Weißer Rabe am Gise - Johannes Kettlack - E-Book

Weißer Rabe am Gise E-Book

Johannes Kettlack

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Beschreibung

In der Mitte des 21. Jahrhunderts geben die letzten Menschen ihre Ferienhäuser an einem schwedischen See auf. Die Tiere freuen sich. Die großen unter ihnen gründen einen eigenen Staat, der einer Plutokratie sehr ähnelt: Die großen Tiere haben das Sagen, die kleinen bleiben Freiwild. Schon nach wenigen Jahren stellt sich heraus, dass einige der Großen gegen die eigenen Gesetze verstoßen. Dies und das bedauernswerte Schicksal der kleinen Tiere bringt Hugin, den Helfer Odins, zu der Erkenntnis, dass das alte Gesetz durch ein besseres ersetzt werden muss. Wie es ihm damit ergeht und welche überraschende Rolle die Menschen dabei spielen, darum geht es in dieser Erzählung mit vielen Bildern und Fotos vom Gisesee.

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Fotos: Caroline Kobold

Collagen: Johannes Kettlack

Cover: Alois Mazurek

Die Menschheit braucht jetzt Visionäre

Denen es 'ne Ehre wäre

Die Völker eloquent zu lenken

Ihnen die Zuversicht zu schenken

Dass am Tunnelende nicht

Chaos ist, sondern Licht

Inhaltsverzeichnis

Verklärung

Am Gise

Der arme Hund

Odins Rückkehr

Die neue Ordnung

Führer

Einwanderer

Heimkehrer

Hugins Erkenntnisse

Im Reich des Katers

Yngve Edelsvärd

Olavs Werk

Muttermilch

Das Herz

Mensch und Tier

Verklärung

Vier Wörter eines kurzen Satzes bedeuteten das Ende der Fremdherrschaft, das Ende der Leibeigenschaft, ja die Erlösung von allen Übeln. Davon waren die großen Tiere überzeugt.

„Nun ist er weg.“ Mit dieser kurzen Nachricht hatte 2044 die neue Zeit am Gisesee in Södermanland begonnen. Die Hoffnung auf paradiesische Zeiten und die Zuversicht, selbst nach dem Glück streben zu können, ohne die Menschen, bestimmten ab sofort das Leben der Tiere am See. Es war der verführerische Zauber des Neubeginns.

Nur wenige Jahre später waren die ersten Zweifel aufgekommen, ob sich die vom Fischadler Odin und seinem getreuen Helfer, dem Raben Hugin, entworfene Ordnung auf Dauer bewähren würde.

Aber Odin erinnerte sich gern an die beschwingten Anfänge und die „goldenen Jahre“, wie er sie nannte, besonders an den Tag, an dem sich der Hund und die Wölfin getraut hatten.

Was er erzählte hörte sich für fremde Ohren so an, als ob er und nur er auf die geniale Idee gekommen war, mit einem einzigen Gebot die Tiere zu friedlichem Zusammenzuleben zu veranlassen. Erstens war die Veränderung durch das Verschwinden der Menschen vom See erst möglich geworden und zweitens war sie das Werk vieler gewesen. Hinzu kam, dass er manche Einsicht dem Hund Lasse verdankte. Und immer übersehen hatte er den Kater.

Lasse hatte sein Leben mit Elmer Adamsson verbracht, in der Stockholmer Altstadt und am Gisesee. Er erinnerte sich genauer: Odin hatte ihn immer wieder nach den Gewohnheiten der Menschen gefragt. Vor allem die Gespräche, die sein Herrchen mit dem Pastor führte, hatten den Vogel interessiert.

Das Gebot fehlte in keiner Rede Odins. Und keine Ansprache endete ohne die erste Strophe der neuen Nationalhymne. Sie gehörte genau genommen zum Wenigen, das vollständig auf seinem Mist gewachsen war.

2047 kamen sie noch alle, die Rang und Namen hatten, zur Versammlung: Karl, der Eber, der dem Bauern Edelsvärd entwischt war und der in Sylvia, einer wilde Sau, eine tüchtige Lebensgefährtin gefunden hatte; Elan, der Elch, der sich ansonsten selten blicken ließ; Elegantia, das scheue Reh, das sich nun, wo kein großes Tier einem anderen großen Tier ein Leid zufügen durfte, sicherer fühlte; Großmaul, der Hecht, dem es anfangs schwer gefallen war, zwischen großen und kleinen Tieren zu unterscheiden, und Wanst, der Dachs, der beunruhigt immer wieder nachgefragt hatte, ob seine Kinder etwa zu den Kleinen zu zählen waren.

Ob der Kater, von dem es hieß, er lebe auf Edelsvärds Hof, damals schon dabei war, konnte keiner mit Bestimmtheit sagen. Er hatte die ungewöhnliche Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Hugin nannte ihn später deswegen nicht ganz uneigennützig seinen Freund.

Odin erinnerte gerne daran, wie froh sie damals alle waren, als der letzte Mensch für immer ihren See verlassen hatte. „Ein Leben ganz ohne Menschen!“ Er war immer noch begeistert.

Aber er vergaß auch nicht, auf die Rückschläge im zweiten Jahr nach der Wende zu verweisen, als die Tiere am See in schlechter Stimmung waren. Der Sommer war nicht gut gewesen. Nach einem viel zu trockenem Frühjahr hatte es am Mittsommertag noch geschneit und dann wochenlang geregnet. Für die Blaubeeren kam der Regen zu spät und die Blüten der Preiselbeeren waren erfroren. Vor allem die Vögel mussten auf manche Leckerei verzichten.

Elche, Wildschweine und Rehe hatten schon im August das fürchterliche Knallen gehört, das schlimmer war als das lauteste Donnern. Tagelang und immer an derselben Stelle am Waldrand versammelten sich Menschen und machten diesen unerträglichen Lärm. Und dann hatte es nicht lange gedauert, bis diese Menschen mit ihren kläffenden Hunden die Wälder am See durchstreiften. Bei der Erinnerung daran schaute Odin den Elch und das Reh an: „Darnach habt ihr eure Brüder und Kinder nie wiedergesehen.“

„Aber ich und Sylvia haben uns gut versteckt!“ rief dann Karl dazwischen. „Sonst wären wir heute auch tot.“ Er spielte darauf an, dass zwei seiner Frischlinge unvorsichtigerweise das Dickicht verlassen hatten und nie wieder gesehen wurden.

Bei feierlichen Gelegenheiten redete Odin nie weniger als zwei Stunden. Er wusste, was sein Volk hören wollte. Er kannte seine Tiere. Wenn jemand eitel war wie Karl, lobte er ihn und wünschte ihm weiterhin Glück mit seiner schönen Sylvia, obwohl diese Auszeichnung besser zu Karl selber passte. Bei den Tieren hieß der Keiler wegen seiner unverwechselbaren Ähnlichkeit mit den Zuchtschweinen „Karl der Schöne“. Und weil Hugin sehr lobsüchtig war, sagte Odin: „Komm mal zu mir herauf, mein tüchtiger Helfer.“ Dann wandte er sich an die Zuhörer, legte dem Raben den linken Flügel auf die Schulter und fügte hinzu: „Ohne unseren Raben würden wir alle nicht in einer so herrlichen Welt leben.“

Wenn Odin so sprach, dachte Hugin an seine eigene Lage und war stolz: Er mochte das Knallen auch nicht, obwohl noch nie jemand aus seiner Familie tot vom Baum gefallen war. Seine Angst vor Menschen war angeboren. Er ließ sie nie näher als eine Baumlänge an sich herankommen. Zweimal schon hatte er versucht, dem Fischadler zu bedeuten, er solle seinen Anteil am Erfolg noch deutlicher herausstellen. Hatte er nicht mit der Ergänzung zum Grundgesetz das Leben der Großen entscheidend verbessert? Darauf war Odin nie eingegangen.

Anders als Hugin wollte er sich daran nicht erinnern. Der Rabe hatte eigenmächtig gehandelt, und in betrügerischer Absicht: Als Karl sich nach Sylvias Tod sehr verlassen fühlte, war Hugin ihm zur Hilfe geeilt und hatte ihm die Unterstützung der anderen Großen zugesagt. Odin aber glaubte nur an die Entscheidungen, die er selber getroffen hatte. Obendrein hatte der Rabe den Keiler zum Waldhüter ernannt, ein Amt, das es im Tierreich gar nicht gab.

Hugin beklagte nicht wirklich, dass für Odin Schnee und Frost Wörter ohne Inhalt waren. Der Adler erschien immer erst, wenn die Tage wieder so lang waren wie die Nächte, und verschwand, wenn die Herbststürme aufkamen. So war er im Winter der heimliche Herrscher.

Auch Lasse, Elmers Hund, der sich gern als vollwertiges Mitglied der Tiergemeinschaft gefühlt hätte, fand es ungerecht, dass Odin auf seine Schwierigkeiten nie einging, mit denen er anfangs zu kämpfen hatte. Waren es alte Vorurteile?

Am Gise

„Der See ist der schönste in ganz Södermanland“, behaupteten die weitgereisten Kraniche. „Er hat dieselbe Form wie Afrika.“

Er lag eingebettet in einem großen Wald mit uralten Kiefern, dichten Fichten, schlanken Birken und, näher zum Ufer, Erlen, die ihre großen Kronen ehrfürchtig zum glasklaren Wasser neigten.

Im Norden und Westen speisten ihn mehrere kleine Bäche mit erdfarbenem Wasser, und im Süden gab er überflüssiges klares Wasser an den Örboholmsbach ab, der gemächlich zur Ostsee abfloss.

Die gelben, vor allem aber die weißen Seerosen mit ihren riesigen grünen Blättern vor dem üppigen Schilf waren eine wahre Augenweide. Es war daher nicht verwunderlich, dass sie von den Menschen zur Nationalblume der ganzen Provinz gewählt worden waren.

Was jedoch diesen See von den tausend anderen im Lande unterschied, waren die Inseln. Die größeren waren bewaldet, die kleineren aber nicht mehr als nackte Felsen, die je nach Sonnenstand glänzten oder ihre besonderen Farben offen zur Schau trugen: das graue Blau des Granits, die glasklaren Kristalle im Gneis oder die hellbraunen Schlieren des Eisenerzes.

Da sie kein Ruderer mehr störte, gab jede Insel den Tieren die Sicherheit, ein kleines Stückchen Erde nur für sich zu haben: Auf der einen brüteten die Seeschwalben, auf der anderen die Möwen, auf der dritten die großen Eistaucher.

Eine dieser kleinen Inseln am Südende des Sees war nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Jeder, der wenigstens so groß war wie ein Rehkitz, konnte das seichte Wasser, das die Insel vom Festland trennte, mühelos durchwaten. Hier wohnte ganz oben in der höchsten Kiefer schon seit vielen Jahren der Fischadler.

„Adler“, wie Odin auch gern genannt werden wollte, hörte sich anspruchsvoller an, als es war. Fischadler gehören nicht zur Familie der Adler! Weil die anderen Tiere davon keine Ahnung hatten, durchschauten sie seine Hochstapelei nicht. Nur Luzifer ließ sich nicht blenden. Aber das schwante dem Vogel erst viel später.

Manche Tiere besuchten Odin, weil er so gut informiert war. Bei ihm holten sie sich Rat oder wollten Neues erfahren. Nicht immer verstanden sie, was er sagte, weil er sich zunehmend vornehmer ausdrückte und ärgerlich wurde, wenn man ihm zu viele Fragen stellte. Seine Überlegenheit entartete immer mehr zur Überheblichkeit.

Warum gerade der Adler so viel wusste, ist schnell erklärt: Einerseits war er der Bewohner mit einer langen Ahnenreihe. Bestimmte Erfahrungen und Weisheiten wurden über Jahrzehnte vom Vater auf die Söhne und Töchter übertragen. „Keine Würde ohne Freiheit“, war eine davon. Eine andere bezog sich auf den Umgang mit den Menschen: „Lieber mal hungrig und frei als immer satt und untertan.“

Andrerseits hatte er von seinem Horst aus den besten Überblick. Mit seinen sprichwörtlich guten Augen sah er bis tief in die meisten Buchten hinein. Ihm entging weder der Specht, wenn er der Kohlmeise die Jungen aus dem Nest pickte, noch der Hecht, der gierig ein Rotauge verschlang. Und er bewunderte die Eistaucher, die mit großem Geschick ihren Kindern das Tauchen beibrachten. Er wusste, wann die Elche zum Saufen kamen und wo die Rehe auf immer denselben Pfaden durch den Wald zogen. Oft sah er Sylvia, wenn sie mit ihren Kindern die Erde nach Wurzeln und Würmern durchstöberte. Das Einzige, was ihn immer wieder überraschte, war, dass er den Kater nie kommen sah. Er erschien wie aus dem Nichts und verschwand fast ebenso unbemerkt.

Odins Wissen über die Geschichte der Menschen am See war beachtlich. Er wusste, wann alles begonnen hatte und wie sich die Menschen, vor allem die aus der Stadt, über viele Jahre verhalten hatten.

Sie nahmen den Uferstreifen auf der Süd- und Ostseite mit ihren Sommerhäusern, Fahrzeugen, Booten, Rasenmähern und, was besonders störte, bellenden Hunden in Anspruch so, als ob der See immer schon nur ihnen gehört hätte.

An manchen Sommertagen waren die Fremden besonders zahlreich und unerträglich laut. Dann fühlten sich die Tiere wie Fremde im eigenen Land. Immer wieder war Elan zu Odin gekommen und hatte sich über die Enge beschwert, die mit den über hundert Sommerhäusern verbunden war. Oder die Rehmutter, die nicht mehr wusste, wo sie die jungen Kitze verstecken sollte. Selbst der kleine Vertreter eines Ameisenvolkes hatte gefragt, was man unternehmen könne, wenn Menschenkinder rücksichtslos ihre mit größtem Fleiß errichteten Behausungen zerstörten.

Notgedrungen hatten sich die Tiere mit den Menschen abgefunden oder waren, wie der Biber oder der Nerz, entnervt weggezogen. Das hatte Odin sehr bedauert. Umso erfreuter war er, als er erfuhr, dass einige der Häuser fast das ganze Jahr über leer standen und selbst im schönsten Sommer immer weniger Menschen aus der Stadt aufs Land kamen.

Hugin, der viel herumflog, war schon wegen der Küchenabfälle immer näher bei den Menschen und kannte Lasse gut. Von ihm hatte auch er viel Nützliches erfahren. Dem Adler hatte er dieses Wissen vorenthalten. Odin sah es nicht gern, wenn andere zu den Menschen ein allzu enges Verhältnis unterhielten.

Der Rabe wusste, dass die Menschen vor allem wegen ihres Alters nicht mehr kamen und ihre Kinder keine Lust am Landleben mit all seinen Beschwernissen hatten: Bäume zu fällen und Holz zu hacken war den Älteren nicht mehr möglich, den Jüngeren viel zu mühsam, und die hohen Kosten für den Strom konnten sich immer weniger leisten.

Lasse wusste auch, dass Stadtbewohner oft kein eigenes Auto mehr hatten. Wenn sie aufs Land wollten, mussten sie sich einen Wagen tageweise für teures Geld mieten. Das konnten sich auf die Dauer nur wohlhabende Leute leisten. Da diese oft schon eine Ferienwohnung in Thailand oder auf den Kanaren hatten, kamen sie immer seltener.

Ein weiterer Grund, der den Menschen den Besitz einer Stuga, wie die Schweden ihre Ferienhäuser nannten, verleidete, waren die Steuern. Die Schweden hätten Jahrzehnte lang über ihre Verhältnisse gelebt, hatte Lasse behauptet. Deshalb mussten die Steuern auf Ferienhäuser stark erhöht werden. „Selbst ich habe die Veränderungen zu spüren bekommen“, hatte Lasse geklagt. Sein Herrchen war ein guter Schwede gewesen. Er zündete das Feuer im Kamin nicht mehr an, seitdem es streng verboten war, mit Holz zu heizen. Lasses Lieblingsplatz wurde daher im Winter nie mehr richtig warm.

Odin erinnerte sich seinerseits gut an die erste Begegnung mit Elmers Hund. Er hatte auf seiner alten Kiefer gesessen und gesehen, wie sich die Rehe verstört ins Dickicht verzogen. Fast gleichzeitig hatte er den Kolkraben fürchterlich schimpfen gehört.

Hugin war überall und nirgendwo, kannte viele Tiere, sprach angeblich 34 Sprachen und ahmte seine Gesprächspartner so gut nach, dass diese ihm bereitwillig vertrauten. Und er hatte viel Zeit, auch weil er sich im Vogelhaushalt nur selten einbrachte. Er besorgte im Frühjahr eilig das Baumaterial und überließ dann seiner Frau die mühsame Arbeit am Nest. Allenfalls im Notfall setzte er sich für kurze Zeit auf die auszubrütenden Eier.

Jetzt krächzte er immer wieder nur das eine Wort: der Hund, der Hund. Nun sah auch Odin, dass sich ein Hund auf seine Insel zubewegte, sich wie die Ringelnatter durch das seichte Wasser schlängelte und irgendetwas zu ihm hinaufbellte, was der Adler aber wegen der ihm fremden Aussprache nicht sogleich verstand.

„Ich bin doch der Hund von Elmer. Er ist jetzt weg“, bellte er.

„Was willst du hier? Von dir hab ich noch nie etwas gehört.“

Odin gab sich unwissender, als er war. Elegantia hatte ihm doch erzählt, dass Elmers Hund sie einmal unter wütendem Gebell bis tief in den Wald hinein verfolgt hatte.

„Ich muss euch etwas erzählen. Es wird euch glücklich machen!“

„Was weißt du von unserem Glück, du höriges Geschöpf?“