Wenn sich China und Russland verbünden... - Andreas Dripke - E-Book

Wenn sich China und Russland verbünden... E-Book

Andreas Dripke

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Am 24. Februar 2022 startete Russland die Invasion der Ukraine. Nur 20 Tage zuvor hatten der russische Präsident Wladimir Putin und der chinesische Staatschef Xi Jinping einen "Bündnisvertrag" unterzeichnet. Das war kein Zufall: Peking und Moskau stehen sich näher, als im Westen gemeinhin wahrgenommen. Die beiden Länder sind keine "engsten Freunde", aber sie sind vereint in dem unbändigen Bestreben, die Supermacht der Vereinigten Staaten von Amerika zu brechen. Und beide Länder haben sich einem gemeinsamen Gesellschaftssystem verschrieben: dem Kommunismus. Dieser steht dem westlichen Menschenbild von rechtsstaatlicher Demokratie und individueller Freiheit diametral entgegen. Wenn sich der bevölkerungsreichste Staat der Erde, die Volksrepublik China, und das flächenmäßig größte Land auf diesem Planeten, die Russische Föderation, gegen den Westen verbünden, sind unsere Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in akuter Gefahr. Es gibt keinen Weg für Europa, sich aus diesem Kampf der Welten herauszuhalten. Aber es besteht die Möglichkeit, sich eindeutig zu positionieren, um in einer unsicheren Zeit ein Maximum an Sicherheit für die Bevölkerung Europas zu erzielen. Der Sachbuchautor Andreas Dripke, die UNO-Beraterin Hang Nguyen und der Friedensaktivist Jamal Qaiser zeigen in diesem packend geschriebenen Buch anschaulich auf, was passieren kann, wenn sich China und Russland verbünden. Soviel sei verraten: Es ist nichts Gutes!

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Der nachfolgenden Generation gewidmet

Dieses Werk ist unseren Kindern, Neffen und Nichten gewidmet.

Sie alle repräsentieren die nächstfolgende Generation. Mögen sie in Frieden und Freiheit aufwachsen und als Erwachsene dafür Sorge tragen, dass die ihnen nachfolgende Generation ebenfalls in Frieden und Freiheit gedeihen kann.

Andreas Dripke, Hang Nguyen, Jamal Qaiser

Inhalt

Vorwort

Erster und Zweiter Weltkrieg

Die vielen Toten

Die vielen Kriege

„Alle wissen, der Dritte Weltkrieg wird nuklear sein“

Kampf der Kulturen

Karl Marx ist ein Chinese und ein Russe

Globaler Wettbewerb der Gesellschaftssysteme

Europa schaut vor allem auf sich selbst

China und die Apec-Staaten

Wettbewerb um die Weltordnung

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Nicht nur China steht am Pranger, auch die EU

Globale Machtzentren

Das Recht der Völker

Grundlage für eine bessere Welt

China kommt in den Sicherheitsrat

Der Sicherheitsrat verfängt sich in der Vetofalle

Nagelprobe Koreakrieg

Der gemeinsame US/UNO-Krieg

China versus US/UNO-Pakt

Der längste Krieg auf Erden

Auf Korea folgte Vietnam

Multilateralismus am Ende

Das Ende des Multilateralismus

Abkehr der USA von internationalen Organisationen

Seit 24. Februar 2022 ist die EU wieder „in“

Die NATO ist gefragt

Niemand hat den Dritten Weltkrieg ausgerufen

Die neue Weltordnung der Angela Merkel

Russland zwischen den Stühlen

USA vs. China: Russland mischt mit

Von G20 nach G2 und zurück nach G3

Den Haag spricht China Hoheit in der Region ab

Die Falle des Thukydides

Das russische Weltbild

Perestroika und Glasnost

Putin träumt von Großrussland

Der Kampf um die Ukraine begann 2004

Die UNO schaltet die OSZE ein – vergebens

Krim gehörte zu Russland seit Katharina der Großen

Die Heimat der Schwarzmeerflotte

Russland greift nach Syrien

Vier Jahrzehnte Assad

Der Plan der UNO für Syrien

Private Söldner auf dem Vormarsch

Russlands Charme-Offensive in Afrika

Putins Weltgeschichte als Kinderfilm

Operation „Eiserne Faust“

Die russische Invasion in der Ukraine

Der deutsche Schmusekurs mit Russland und China

Kampfgeist der Ukrainer und des Westens

Der Westen wacht auf

Der Mut der Ukrainer und ihres Präsidenten

Die Welt stimmt gegen Russland – China nicht

Bündnisvertrag zwischen China und Russland 2022

Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine

Wladimir Putin: „die Schwachen schlägt man“

Putin erobert die Herzen der Deutschen

Kopfgeld auf Wladimir Putin ausgesetzt

Sanktionen gegen Russland: China zieht Lehren

Wirtschafts- und Technokrieg

Die demütigende Erfahrung

Die neue Seidenstraße – ein Traum wird wahr

Europa fällt Land um Land an China

Italien am Start, die europäischen Zwerge folgen

17 plus 1

Der Wirtschaftskrieg ist längst in vollem Gang

US-Börsen ohne China

Big Business in China von Apple bis Biontech

Chinas Weg zur Spitzentechnologie

Social Scoring für eine bessere Bevölkerung

Kryptowährungen – China geht voran

Welt hat sechs Billionen Dollar Schulden bei China

„Entwicklungsdiktatur“ als Erfolgsmodell

Militärischer Dreikampf

US-Soldaten erwarten baldigen Krieg

USA fallen militärisch zurück

Chinas Militärdoktrin: Westpazifik

USA rüsten Taiwan gegen China

Hypothetischer Angriff auf Europa

Der Westen wehrt sich: Die NATO

Die NATO schlingert

Nine Eleven – der erste Bündnisfall

Afghanistan 2021 war wie Saigon 1975

Russland und China erklären sich zu Afghanistan

Europäische Armee vor gewaltigen Hürden

Die Welt rüstet auf

Killer-Roboter im Anmarsch

Wettrüsten im Weltraum

Cyber War – der Krieg im Internet

Warnung an die digitale Gesellschaft

Geheimdienste machen die Cyberwelt unsicher

Angriff auf die Impfstoffe

Hacker greifen Putin an

Atomkrieg: Niemand will ihn, oder?

Das Kriegstriumvirat

USA: Erster Kernwaffentest 1945

Kubakrise – die Welt am Abgrund

Ausstieg aus der Abrüstung

Raketen gegen China – und zurück

Die Vernichtung der Erde

Der Missbrauch der UNO

Die Ohnmacht internationaler Organisationen

China schließt atomaren Erstschlag nicht mehr aus

Wege zum Frieden

Der Dritte Weltkrieg ist nicht unausweichlich

Glücklicher Ort und Nichtort Utopia

Über die Autoren

Andreas Dripke

Hang Nguyen

Jamal Qaiser

Bücher im DC Verlag

Über das Diplomatic Council

Quellenangaben und Anmerkungen

Vorwort

Über viele Jahre hinweg hat sich in Deutschland und anderen Ländern Europas das Narrativ entwickelt, Russland und China seien uns mehr oder minder freundschaftlich zugetane Nationen. Gleichzeitig war der Eindruck entstanden, dass die Vereinigten Staaten von Amerika der Aggressor seien, vor dem sich Europa in Acht nehmen müsste.

Der Kalte Krieg, das Gegenüberstehen des Westens und des Ostblocks, waren beendet. Nach den Gräueltaten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs schien ein Dritter Weltkrieg ausgeschlossen. Wenn in den vergangenen Jahren in den Medien von „Krieg“ die Rede war, dann vor allem von einem „Wirtschaftskrieg“ oder einem „Technologiekrieg“.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat deutlich gemacht: Alle diese „Nebenkriege“ um Wirtschaft und Technologie bergen die Gefahr eines echten Krieges in sich.

Mit Verweis auf amerikanisches Machtgehabe und die Unzulänglichkeiten der US-Politik wurde über Jahre hinweg der Eindruck erweckt, Europa könne eine neutrale, sozusagen äquidistante Position zwischen den USA auf der einen und Russland sowie vor allem China auf der anderen Seite einnehmen. In höchsten europäischen Regierungskreisen wurde die Idee einer eigenständigen europäischen Armee vorangetrieben, um nicht länger die Rolle des Juniorpartners im nordatlantischen Militärbündnis NATO spielen zu müssen.

Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat alle diese Überlegungen ad absurdum geführt. Ohne die wirtschaftliche, technologische und vor allem militärische Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika ist Europa verloren. Man mag das beklagen, aber es zu ignorieren, wäre im wahrsten Sinne des Wortes tödlich, wie das ukrainische Volk auf dramatische Weise erfahren musste.

Man muss sich klar machen: Sowohl die Sowjetunion, von der momentan „nur“ noch Russland übriggeblieben ist, als auch die Volksrepublik China basieren auf einem grundsätzlich anderen Menschenbild als der freie Westen. Der „alte Kampf“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus ist keineswegs beendet, wie es nach dem Ende des Kalten Krieges zwischen dem Westen und dem Ostblock den Anschein hatte. Er war nur aus den Schlagzeilen verschwunden, aber im Hintergrund hat das Wettrüsten der Supermächte unverändert stattgefunden.

Zählen wir nach und gewichten wir: Es gibt drei Supermächte, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland als Kern der ehemaligen und allmählich wieder heranwachsenden Sowjetunion und die Volksrepublik China. Zwei davon, Russland und China, haben sich eindeutig dem Kommunismus verschrieben. Die einzige kapitalistische Supermacht sind die USA. Es ist illusorisch zu glauben, angesichts dieser Machtverhältnisse könne Europa eine neutrale Position einnehmen, die Vorzüge des Kapitalismus in Anspruch nehmen und gleichzeitig „gut Freund“ mit dem Kommunismus sein.

Man mag die Auswüchse des Kapitalismus beklagen – und es gibt zweifelsohne sehr viele davon. Aber daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, im kommunistischen Weltbild ließe sich besser leben, war und bleibt ein Trugschluss.

Deutschland sollte es besser wissen: Das Land war 40 Jahre lang in einen kapitalistischen Westen und einen kommunistischen Osten geteilt. Der Osten, die sogenannte Deutsche Demokratische Republik, wurde von der DDR-Regierung eingezäunt, um zu verhindern, dass die Menschen in Scharen geflohen wären. Noch deutlicher, als Menschen wie Tiere einzusperren, kann man die Unfreiheit des Kommunismus wohl nicht dokumentieren.

Denn genau dies ist ein, wenn nicht der entscheidende Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus: die Freiheit! Der Kapitalismus geht von der Freiheit des Einzelnen als Menschenbild aus. Das beinhaltet die Freiheit, aus seinem Leben etwas zu machen, sein Glück zu finden, aber beklagenswerterweise auch die Freiheit, sein Leben zu „versauen“, um es salopp zu formulieren, im Elend zu verenden. Doch daraus den Schluss zu ziehen, man könne – wie es dem Kommunismus zugrunde liegt – das Glück der Menschen von staatlicher Seite aus sozusagen erzwingen, allen Menschen zu einem staatlich garantierten guten Leben zu verhelfen, ist unmenschlich.

Ein politisches Regime, das einen tatsächlichen oder auch nur einen unsichtbaren Zaun um „seine“ Bevölkerung ziehen muss, damit die Menschen nicht in Scharen fliehen, ist per se ein Unrechtsregime. Ein Staat, dessen Regierung „seine“ Bürger soweit wie möglich auf ihre Staatstreue hin überwachen und maßregeln will, ohne sich einer unabhängigen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, kann für sich nicht in Anspruch nehmen, ein Rechtsstaat zu sein.

Wenn wir die globalen Machtverhältnisse unter diesem Blickwinkel betrachten, gibt es nur eine einzige rechtsstaatliche Supermacht: die USA. Zweifelsohne gibt es viele und gute Gründe, Kritik an den Vereinigten Staaten von Amerika zu üben. Aber die Alternativen – Russland als Kern der ehemaligen Sowjetunion und die Volksrepublik China – stellen eben keine Alternativen dar – jedenfalls nicht, wenn man die Freiheit des Einzelnen und die Rechtsstaatlichkeit einer Gesellschaft als Ausdruck von Gerechtigkeit als Maßstäbe heranzieht.

Aus diesem Grund stellt ein gemeinsames oder auch nur abgestimmtes Vorgehen der beiden kommunistischen Supermächte China und Russland – eine sino-sowjetische Achse – die wohl größte Bedrohung des freien Westens, also vor allem Nordamerikas und Europas, dar. In dieser Lage wäre es im wahrsten Sinne des Wortes tödlich, würde sich Europa der Illusion einer Äquidistanz hingeben. Deutschland und Europa gehören in dieser Lagerbildung, die beklagenswert, aber kaum änderbar ist, eindeutig ins westliche Lager.

Allerdings ist selbst bei einer Einigkeit keineswegs ausgemacht, dass der Westen einen sich künftig zuspitzenden Konflikt gegen die beiden kommunistisch geprägten Supermächte in der Lage sein wird zu gewinnen. Die Volksrepublik China und Russland mögen nicht die „engsten Freunde“ sein, ebenso wenig wie Europa und die USA, aber sie folgen einer ähnlichen Ideologie und die Gefahr einer Blockbildung ist zum Greifen nahe. Sollte sich das sino-sowjetische Kartell erheben, hätte der Westen einen schweren Stand. Es wäre wünschenswert, wenn Europa in dieser Situation einen klaren Standpunkt hätte.

Andreas Dripke, Hang Nguyen, Jamal Qaiser

Erster und Zweiter Weltkrieg

Kriege gibt es seit Menschengedenken. Aber noch nie starben so viele Menschen in so kurzer Zeit wie im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Es ist wohl nicht zuletzt das Grauen davor, dass in einem Dritten Weltkrieg noch mehr Menschen in noch kürzerer Zeit ihr Leben lassen müssten, das Friedensaktivisten ebenso wie verantwortliche Politiker überall auf der Welt umtreibt, die dritte Wiederholung zu verhindern.

Die vielen Toten

Knapp 20 Millionen Menschen verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben, darunter circa 9,7 Millionen Soldaten und etwa 10 Millionen Zivilisten. Die Verluste waren aus sehr vielen Ländern zu beklagen: Australien (61.900 Tote), Belgien (104.900), Bulgarien (187.500), Deutsches Reich (2,46 Millionen), Dänemark (720), Kanada (66.900), Republik Frankreich (1,697 Millionen), Königreich Griechenland (176.000), Vereintes Königreich (994.100), Britisch-Indien (74.000), Königreich von Italien (1,24 Millionen), Japan (415), Montenegro (3.000), Österreich-Ungarn (1,567 Millionen), Osmanisches Reich (5 Millionen), Neuseeland (18.000), Neufundland (1.200), Norwegen (1890), Portugal (89. 200), Königreich Rumänien (680.000), Russisches Kaiserreich (3,311 Millionen), Königreich von Serbien (725.000), Schweden (870), Südafrikanische Union (9.400), Vereinigte Staaten von Amerika (117.400). Hinzu kamen geschätzt 21 Millionen Verletzte, die Folgen aus dem Krieg davongetragen haben.1

Im Zweiten Weltkrieg wurde alles noch schlimmer, viel schlimmer. Die Kampfhandlungen begannen, abgesehen von einzelnen Scharmützeln an der deutsch-polnischen Grenze, am 1. September 1939, als das Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf die Westerplatte bei Danzig eröffnete, und endeten am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr. Das sind 2077 Tage oder 49.842 Stunden und 16 Minuten. In dieser Zeitspanne starben in jeder Stunde rund 1.000 Menschen. Insgesamt forderte der Zweite Weltkrieg das Leben von rund 50 Millionen Menschen, darunter etwa 39 Millionen Zivilisten. Andere Schätzungen gehen sogar von bis zu 80 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg aus.2

Die Opfer kamen aus zahlreichen Ländern: Australien (30.000 Tote), Belgien (60.000), Bulgarien (32.000), China (13,5 Millionen), Deutschland (6,355 Millionen), Finnland (91.700), Frankreich (360.000), Griechenland (180.000), Großbritannien (332. 825), Indien (3,024 Millionen), Italien (300.000), Japan (3,76 Millionen), Jugoslawien (1,69 Millionen), Kanada (43.190), Neuseeland (10.000), Niederlande (220.000), Norwegen (10.000), Südafrika (9.000), Philippinen (100.000), Polen (6 Millionen), Rumänien (378.000), Sowjetunion (27 Millionen), Tschechoslowakei (90.000), Ungarn (950.000), USA (407,316).3

Weit mehr als 100 Millionen Tote und Verletzte in zwei Weltkriegen binnen rund 30 Jahren. Soldaten, Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, zerstörte Leben, verlöschte Hoffnungen, unbeschreibbare Gräuel, unendliches Leid – im Angesicht dieser gigantischen Zerstörungswut wollte die Weltgemeinschaft mit einer „weltweiten Friedensorganisation“ alles daransetzen, das weitere Töten zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Schon nach dem Ersten Weltkrieg mit rund 20 Millionen Toten gründete die internationale Staatengemeinschaft den Völkerbund mit einem einzigen Ziel: einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Der Völkerbund versagte leider. Rund 20 Jahre später begannen die Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg, der über 50 Millionen Menschenleben kostete.4

Die Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organisation) wurde ins Leben gerufen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.5

Ist ihr das bislang gelungen? Ja, insofern, als bislang niemand den Dritten Weltkrieg ausgerufen hat. Nein, insofern, als heute mehr Kriege auf der Welt toben als je zuvor. Die weltweite Zahl der militärischen Konflikte steigt seit Jahren stetig an, ebenso wie die Zahl der Opfer und der Flüchtlinge, die den Kriegen entkommen und ihr Leben retten wollen.6 Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat deutlich gemacht, wie nah das Kriegsgeschehen an Europa herangerückt ist. Doch schon lange zuvor tobten Kriege beinahe rund um den Erdball.

Die vielen Kriege

Die Zählungen des Heidelberg Institute for International Conflict Research wiesen zwischen 2011 und 2020 im Durchschnitt 18 Kriege aus, die Jahr für Jahr an vielen Orten auf der Welt stattfanden.7 Dabei bezog sich das Institut lediglich auf „echte Kriege“, nicht auf bloße militärische Auseinandersetzungen oder Konflikte, in denen gelegentlich auch Gewalt zur Anwendung kommt. Das Institut zählte 21 Kriege in 2020, 15 in 2019, 16 in 2018, 20 in 2017, 18 in 2016, 19 in 2015, 21 in 2014, 18 in 2012 und 20 in 2011. Vor dem Jahr 2011 sah es deutlich besser aus: Im Jahr 2010 gab es demnach „lediglich“ sechs Kriege, im Jahr davor „nur“ sieben Kriege. Neben diesen „echten Kriegen“ erfasste das Heidelberger Institut auch sogenannte „begrenzte Kriege“, die zu den „echten“ hinzuzuzählen sind. Hier waren die Zahlen ähnlich hoch: 19 begrenzte Kriege in 2020, 23 in 2019, 25 in 2018, 20 in 2017 und 2016, 24 in 2015, 25 in 2013 und 2012, 18 in 2011, 22 in 2010 und 24 in 2009. Eine um den Faktor zehn höhere Größenordnung ergibt sich, wenn man zusätzlich die Konflikte auf der Welt in Betracht zieht. Das Heidelberger Institut benannte 319 Konflikte im Jahr 2020, von denen mehr als die Hälfte – 180 – als gewalttätig eingestuft wurden.8

Ähnlich hoch lagen die Zahlen in den Vorjahren: 385 Konflikte in 2019, davon 196 gewalttätig, 374 Konflikte in 2018, davon 214 gewalttätig, 385 Konflikte in 2017, davon 222 gewalttätig, 402 Konflikte in 2016, davon 226 gewalttätig, 409 Konflikte in 2015, davon 223 gewalttätig, 424 Konflikte in 2014, davon wiederum 223 gewalttätig, 414 Konflikte in 2014, davon 221 gewalttätig.

War es früher besser? Die Analysen des Heidelberger Instituts für internationale Konfliktforschung sagen „ja“. 1992, im ersten Jahr, als das Institut die Forschungsreihe gestartet hat, wies der damalige Report über 100 Konflikte und fünf Kriege aus. 1993 waren es bereits 119 Konflikte und 23 Kriege. Ohne die Methodik des Instituts hier im Detail darzustellen oder die Definitionsfrage nach den Unterschieden zwischen „echten Kriegen“, „begrenzten Kriegen“ und „gewalttätigen Konflikten“ detailliert zu diskutieren, lässt sich eines feststellen: Die Gewalt nimmt weltweit zu, nicht etwa ab. Menschen werden entwurzelt, verletzt, getötet. Jeden Tag kommen im Schnitt 500 Menschen durch gewalttätige Konflikte ums Leben, das sind 182.000 Kriegstote pro Jahr. Das sind zusammen weit mehr als 12 Millionen Tote seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.9

Diese Zahlen könnten möglicherweise sogar noch zu konservativ sein. Eine Untersuchung von Global Research legt nahe, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in 37 Staaten mindestens 20 Millionen Menschen allein durch Kampfhandlungen ums Leben gekommen sind, die unmittelbar auf die USA zurückzuführen sind. Die Länder wurden entweder direkt angegriffen oder durch geheimdienstliche Tätigkeiten der USA in Bürgerkriege getrieben.10

Alle diese Zahlen basieren auf Schätzungen, unterliegen Definitionsfragen und sind häufig auch politisch motiviert. Die entscheidende Frage in Bezug auf das Thema des hier vorliegenden Buches ist allerdings einfach: Wird ein Zusammenprallen der beiden kommunistischen Mächte China und Russland einerseits und des westlichen Lagers andererseits zu einem weiteren „ganz großen Krieg“, einem Weltkrieg, führen?

„Alle wissen, der Dritte Weltkrieg wird nuklear sein“

Man mag die Vielzahl der Konflikte rund um den Globus zu recht beklagen, aber um wieviel größer wäre das Leid eines Dritten Weltkrieges, in dem Atomwaffen zum Einsatz kämen? Im Kalten Krieg zwischen den westlichen Nationen unter Führung der USA und dem sowjetischen Ostblock unter Führung Russlands war es gelungen, eine atomare Auseinandersetzung zu verhindern.

Doch es gibt keine Gewähr dafür, dass es im derzeitigen Konflikt zwischen China, Russland und den USA wiederum gelingen wird, den Kampf mit Atomwaffen zu vermeiden. Im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine im Frühjahr 2022 standen sowohl ein „Atomkrieg“ als auch ein „Dritter Weltkrieg“ im Raum – genauer gesagt, wurden beide Begriffe verwendet.

So erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow unverblümt: „Alle wissen, dass ein Dritter Weltkrieg nur ein nuklearer sein kann. Diese Frage stelle sich aber nur in den Köpfen westlicher Politiker und nicht in denen der Russen.11 Tatsächlich schockierte jedoch Russlands Präsident Wladimir Putin die Welt mit der Ankündigung, die Nuklearstreiftkräfte seines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen.12 China hat hingegen derzeit keinerlei Interesse an einer globalen kriegerischen Auseinandersetzung. Nicht, weil die Volksrepublik vom Frieden beseelt ist, sondern schlichtweg, weil China auf absehbare Zeit noch gar nicht bereit ist, in einer umfassenden militärischen Auseinandersetzung mit den USA auch nur eine Chance zu haben. Deswegen hat China die Rivalität (vorläufig) auf andere Gebiete wie Wirtschaft und Technologie verlagert.

In dieser Gemengenlage gilt es eine Antwort auf die Frage zu finden, wo sich Europa beim Kräftemessen der drei Weltmächte befindet und welche Rolle Europa dabei spielen kann.

Kampf der Kulturen

Gelegentlich ist die Vorstellung zu hören, Europa sitze zwischen den Stühlen – die USA auf der einen Seite, China – und seit dem Februar 2022 auch noch Russland – auf der anderen Seite. Wer so redet, verkennt völlig, dass unsere deutsche und unsere europäische Gesellschaft bei allen Unterschieden den Vereinigten Staaten von Amerika um ein Vielfaches ähnlicher ist als dem chinesischen oder dem russischen Staats- und Gesellschaftsverständnis. Doch das ist keineswegs eine allgemeine Erkenntnis in der deutschen Bevölkerung.

Im Zwist zwischen China und den USA stand Deutschland spätestens seit dem Coronavirus-Ausbruch Anfang der 2020er Jahre scheinbar fast äquidistant zu China und den USA. Bei einer Umfrage mitten in der Krise 2020 zeigte sich die deutsche Bevölkerung gespalten in der Frage, ob für Deutschland enge Beziehungen zu den USA oder zu China wichtiger sind. Danach gefragt, nannten 37 Prozent die USA und 36 Prozent China. Weitere 13 Prozent setzten auf beide Länder. Noch ein Jahr zuvor hatte sich jeder zweite Deutsche (50 Prozent) für ein enges Verhältnis mit den USA ausgesprochen. Nur knapp jeder Vierte (24 Prozent) hatte China den Vorzug gegeben.13 Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte man angesichts dieser Entwicklung wohl von einer Neuordnung im geopolitischen Machtgefüge in den 2020er Jahren sprechen.

Seit 2021 versucht US-Präsident Joe Biden dem Abdriften Europas aus dem Einflussbereich der USA entgegenzuwirken. Im ersten Jahr seiner und im letzten Jahr der Amtszeit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichneten beide Seiten eine „Washingtoner Erklärung“, die die gemeinsamen Werte beider Länder unterstreicht. Zudem wurde ein „deutsch-amerikanisches Zukunftsforum“ und ein „Wirtschaftsdialog“ vereinbart sowie eine „Klima- und Energiepartnerschaft“ unterzeichnet – einschließlich eines allgemeinen Bekenntnisses zum Kampf gegen den Klimawandel.14 Dabei ging es Deutschland und den USA indes weniger um das Weltklima, also vielmehr um das bilaterale politische Klima. Biden ist fest entschlossen, unter globaler Führung der USA einen politischen Block der freien und demokratischen Staaten gegen die kommunistischen Machtzentren in China und Russland zu bilden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 kam dem US-Präsidenten dabei insofern gelegen, als er Europa geradezu in die Arme der USA trieb. Die Frage nach dem Sinn der NATO etwa stellte sich im Angesicht des russischen Überfalls auf die Ukraine nicht mehr.

Karl Marx ist ein Chinese und ein Russe

Man muss sich vergegenwärtigen, dass sich China in seinem Aufstreben keineswegs dem Kapitalismus zuwendet, sondern sich weiterhin den Idealen von Karl Marx verpflichtet fühlt. Der derzeitige Staatskapitalismus wird lediglich als Vorstufe zum Sozialismus verstanden. Die damalige Sowjetunion hatte unter Michail Gorbatschow mit „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) freiheitliche, marktwirtschaftliche und beinahe schon demokratische Elemente ins russische Staatswesen gebracht. Es war der Staatsräson nicht bekommen: Die Sowjetunion zerfiel, vom ehemaligen Ostblock ist nichts mehr übrig geblieben. Aus dieser Entwicklung hat China gelernt.

Am 1. Juli 2021 feierte die Kommunistische Partei (KP) Chinas ihren 100. Jahrestag mit viel Pomp. Die KP ist die einzig entscheidende politische Kraft im bevölkerungsreichsten Land der Welt. Mit etwa 95 Millionen Mitgliedern ist sie außerdem die zweitgrößte politische Partei der Welt – nur Indiens Bharatiya Janata Party kommt auf mehr. Zudem ist Chinas KP die letzte und langlebigste kommunistische Partei von Weltgröße. Zum Vergleich: Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation kommt nicht einmal auf 200.000 Mitglieder.15 Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) am 25. Dezember 1991 in Russische Föderation umbenannt worden. 16 Im vorliegenden Buch wird überwiegend die Bezeichnung Russland dafür verwendet.

Über die Frage, warum der Kommunismus in China überlebt hat, anders als etwa in der Sowjetunion, streiten Historiker. Eine plausible Erklärung lautet: In China hat sich die kommunistische Ideologie als besonders flexibel erwiesen. Der KPMitgründer Mao Zedong sowie seine einflussreichsten Nachfolger Deng Xiaoping und Xi Jinping im Amt des Parteichefs haben die marxistisch-leninistische Ideologie um neue Elemente erweitert und sie zu einem Instrument politischer Kontrolle im absolutistischen Stil gemacht.17

Im Narrativ der Propaganda ist die Geschichte des heutigen Chinas untrennbar von der Geschichte der Partei. In ihrem Namen leitete Mao Zedong die Industrialisierung des Landes ein, in Säuberungswellen der Fünfzigerjahre, während des sogenannten Sprungs und der Kulturrevolution starben Millionen Menschen. Deng Xiaoping liberalisierte als absolutistischer Herrscher die chinesische Wirtschaft und schlug die Demokratiebewegungen blutig nieder.18 Der amtierende Xi Jinping ist nun offenbar fest entschlossen, die globale Vorherrschaft der USA zu brechen und China auf den ersten Platz unter den Weltmächten zu setzen. Die Zeit dafür bis 2049 hat er: Im März 2018 hob der chinesische Volkskongress die Begrenzung der Amtszeit für den Präsidenten auf.19 Während Wladimir Putin laut russischer Verfassung noch bis 2036 regieren kann, darf sein Kollege aus der Volksrepublik China bis zu seinem Lebensende an der Spitze des Staates stehen. Und bis dahin hat er offenbar noch einiges vor.20

Globaler Wettbewerb der Gesellschaftssysteme

Noch vor 2050 will China zur stärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen. Spätestens wenn dieses Ziel erreicht ist, wird sich der globale Wettbewerb der Gesellschaftssysteme stellen: Der westlich-liberale Kapitalismus Europas und Nordamerikas muss sich spätestens dann vermutlich auf einen Angriff des marxistisch-sozialistischen Modells gefasst machen. Aus chinesischer Sicht ist der Sozialismus besser geeignet, Wohlstand für den Großteil der Bevölkerung bereitzustellen als der Kapitalismus, der aus dieser Perspektive lediglich einem Bruchteil der Menschen Reichtum beschert. Das Seidenstraßen-Projekt trägt damit sicherlich auch die politische Motivation, dieses Modell sukzessive in ganz Asien, Europa und Afrika zu etablieren. Der über Jahre hinweg zunehmende Keil zwischen Europa und den USA kommt somit der chinesischen Politik sehr entgegen. Der US-Position „America first“ steht das Gegenmodell „China only“ entgegen, während Europa in zunehmender Nationalisierung drohte, der Kleinstaaterei anheim zu fallen. Die russische Invasion in der Ukraine 2022 hat indes die Bande zwischen Europa und den USA verstärkt wie lange kein Ereignis zuvor. Es war geradezu ein Weckruf an die westliche Welt, die beiden kommunistischen Machtblöcke als Gegner nicht zu unterschätzen. Der 2021 ins Amt gekommene US-Präsident Joe Biden hat bereits klargestellt, dass sein Land weder dem Aufstieg Chinas noch dem Russlands tatenlos zusehen wird.21

Die USA wird sich vor allem dem Ziel Chinas, die weltweite Innovationsführerschaft zu übernehmen, mit aller Macht entgegenstellen. Damit ist der Konflikt mit Europa vorprogrammiert: China wird künftig noch stärker als bisher versuchen, vor allem know-how- und technologie-starke Unternehmen in Europa zu übernehmen. Tatsächlich ist dieser Prozess längst im Gange. Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump China unfaire Handelspraktiken vorgeworfen und das große Defizit im Warenaustausch beider Länder angeprangert hat, beschuldigte China die USA im Gegenzug der „Handels-Tyrannei“. Der deutsche Altbundeskanzler Gerhard Schröder hat längst die Verortung Europas in diesem Konflikt ausgemacht und vorgeschlagen, dass sich Europa keineswegs als Teil eines amerikanischen Handelskonfliktes mit China aufstellen lassen sollte, sondern ganz im Gegenteil die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen und sich an die Seite China stellen sollten. „Wir können uns nicht gefallen lassen, dass wir wie ein besetztes Land behandelt werden“, sagte Gerhard Schröder mit Blick auf das Verhalten der USA.22 Es wäre eine Abkehr von der transatlantischen Freundschaft hin zu einer eurasischen Brücke. USPräsident Joe Biden sucht seit 2021 dieser Annäherung Europas an Chinas entgegenzuwirken. Er will eine globale Allianz gegen die Dominanz Chinas schmieden – und dazu offenbar die G7-Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA) zu einem Anti-China-Bündnis umfunktionieren. Im Kern fordert Biden die Staatengemeinschaft auf, sich zwischen China und den USA zu entscheiden (natürlich für die USA), also keine äquidistante bzw. mehr oder minder neutrale Rolle einzunehmen. In Bezug auf Russland hat sich die Frage der Nähe nach dem militärischen Einmarsch in die Ukraine erledigt.

Europa schaut vor allem auf sich selbst

Europa ist allerdings ein Kontinent, der primär auf sich selbst schaut. Die europäische Gesellschaft hat kaum eine Vision für die Zukunft des eigenen Kontinents geschweige denn der Welt. Die europäische Politik folgt weitgehend dieser Fantasielosigkeit der Gesellschaft, die im Grunde nur den heutigen Wohlstand bewahren und ihr bequemes Leben weiterhin führen will. Allerdings beschleicht immer mehr Menschen in Europa die Ahnung, dass diese Bequemlichkeit und diese Visionslosigkeit zum Abstieg Europas führen werden. Die hiesige Politik denkt kaum fünf Jahre voraus, die chinesische Politik denkt und lenkt in Zeiträumen von 50 Jahren und länger.

Bestes Beispiel hierfür stellt die Entwicklung eines euroasiatischen Eisenbahnnetzes dar, die China vorantreibt. Mit einem Investitionsvolumen von über 130 Milliarden Dollar baut China ein Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetz zwischen Asien und Europa auf. Ziel ist der Warentransport von China nach Europa innerhalb eines Tages. In den 2020er Jahren will China Millionen von Containern auf diesem Landweg transportieren. Schon seit 2020 bringt die Bahn fahrbereite Autos – also nicht etwa nur Komponenten – aus China nach Europa.

Am 13. Juli 2021 kam der erste Güterzug auf der neuen Direktverbindung zwischen der chinesischen Provinz Anhui und dem JadeWeserPort in Wilhelmshaven an. Der Zug mit 100 Containern war am 25. Juni in China gestartet und über Kasachstan, Russland und Polen nach Deutschland gefahren. 23 Bald soll es einen regelmäßigen Schienenverkehr zwischen China und dem Hafen geben.

Im militärischen Machtgehabe Russlands sieht China für sich vor allem die Gefahr, dass die Landverbindungen zwischen der Volksrepublik und Europa leiden. Für ein stabiles Eisenbahnnetz als Grundlage für eine zuverlässige sino-europäische Logistik spielen die Überlandwege durch Russland und teilweise auch die Ukraine eine wesentliche Rolle. Die kriegerischen Unruhen, die Russland nicht erst seit 2022 in die Staaten rund um seine Landesgrenzen bringt, können dem chinesischen Regime also gar nicht gefallen.

Es ist daher davon auszugehen, dass China wie schon 2022 im Kampf um die Ukraine eher besänftigend auf Russland einwirken wird, um die Auseinandersetzungen nicht allzu groß werden zu lassen. Überall dort, wo es Moskau gelingt, den Einfluss der USA zurückzudrängen, sind China die russischen Aktivitäten sicherlich recht – aber eben nicht, wenn (vorzeitig) ein „großer Krieg“ vom Zaun gebrochen wird. Denn die Chinesen wollen die nächsten Jahre vor allem zur weiteren wirtschaftlichen und politischen Vernetzung rund um den Erdball nutzen.

China und die Apec-Staaten

In der Gegenpositionierung zu den USA versucht China möglichst weite Teile der Welt an sich zu binden. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei die Staaten der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec) ein. Die 21 Apec-Länder repräsentieren etwa 2,8 Milliarden Menschen und gut die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Beim Apec-Gipfel 2018 in Port Moresby nahm sich Chinas Regierungsschef Xi zwei Tage Zeit, um einen Sondergipfel mit acht kleinen Pazifikstaaten abzuhalten, die eine überaus wichtige Rolle in der Region spielen. Denn genau dort, auf Inselgruppen, die US-Truppen im Zweiten Weltkrieg zum Teil der japanischen Besatzung entrissen hatten, baut China seit einiger Zeit neue Infrastrukturen von immenser strategischer Bedeutung auf.

Der Ansatz dazu ist so simpel wie wirksam: Peking versorgt die überwiegend schwachen Regierungen mit Spenden und Krediten, um dadurch wirtschaftliche und letztlich politische Abhängigkeiten zu schaffen. Das Modell funktioniert nicht nur im Pazifik, sondern von Südostasien bis Afrika und zunehmend auch in Europa, wie der Erfolg der neuen Seidenstraße zeigt.

Washington sieht diese Entwicklung mit Argwohn. So sagte US-Vizepräsident Mike Pence schon auf dem Apec-Gipfel 2018: „Die Sicherheit und der Wohlstand unserer Nation sind von dieser zentralen Region abhängig. Die USA werden weiterhin sicherstellen, dass alle Nationen, die großen und die kleinen, in einem freien und offenen Indopazifik blühen und gedeihen können.“ Die Benutzung des Begriffs „Indopazifik“ statt „Pazifik“ ist kein Zufall: Die US-Strategen wollen damit klarstellen, dass sich die Ausrichtung Amerikas über die Straße von Malakka hinaus auf Indien ausdehnt. Gemeinsam mit Australien und Japan bilden Indien und die USA den losen Verbund der „Quad“. Die vier Länder sind sich vor allem in einem einig: Sie hegen ein tiefes Misstrauen gegenüber China.

Gleichzeitig starteten die USA eine diplomatische Charmeoffensive in allen Ländern, die sich angesichts Chinas wachsender Dominanz unwohl fühlen. Dazu gehören etwa Vietnam und Malaysia, aber auch die Inselrepublik Taiwan, die Peking als abtrünnige Provinz betrachtet, und die vom Pentagon mit Waffenlieferungen versorgt wird. Darüber hinaus legten die USA ein mit 60 Milliarden Dollar ausgestattetes Finanzprogramm auf, um strategisch wichtigen Ländern unter die Arme zu greifen. Eigens hierfür wurde eine neue Bundesagentur für USInvestitionen in Entwicklungsländer aus der Taufe gehoben. Die dafür bereitgestellten 60 Milliarden US-Dollar waren natürlich lächerlich angesichts der chinesischen Billionen für die Neue Seidenstraße. Aber es war immerhin ein symbolischer Akt, um zu verdeutlichen, dass Länder, die sich mit den USA verbünden, nicht leer ausgehen müssen. Ob es reichen wird, darf bezweifelt werden.

Ausgerechnet Rodrigo Duterte, der Präsident der Philippinen, des wohl engsten US-Verbündeten im Pazifik, sagte auf dem Apec-Gipfel 2018, zu dem der US-Präsident selbst nicht gekommen war, sondern nur Vizepräsident Mike Pence geschickt hatte: „China ist da. Das ist eine Realität, und Amerika und alle anderen sollten das zur Kenntnis nehmen.“

Die Philippinen stehen mit dieser Haltung nicht allein. Südkoreas Präsident Moon Jae In unterhält schon lange enge Kontakte mit China, weil er weiß, dass eine Wiedervereinigung Koreas ohne chinesisches Einverständnis niemals möglich ist – da nützten alle mehr oder minder tölpelhaften Verhandlungen des damaligen US-Präsidenten Donald Trump mit Nordkorea gar nichts.

Japan fuhr zweigleisig. Nach dem Amtsantritt Trumps 2017 war Japans Ministerpräsident Shinzo Abe als erster Regierungschef an Ort und Stelle, um dem neu gewählten USPräsidenten persönlich zu gratulieren. Doch im Oktober 2018 reiste er mit einer Delegation von mehr als 1.000 Unternehmen nach Peking, um die chinesisch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen zu fördern.

Alle diese Länder im Pazifik waren nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Schirm der US-Dominanz erblüht: neben Japan, dem Erzfeind aus dem Zweiten Weltkrieg, auch Malaysia, Singapur, Südkorea, Taiwan, Thailand und selbst das kommunistische Vietnam, das Bauernopfer des Kalten Kriegs. Doch angesichts des unaufhaltsamen Aufstiegs Chinas verschiebt sich die Machtbalance in der Region: Die USA sind nicht länger der unangefochtene Herrscher.

Wettbewerb um die Weltordnung

Der zu dieser Zeit frisch gebackene US-Präsident Donald Trump trat 2017 seinen ersten Staatsbesuch in China an. Trump schwärmte von Xi Jinping als einen „großartigen Freund“ und sprach von der „guten Chemie“ zwischen ihm und dem chinesischen Staatslenker. Nicht einmal Stellvertreterkriege waren damals in Sicht, abgesehen von fortwährenden Scharmützeln auf See.

Doch schon wenige Wochen nach Trumps Rückkehr aus Peking 2017 verpasste die US-Regierung der Nationalen Sicherheitsstrategie ein Update und definierte das amerikanischchinesische Verhältnis klipp und klar als einen „Wettbewerb zwischen freien und repressiven Visionen der Weltordnung“. Kurz darauf folgte das US-Verteidigungsministerium mit einer aktualisierten Nationalen Verteidigungsstrategie, in der China noch vor Russland als „strategischer Wettbewerber“ der USA eingestuft wurde. Das Pentagon bezeichnete China als eine „revisionistische Macht“, welche die „wirtschaftlichen, diplomatischen und Sicherheitsentscheidungen“ der USA unterminiert.

Kurz darauf begann eine Eskalation gegenseitiger Verdächtigungen und Beschuldigungen. Der zu dieser Zeit amtierende FBI-Direktor Christopher Wray bescheinigte China, „die umfassendste, komplizierteste und langfristigste“ Bedrohung für die Spionageabwehr der USA zu sein. Dem früheren Erzfeind Russland ginge es nach dem Sturz der Sowjetunion darum, überhaupt noch „relevant“ zu bleiben, aber „China kämpft den Kampf von morgen“. Der Vergleich mit Moskau ist bezeichnend; die Vereinigten Staaten von Amerika gingen lange Zeit davon aus, letztlich China ebenso wie Russland in die Knie zwingen zu können. US-Präsident Joe Biden nannte China bei seiner ersten Pressekonferenz im Amt im März 2021 den „großen Wettbewerber“ der USA.24