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Wenn ein Kind viele Fragen stellt, können die Eltern seine geistige Entwicklung verfolgen. Doch wie soll man alle beantworten? Zum einen ist niemand ein Lexikon, zum anderen empfinden die Eltern manche Fragen als indiskret. Solange ein Mensch jung ist und über viel Zeit verfügt, macht er sich darüber keine Gedanken. Und sobald er in die Lage kommt, Kinder betreuen zu müssen, fehlen ihm Zeit und Muße, um einschlägige Vorträge anzuhören. Auf diese Verlegenheit geht der erste im Buch enthaltene Aufsatz ein. Er seziert die möglichen Fragen und veranschaulicht mit Beispielen, wie die Antwort aufgebaut sein könnte. Die anderen drei Aufsätze gehen weit über dieses Thema hinaus. Was ein Scherz ist und wie ein Kind sich die Kunst des Scherzens aneignet, wird in keiner Elternschule erläutert. Ab wann sprechen Rätsel Kinder an? Gegenstand des vierten Aufsatzes ist ein Stilmittel der Kinderliteratur. Der Autor lässt einen törichten Wunsch in Erfüllung gehen und schildert drastisch die unangenehmen Folgen. Er führt den Helden zur Besinnung - und mit ihm den Leser, der sich mit dem Helden identifiziert.
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Seitenzahl: 159
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Fassliche Antworten schmecken nach mehr
Anleitungen zu einer Gesprächstaktik
Wie dein Kind scherzen lernt
Vom Umkehrungsvers zum gutmütigen Witz:
ein langer Marsch durch Sprache und Egozentrismus
Abenteuer mit dem Vogel Federlos
Ab wann Rätsel Kinder ansprechen
König Hänschen schenkt Schokolade
oder
Die Reductio ad absurdum als Stilmittel der Kinderliteratur
Bibliografie
Didaktik und Pädagogik
Volkskunde
Belletristik
Folklore
Vielleicht kennen Sie den alten Neckvers, der gelegentlich auch in meiner Familie zitiert worden ist:
Lirum-larum Löffelstiel,
kleine Kinder fragen viel.
Fragen dies und fragen das:
Warum ist das Wasser nass?
Warum hat die Puppe Beine
und kann doch nicht gehn alleine?
Lirum-larum Löffelstiel,
kleine Kinder fragen viel.
Lirum-larum ist synonym mit papperlapp und drückt Geringschätzung aus. Der Text gibt zu verstehen, dass man Kinder-Fragen nicht ernst nehmen müsse, weil sie töricht sind, wofür gleich zwei Beispiele folgen. Damit erscheint der Neckvers als Teil einer Abwehrstrategie des bequemen Erwachsenen: Wozu der Aufwand, es geht auch so … Er sublimiert unser Unbehagen, er verdrängt das schlechte Gefühl, eine Erziehungspflicht zu vernachlässigen. Nebenbei wird durch die Verbindung der Fragelust mit dem Kleinkind-Alter ein falscher Akzent gesetzt. Große Kinder fragen nämlich auch ganz gern, soweit man die natürliche Regung dazu nicht unterdrückt hat, als sie noch klein waren.
Warum fallen Kinder mit ihren Fragen zur Last? Erstens stören sie beim Überlegen sowie bei Verrichtungen, welche Gedankenarbeit oder gespannte Aufmerksamkeit erfordern, etwa beim Gespräch mit einer dritten Person – beim Einstellen von Apparaten – bei komplizierten Basteleien und Reparaturen einschließlich Kochen und Zuschneiden – beim Autolenken – beim Tippen auf der Maschine – beim Geldzählen – beim Lesen – beim Nachrichtenhören – beim Fernsehen. Manche Leute verbitten sich Fragen in der Öffentlichkeit aus Furcht, die Worte des Kindes könnten ein schlechtes Licht auf die Familie werfen, oder aus Furcht, sie könnten sich durch eine mangelhafte Auskunft blamieren. Zweitens fragen die Kinder ungeschickt. Und je kleiner ein Kind, umso geringer Wissen und Wortschatz, umso weniger verständlich die Frage; oft ist aus demselben Grund eine fassliche, mithin befriedigende Antwort auch beim besten Willen nicht möglich. Oft regt die Antwort zu weiteren Fragen an, weil sie Begriffe in das Gespräch einführt, die für das Kind neu sind, und weil sie das Kind auf bis dahin nicht beachtete Zusammenhänge aufmerksam macht.
Außerdem paart sich beim kleinen Kind Wissbegier mit Schwatzhaftigkeit. Anfang 1984 wanderte eine Nachricht über die Höchstleistungen auf diesem Gebiet durch die Presse. In der Tschechoslowakei hatten Soziologen Folgendes festgestellt: Im Alter von fünf bis zehn Jahren sprechen Kinder durchschnittlich 14.000 Wörter am Tag, mit oder ohne Partner. Sie übertreffen die Jugendlichen (10.000 Wörter) und die Seeleute während ihres Landurlaubs (13.000 Wörter). Vielleicht lassen sich die Leistungen der Frauen im Schnellsprechen durch das unaufhörliche Bemühen erklären, zwei, drei oder mehr kleine Kinder zu besänftigen, zu belehren, anzuleiten, anzuspornen und zu tadeln.
Gesunde Kinder werden scherzhaft lebendige Fragezeichen genannt. Eigentlich erlaubt uns ihre ungehemmte Wissbegier, in ihrem Geistes- und Gemütsleben zu lesen wie in einem offenen Buch. Wir erfahren nicht nur, was sie beschäftigt und was sie nicht verstehen, sondern auch, was sie bedrückt und was sie ängstigt. Ihre Fragen belegen intensive Anteilnahme am Umweltgeschehen. Umgekehrt geben schweigsame Kinder ihren Eltern Rätsel auf. Was ziehen Sie vor?
Der Volkswitz gewinnt den Spannungen im Kind-Erwachsener-Verhältnis infolge missverstandener oder heikler Fragen eine heitere Seite ab. Auch die Belletristik nimmt den Erwachsenen auf die Schippe, der vor fasslichen Antworten kneift. Es mutet noch relativ harmlos an, wenn die gute Frau Kofferl sich extra eine Person wünscht, die auf jede Frage ihres Neffen Heinrich sofort antworten kann.1 Jaroslav Hašek macht uns weis, dass er seinen Neffen, den vierjährigen Mila, mit dem er eigentlich nur spazierengehen wollte, in der Puszta ausgesetzt hat, weil Mila ihn ohne Punkt und Komma mit Fragen löcherte.2 Eric Malpass hat das traditionelle Tabu-Thema der Aufklärung zum Anlass gewählt: er karikiert die Befangenheit zweier gebildeter Menschen, eines Schriftstellers und seiner Frau, die unvermittelt ihrem fünfeinhalbjährigen Sohn erklären sollen, wo die Babys herkommen.3
Den achtjährigen Thomas lässt die bezaubernde Landschaft des Salzkammerguts kalt – er interessiert sich für die Elektrizität. Während der Fahrt über den Wolfgangsee will er wissen, ob der Schiffsmast durch einen Blitzableiter gesichert sei oder vielmehr wäre, wenn er von einem ganz starken Blitz getroffen würde, und ob man in diesem Fall ungefährdet auf dem Verdeck stehenbleiben dürfte und wie man einem Kugelblitz ausweichen müsste, vorausgesetzt, es käme einer über das Wasser gelaufen. Die Aussicht auf den Dachstein fesselt Thomas nicht; er fragt nach der Spannung in der Starkstromleitung, die übers Tal gespannt ist. Nach dem Abendessen kommt er auf sein Anliegen zurück: „Papi, jetzt, wo weit und breit keine Landschaft ist, die ich anschauen muss – da kannst du mir doch sagen, wieviel Volt so eine Starkstromleitung hat?“4
Nach Wincenty Okon erreicht die Wissbegier des Kindes den Höhepunkt vor seinem Eintritt in die Schule (aber nicht, weil keine weitere Steigerung möglich wäre). In der Schule wird sie durch aufgedrängte künstliche Probleme stark gehemmt; sie verliert dann ihre Rolle als Motor der Forschungstätigkeit an die allmächtige Note.5 Weil das natürliche Interesse an den Lerninhalten von grundsätzlicher Bedeutung für den Lernerfolg ist, hat Okon der Art und Weise, wie man jenes Interesse im Unterricht wecken und erhalten kann, den Techniken des problemhaften Unterrichts, eine ausführliche Abhandlung gewidmet.
Nehmen wir an, ein Kind stellt außerhalb des Kindergartens und der Schule pro Tag durchschnittlich fünf Fragen, das ergibt in fünfzehn Jahren mehr als 27.000. Vermutlich ist der Durchschnitt höher (die Schätzungen gehen nämlich bei Dreijährigen bis 112 …). Gewiss steht ein Teil davon mit dem Unterricht in Verbindung, denn aufgrund des vorgeschriebenen Lehrstoffs wird die Aufmerksamkeit Schritt für Schritt auf ungeheuer viele Einzelheiten gelenkt. Doch die Erlebniswelt des Kindes reicht weiter. Vorfälle in der Familie und im Freundeskreis, Begebenheiten auf der Straße, Abenteuer während der Ferien, Bücher und Filme wecken seine Neugier für Themen, die im Unterricht noch nicht dran waren oder im Lehrplan gar nicht vorgesehen sind. Auf jeden Fall erwirbt sich das Kind außerhalb des Kindergartens und der Schule ein bedeutendes Quantum Wissen, sodass man praktisch von einem zweiten Bildungsweg sprechen kann. Deshalb darf uns die Qualität der Antworten nicht gleichgültig sein.
Für die thematische Vielfalt des kindlichen Wissensdrangs lassen sich nicht genug Beispiele anführen.
Frau Kofferls Neffe Heinrich, etwa sieben Jahre alt, fragt folgendermaßen drauflos:
„(…) Und stimmt es, dass ein erwachsener Walfisch schwerer sein kann als zwanzig Elefanten? Und gibt es wirklich einen Pilz, der Hallimasch heißt? Und warum wohnen manche Menschen bei einem feuerspeienden Berg, obwohl sie sich vor dem feuerspeienden Berg fürchten? Und wieso tut sich ein Esel nicht weh, wenn er die stacheligen Disteln frisst? Und lebt eine Eintagsfliege nie länger als einen Tag? Und warum heißt eine Laubsäge eigentlich Laubsäge, wenn man doch gar kein Laub mit ihr sägt? […]“6
Der zehnjährige Thronfolger Hänschen möchte wissen, ob man ein Brennglas erfinden könne, das aus weiter Entfernung Schießpulver anzündet, und ob es möglich sei, dass ein Mann bei seinem Tode dem Sohn seinen Verstand hinterlässt.7 Aber selbst Thronfolger Hänschen erhält nicht immer Bescheid.
Im Laufe eines Schuljahrs hat der Pädagoge Wassili Suchomlinski während der Wanderungen mit Schülern der Unterstufe durch Wald und Feld folgende Fragen notiert:
Weshalb ist die Sonne morgens rot und mittags glühend? Woher kommen die Wolken? Weshalb ist die Blüte des Löwenzahns morgens geöffnet und mittags geschlossen? Woher kommen Donner und Blitz? Weshalb bringt der Wind vom Westen Regen und vom Osten Trockenheit? Weshalb rostet Eisen? Weshalb setzen sich die Tauben nie auf einen Baum? Weshalb baut die Lerche ihr Nest im Saatfeld und der Star und die Meise auf dem Baum? Weshalb darf man einen Baum, wenn er Blätter trägt, nicht verpflanzen? Weshalb hat das Flugzeug heute einen dünnen Rauchstreifen hinterlassen und gestern nicht? Weshalb fallen Sternschnuppen vom Himmel, wohin fallen sie? Weshalb sind die Schneeflocken so hübsch? Weshalb hebt der Wind die Staubsäule wie einen Wasserstrudel hoch? Weshalb wird der Winterweizen im Herbst und der Sommerweizen im Frühjahr gesät? Wie erkennen die Zugvögel den Weg, denn sie müssen doch sehr weit fliegen? Weshalb ist der Himmel bei Sonnenuntergang vor dem Regen rot? Weshalb leuchten nachts die Glühwürmchen? Weshalb „tanzt“ die Biene, bevor sie nach Honig fliegt? Wie kommt es, dass ein Mensch in Moskau spricht, und bei uns im Zimmer ist es durch das Radio zu hören? Wozu verbrennt man im Garten Stroh, wenn die Bäume blühen? Weshalb gibt es im Wald ein Echo? Was ist der Regenbogen? Weshalb hat die große Kuh nur ein Kälbchen und das kleine Schwein mehrere Ferkel? Weshalb steht die Sonne im Sommer hoch am Himmel und im Winter so niedrig? Weshalb bilden sich auf der zugefrorenen Fensterscheibe so hübsche Zeichnungen? Weshalb gräbt sich das Kaninchen eine Höhle und der Hase nicht? Weshalb werden die Blätter an den Bäumen im Herbst gelb?8
Vom zehnten Lebensjahr an (in der Pubertät oder Präadoleszenz) widmet das Kind den zwischenmenschlichen Beziehungen mehr und mehr Aufmerksamkeit. Das kommt auch durch seine Fragen zum Ausdruck.
Die zehnjährige Pippi sieht ein, dass man sich in Gesellschaft nicht ungehörig benehmen darf, also bittet sie die Lehrerin, ihr die wichtigsten Anstandsregeln zu sagen.9
Die dreizehnjährige Olga überrascht den Stiefvater mit der Frage, ob ihr Vater und ihre Mutter im Streit auseinandergegangen seien. Sie fragt die Chemielehrerin, ob man eine wissenschaftliche Formel für die Liebe kenne, und den Stiefvater, was Glück sei.10
Der vierzehnjährige Boy lässt sich von seinem Urgroßvater erklären, wieso Siegfried kein Held ist, ob es zum Helden gehört, dass er eine gute Tat verrichtet und ob es ehrenvoll ist, fürs Vaterland zu sterben. Später kommt auch zur Sprache, dass eine Heldentat ohne Sinn Blödsinn ist.11
Ich denke, diese Beispiele sind für die Bedeutung des zweiten Bildungswegs aufschlussreich. Wahrscheinlich vermag niemand jedes Mal auf Anhieb sachlich zu antworten – aber darum geht es hier gar nicht. Es geht um die prinzipielle Einstellung: ob man zum Antworten bereit ist, ob man eine Antwort versucht.
Zu den Schriftstellern, die solche Szenen schildern, gehören auch Charles Dickens, Ernest Thompson Seton, Frigyes Karinthy und Sat-okh alias Stanislaw Suplatowicz. Im autobiografischen Roman „Zwei kleine Wilde“ (1903) erzählt der kanadische Naturforscher Ernest Thompson Seton von einem glücklichen Jahr seiner Kindheit. Im Laufe der Handlung werden zwei entgegengesetzte pädagogischen Standpunkte verglichen. Die Eltern halten Jan kurz. Weil sie befürchten, dass er die Schule vernachlässigen könnte, muss er sich, um durch Feld und Wald zu streifen, aus dem Haus stehlen. Bei so einem Ausflug trifft er den Fremden ohne Kragen, der eine Blechbüchse trägt und auf alle seine Fragen – nach Fröschen, Molchen, Amseln, Spechten und Golddrosseln, nach Mauerwespen, Trauermänteln, Wildtauben und Waldhühnern – bereitwillig antwortet.12
Heute wird die Aufgabe des Erwachsenen durch das Sachbuch erleichtert: durch Enzyklopädien und Monografien, Atlanten und Wörterbücher, die in einer für das Kind verständlichen Sprache verfasst und entsprechend bebildert sind. Erfreulicherweise wächst ihre Zahl und Vielfalt unablässig. Auf solche Nachschlagewerke kann und soll sich der Erwachsene beim Erklären stützen. Dann gibt es für Erwachsene bestimmte Handbücher, die auf eine besondere Aufgabe ausgerichtet sind, etwa die sexuelle Aufklärung. Aber derartige Hilfsmittel stehen nicht immer zur Verfügung, und außerhalb des Hauses, im Freien, praktisch gar nicht. Man muss selbst eine Auskunft zurechtdrechseln, und zwar so schnell wie möglich. Sogar im Ausnahmefall muss man die aus dem Sachbuch geklaubte Information verarbeiten, damit der Bescheid konkret zur Frage passt. Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie die Antwort auf eine Kinder-Frage beschaffen sein soll.
Jedes Kind lebt in einer anderen materiellen, geistigen und emotionalen Umgebung, das gilt auch für Geschwister, die in verschiedenen Schulklassen eingeschrieben sind. Die unvermeidlichen Unterschiede bewirken eine unendliche Mannigfaltigkeit der möglichen Fragen.
Was die Neugierde des kleinen Kindes anbelangt, sprechen die Psychologen von zwei Frage-Altern. Das erste beginnt um die Mitte des zweiten Lebensjahrs. Das Kind möchte die Namen von Gegenständen oder Erscheinungen erfahren, in dieser Phase dominiert die Was-Frage. Nach und nach interessiert sich das Kind auch für räumliche und zeitliche Zusammenhänge (Wo? Wann?), dann für Zweck und Absicht (Wozu?). Sein Denken entwickelt sich zugleich mit der Vervollkommnung seiner Sprache und bedingt durch immer kompliziertere Tätigkeiten. Im vierten Lebensjahr erwacht das Interesse für kausale Beziehungen, für den Zusammenhang von Ursache und Folge. In der neuen Entwicklungsphase, das zweite Frage-Alter genannt, herrscht die Warum-Frage vor, ein Ausdruck der qualitativen Veränderung im kindlichen Denken.
Viele Warum-Fragen belegen neue Erfahrungen des Kindes, die mit seinen bisherigen Vorstellungen und Kenntnissen nicht übereinstimmen; es möchte auch wissen, ob seine Schlüsse und Gedankengänge richtig sind. Ein gut Teil der Warum-Fragen bezieht sich auf Verhaltensregeln; ausgehend von der Beobachtung, dass es ethische Normen gibt, möchte das Kind von sich aus erfahren, was gut und was schlecht, was erlaubt und was verboten ist.
Als Motiv der Frage kommt nach dem Wissensdurst das Bedürfnis nach Zuneigung in Betracht. In den Kinder-Fragen überwiegt nicht selten die emotionale Ladung. Das Kind bittet dann nicht vorrangig um sachliche Auskunft, sondern um einen Beweis der Zuneigung; der angepeilte Sachverhalt dient nur als Vorwand.
Frage-Ursache kann drittens der Spieltrieb sein, der sich vom vierten-fünften Lebensjahr an auch im Abwandeln von Sachverhalten äußert, indem Bedingungen weggelassen oder hinzugefügt werden. Das Spiel beginnt mit dem Ausdenken der einfachsten, nämlich einer der unmittelbaren Wirklichkeit entgegengesetzten Variante: Und wenn der Bus nicht kommt? Und wenn der Hund trotzdem beißt?
Scholem Alejchem hat in der satirischen Erzählung „Die erste jüdische Republik“ folgenden ergötzlichen Vorfall festgehalten:
Als ich ein kleiner Junge war, las ich mit meinem Lehrer die schöne Erzählung von dem weltberühmten Crusoe, von der ich schon vorhin sprach. Jeden Augenblick unterbrach ich und stellte eine neue Frage, wie zum Beispiel: „Was wäre gewesen, wenn Robinson keine Nüsse zum Essen gefunden hätte? Oder wenn er aus dem Stein kein Feuer hervorgebracht hätte? Wenn ihm kein Papagei zugeflogen wäre? Wenn er nicht dem wilden Menschen begegnet wäre, dem er den Namen ‚Freitag‘ gegeben hat?“ Wahrscheinlich irritierten diese Fragen meinen Lehrer dermaßen, dass er die Geduld verlor, sich beim Kopf fasste und begann, sich das Haar zu raufen. Er war wohl etwas nervös ...
„Wie kann ein Mensch so blöde sein und nicht verstehen, dass, wenn sich alle diese Dinge nicht ereignet hätten, das Buch ‚Robinson Crusoe‘ ungeschrieben geblieben wäre!“13
Zum Unterschied vom Erwachsenen, der beim zwanglosen Variieren im Rahmen des Funktionalen bleibt, pendelt das Kind mangels Erfahrung auch beim probeweisen Abwandeln von gedachten Sachverhalten über den Rahmen des Funktionalen hinaus. Ein dreijähriges Kind hält den Löffel am Schöpfteil und schiebt den Brei versuchsweise mit dem Löffelstiel in den Mund, ein fünfjähriges stellt den Schlitten probehalber auf die Sitzfläche, ein sechsjähriges versucht, Wörter von hinten zu lesen, und ein achtjähriges spekuliert über die Periodizität der Schaltjahre. Es hat gehört: Damit der Kalender stimmt, wird alle vier Jahre ein Tag und alle tausend Jahre ebenfalls ein Tag eingeschoben – macht im Jahre 2000 zwei Tage. Das achtjährige Kind fragt. „Wenn das Jahr 2000 kein Schaltjahr wäre, hätte dann der Februar nur 29 Tage?“ Man erklärt ihm, das Jahr 2000 werde auf jeden Fall ein Schaltjahr sein. „Jaa, aber wenn ...“ Man erklärt noch einmal. Bestürzt über so viel Unverständnis wiederholt das Kind, jetzt schon mit Tränen in den Augen, hartnäckig die alte Frage. Seine Überlegung ist richtig – weshalb verdirbt man ihm die Freude am Spiel?14
Kinder-Fragen gleichen winzigen Bruchstücken aus einem Film der geistigen Entwicklung; diese Bruchstücke projiziert der Zufall auf unser Bewusstsein. Um ihren Sinn zu erfassen, genügt es zuweilen nicht, die Wörter zu verstehen und die Verbindung zu dem Erlebnis herzustellen, welches die Frage auslöste – man muss auch die Grundlinie der geistigen Entwicklung in Betracht ziehen.
Der spezifische Mangel an Erfahrung äußert sich im intellektuellen Egozentrismus – in der Unfähigkeit des Kindes, das Ich von den Dingen der Umwelt zu differenzieren. Davon wird im folgenden Abschnitt ausführlicher die Rede sein.
Gewiss behandeln die Nachschlagewerke für Kinder systematisch Begriffe, die zum wichtigsten Bildungsgut gehören und früher oder später die Neugierde des Kindes wecken. Ausgehend von den naheliegenden Fragen zur Ausstattung einer Wohnung hat M. Iljin (Pseudonym für Ilja Jakowlewitsch Marschak) zahlreiche schwer auffindbare Informationen zu Geschichten über die Mittel des täglichen Bedarfs verarbeitet: „Die Sonne auf dem Tisch“ (1927), „Hunderttausend Warum“ (1929), „Wie das Automobil fahren lernte“ (1930); später wurden sie in einen Band aufgenommen. Mary Elting hat das „Große Antwort-Buch“ (1972) zusammengestellt, welches in 180 Artikeln Antworten auf 300 der häufigsten Kinder-Fragen anbietet. Den international bekannten Baufachmann und Architekten Mario G. Salvadori haben Fragen von Kindern, warum die Gebäude stehen bleiben, dazu angeregt, ein für Kinder fassliches Lehrbuch über die Grundprinzipien der Bautechnik zu verfassen: „Bauen: ein Kampf gegen die Schwerkraft“ (1979). Selbstverständlich ist jeder derartige Versuch zu begrüßen, aber gemessen am Wissensdurst eines Kindes wirken die Antworten, die ein Buch enthalten kann (und wenn es tausend wären), quantitativ so unzulänglich wie der Tropfen, der auf den heißen Stein fällt. Neben den konkret erfassten Fragen wuchern im Alltag unzählige andere, die an individuelle Erlebnisse anknüpfen.
Niemand könnte ein allgemeingültiges Nachschlagewerk mit Hinweisen verfassen, WAS man konkret auf jede Frage der Kinder antworten soll. Deshalb muss sich ein Ratgeber auf das WIE beschränken.
Ziehen wir in Betracht: Das kleine Kind erlebt nur einen kümmerlichen Ausschnitt der Wirklichkeit. Indem es seine Eindrücke verallgemeinert, entsteht ein stark verzerrtes Bild von der Welt, das die Zaubermärchen zeitweilig festigen und durch Begriffe wie „Fee“, „Hexe“, „Zwerg“, „Riese“, „Tarnkappe“, „Tischleindeckdich“, „Siebenmeilenstiefel“ usw. prägen.
Dem kleinen Kind scheinen die Erwachsenen allwissend und allmächtig, weil es beobachtet, wie souverän sie mit Geräten und Werkstoffen umgehen. Es glaubt, die Erwachsenen haben alle Dinge geschaffen, damit sie dem Menschen dienen. Diese Auffassung schlägt sich in der Definition nach dem Gebrauch nieder: Es gibt Löffel – damit man Suppe isst, Stühle – damit man auf ihnen sitzt, die Sonne – damit sie leuchtet und wärmt, die Nacht – damit man schläft, die Wolken – damit es regnet, den See – damit man auf ihm spazieren fährt. Die Wozu-Fragen betreffen zunächst dieses Verhältnis: welchem Bedürfnis dies und das und jenes entspricht.
Weil das kleine Kind nichts von Physik und Chemie weiß, glaubt es, man könne einen Gegenstand nach Belieben verwandeln.
Das kleine Kind lebt ausschließlich in der Gegenwart, andere Zeitformen kann es sich zunächst nicht vorstellen. Vergänglichkeit, geschichtliche Entwicklung, die Aufeinanderfolge der Generationen sind ihm deshalb unbegreiflich. Eines Tages wird es sich darüber wundern, dass seine Eltern, ja sogar seine Großeltern irgendwann jung und klein waren.
Das kleine Kind glaubt nicht nur, dass alle Menschen wie es denken und fühlen, sondern projiziert Leben, Gefühle, Absichten und Verantwortung in die Dinge seiner Umgebung. Für diesen Zustand hat der Schweizer Psychologe Jean Piaget die Bezeichnung intellektueller Egozentrismus eingeführt. Wie das egozentrische Weltbild entsteht und wie es sich entwickelt, hat Piaget in der Abhandlung „Das Weltbild des Kindes“ (1926) beschrieben.
Anfangs ist es dem Kind nicht möglich, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, etwa beim Betrachten eines Zustands oder eines