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Mit Maeve Binchy gefühlvoll durch die Weihnachtszeit - fünf berührende Geschichten rund um die Liebe! "Parny mochte Dublin, es war klein und ein bisschen folkloristisch. Im Vergleich zu seiner Heimatstadt wirkten die Leute hier arm, und man konnte das Stadtzentrum nur schwer finden. Doch es war besser, Weihnachten hier anstatt zu Hause zu verbringen. Sehr viel besser …" Die irische Bestsellerautorin Maeve Binchy erzählt in "Was ist Glück" und vier weiteren Geschichten von den großen und kleinen Ereignissen rund um das Weihnachtsfest: Eine Zeit voller Hoffnung und Erwartungen – die nicht immer erfüllt werden. Doch gerade zum Fest der Liebe sind hin und wieder Wunder möglich … Diese Sammlung umfasst neben der Titelgeschichte die Erzählungen "Eine hoffnungsvolle Reise", "Typisch irische Weihnachten …", "Das beste Gasthaus der Stadt" und "Ein zivilisiertes Weihnachtsfest".
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Seitenzahl: 79
Maeve Binchy
Was ist Glück?
und andere Geschichten zur stillen Zeit
Knaur e-books
Sie hatten ihn Parnell getauft, um zu zeigen, wie irisch er war. In der Schule rief man ihn Parny, und das war’s dann. Aber Kate und Shane Quinn konnten ja weiterhin jedem, auf den es ankam, erzählen, dass er eigentlich Parnell hieß wie der große Führer. Nur gut, dass niemand genauer nachfragte. Weil ihnen nämlich nicht so ganz klar war, was er eigentlich angeführt hatte und wann und weshalb. Aber ihnen gefiel das Parnell-Denkmal, das sie in Dublin sahen. Weniger gefiel ihnen allerdings, dass der große Führer angeblich ein Protestant und ein Schürzenjäger war. Sie hofften, dass es sich dabei nur um Dorfklatsch handelte.
Parny mochte Dublin, es war klein und ein bisschen folkloristisch. Im Vergleich zu seiner Heimatstadt wirkten die Leute hier arm, und man konnte das Stadtzentrum nur schwer finden. Doch es war besser, Weihnachten hier anstatt zu Hause zu verbringen. Sehr viel besser.
Denn zu Hause wäre auch Daddys Sprechstundenhilfe Esther gewesen. Esther arbeitete schon seit neun Jahren für Dad, seit Parny auf der Welt war. Sie sei eine fabelhafte Sprechstundenhilfe, meinte Dad, aber ein trauriger und einsamer Mensch. Moms Meinung nach war sie eine Verrückte, die sich in Parnys Vater verknallt hatte. Letztes Weihnachtsfest saß Esther so lange heulend auf der Treppe vor ihrem Haus, bis man sie aus Furcht vor Beschwerden der Nachbarn hereinließ. Davor war sie schon ums Haus gelaufen, hatte gegen sämtliche Fensterscheiben gehämmert, herumgeschrien und gebrüllt, sie würde sich nicht einfach abschieben lassen. Parny wurde ins Bett geschickt.
»Aber ich bin doch gerade erst aufgestanden. Es ist Weihnachten, um Himmels willen!«, hatte er sich, nicht ganz zu Unrecht, beschwert. Sie flehten ihn an, trotzdem wieder zu Bett zu gehen, er könne ja sein Spielzeug mitnehmen. Widerwillig gehorchte er, denn Mom flüsterte ihm zu, dass die verrückte Esther dann eher wieder verschwinden würde. Natürlich hatte er auf der Treppe gelauscht, und was er da aufschnappte, war sehr verwirrend gewesen.
Anscheinend hatte Dad irgendwann einmal eine Romanze mit Esther gehabt. Das klang zwar weit hergeholt, da Dad doch so alt war, entsetzlich alt inzwischen, und Esther so hässlich. Und er begriff auch nicht, warum Mom deshalb so niedergeschlagen war, denn Dads Affäre musste längst vorbei sein. Aber darum ging es, ganz klar.
In der Schule gab es genug Kinder, deren Eltern geschieden waren, so dass er über solche Sachen Bescheid wusste. Und Esther schrie immer wieder, dass Dad ihr versprochen habe, Mom zu verlassen, sobald der Balg erst alt genug sei. Parny schnaubte empört, als sie ihn »Balg« nannte, aber auch Mom und Dad schienen sich darüber zu ärgern und verteidigten ihn, so dass Esther in dieser Hinsicht den Kürzeren zog. Zumindest schienen seine Eltern auf seiner Seite zu stehen. Nach einer Weile ging Parny in sein Zimmer zurück und spielte, wie man ihm aufgetragen hatte, mit seinen Geschenken.
»Ich will ein bisschen Glück. Ich will auch glücklich sein«, hörte er unten Esthers Stimme. »Was ist Glück, Esther?«, fragte sein Vater darauf matt.
Sie hatten recht gehabt, es war das Beste für ihn gewesen raufzugehen. Nachdem Esther verschwunden war, kamen sie, um ihn zu holen, und entschuldigten sich. Parny aber war eher neugierig als erschrocken.
»Hast du wirklich vorgehabt, dich von Mom scheiden zu lassen und mit ihr fortzugehen, Dad?« Parny wollte eine Bestätigung für das Gehörte bekommen. Darauf folgten eine Menge Ausflüchte.
Bis Dad schließlich sagte: »Nein. Das habe ich zwar zu ihr gesagt, aber ich habe es nicht so gemeint. Ich habe sie angelogen, mein Sohn, und muss nun teuer dafür bezahlen.«
»Ja, so habe ich mir das gedacht«, nickte Parny altklug. Mom freute sich über Dads Erklärung und tätschelte Dad die Hand.
»Dein Vater ist ein sehr tapferer Mann, dass er das zugibt, Parny«, sagte sie. »Nicht alle Männer werden für ihre Fehltritte so schwer gestraft.«
Ja, eine kreischende Esther auf der Treppe sei wirklich eine schwere Strafe, meinte Parny. Ob sie in der Praxis auch so herumschreie und tobe?
Nein, offenbar nicht. In ihrem weißen Kittel war sie nett und ruhig und sachlich. Nur in ihrer Freizeit und besonders an hohen Feiertagen drehte sie durch und machte Szenen. Schon am Labour Day und an Thanksgiving hatte sie angerufen, aber da war sie nicht so durcheinander gewesen. Im Lauf des Jahres kam Esther dann noch häufiger bei ihnen vorbei: am Silvesterabend und an Dads Geburtstag. Dann platzte sie mitten in die Party, die sie am St. Patrick’s Day gaben. Und als sie am 4. Juli gerade den Holzkohlengrill für ihr Picknick auspacken wollten, entdeckten sie die herannahende Esther, so dass Dad und Mom zurück in den Wagen sprangen und meilenweit davonbrausten. Dabei vergewisserten sie sich immer wieder mit einem Blick über die Schulter, dass Esther ihnen nicht folgte. Und so waren sie, um ihr zu entfliehen, dieses Jahr über Weihnachten nach Irland geflogen. Schon immer hätten sie das Land ihrer Vorfahren besuchen wollen, hatten sie gesagt; warum also nicht jetzt, da Parny alt genug war, um etwas davon zu haben, und der Wechselkurs zwischen dem Dollar und dem irischen Pfund so günstig war? Außerdem hatte sich die Lage inzwischen zugespitzt. Denn am diesjährigen Thanksgiving war Esther in einem Astronautenanzug aufgekreuzt, und weil sie glaubten, sie sei ein singendes Telegramm, hatten sie ihr die Tür geöffnet. Wie der Blitz war Esther ins Haus geflitzt.
Letztlich waren sie deshalb ins Land der Vorfahren gereist. Und Parny war froh darüber. Zwar vermisste er seine Freunde, aber allmählich wurde er vor einem Fest genauso unruhig wie Mom und Dad, weil er sich vor dem geröteten Gesicht der verrückten Esther fürchtete.
Halb hatte er gehofft, dass sie auch an seinem Geburtstag auftauchen würde. Darüber hätten sie in der Schule noch monatelang geredet. Doch sie kam nicht. Nur an offiziellen Feiertagen und an Dads Geburtstag. Inzwischen musste sie doch verrückt genug sein, dass man sie in eine Anstalt einweisen konnte, überlegte Parny. Und er fragte, warum das noch niemand getan hatte. »Sie hat niemanden, der sie einweist«, hatte Mom erklärt.
Das war wohl Esthers Glück im Unglück, dachte Parny. Wenn man so viel Pech hatte wie sie, war es wohl nur ausgleichende Gerechtigkeit, dass dann auch niemand da war, der einen in die Anstalt steckte. Also würde sie noch ein Weilchen frei herumlaufen können.
Parny wollte wissen, warum Dad ihr nicht kündigte. Da gebe es Gesetze, sagte Dad. Wenn Esther gute Arbeit mache, was sie tat, und sich in der Praxis normal benehme, würde ihre Kündigung einen Proteststurm entfachen, ja, er würde vielleicht sogar verklagt werden.
Nun, da Esther weit weg war, benahmen sich Dad und Mom lieb und ungezwungen. Manchmal hielten sie sogar Händchen, bemerkte Parny, was ihm ziemlich peinlich war; aber zum Glück war ja niemand hier, der sie kannte, also war es schon okay.
Der Hausdiener wurde ein dicker Freund von Parny. Er erzählte dem Jungen eine Menge Geschichten aus der Zeit, als noch Dutzende und Aberdutzende amerikanischer Touristen in dem Hotel wohnten und seinen Bruder als Chauffeur anheuerten, um sie quer durch ganz Irland und wieder zurück zum Hotel zu fahren. Der Hoteldiener hieß Mick Quinn und behauptete, Parny und er müssten zweifellos verwandt miteinander sein, sonst hätten sie doch nicht den gleichen Nachnamen. Weil das Hotel inzwischen fast leer stand, hatte Mick Quinn alle Zeit der Welt für Parny, während seine Eltern damit beschäftigt waren, sich tief in die Augen zu blicken und lange, ernste Gespräche zu führen.
So war alles bestens geregelt. Parny ging morgens mit Mick die Zeitungen holen und half ihm mit dem Gepäck. Einmal bekam er sogar ein Trinkgeld.
Für Mick war es sehr nützlich, wenn Parny ihm die Zigarette hielt, da Mick während des Dienstes nicht rauchen durfte; es sah dann so aus, als sei Parny ein frühreifer amerikanischer Bengel, der sich alle Freiheiten herausnehmen durfte – sogar mit zehn Jahren schon rauchen.
Parny zeigte viel Geschick darin, genau dann an Micks Seite aufzutauchen und ihn an der Zigarette ziehen zu lassen, wenn die Luft rein war. Mick war mit einer Frau namens Rose verheiratet, und Parny fragte ihn nach ihr aus. »Sie ist nicht die Schlechteste«, sagte Mick dann. »Wer ist denn die Schlechteste?«, wollte Parny wissen. Wenn es nicht Rose war, musste es doch eine andere sein, aber Mick behauptete, das sei nur so eine Redensart. Er und Rose hatten inzwischen erwachsene Kinder, sie waren alle weggezogen. Drei lebten in England, eins in Australien und eins am anderen Ende von Dublin – was praktisch genauso weit weg war wie Australien.
Was machte Rose denn den ganzen Tag, während Mick im Hotel war, fragte Parny. Seine Mom arbeitete in einem Blumengeschäft, einem sehr eleganten Laden und von daher ein durchaus angemessener Arbeitsplatz für eine Zahnarztgattin. Doch Rose arbeitete nirgendwo.
Sie verbringe den ganzen Tag mit Jammern, vertraute Mick eines Tages seinem kleinen Freund an. Sie wisse nicht, was Glück sei. Aber dann schien er sich zu schämen, dass er das ausgeplaudert hatte, und wollte nie wieder über dieses Thema sprechen.
»Was ist denn Glück genau, Mick?«, fragte Parny. »Ja, wenn du das nicht weißt, ein prächtiger junger Bursche wie du, der alles hat, was er will, wie soll es dann irgendein anderer wissen?«
»Ich glaube, ich habe schon viele Sachen«, überlegte Parny. »Aber Esther auch, und sie ist trotzdem nicht glücklich, sondern verrückter als ein ganzer Hühnerstall.«