Fragend blickt Werner Sternkranz den Mann an, der in gleichmäßiger Höflichkeit nach links und nach rechts grüßt. Er scheut sich auch nicht, immer wieder seinen breitrandigen Hut abzunehmen, obgleich heute ein rauer Wind weht. Sein Silberhaar ist schon ganz aus der Fasson geraten.

„Ich bin nicht für solche Experimente, Herr Sternkranz. Eine gemischte Freizeit ist für junge Leute immer eine Versuchung und darum mit Gefahren verbunden. Warum sollen wir uns dem unnötig aussetzen?“

„Wenn Sie gestatten, will ich Ihnen meine Ansicht dazu gerne sagen, wenn Sie sich Zeit nehmen können, mir Ihre Meinung über meine Broschüre mitzuteilen.“

In wohlwollender Weise hebt Pfarrer Weilbronn die Hand. „Eine ganz stattliche Broschüre, Herr Sternkranz. Gut, wir werden miteinander sprechen.“ Nachdem er einige Schritte gegangen ist, dreht er sich um und ruft: „Sie sind ohne Hut besser dran. Dieses stetige Grüßen ist mühsam. Das hat man nun davon, dass man so bekannt ist!“

Werner Sternkranz beschleunigt seine Schritte. Wohl hat er den letzten Ausspruch seines Gemeindepfarrers mit einem Lächeln quittiert, aber irgendwie ist er doch verstimmt, auch wenn er es vor sich selbst nicht zugibt. Insgeheim hat er auf ein anerkennendes Wort über seine Arbeit gewartet. Aber es gibt – das hat sich längst herausgestellt – zwischen ihnen, dem Pfarrer und seinem Diakon, nicht nur Gemeinsames, sondern auch Trennendes. Der Pfarrer neigt immer stärker zur modernen Theologie. Doch – was heißt schon moderne Theologie? Besteht der Kampf um die Wahrheit nicht seit Menschengedenken? Und geht es nicht immer wieder um die eine Frage: Was denkt ihr von Christus? Werner Sternkranz will dem Gespräch mit dem Pfarrer keineswegs ausweichen. Und er wird mit seiner Überzeugung nicht zurückhalten.

Der Herbstwind treibt einen Haufen welker Blätter vor ihm her. Die Abschiedsworte von Pfarrer Weilbronn kommen ihm noch einmal in den Sinn. „Das hat man nun davon, dass man so bekannt ist!“ Es wundert ihn, dass er nicht gesagt hat: „so berühmt“. Es ist kein Geheimnis, dass der alte Herr, der zwei kirchengeschichtliche Bücher verfasst hat, sich gern in diesem Ruhm sonnt. Ah, jetzt versteht er plötzlich die Spur eines ironischen Lächelns in des Pfarrers Augen! Gegen dessen wissenschaftlichen Werke ist sein Büchlein natürlich sehr unbedeutend. Aber Werner Sternkranz will und darf sich nicht beirren lassen, selbst wenn er nur einem einzigen Menschen durch seine Niederschrift helfen kann.

Und nun sind seine Gedanken wieder zu Günther zurückgekehrt, der um einen Besuch im Gefängnis gebeten hat. In drei Wochen ist seine Strafzeit zu Ende, und nun kommt die Angst über ihn: Was soll nach meiner Entlassung werden?

Werner ist möglichst an jedem Besuchstag bei diesem Jungen gewesen, der vor Jahren in übelste Gesellschaft geriet und vollkommen herunterkam. Er weiß, dass er ihn jetzt nicht allein lassen darf, gerade jetzt nicht, da das Tor zur Freiheit ihm sich wieder öffnet. Was ist Günther doch für ein zwiespältiger Mensch, hin und her gerissen zwischen gut sein wollen und nicht können! Die Gebete seiner schlichten Eltern werden die Ursache dafür sein, dass er nicht noch tiefer gesunken ist. Und dann dieses Mädchen, die Hanny, um dessentwillen er trotz aller Verführungskünste seiner verkommenen Freunde auf intime Beziehungen zu anderen Mädchen verzichtete. Bei seiner Bindung an den Alkohol, bei der beinahe krankhaften Spielsucht – halbe Nächte brachte er an den Automaten zu – und seiner Arbeitsscheu – immer wieder war er arbeitslos – gibt es in ihm doch noch eine Stelle, die zum Guten strebt. Hier muss man ihn ansprechen, ihn ermutigen und fördern – das ist Werner klar.

Pfarrer Weilbronn hat ihn schon mehrfach in fast spöttischer Weise an die Fehlschläge der Jugendfreizeit vor zwei Jahren erinnert. Fehlschläge? Kann man es überhaupt so nennen? Muss man bei solch einer Arbeit nicht immer wieder mit unliebsamen Zwischenfällen rechnen, mit Enttäuschungen, und das ganz besonders dann, wenn es um eine gemischte Freizeit geht? Bewusst hat Werner damals Teilnehmer beiderlei Geschlechts mitgenommen. Dabei ist er sich klar gewesen, dass er und Kamilla, seine Frau, nicht imstande sein würden, die jungen Leute zu bewahren, die sich nicht führen lassen wollten. Jedoch sind die meisten von ihnen guten Willens gewesen, und der Einfluss der christlichen Freizeit hat sich mehrfach in positiver Weise bemerkbar gemacht.

Auch Günther ist damals mit guten Vorsätzen nach Hause gekommen. Werner wird die Unterredung, die er mit ihm an einem Freizeitabend hatte, niemals vergessen. Es war gewissermaßen eine Lebensbeichte. Günther war schon bedenklich weit auf die abschüssige Bahn geraten. Aus einem einfachen, aber doch ordentlichen christlichen Elternhaus kommend, hatte er den Boden unter den Füßen verloren und war von dem Strom der für unsere Zeit so typischen Oberflächlichkeit mitgerissen worden.

Werner Sternkranz war es damals ganz klar, dass Günther es ernst meinte und unbedingt neu anfangen und einen anderen Kurs einschlagen wollte. Aber schon am gleichen Abend begannen die Spötteleien derer, denen nichts heilig ist: „So, du warst also auch auf der Bußbank und gehörst nun zu den Neubekehrten dieser Tage?“ Damals, im Schutz der Atmosphäre jener Freizeit, war es ihm nicht zu schwer geworden, sich tapfer zu halten. Über die Hälfte der Teilnehmer bekannte sich zu dem christlichen Geist dieser Freizeit. Als Günther aber wieder nach Hause zurückkehrte, setzten seine Kameraden alles dran, diesen „Irregeleiteten“ schnellstens wieder in ihre Reihen zu bringen. Und es gelang ihnen auch.

Günther ist einfach zu leicht zu beeinflussen, denkt Werner Sternkranz, als er sich dem Jugendgefängnis nähert. Der Junge ist zu weich, er hat zu wenig Rückgrat. Schon die Frage, die Günther ihm an jenem Abend stellte, zeigte, dass er noch nicht begriffen hatte, wie notwendig und unumgänglich eine radikale Kehrtwendung ist.

„Muss ich mich nun von meinen bisherigen Freunden trennen?“ hatte er gefragt.

Darauf hatte Werner ihm erwidert: „Diese Frage kannst du dir selbst beantworten. Wie du mir erzählt hast, beeinflussen deine Freunde dich nicht zum Guten. Man kann aber nicht zwei Herren dienen, Günther! Deshalb rate ich dir: Trenne dich von ihnen! Die Entscheidung musst du aber selbst treffen.“

Und bald darauf hatte Günther sich entschieden … Sein Schicksal und das einiger anderer hat Werner bewogen, ein Buch zu schreiben. Es ist keine erbauliche oder sentimentale Lektüre. Werner weiß zu genau, dass er so keinen einzigen jungen Menschen ansprechen kann. Er hat in schlichter Sprache Begegnungen und Situationen geschildert, wie er sie in seinem Dienst als Diakon und Jugendleiter erlebt. Er kennt die Probleme der Jungen – auch der sogenannten Halbstarken, von denen die Älteren oft so geringschätzig oder empört sprechen. Er weiß um die Seufzer, Drohungen und Empörungen mancher Väter und Mütter. Ebenso kennt er Eltern, denen es völlig gleichgültig ist, was aus ihren Sprösslingen wird.

Durch seinen Dienst hat Werner Sternkranz einen Einblick gewonnen in mancherlei menschliche Nöte und Schwächen, aber auch in ein oft verborgenes Heldentum und glaubensstarkes Leben. Von alledem berichtet er in seinem Buch. Dabei ist er von dem Wunsch ausgegangen, anderen durch die Schilderungen zu zeigen, dass sie in ihrem Ringen nicht allein stehen. Er hat versucht, Wege der Hilfe aufzuzeigen. Um nichts anderes geht es ihm: er will helfen!

Ja, und nun wird er Günther Schneid sein Büchlein in die Hand drücken. In den drei noch vor ihm liegenden Wochen der Gefängniszeit hat er die Möglichkeit, sich damit zu befassen. Bei seinem ersten Besuch hatte Werner ihm eine Bibel mitgebracht. Günther hatte später erklärt, dass er darin lese, aber auch ehrlich hinzugefügt, dass er außer den erzählenden Geschichten wenig verstünde.

Während Werner Sternkranz sich mit diesen Gedanken beschäftigt, hat er das Gefängnis erreicht. Die üblichen Formalitäten wickeln sich schnell ab.

Als ein Beamter die Kontrolle der für den Gefangenen mitgebrachten Sachen vornehmen will, winkt der Aufseher ab. „Ist nicht nötig. Wir kennen Herrn Sternkranz doch! Na, Ihr Schützling wird ja bald entlassen! Oder besuchen Sie noch andere?“

„Nein, im Augenblick ist es nur Günther Schneid.“

„Der Schneid führt sich hier ganz ordentlich. Aber die Kerle ertragen die Freiheit einfach nicht. Kaum sind sie draußen, geht der alte Schlamassel wieder los.“

„Es muss nicht immer so sein, Herr Wachtmeister. Wir müssen ihnen Zutrauen, dass sie irgendwann doch den Weg zum Guten einschlagen.“

„Na ja, es gibt Ausnahmen, aber Sie dürfen mir glauben, Herr Pfarrer –“

„Ich bin nicht Pfarrer.“

„Aber doch etwas Ähnliches. Herr Sternkranz, wenn man jahrelang Dienst im Gefängnis tut, dann geht einem der Glaube an die Menschheit verloren. – Doch nun kommen Sie! Wir wollen der Nummer 745 – ich meine den Schneid – die Besuchszeit nicht unnötig verkürzen.“

Und dann sitzen sie sich gegenüber.

„Günther, wie geht es dir?“ fragt Werner. „Nun hast du es ja bald überstanden.“

„Aber was soll dann werden?“

„Ich habe eine Stelle für dich bei einem Bauern.“

Günther fährt hoch. „Wieso bei einem Bauern? Ich verstehe doch nichts von der Landwirtschaft und will kein Knecht sein! Und dann auf dem Land – in irgendeinem abgelegenen Kaff – nee! Herr Sternkranz, das ist wirklich nichts für mich. Schließlich habe ich doch einen Beruf erlernt.“

Werner Sternkranz unterbricht ihn nicht. Und gerade weil er abwartend schweigt, wird Günther unsicher. Er senkt die Augen.

„Entschuldigen Sie, Herr Sternkranz, ich – ich – aber verstehen Sie mich doch!“

Nun antwortet Werner. Seine ruhige, besonnene Art geht spürbar auf den jungen Gefangenen über. „Günther, es ist mein Bestreben, dir später in deinem Beruf einen neuen Arbeitsplatz zu verschaffen. Aber ohne Übergangszeit geht das nicht. Und glaube mir, es ist nicht ganz einfach, jemand, der aus dem Gefängnis kommt, irgendwo unterzubringen.“

Eine steile Falte zeichnet sich auf der Stirn des Jungen ab.

„Du musst das doch einsehen, Günther“, fährt der andere fort.

„Ja, man traut mir nicht mehr! Es glaubt mir ja keiner, wenn ich sage, dass ich das alte Leben endgültig satt habe.“

„Doch, ich glaube dir!“

Der Junge schaut ihn prüfend an. Denkt er jetzt an jenen Abend vor zwei Jahren im Gebirge? Was hat er sich damals alles vorgenommen! Und es ist ihm wirklich ernst gewesen mit seinem Vorhaben.

Werner fallen die Worte des Aufsehers ein: „Sie ertragen die Freiheit nicht – kaum sind sie draußen…“ Aber er, Werner, will und muss immer wieder neu dem vertrauen, der ihm die jungen Menschen anvertraut und in den Weg gestellt hat. Er möchte immer wieder in ihnen den Willen zum Guten stärken und ihnen von der Quelle jener Kraft sagen, die mächtiger ist als der eigene Wille und dazu befähigt, das Böse zu überwinden.

„Gut, ich werde zu dem Bauern gehen! – Und Hanny, Herr Sternkranz? Was sagt sie zu alledem? Als ich hier eingeliefert wurde, habe ich zunächst den Gedanken an sie völlig beiseitegeschoben. Jetzt ist es endgültig aus, habe ich mir gesagt. Sie wissen ja, als ich damals aus der Freizeit kam, habe ich die abgebrochene Verbindung mit ihr wieder auf genommen. Ich hatte Ihnen ja erzählt, dass wir Kindheitsgespielen sind. Aber – als ich, na ja! Sie wissen schon – halbe Nächte vor den Spielautomaten – dauernd betrunken – aus der Arbeit gelaufen – und dann bei so manchen schiefen Dingen mitgemacht– da hat sie sich von mir zurückgezogen. Kein Wunder, sie lebt ja in einer völlig anderen Welt. Aber ich – ich habe sie nicht vergessen können! Na ja, und dann sind wir eine Zeitlang wieder miteinander gegangen. Sie hat mich auch mitgenommen in ihren Blaukreuzverein. Sie wollte unbedingt, ich sollte mich verpflichten – von wegen keinen Alkohol mehr –, aber ich traute es mir selber nicht zu. Na – und dann hat es ja auch nicht mehr lange gedauert, da bin ich wieder in die alten Geschichten zurückgefallen. Und kurz bevor ich hier eingeliefert wurde, hat sie mir unter Tränen gesagt: ,Günther, ich glaube, es hat keinen Zweck mit uns zweien, um unserer Kinder willen.‘

Da hab' ich sie blöd angesehen und gefragt: ,Wie meinst du das? Wir haben doch keine Kinder!‘ Und dann hat sie die Hände vors Gesicht gehalten, und die Tränen sind zwischen ihren Fingern heruntergelaufen. ,Aber wenn wir heiraten würden‘, hat sie gesagt, ,wollten wir doch Kinder haben. Und an die denke ich. Sie müssten ja die Achtung vor ihrem Vater verlieren. Sieh, darum geht es nicht mit uns beiden – so schmerzlich das auch für mich ist – denn ich habe dich lieb!' Und dann ist sie fortgelaufen. Ich aber konnte es fast nicht verkraften, dass sie so offen mit mir redete. – Unsere Kinder! – Das war ein ganz neuer Gedanke für mich.

Am nächsten Tag kam die Sache mit dem Einbruch in der Gartenlaube und dabei noch andere Dinge heraus. Na ja, das wissen Sie ja alles, Herr Sternkranz. Dann habe ich gemeint, mit Hanny fertig zu sein. Aber jetzt, wo die Entlassung immer näher rückt, ist der Gedanke an sie mein einziger Lichtblick. Wenn sie mich jedoch nicht mehr will …“

„Und deine Eltern, Günther?“

„Das ist doch wieder etwas ganz anderes.“

„Tag und Nacht betet deine Mutter für dich.“

Günther sieht an Werner vorbei. Es ist, als suche er die bescheidene Wohnung im Hinterhaus, wo sein Vater eine Schusterwerkstatt hat. Er sieht vor sich die stille Mutter, der er so viel Herzeleid zugefügt hat.

„Ich weiß es, Herr Sternkranz.“

„Wie es mit Hanny werden wird“, fährt dieser fort, „kann ich dir heute nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie keinen anderen Freund hat und – wie mir deine Mutter sagte – auch keinen anderen will. Aber zu heiraten gedenkt sie dich nicht, es sei denn …“

„Also glaubt sie auch nicht mehr an mich!“ Bitter kommt es aus dem Munde des jungen Menschen.

„Hat sie nicht ein Recht darauf, zu prüfen, ob du dich bewährst und deinen gefassten Vorsätzen wirklich treu bleibst? Nicht nur zwei, drei Wochen, sondern Monate, vielleicht sogar Jahre. Kannst du ihr das verargen?“

Günther schweigt und blickt zu Boden.

„Hier habe ich dir etwas mitgebracht.“ Werner entnimmt seiner Tasche das kleine Buch. „Ich habe darin von Menschen geschrieben, die ebenso wie du in Versuchungen standen. Etliche versagten immer wieder, andere haben ein Ja gefunden zu einem neuen Weg und sind Sieger in den Versuchungen geblieben.“

„Haben die wirklich gelebt?“ Zögernd greift Günther nach dem Buch. Was nützen ihm schöne Erzählungen, wenn sie nicht dem Leben entsprechen!

„Die meisten von ihnen leben heute noch. Ich habe natürlich ihre Namen verändert. Vielleicht können dir aber ihre Schicksale und Führungen eine Hilfe sein!“

„Danke, Herr Sternkranz! Und ich gehe zu dem Bauern.“

„Gut so, Günther! Und wenn du entlassen wirst, bin ich pünktlich zur Stelle!“

Bereits in der darauffolgenden Woche ergibt sich für Werner eine Gelegenheit, mit Pfarrer Weilbronn zu sprechen. Das Winterprogramm für die Jugendarbeit muss auf gestellt werden. Jahrelang hat Pfarrer Weilbronn den Dienst in der großen, weitverzweigten Gemeinde nur mit Hilfe eines Vikars durchgeführt. Schließlich ist aber eine weitere Kraft erforderlich geworden. Und so ist Werner Sternkranz in die Paulus-Gemeinde gekommen, den Pfarrer Weilbronn ziemlich selbständig arbeiten lässt. Im großen Ganzen kümmert er sich wenig um das, was Werner tut. Er lässt sich von ihm Pläne und Programme vorlegen und ist froh, wenn er damit nicht allzu viel zu tun hat. In den letzten Monaten ist es jedoch öfter zu kleinen oder auch größeren Meinungsverschiedenheiten gekommen. Und nun schreibt dieser junge Mensch noch ein Buch – denkt Pfarrer Weilbronn. Na ja, im Grunde ist es eine harmlose Erbauungslektüre. Mit einem fast mitleidigen Lächeln hat der Pfarrer schon ein paarmal darin geblättert, um das Buch dann kopfschüttelnd wieder wegzulegen. Was sich diese jungen Leute heute nur denken! Meint Sternkranz wirklich, damit bei irgendjemand Eindruck erwecken zu können?

Die dienstliche Besprechung ist beendet. Werner könnte jetzt gehen. Doch entspricht es nicht seiner Art, einer unangenehmen Sache auszuweichen. Außerdem empfindet er deutlich – auch ohne dass der Pfarrer bisher darüber gesprochen hat – die Geringschätzung gegenüber seiner Arbeit. Also soll Pfarrer Weilbronn sich äußern.

„Sie haben vor einigen Tagen, als wir uns auf der Straße begegneten, auf die Jugendfreizeit im Gebirge angespielt und unter anderem gesagt, dass Sie nicht für derartige Experimente seien. Soll ich das so verstehen, dass Sie dagegen sind, wenn wir im übernächsten Sommer wieder eine solche Freizeit durchführen wollen?“ Erwartungsvoll blickt Werner seinen Vorgesetzten an.

Dieser antwortet nicht sogleich. Wohlgefällig betrachtet er seine schmale Hand mit den gepflegten Fingernägeln. Dann lächelt er Werner zu. „Dagegen, mein lieber Sternkranz? Nein, das wäre zu viel gesagt. Wenn Sie sich unbedingt noch einmal eine solche Last aufbürden wollen, bitte! Ich selbst hätte nach den Erfahrungen, die Sie dabei gemacht haben, wahrscheinlich genug und würde eine Wiederholung möglichst vermeiden. Außerdem könnte ich mir denken, dass es für Sie und Ihre Frau wahrhaftig kein leichtes Amt ist, so eine Horde unfertiger junger Menschen zu zügeln und im Auge zu behalten. Ganz abgesehen von den Versuchungen und sittlichen Gefahren, die eine gemischte Freizeit für die jungen Leute mit sich bringt. Nein, lieber Freund, ich würde meine Nerven nicht so strapazieren.“

Werner weiß, dass hinter dem Ausdruck „lieber Freund“ nichts zu suchen ist. Es ist eine Redensart, bei der sich sein wortgewandter Vorgesetzter nicht das Geringste denkt.

Pfarrer Weilbronn fährt fort: „Und was kommt schon dabei heraus – wenn Sie ehrlich sein wollen? Haben Sie irgendeinen Außenstehenden für die Kirche gewinnen können? Haben Sie nicht vielmehr einen Haufen Ärger gehabt mit diesem oft so widerspenstigen jungen Volk? Ich habe gehört, dass eines der Mädchen in jenen Tagen – es erwartete wohl ein Kind – einen Selbstmordversuch unternommen oder auch nur vorgetäuscht hat. Na, ich danke schön! Und dann hat man mir erzählt – aber darüber haben wir ja früher schon gesprochen –, dass ein junger Mann und ein junges Mädchen, die auf der Freizeit offenbar nicht auf ihre Kosten kamen, Vorgaben, abreisen zu wollen und dann unten im Tal ihre restlichen Ferien gemeinsam in einem Hotel verbrachten. Also, mein lieber Sternkranz, ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich eine solche Belastung noch einmal aufladen wollen?“

Werner hat den Pfarrer mit keinem Wort unterbrochen. Auch als dieser schweigt, antwortet er nicht sogleich. Es ist, als rufe er sich die verschiedenen Erlebnisse jener drei Wochen noch einmal ins Gedächtnis zurück.

In seinen sonst so fröhlichen Augen liegt ein tiefer Ernst, als er fragend wiederholt: „Was dabei herauskommt? Was wir bei solchem Tun erreichen? Herr Pfarrer, Sie könnten dem Alter nach mein Vater sein. Es ist ohne Zweifel, dass Sie über weit mehr Lebenserfahrung verfügen als ich. In zwei Jahren werden Sie pensioniert. Über dreißig Jahre waren Sie Pfarrer und Seelsorger. Betrachten Sie es bitte nicht als Vermessenheit, wenn ich Ihnen dieselbe Frage stelle: Was ist dabei herausgekommen? Das soll keineswegs eine Schmälerung Ihrer Arbeit und Ihres Verdienstes sein. Wenn ich nur an die beiden Bücher denke, die Sie geschrieben haben.

Aber, wissen Sie mit Sicherheit zu sagen, was dabei herausgekommen ist? Ist unser Tun nicht immer eine Saat auf Hoffnung? Keiner kann zugleich säen und auch ernten. Gewiss, ich würde auch gerne etwas von dem sehen, was ich versuchte, bei den jungen Leuten zu säen. Soeben kommt mir ein Gedanke: Ich werde nach Möglichkeit alle, die vor zwei Jahren dabei waren, aufsuchen. Einige von ihnen habe ich aus den Augen verloren, andere kommen regelmäßig in den Jugendkreis.“

Er will gerade fortfahren, da dringt ein fürchterlicher Schrei aus einem der Nebenzimmer. Der Pfarrer fährt erschrocken auf.

„Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“ Hochrot ist sein Gesicht. Er greift nach dem Herzen und verlässt eilig das Zimmer.

Betroffen bleibt Werner Sternkranz zurück. Gewiss geht es um den Enkelsohn des Pfarrers. Es ist seltsam: Nun arbeitet er schon einige Jahre in dieser Gemeinde und kommt fast jede Woche ins Pfarrhaus, aber noch nie hat er den von allerlei Geheimnissen umgebenen Enkel zu Gesicht bekommen. Ängstlich hütet der Pfarrer den Kranken vor jeder Begegnung. Durch den Vikar hat Werner einiges erfahren. Der jetzt fünfzehnjährige Junge, der Sohn der einzigen Tochter des Pfarrers, ist schwachsinnig und wird von epileptischen Anfällen heimgesucht. Die Tochter, ein bildschönes Mädchen, ist der Abgott ihres Vaters gewesen. Bei ihrer Geburt starb die Mutter. Die unverheiratete Schwester des Pfarrers hat das Kind großgezogen. Man sagt, sie habe einige gute Möglichkeiten gehabt, sich zu verheiraten. Um ihres Bruders und dessen Tochter willen habe sie darauf verzichtet Mit zunehmender Sorge habe sie gesehen, wie der Vater das Mädchen verwöhnte und ihn immer wieder gewarnt. Jedoch habe er sich nicht dreinreden lassen. Kaum achtzehnjährig habe sie des Vaters Erlaubnis ertrotzt und einen viel älteren Schauspieler, der schon zweimal geschieden war, geheiratet. Aus dieser Ehe sei das kranke, entstellte Kind hervorgegangen. Zu jung, ihre Aufgabe als Mutter zu erfassen und noch völlig unreif, habe sie sich von diesem unglücklichen Geschöpf abgewandt und sei mit einem Freund ins Ausland gezogen, nachdem die Ehe mit dem Schauspieler ebenfalls zerbrochen war.

Niemand konnte sagen, ob es Scham, Enttäuschung, oder mit tiefem Mitleid gepaarte Liebe war, die den Pfarrer bewog, den Enkelsohn bei sich zu behalten. Seine Schwester opferte in selbstloser Weise wiederum Jahre ihres Lebens für dieses arme Geschöpf. Weder sie noch ihr Bruder dachten auch nur im Entferntesten daran, es in eine Heil- und Pflegeanstalt zu tun.

Darüber denkt Werner Sternkranz nach, während er im Studierzimmer des Pfarrers sitzt und auf dessen Rückkehr wartet. Ängstlich hütet dieser das Geheimnis seines Enkelkindes. Auch seine Amtsbrüder wissen nur, was gerüchtweise darüber gemunkelt wird. Eine alte Hausgehilfin, die schon jahrelang den Pfarrhaushalt versorgt, ist ebenso schweigsam.

Nach außen hin versteht es der Pfarrer, beherrscht und gelassen zu scheinen. Dass es in seinem Innern jedoch anders aussieht, hat Werner genau wahrgenommen, als dieser fürchterliche Schrei und gleich darauf ein Geräusch an sein Ohr drang, das unzweideutig von dem Fallen eines Körpers oder schweren Gegenstandes herrührte.

Tiefes Mitleid mit diesem einsamen Mann im Pfarrhaus überkommt Werner Sternkranz. Er muss an sein Eheglück denken. Wie hat Gott ihn reich gemacht durch Kamilla, seine junge Frau, und Michaela, seine kleine Tochter. Seit zwei Monaten ist nun auch der Stammhalter da. Oft hat Werner sich an der – wie er meinte – selbstsicheren Art seines Vorgesetzten gestoßen. In seinem Innern hat er ihn sogar arrogant genannt. Maske, nichts als Maske ist es, hinter der er den Jammer seines Lebens verbirgt. Ob sein leidenschaftliches Arbeiten an seinen Büchern im Grunde genommen nicht eine Flucht gewesen ist, heraus aus dieser abgrundtiefen Not, die über ihn hereingebrochen war? Es heißt, er habe seine Frau sehr geliebt. Als der Tod sie ihm so plötzlich nahm, wurde die Tochter sein ein und alles. Und nun dieser Enkel, der sein Brot nie selbst verdienen und immer auf Hilfe angewiesen sein wird!

Merkwürdig, er, Werner, hat sich noch nie so intensiv mit dem Schicksal dieses Mannes beschäftigt wie heute. Musste der Schrei des gepeinigten Jungen ihn erst wachrütteln?

Plötzlich ist es Werner, als halle die Welt wider von den Schreien angsterfüllter Menschen. Wer aber hört sie? Er nimmt sich vor, seinen Pfarrer und Vorgesetzten von jetzt an milder zu beurteilen und nicht länger als Hochmut und Überheblichkeit anzusehen, was aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein krampfhaftes Bemühen ist, niemand hinter die Kulissen seines Lebens blicken zu lassen. Könnte er es ihm doch irgendwann einmal sagen: Warum verbirgst du deine wahren Gefühle? Lass mich, den jüngeren Bruder, doch teilhaben an deinem Leid und es mit dir tragen!

Als bald darauf Pfarrer Weilbronn das Studierzimmer wieder betritt, scheint er völlig gefasst. Seine blaue Jacke hat er mit einer grauen vertauscht. Mit keinem Wort erwähnt er, dass sein Enkelsohn, von einem Anfall überrascht, unglücklich zu Boden gestürzt ist. So hat er ihn in einer Blutlache liegend gefunden. Zusammen mit seiner Schwester hat er ihn ins Bett getragen und die aufgeschlagene Platzwunde verbunden. Seine blutbefleckte Jacke wird man eben in die Reinigung bringen müssen. Wozu darüber noch Worte verlieren? Seit Jahren wiederholen sich solche Anfälle. Der Pfarrer nimmt zwar den mitfühlenden Blick seines Mitarbeiters wahr, aber er reagiert nicht darauf. Jedes Mitleid lehnt er als eine Einmischung in seine persönlichen Verhältnisse ab.

Als wäre nichts geschehen, lässt er sich wieder in dem Sessel nieder, aus dem er vor einer Viertelstunde hochgefahren ist. „Wo waren wir stehengeblieben? Richtig: Wir fragten uns, was dabei herauskommt. Natürlich haben Sie recht, lieber Freund: Saat auf Hoffnung.“ Und nun verrät die müde Handbewegung doch mehr, als der Pfarrer zugeben will. „Was wissen wir, ob sie überhaupt einmal aufgeht?“

„Aber, Herr Pfarrer, dann wäre ja all unser Tim umsonst, wenn wir nicht glauben dürften, dass Gott den Dienst, den wir in Schwachheit tun, segnen wird!“

„Lieber Sternkranz“, unterbricht ihn der Pfarrer, „geben Sie acht, dass Sie nicht in Schwärmerei verfallen. Bei aller Liebe zum Beruf – das Leben ist nüchtern, sehr nüchtern. Traktatverkündigung findet heute keine Abnehmer mehr.“

„Wie meinen Sie das, Herr Pfarrer?“

„Nun ja, Sie baten mich um meine Meinung über Ihr Buch. Bitte, fassen Sie es nicht als unfreundliche Kritik auf, wenn ich Ihnen sage, dass Ihre Schilderungen mir wie ein Klischee christlicher Frömmigkeit Vorkommen. Gott malt nicht in Schwarz-Weiß, er benutzt viele Farben. Er kann sich so verbergen, dass wir ihn gar nicht mehr erkennen können.“

Im ersten Augenblick möchte Werner auffahren. Diese Beurteilung seiner Arbeit findet er ungerecht. Gerade weil er aus dem Leben erzählt und nichts Wesentliches erfunden hat, kann von Schwarzweißmalerei überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich ist es klar, dass bei demjenigen, der nach Gott fragt, nicht alles wunschgemäß geht. Im Gegenteil, oft müssen gerade solche Menschen durch unfassliche Not hindurch. – Werner sieht den Pfarrer so offen an, dass dieser merken müsste: er denkt jetzt an ihn selber. Aber Pfarrer Weilbronns Gesicht bleibt unbeweglich. Er dämpft die Stimme, als er fragt: „Sagen Sie mal, Herr Sternkranz, sind Ihnen noch nie Gedanken gekommen wie etwa diese: Und wenn wir uns alle irrten? Wenn Gott ganz anders wäre? Wenn er gar nicht wäre?“

Werner richtet sich in seinem Sessel auf. „Herr Pfarrer“, antwortet er mit fester Stimme. „Sie wissen so gut wie ich, dass in jedem Menschen Zweifel auf steigen. Zweifeln ist noch nicht Sünde – aber im Zweifel verharren, das trennt von Gott. Weder Sie noch ich können

Gott beweisen. Aber erleben können wir ihn, das weiß ich!“

„Schon gut, schon gut“, winkt Pfarrer Weilbronn ab. Er hat es doch nicht nötig, sich von seinem Diakon korrigieren oder belehren zu lassen. „Ich sage ja nicht, dass ich am Dasein Gottes zweifle, aber es könnte doch sein, dass wir eine falsche Vorstellung von Gott haben.“

„Und die Bibel, Herr Pfarrer?“

„Nun, ich glaube, wir sind nicht zusammengekommen, um miteinander theologische Fragen zu erörtern. Sie haben jedenfalls Ihr Büchlein mit großer Liebe geschrieben, das empfindet man deutlich. Und Sie werden zweifellos auch eine gewisse Art von Menschen fesseln, zumal Sie recht flüssig geschrieben und Ihre Erlebnisse plastisch dargestellt haben. Anspruchsvolle Leser allerdings, die in Ihrer Lektüre geistige Anregung suchen, werden das Büchlein wahrscheinlich bald wieder aus der Hand legen. Abgearbeitete Frauen und Mädchen und vielleicht auch Männer, wie sie vor fünfzig Jahren christliche Kreise bevölkerten, werden es immerhin bejahen. Und das ist ja auch schon etwas. Aber Menschen mit moderner Anschauung …?“

Nun ist auch in Werners Gesicht die Röte gestiegen. Er könnte Pfarrer Weilbronn entgegenhalten, dass er bereits mancherlei Zuschriften bekommen hat, in denen ihm für seine Broschüre gedankt wird. Einer hat sich zu seiner großen Freude so geäußert: „Durch Ihre Schilderungen habe ich zu Gott zurückgefunden.“ Eine Frau schrieb: „Ihr Büchlein hat mich so sehr ermutigt, dass ich es Ihnen mitteilen muss. Es hat mir zweierlei gesagt: Einmal, dass ich nicht alleine stehe mit meinem Leid in einer Ehe voller Enttäuschungen, und dann, dass es einen Platz gibt, wohin man seine Lasten tragen kann.“ Aber Pfarrer Weilbronn würde ihn wahrscheinlich gar nicht verstehen. So sieht er davon ab, seine Arbeit zu verteidigen. Er erhebt sich.

„Ich habe Ihre Zeit bereits sehr lange in Anspruch genommen, Herr Pfarrer.“

In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Pfarrer Weilbronn nimmt den Hörer ab und meldet sich. Dann wiederholt er fragend: „Bitte, wer ist dort? Ah! Frau Brettnau. Was sagen Sie? Das kann doch nicht sein? Frau Brettnau, das ist ja entsetzlich! Wie war denn so etwas möglich? – Nein, ich selbst kann im Augenblick nicht, aber morgen komme ich. Ich schicke Ihnen meinen Vikar. Ach, das geht ja auch nicht, der ist an einer Grippe erkrankt. Aber der Jugendleiter, Herr Sternkranz, ist gerade bei mir. Soviel ich weiß, kannte er Ihren Sohn auch. Er wird so schnell wie möglich zu Ihnen kommen.“

Das Gespräch ist beendet. Noch voller Entsetzen starrt Pfarrer Weilbronn vor sich hin.

„Was ist mit Horst Brettnau?“ fragt Werner.

„Er hat sich das Leben genommen.“

„Ich weiß, dass Sie zu einer Sitzung müssen. Ich gehe sofort in die Gartenstraße“, sagt Werner tief erschüttert.

„Ist der Junge nicht auch einer von denen, die vor zwei Jahren …?“ Pfarrer Weilbronn sieht, wie sein Mitarbeiter erbleicht. Er bricht ab.

„Ja“, erwidert Werner fast tonlos. „Er ist auch auf der Freizeit im Gebirge mit dabei gewesen.“

„Endlich, Vati! Wir warten schon so lange auf dich! Ich hab' solchen furchtbaren Hunger, und Mutti hat gesagt, ich darf nicht alleine anfangen.“

Michaela, die kleine Tochter Werners, hat vom Fenster aus-den Vater kommen sehen und ist ihm entgegengesprungen. Enttäuschung zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, als dieser ihr nur flüchtig über die Haare streicht und an ihr eilig vorübergeht.

„Wo ist Mutti?“ fragt er nur.

Kamilla kommt gerade aus der Küche. Sie hat ihr kleines Söhnchen im Arm und lächelt ihrem Mann zu. „Heute hast du uns lange warten lassen, Liebster!“ Sie hält ihm den Kleinen entgegen. „Matthias hat schon gefragt, wo der Papa nur so lange bleibt.“

Werner geht auf ihren Scherz nicht ein.

„Kamilla, ich muss sofort wieder gehen.“

Jetzt erst entdeckt sie sein verstörtes Aussehen. „Ist etwas passiert?“

Fast tonlos antwortet er: „Horst Brettnau hat sich das Leben genommen.“

Nun erbleicht auch sie. „Horst Brettnau? –- Das ist doch auch einer von denen, die –“

„Ja, er kam des Öfteren in den Jugendkreis und nahm auch an der Freizeit teil. Bitte, gib mir schnell meinen schwarzen Anzug, die schwarze Krawatte – ach nein! Lass, das ist jetzt unwichtig. Ich muss sofort zu seinen Eltern.“

„Wo kann ich dich telefonisch erreichen, wenn etwas Besonderes sein sollte?“

„Gartenstraße vier. Du findest die Nummer im Telefonbuch.“ Er küsst seine Frau flüchtig auf die Wange.

„Warte nicht auf midi. Unter Umständen wird es sehr spät.“

Voller Sorge bildet sie ihm nach. Tieftraurig sind seifte Augen gewesen. Es ist ja auch schrecklich. Ein noch nicht Zwanzigjähriger! Was mag die Ursache gewesen sein? Behutsam legt sie den Kleinen in sein Bettchen. Nein, der versteht noch nichts von all dem Argen, was die Welt erfüllt. Gott sei Dank! Früh genug wird er damit bekannt werden.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkommt, sitzt Michaela bereits hinter dem Tisch in der Essnische. „Ich habe schon angefangen, Mutti“, sagt sie mit vollem Mund. „Auf die Männer ist kein Verlass.“

„Aber Kind, wie kommst du denn zu solcher Weisheit?“

„Das hat heute Morgen Frau Miller zur Bäckersfrau gesagt, als ich Brot holte. Und bei Vati ist es auch so. Wir haben uns nun so darauf verlassen, dass er zum Abendessen kommt. Und nun ist er schon wieder fort.“

„Vati wäre bestimmt lieber hiergeblieben“, erwidert Kamilla, „aber er hat eine ganz traurige Aufgabe zu erfüllen.“

„Eine traurige Aufgabe?“ fragt Michaela interessiert zurück.

„Ja, er muss zu einem Vater und zu einer Mutter, deren Sohn – gestorben ist.“

„Oh! war er krank?“

„Nein, Kind, aber nun komm, jetzt wollen wir beide zusammen essen.“

„Ja, ich hab' solchen großen Hunger – und, Mutti, ich glaub', auf dich kann man sich immer verlassen!“

Indessen ist Werner mit dem Volkswagen in der Gartenstraße angelangt.