Was einmal war - Hans Fink - E-Book

Was einmal war E-Book

Hans Fink

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Beschreibung

Unser kollektives Gedächtnis in Form von Mythen, Sagen und Märchen reicht zurück bis in die Vorgeschichte. Eine Mythe über die Entstehung der Erde ist mehr als zehntausend Jahre alt - sie stammt aus der Zeit, als die Vorfahren der Indianer über die ehemalige Landbrücke Beringia von Asien nach Amerika wanderten. Diese Mythe war in verschiedenen Fassungen über ganz Asien verbreitet und wurde im Herzen Europas so erzählt wie in den Wigwams der Stämme, die die Nachkommen der ersten Einwanderungswelle aus Asien waren: Tiere tauchen zum Meeresgrund, bringen von dort Erde und breiten diese auf der Wasseroberfläche aus. In der ältesten Schicht der ukrainischen Weihnachtslieder sind es drei Tauben, bei den Cree-Indianern südlich der Hudson-Bai war es die Muskatratte. Ungeahnt viele Überlieferungen beziehen sich auf längst vergessene Bräuche: die Saligen-Ehe - die archaische Jugendweihe - die scherzhafte Prüfung des Bräutigams, ob er die Braut erkennt. Von diesen wird die Jugendweihe im vorliegenden Buch ausführlich dargestellt, in mehreren Texten, denn alle unsere Vorfahren sind durch ihre Martern gegangen: Wir begleiten den Helden des Märchens zum Nabel der Erde, in den Garten des Zauberers und in das Schloss mit unsichtbaren Dienern. Andere hier geschilderte Bräuche waren in ländlichen Gegenden bis in die nahe Vergangenheit lebendig: der Mädchenmarkt - die Nachbarschaftshilfe - die Gabenhochzeit. Das Buch umfasst 70 Texte; es führt bis in die nahe Vergangenheit. Der letzte Text würdigt den vormals üblichen Brauch, dass alle Hochzeitsgäste eine Geschichte erzählen, in der eine Lehre für das Brautpaar enthalten ist. An diesen Brauch knüpft die Handlung des stark zerzählten Märchens vom getreuen Johannes an. Er verdient es, neben die Gabenhochzeit gerückt zu werden, bei der Verwandte, Nachbarn und Bekannte das Brautpaar reichlich beschenkten und ihm auf diese Weise ermöglichten, vom ersten Tag an ein materiell abgesichertes Familienleben zu führen.

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INHALT

Einleitung

Wie die Erde entstand

Siegfried bei den Kwakiutl

Sonne und Mond, Tag und Nacht

Die Heirat mit dem Vogelmädchen

Junker Frost

Neue Sonne – neues Jahr

Dreiäuglein

Der sprechende Besen

Eine Jungfrau für den Drachen

Die Drachenzungen im Taschentuch

Amors Pfeil –

Erdbeeren im Winter

Ein Geschenk vom Adler

Die Altentötung

Der Apfelbaum des Königs

Die Sippen

Was die Schicksalsfrauen beschließen

Zwillinge

Von Hades geraubt, von der Bercht verschleppt

Am Nabel der Erde

Rituell getötet und wiederbelebt

Taub, stumm und blind

Dreißig Knaben, alle gleich angezogen

Allein in der Wildnis

Im verwunschenen Schloss mit unsichtbaren Dienern

Der Zaubergürtel

Im Garten des Zauberers

Wer das beste Brot bäckt

Brüder heiraten Schwestern

Apfel und Tüchlein

Die Siebenmeilenstiefel

Auf der Brust eine Sonne, auf dem Rücken ein Mond

Weiß wie Schnee, rot wie Blut

Magischer Tanz

Die Prüfung der Heiratskandidaten

Scherzhafte Prüfung des Bräutigams: erkennt er die Braut?

Taube und Täuberich auf der Hochzeitstafel

Im Frauenland

Mit dem Hinterteil wackeln

Das Pfeilordal

Gebück und Knick

Geschichten vom Starken Hans

Mütterliche Erbfolge

Die Rechte der Saligen

Bohnen säen auf Schnee

Sakrale Könige

Frauengericht

Die Heinzelmännchen

Ein Rattenfänger macht von sich reden

Die Tarnkappe

Frau Bercht kontrolliert die Landwirtschaft

Frauenraub

Mädchenmarkt

Kreuzbrüderschaft, Kreuzschwesterschaft

Nachbarschaftshilfe

Der Nachtschnitt

Die Gabenhochzeit

Hühnerhaltung schon vor der Eisenzeit

Mit einem Schiff über Wasser und Land

Auf Elchen reiten

Der Weltenspiegel

Die Totenmette

Gutsherr und Bauerntochter

Krieg am Eingang zur Hölle

Die Lebensrute

Von Weihnachten bis Ostern

In der Hausgenossenschaft

Weise Ratgeber

Ein Opfer für die „Herren des Wissens“

Ausklang

Anhang

Bibliografie

Geschichte und Archäologie

Volkskunde und Völkerkunde

Erzählforschung

Sammlungen mit Märchen und Sagen

Märchentypen aus dem Aarne-Thompson-Katalog

Einleitung

Könntest du ein Märchen erzählen? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht, und deswegen wird dir niemand einen Vorwurf machen, denn in der modernen Gesellschaft spielt die mündliche Überlieferung bei Unterhaltungen keine Rolle mehr. Doch wenn wir in die Vergangenheit zurücktreten, und gar nicht so weit, dann erstrahlt das Märchen im alten Glanz. Erst verschwindet das Internet, dann Fernsehen und Rundfunk, schließlich das Buch und die Zeitung. Wann und bei welchen Gelegenheiten früher Märchen zum Besten gegeben worden sind, kann sich unsereins gar nicht vorstellen: Die Burschen und die Mädchen erzählten in der Spinnstube – die Bauern vor der Mühle – die Holzfäller am Lagerfeuer – die Bergarbeiter in der Mittagspause – die Nordseefischer, während sie auf die Flut warteten, um auslaufen zu können. Die Fuhrleute erzählten im Wirtshaus – die Hökerinnen auf dem Weg zum Markt – die Soldaten in der Kaserne – die Saisonarbeiter beim Hopfenpflücken.

Auch die Hochzeitsgäste haben erzählt, und zwar mit der Absicht, dem Brautpaar eine Erfahrung zu vermitteln (siehe den Abschnitt „Ein Opfer für die ,Herren des Wissens'“).

„Unter dem Worte ,Märchen' in seinem wissenschaftlichen Sinne“, schrieb der Germanist Friedrich Panzer im Jahre 1926, „verstehen wir eine kurze, ausschließlich der Unterhaltung dienende Erzählung von phantastisch-wunderbaren Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie ereignen konnten, weil sie, in wechselndem Umfange, Naturgesetzen widerstreiten.“1 Derselbe Standpunkt – dass die Märchen Erfindungen seien – kommt in der fünfzehnbändigen „Enzyklopädie des Märchens“ zum Ausdruck, die ein halbes Jahrhundert später entstanden ist.2 Angeblich stammen diese Erzählungen aus dem Mittelalter und aus der frühen Neuzeit. Einzelne Motive können älter sein, sogar steinalt, aber die Märchen als Ganzes, als die uns bekannte Folge von Motiven, seien erst vor wenigen Jahrhunderten geschaffen worden (wobei man das mutmaßliche Alter vom jeweils ältesten schriftlichen Zeugnis ableitet). Zwar wird die ritualistische Theorie, die etwas anderes behauptet, in der „Enzyklopädie“ nicht verschwiegen, aber die Herausgeber und die Mitarbeiter haben sie sich nicht zu eigen gemacht.

Mit Sicherheit sind viele Märchen irgendwann von irgendwem erfunden worden, der Überlieferungen, Mitteilungen von Bekannten und eigene Beobachtungen zu einer Geschichte verknüpfte. Zu dieser Kategorie gehören etwa folgende Arten: die Tiermärchen – die Alltagsmärchen – die Märchen vom dankbaren Toten – die erotischen Märchen – die Schwankmärchen – die Lügenmärchen. Dazu die Erzählungen nach dem Schema „Bitter in der Jugend, glücklich im Alter“ und die tragikomischen Erzählungen von der klugen Bauerntochter.

Die andere Kategorie umfasst Texte, die sich aus Erinnerungen an abgestorbene Bräuche bildeten. Die gesellschaftliche Entwicklung hatte dazu geführt, dass der Brauch aus der Wirklichkeit verschwindet, doch es wurde noch über ihn gesprochen, und die Nachklänge verschmolzen zu den Urformen unserer Märchen. Solche Bräuche, die das Leben des einfachen Stammesmitglieds regelten, waren: die Besprechung der Sippenältesten an der Wiege eines Neugeborenen – die kollektive Jugendweihe – ersatzweise die individuelle Jugendweihe – das Gesetz der Exogamie – die Saligen-Ehe – die Altentötung. Manche Überlieferungen berichten über die Vererbung der Macht in weiblicher Linie wie auch über mehrere für uns kuriose Tabus im Leben der Könige. Als die Jagd im Vordergrund stand, opferte man im Notfall dem Wettergott eine Jungfrau, damit er günstiges Wetter für die Jagd gewähre. Später, nachdem die Jagd durch den Ackerbau verdrängt worden war, opferte man jährlich dem Flussgott eine Jungfrau, damit er die Fruchtbarkeit der Felder sichere.

Für die Richtigkeit der ritualistischen Theorie sprechen Parallelen zwischen der Märchenhandlung und spezifischen Bräuchen, die von Reisenden und Völkerkundlern bei den sogenannten Naturvölkern beobachtet worden sind.3 Zu den Parallelen treten rezente einheimische Bräuche, die sich bei näherer Betrachtung als Relikte uralter Gepflogenheiten erweisen. Deshalb dürfen wir für die Märchen der zweiten Kategorie einen realen Hintergrund annehmen, und aus diesem Grund wären sie für die Archäologen interessant.

In den Sammlungen finden wir Texte aus beiden Kategorien bunt gemischt.

Die wichtigste, weil umfangreichste Art von Märchen sind jene über die kollektive Jugendweihe im Rahmen der Buschschule. Bisher haben sie keinen anerkannten, eigentümlichen Namen. Man nennt sie aus Verlegenheit Zaubermärchen, aber das ist eine vage Bezeichnung, die auch auf andere Arten angewandt wird. Von den 200 Texten der berühmten Grimm’schen Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ (Ausgabe letzter Hand 1857) enthalten drei Dutzend Motive, die Momenten der kollektiven Jugendweihe entsprechen. Der international verwendete Katalog der Märchentypen von Antti Aarne und Stith Thompson (abgekürzt AT) umfasst mehr als 50 Typen mit solchen Motiven.4

Jugendweihe und Buschschule. Ursprünglich war die Buschschule eine Einrichtung der Wildbeuter, sie ist irgendwann in der Steinzeit entstanden, also in der Stammesgesellschaft oder Gentilordnung, die zunächst keine sozialen Klassen kannte. Die Teilnahme war für jedes Kind selbstverständlich, man lernte dort, was ein Erwachsener wissen und können musste, um für sich und für seine Familie zu sorgen. In dem Maße, in dem der Ackerbau die Jagd als Lebensgrundlage verdrängte, erweiterte sich das Programm der handwerklichen Ausbildung, und parallel dazu veränderten sich auch die Riten. In Westafrika hat sich die Buschschule bei Gemeinschaften von Pflanzern, die noch in der Stammesgesellschaft lebten, aber mit einem Fuß schon auf der Schwelle zur Klassengesellschaft standen, bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten.

Wir können diese Einrichtung mit einer Internatsschule der modernen Zeit vergleichen. Man führte die Kinder im Pubertätsalter zu einem abgelegenen Lager im Wald und bereitete sie dort auf das Leben als Erwachsener vor. Sie wurden handwerklich ausgebildet, über die Pflichten und Rechte eines Stammesmitglieds belehrt, sexuell aufgeklärt und mit den Überlieferungen ihrer Gemeinschaft vertraut gemacht. Mutproben, Selbstbeherrschungsproben und Geschicklichkeitsproben gehörten zum Programm. Während der Lehrzeit wurden sie rituell in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen. Die Isolation konnte Wochen, Monate und sogar Jahre dauern. Bei den Kpelle im Hinterland von Liberia waren es um 1900 im Falle der Knaben vier Jahre und im Falle der Mädchen drei Jahre.5

Für unsere keltischen Vorfahren galt die Jugendweihe als das wichtigste Ereignis ihres Lebens, neben dem die Heirat verblasste.

Obwohl jahrhundertelang alle unsere keltischen Ahnen die Martern der Jugendweihe erduldet haben, ist die Buschschule für die meisten Zeitgenossen kein Begriff. Der Roman „Wurzeln“ von Alex Haley (1976) vermochte die Bildungslücke nicht zu schließen. Haley schildert nämlich auch den Aufenthalt des jungen Mandinka Kunta Kinte in der Buschschule.6 Kunta wächst im Dorf Juffure am Gambia-Fluss auf, bevor man ihn versklavt und im Jahre 1767 nach Amerika verschleppt. Das Buch wurde in 37 Sprachen übersetzt, etwa 130 Millionen Menschen sahen sich die Verfilmung an. Man sollte meinen, Buch und Film hätten dem Publikum eine gewisse Vorstellung vermittelt, aber das trifft nicht zu. In Rumänien, wo ich damals lebte, nahmen die Kinobesucher die betreffenden Szenen als Ausdruck einer exotischen Lebensweise zur Kenntnis, ohne sie als Bilderfolgen aus unserer Vorgeschichte zu begreifen.

Dass es im Alten Europa eine Buschschule gegeben hat, beweisen unübersehbare Relikte, die von den Erzählforschern bisher nicht als solche wahrgenommen und interpretiert worden sind. Zu diesen gehören die Mädchen-Spinnstuben Siebenbürgens und der Ukraine – in abgelegenen Dörfern mit archaischen Verhältnissen überlebten sie bis ins 20. Jahrhundert.7 Einerseits weist das Programm der rumänischen Mädchen-Spinnstube frappante Ähnlichkeiten mit der kollektiven Jugendweihe bei den Naturvölkern auf, andererseits entsprechen die Einzelheiten den Motiven der Märchen. Mit der europäischen Buschschule hängen aber noch mehr rezente Bräuche zusammen:

In Mitteleuropa erhielten sich bis ins 20. Jahrhundert meist vage Vorstellungen von einem Wegführen der Kinder aus dem Elternhaus, die sich bei näherem Hinsehen als unklare Erinnerungen an die ehemalige Buschschule erweisen. Die Vorstellungen waren mit dem Auftreten von männlichen und weiblichen Schreckgestalten im Spätherbst bzw. Mittwinter verknüpft. Den unartigen Kindern drohte man aus billigen pädagogischen Gründen mit dieser Perspektive: sie werden weggeführt – weggeführt und getötet – sie werden gefressen – sie werden verbrannt – man schneidet ihnen den Bauch auf und füllt die Bauchhöhle mit Kehricht oder mit Steinen.

Erstaunlicherweise hat sich die Erinnerung an die wohltuende Wirkung desselben Verfahrens in einigen Gegenden Böhmens bis in die Neuzeit erhalten, wo sie in Form eines Heischegangs fortlebte. In Miletice bei Velvary z.B. sind bis Mitte des 19. Jahrhunderts am Heiligen Abend zwei weibliche Masken aufgetreten, die

Peruchten,

welche an einem Burschen das Aufschneiden des Bauches und das Ersetzen der Gedärme mit Erbsenstroh mimten.

8

An den Charakter der Internatsschule, der für die alteuropäische Buschschule spezifisch war, gemahnt das gemeinsame Quartier der Burschen, die im südlichen Siebenbürgen, im

Alt-Land (Ţara Oltului),

aber auch in anderen Gebieten mit rumänischer Bevölkerung, an den Neujahrsumzügen teilnahmen.

9

Dem gemeinsamen Quartier der Burschen im Alt-Land entspricht ein im nordwestlichen Thüringen gepflegter Brauch: In der Ortschaft Flarchheim (westlich von Bad Langensalza) stand den

Pfingstburschen

etwa fünf Wochen lang – vom Aufstellen der

Pfingstmaie

(Birke) am Pfingstsonnabend bis zu dem Tag, an dem diese

umgeschmissen

wurde – ein geräumiges Haus für Versammlungen und Schmausereien zur Verfügung. Das nannte man

Gelag.

Dort fand am Pfingstdienstag das Auslosen der heiratsfähigen Mädchen statt [wie anderwärts beim

Mailehen

].

10

Das Wesen der Märchen von der Buschschule hat der russische Volkskundler Wladimir Propp erkannt und in seiner Abhandlung über die historischen Wurzeln des Zaubermärchens erläutert. Allerdings gebraucht er nicht den Ausdruck Buschschule, sondern spricht von Initiationsriten.11 (Andere Bezeichnungen in der ethnografischen Literatur sind: Initiation, Knabenweihe bzw. Mädchenweihe, Pubertätsinitiation, Pubertätsriten, Pubertätsweihen, Mannbarkeitsriten, Reifefeier, Reifeweihe, Reifezeremonien und Stammesinitiation.)

Es fällt auf, dass unverhältnismäßig viele Texte das Schicksal eines jungen Mannes bzw. einer jungen Frau schildern, die nach bestandener Jugendweihe als Helfer bzw. Helferin der Schulleiter an der Initiationsstätte dienen. Sie handeln von Personen aus der ärmsten Schicht der Bevölkerung. Ein bekanntes Märchen dieser Art, das Grimm'sche „Sneewittchen“ (KHM 53), setzt sich aus zwei Berichten über das Leben einer jungen Frau zusammen, die sich übereinander geschoben haben. Der eine bezieht sich auf ihre Zeit in der Buschschule, der andere auf ihre Dienstzeit. Die durch den vergifteten Apfel bewirkte Ohnmacht stammt aus dem ersten Bericht, sie war die Voraussetzung für den rituellen Austausch der Organe. Im Märchen ist Schneewittchen kein Armeleutekind, sondern eine Königstochter, was dem Hang der späteren Erzähler entspricht, die positiven Gestalten zu idealisieren.

Wie alt sind die Märchen von der Buschschule? Ihre Entstehungszeit lässt sich auf die Späte Bronzezeit eingrenzen.

Der erste Anhaltspunkt für diese Operation sind die verchristlichten Varianten. Unter dem Einfluss des Christentums haben die späteren Erzähler positive Rollen mit Gottvater, mit der Gottesmutter, einem Engel oder einem Heiligen besetzt, negative mit dem Teufel bzw. einem anderen Feind der Christenheit – mit einem Türken, Araber, Mauren oder Sarazenen. So wird, beispielsweise, in einer heidnischen Variante des Typus AT 710 „Marienkind“ die Ziehmutter des armen Mädchens als die mächtigste der Feen vorgestellt (Lüge nicht!12, rumänisch aus Siebenbürgen), in einer verchristlichten als die Muttergottes (Marienkind13, deutsch aus Hessen). Also existierten diese Märchen schon vor der Ausbreitung des Christentums.

In dem Teufel, der im Meer lebt, erkennen wir einen unter dem Einfluss des Christentums gewandelten Wassermann (Der dem Teufel versprochene Königssohn14, finnisch) und im Federnteufel einen unter dem Einfluss des Christentums gewandelten Zauberer in Vogelgestalt, das Abbild des Stammeszauberers mit der Vogel-Maske (Der Federnteufel15, deutsch aus dem Burgenland).

Unter den Erzählforschern sorgte das Märchen „Amor und Psyche“ nachhaltig für Irritationen, weil es nachweislich schon im 2. nachchristlichen Jahrhundert aufgezeichnet wurde – der römische Schriftsteller Apuleius hat es in sein Werk „Metamorphosen“ aufgenommen (deutsch auch mit dem Titel „Der goldene Esel“). Es gibt frappante Parallelen zwischen diesem Text und rezent aufgezeichneten Varianten des Märchentypus AT 425 A (der nach jener Novelle benannt wurde): „Vom Re Porco“16 (sizilianisch) – „Das Schlangenkind“17 (albanisch) – „Der weiße Wolf“18 (deutsch aus Holstein) – ferner „Der Quappfisch und die Prinzessin Marja“19 (ein Märchen der Nenzen, das ist ein Polarvolk beiderseits vom Ural). Ihre enge Verwandtschaft ließ den Schluss auf ein hohes Alter aller Varianten zu, was den gängigen Vorstellungen widersprach.

Der dritte Anhaltspunkt ist eine Stelle aus dem Werk „Metamorphosen“ des römischen Dichters Ovid (gestorben etwa 17 n.Chr.). Ihm waren offenbar die wesentlichen Züge des Märchens vom Zauberer und seinem Schüler (AT 325) bekannt, denn es wird von ihm zitiert. Allerdings ist nicht von einem Mann und dessen Sohn, sondern von einem Mann und dessen Tochter die Rede:

Als der Vater bemerkte, sie konnt' die Gestalten vertauschen,

Hat er nicht selten verkauft sie. Sie wußt' sich zu retten,

Bald als Stute, als Vogel, als Hinde, jetzt wieder als Färse,

Und ihrem gierigen Vater ein nicht ehrliches Leben bereitend.

(Kapitel 8, Verse 89-92.)20

Der vierte Anhaltspunkt ist der Löwe. Zunächst sei vermerkt, dass in den Märchen häufig Löwen vorkommen: als eines der Tiere, die um die gemeinsame Beute (ein Aas) streiten – als ein Mitglied in der Meute des Helden – als Wächtertier vor dem Märchenschloss, man denke an ein aus Holz geschnitztes Standbild. Doch abgesehen davon tritt uns der Märchenheld selbst in seiner verzauberten Gestalt als Löwe entgegen wie sonst als Bär, Wolf, Schwein, Rabe, Schlange oder Frosch. Der in die Unterwelt hinabgestiegene Initiand galt als tot, und man glaubte, dass die Toten sich in Tiere verwandeln, eine weltweit verbreitete Vorstellung. Um diesen Zustand anzudeuten, setzten die Initianden Tier-Masken auf. In einer norddeutschen Überlieferung wird der Held von einer Löwin gesäugt (Text ohne Titel21) wie sonst von einer Bärin bzw. Wölfin, Hinde, Kuh, Stute oder Eselin. Deshalb dürfen wir annehmen, dass diese Märchen aus einer Zeit stammen, als der Löwe in Europa noch eine wohlbekannte Erscheinung war. Auf dem Balkan sind die letzten Bestände um 200 v.Chr. ausgerottet worden.22 Als Bestätigung führe ich an, dass es im alten Athen noch einen Löwen- und einen Leoparden-Klan gegeben hat. Sie waren exogam, d.h. ihre Mitglieder durften nicht untereinander heiraten, weil sie der gleichen Unterphratrie angehörten.23

Als Anhaltspunkt dient auch das zur Äffin verzauberte Mädchen aus Märchen des Typus AT 402 „Die Katze als Braut“. Die Geschichte vom jüngsten Bruder, der eine Äffin zur Frau nimmt (wie sonst eine Fröschin oder Maus), erzählte man im Mittelmeergebiet, und zwar in Griechenland und in Italien, auf Mallorca, in Spanien und in Portugal. Fossile Reste von Berberaffen wurden zwischen Spanien im Süden, England im Norden und Ungarn im Osten gefunden; sie beweisen, dass diese Tiere zu Urzeiten nicht nur im nördlichen Afrika, sondern auch in Europa beheimatet waren. Zudem findet man auf etruskischen Wandmalereien, auf alten griechischen Vasen und auf frühen italienischen Bronzegegenständen Berberaffen abgebildet.24

Der sechste Anhaltspunkt ist das Reitpferd. Zunächst fällt auf, dass der Held, obwohl Sohn eines Königs oder Kaisers, hie und da zu Fuß in die Welt zieht. Wie kann das sein? Sogar im selben Land erzählte man parallel zwei Varianten des Märchentypus AT 303 „Die zwei Brüder“ – die eine ohne Pferd, die andere mit Pferd. Zum Beispiel: (1) Das Märchen vom goldenen Baum25, deutsch aus Lothringen – Die zwei Brüder26, deutsch aus Holstein; (2) Die zwei Brüder, die Förster waren27, tschechisch – Von den zwei Brüdern28, tschechisch; (3) Die Söhne des Fischers29, sizilianisch – Von den zwei Brüdern30, sizilianisch. Offenbar handelt es sich um zwei Generationen von Varianten. Auch in einer rumänischen Fassung aus Siebenbürgen zieht der Sohn des Kaisers zu Fuß in die Welt, nur von seiner Meute begleitet. Er überwindet der Reihe nach drei Ungeheuer, zuletzt den Drachen, dem alle halbe Jahre eine Jungfrau geopfert werden muss, und dann, als er zu einem weiteren Abenteuer aufbrechen will, mitten in der Handlung, nimmt er sich wie selbstverständlich ein Pferd aus dem Stall (Apfelbaum und Birnbaum31).

Schließlich rufe ich den Märchentypus AT 302 „Das Herz des Unholdes im Ei“ als Zeugen auf. Auch in diesem Fall lassen sich zwei Generationen von Varianten unterscheiden. Der Unhold hält die Braut oder Frau des Helden gefangen. In der älteren Generation von Varianten bezwingt der Held den Unhold, nachdem er in Erfahrung gebracht hat, wo jener sein Herz versteckte, es kommt kein Pferd vor. In der jüngeren Generation von Varianten aber – AT 302 C – besitzt der Unhold ein Zauberpferd. Um die Gefangene zu befreien, muss der Held sich ebenfalls ein Zauberpferd besorgen, und zwar eins, das jenem überlegen ist, indem es mehr Beine oder mehr Herzen oder mehr Flügel besitzt.

Sowohl das schnelle Ross des bösen Zauberers als auch das noch schnellere des Helden stammen aus dem Gestüt einer alten Frau. Das ist eine geheimnisvolle Gestalt. Sie wird vorgestellt als Hexe – als Priesterin – als Waldmutter – als Windgroßmutter – als Drachenmutter – als Teufelsmutter – als Teufelsgroßmutter – als Pestmutter. In einer litauischen Variante ist es eine Hexe mit Hörnern (Das rote Mädchen32). Jene alte Frau lebt am Rande der Welt – am Ufer des Meeres – auf einer Insel des Meeres – jenseits des roten Meeres – hinter dem Feuerfluss bzw. Feuermeer – in der Hölle. Ihr Gehöft ist mit einem Zaun umgeben, auf dessen Pfählen Menschenköpfe stecken, es sind die Köpfe der Burschen, die sich erfolglos als Pferdehirt versuchten. Bei ihr dient der Held ein Jahr lang (wobei das Jahr im Märchen nur drei Tage dauert). Im rumänischen Märchen „Crîncu der Jäger“33 behauptet die Hexe, sie brauche die Milch der Stute, die der Held hüten soll, für ihren Kaffee. Die Hörner lassen uns an Schamanen, die Verwendung von Stutenmilch als Nahrung an nomadisierende Steppenbewohner denken. Vielleicht spiegeln sich im Motiv des Dienstes um ein Ross die Handelsbeziehungen zu einem Pferdezucht treibenden Steppenvolk nördlich vom Schwarzen Meer wider.

Wahrscheinlich entstanden die Varianten der ersten Generation, bevor das Reitpferd in Europa verbreitet, bevor es allgemein bekannt war. Damit haben wir die untere Grenze der Entstehungszeit der Märchen von der Buschschule bis ans Ende der europäischen Bronzezeit herangeschoben.

Die obere Grenze wird durch die Herstellung von Rüstungsteilen wie Helm, Panzer, Arm- und Beinschienen verdeutlicht, die in Mitteleuropa im 13. Jahrhundert v.Chr. begonnen hat.34 In diesem Punkt berühren sich die von den Archäologen rekonstruierte Vorgeschichte und die mündliche Überlieferung, denn der Stammeszauberer und Schulleiter gibt sich als Schmied zu erkennen, der Rüstungsteile fertigt. Er tritt unter Namen auf, die rätselhaft anmuten. Wenn wir sie zusammenrücken, entsteht die plumpe Beschreibung eines Mannes mit einer Rüstung: Kupferstirn – bleiköpfiger Ritter – Stahlkopf – Mann mit Kupferstirn und einem Bauch von Zinn – Mann mit Armen aus Eisen, einem Kopf aus Gusseisen und einem Leib aus Kupfer – halbeiserner Mann – eiserner Mann – Mann aus Stahl – goldener Mann. Ich stelle mir vor, dass der Schmied die von ihm gefertigten Rüstungsteile den Kunden anprobierte, ein spektakulärer Vorgang, der immer Zuschauer anlockte. Offenbar ging das Moment der Anprobe in die Überlieferung ein, nur ist der Schmied und Zauberer mit seinem Produkt verschmolzen.

Selbstverständlich gilt diese Altersbestimmung nicht für alle Arten von Brauchtumsmärchen – sie gilt nur für die europäischen Märchen von der Buschschule. Sie gilt nicht für Märchen über die Opferung einer Jungfrau – Märchen über die Saligen-Ehe – Märchen über die Altentötung usw.

Die Urnenfelderkultur. Außer dem Schulleiter begegnen wir noch einer Gestalt, die als Fachmann für Metallarbeiten vorgestellt wird. Sie gehört zu den Begleitern des Bärensohns, der auch als Starker Hans bekannt ist, im sogenannten Bärensohnmärchen (AT 650 A + 301 B „Die außerordentlichen Gesellen“). Diese Gestalt heißt mal Eisenkneter, mal Eisenknüpfer, mal Zerkocher. Wie der Stammeszauberer und der Eisenkneter die Arbeit zwischen sich aufgeteilt haben, geht aus den Überlieferungen nicht hervor. Das Eisen ist eine Entstellung durch die späteren Erzähler, die nichts mehr von der Bronze wussten.

In den Varianten des Bärensohnmärchens treten weitere sechs Spezialisten der Dorfgemeinschaft auf. Wahrscheinlich wurden sie vom Schulleiter zur handwerklichen Ausbildung der Initianden herangezogen. Auch sie führen bezeichnende Namen: Steinsammler, Gebirgeplattmacher, Flüsselenker usw.

In der Späten Bronzezeit lebten in Mitteleuropa und auf der Iberischen Halbinsel die Vorfahren der historischen Kelten, im Südosten des Kontinents die Vorfahren der historischen Thraker, im Pyrenäengebiet die Basken und im Süden der Balkanhalbinsel die Erben der mykenischen Griechen, deren Palastwirtschaft um 1200 zusammengebrochen war.

Die Späte Bronzezeit stimmt zeitlich mit der Urnenfelderkultur überein, die so heißt, weil man die Toten auf einem Scheiterhaufen verbrannte und den Leichenbrand in Urnen beisetzte. Die Urnenfelderkultur reichte vom Pariser Becken im Westen bis zum Karpatenbogen im Osten, sie umfasste auch den östlichen Teil der Iberischen Halbinsel, Norditalien und das Gebiet Sloweniens. Im Bereich der Urnenfelderkultur fand der Pflug allgemein Verbreitung. Man baute Häuser aus Holz mit mehreren Räumen. Andere Neuerungen waren: Talsiedlungen in der Nähe von verkehrsgünstigen Wasserläufen – zahlreiche Gegenstände aus Bronzeblech – die industriemäßige Gewinnung von Bergsalz. Angebaut wurden Zwergweizen, Gerste, Emmer, Dinkel, Einkorn, Hafer, Hirse, Erbse, Ackerbohne und Linse, außerdem Lein und in geringerem Umfang Gemüse und Obst. Im Süden pflanzte man auch Reben. Man stellte Käse aus Kuhmilch her. Zwar gab es schon Speichenräder, aber die schnell rotierende Töpferscheibe war noch nicht eingeführt. Ebenso wenig das Geld – die Menschen trieben Tauschhandel. Die durchschnittliche Lebenserwartung belief sich auf 40 bis 45 Jahre.35

Warum hatte sich die Buschschule überlebt? Warum haben die Menschen eines Tages auf die gemeinsame Erziehung ihrer Kinder verzichtet? Um zu antworten, müssen wir einen Blick auf die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in der Bronzezeit werfen.

Sowohl durch die Herausbildung neuer Berufe als auch durch die Differenzierung der Gesellschaft in Arm und Reich wurde die ehemalige Solidargemeinschaft der Wildbeuter untergraben. Neben die Jäger waren Viehzüchter und Bauern, Töpfer und Salzsieder, Prospektoren, Bergarbeiter, Schmiede und Händler getreten. In den mykenischen Königreichen war die Arbeitsteilung am weitesten fortgeschritten.36 Die vertikale Differenzierung führte zur Entstehung von zwei Hauptklassen: Bauernschaft und Adel. Die Spaltung ist einerseits in burgartigen Festungen, andererseits in den Grabbeigaben greifbar, die große Unterschiede aufweisen. Die Archäologen registrierten sie auf einem Gebiet, das sich vom Balkan über die Slowakei und Böhmen bis Mittel- und Süddeutschland erstreckt, von der Iberischen Halbinsel über Frankreich bis zu den Britischen Inseln.37

Wahrscheinlich gab es auch Sklaverei. Schon in der mittleren Bronzezeit (etwa 1500 bis 1200 v.Chr.) bestand im Süden des Balkans, im Herrschaftsbereich der mykenischen Könige, eine richtige Sklavenhaltergesellschaft, über die man aus kommerziellen Aufzeichnungen im Linear-B-Schriftsystem Bescheid weiß. In der Stadt Pylos gab es um 1200 v.Chr., am Vorabend der Katastrophe der mykenischen Welt, etwa 2.000 in Sklaverei lebende Personen. Sie wurden mehrheitlich am oder um den Herrschersitz eingesetzt. Die wirtschaftlichen Leistungen dieser Stadt – und anderer Städte – beruhten zu einem wesentlichen Teil auf der Arbeit von Sklaven.38 Infolge des lebhaften Fernhandels dürften die mykenischen Verhältnisse auf andere Machtzentren des Kontinents abgefärbt haben.

Mit Sicherheit fand innerhalb der Leitung des prähistorischen Männerbundes parallel zur vertikalen Differenzierung der Gesellschaft eine Machtkonzentration statt, bis schließlich eine Handvoll vermögender und einflussreicher Senioren über das Schicksal des Stammes entschied. Heinrich Schurtz und Hutton Webster haben beschrieben, wie dieser Vorgang bei den Naturvölkern abgelaufen ist, und es gibt keinen Grund, der uns hindert, ihr Schema auf das Alte Europa zu übertragen.39 Übrigens finden sich in den Märchen Aussagen, die den Vorgang bestätigen (wobei man sich vor Augen halten muss, dass unsere Überlieferungen sich auf das letzte Stadium der Buschschule beziehen): Bei der Aufnahme in die Buschschule ist eine Taxe fällig. – Der Oberhäuptling ordnet die Abhaltung der Buschschule an, als seine Tochter das entsprechende Alter erreicht hat, d.h., die Gemeinschaft muss sich nach dem Oberhäuptling richten.

Andere Aussagen beziehen sich auf Verfallserscheinungen außerhalb der Schule. Ein wohlhabender Mann, zuweilen als Krämer oder Händler vorgestellt, sträubt sich dagegen, dass seine Tochter einen Knaben derselben Altersklasse heiratet, wie es die Sippenältesten empfohlen haben, weil der Knabe als Sohn armer Leute ein Habenichts ist (AT 930 „Der reiche Mann und sein Schwiegersohn“). – Der Oberhäuptling, im Märchen als König vorgestellt, hat sein Auge auf die Frau eines Stammesgenossen geworfen und will diesen beseitigen (AT 465 „Der um sein schönes Weib Beneidete“). – Der Gehilfe des Stammeszauberers, den wir aus manchen Märchen als Zwerg Ellenbart kennen, betätigt sich als Heiratsvermittler (AT 500 „Der Name des Unholds“).

Die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen einer Elite kommt in den keltischen Fürstengräbern der Hallstattzeit zum Ausdruck40, allerdings lässt sich das Verhältnis der Häuptlinge zum Männerbund und zum Frauenbund aus Grabungsfunden nicht ableiten. Für die Archäologen sind Männerbund und Frauenbund unbekannte Größen.

Für das Ende der Buschschule gibt es noch einen Grund. Als eine der möglichen Ursachen, die am Ausgang der Bronzezeit zum Zusammenbruch der Reiche rund um das östliche Mittelmeer führten, gilt ein Klimawandel. Hungersnöte infolge langanhaltender Dürren dürften eine Völkerwanderung Richtung Süden ausgelöst haben, mit Plünderungen, mit Kämpfen, mit der Zerstörung von Ortschaften.41 Unter solchen Umständen konnte keine kollektive Jugendweihe stattfinden. Leicht möglich, dass der Brauch in den betroffenen Gebieten erloschen ist.

In Mitteleuropa hat sich die kollektive Jugendweihe bis ins Mittelalter und in Osteuropa in Form der Mädchen-Spinnstube bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Das Fortdauern der Jugendweihe in Mitteleuropa belegen zahlreiche Sagen über die hilfreichen Zwerge des Typus Heinzelmännchen bzw. über die Saligen Fräulein. Die Zählebigkeit des Brauchs lässt vermuten, dass es die ganze Zeit über, trotz der Wanderungen, Kriege, Vertreibungen und Verschleppungen, trotz der Hungersnöte und Seuchen, eine bodenständige Bevölkerung gegeben hat, die substanziell genug war, um die Initiationsriten von Generation zu Generation weiterzureichen.

Entstellungen der Wirklichkeit in der mündlichen Überlieferung. Aus mehreren Gründen hat sich die Aussage der Märchen von der Buschschule im Laufe von annähernd 3.000 Jahren stark verändert. Zum einen verstanden die späteren Erzähler nicht mehr, wovon sie berichten, und deuteten die Überlieferung um. So wurden aus den Stelzen des Stammeszauberers Siebenmeilenstiefel, und aus der Taxe, die in der letzten Phase der Buschschule für die Jugendweihe fällig war, die mit einem Tropfen Blut vorgenommene Verschreibung für den Teufel. Zum anderen haben die späteren Erzähler die Lebensumstände des Helden immer wieder ihren eigenen Lebensumständen angeglichen. Die Anpassung verband sich mit dem Bestreben des Vortragenden, die Spannung zu erhalten und zu steigern, indem er die Handlung lokalisierte, d.h. bekannte Namen, Orte und Gewohnheiten einflocht. Infolgedessen strotzen die Texte von Anachronismen: Der Held wächst in einer Kleinfamilie heran, nicht in einer Sippe, nicht in einer Hausgenossenschaft. – Er schläft in einem Bett, arbeitet in einer Mühle und reitet auf einem Pferd. – Er spielt Karten. – Er läutet die Kirchturmglocken und besitzt Feuerwaffen. – Der Königssohn, der ausgezogen ist, um das Wasser des Lebens zu finden, darf nicht länger als eine Stunde im Zauberschloss verweilen, bevor es zwölf schlägt, muss er es verlassen. – Das Patenkind der schwarzen Frau blickt durchs Schlüsselloch ins verbotene Zimmer. – Der Kaiser lässt im Amtsblatt bekannt geben, dass seine Tochter sich einen Mann wählen möchte. – Die Prinzessin spielt Fußball.

Das Nonplusultra in diesem Sinne sind die von ungarischen Roma erzählten Varianten. Betrachten wir das Märchen „Sándor Keck“42, eine Fassung des Typus AT 301 „Die drei geraubten Königstöchter“: Sándor wird nicht mit einem aus Lindenbast geflochtenen Strick ins Drachenreich hinabgelassen, sondern mit einem Drahtseil. – Die Prinzessin tischt dem Drachen statt Wurst feinen Stangenstahl auf. – Der Held ist Milliarden Mal stärker als jener. – Den toten Drachen dreht der Held durch den Fleischwolf, und dessen Asche streut er als Dünger auf die Felder. – Das Lebenswasser füllt er in eine Literflasche.

Russische Erzähler verlegten den Schauplatz der Handlung ins dreimalzehnte Zarenreich, ungarische Erzähler in eine Gegend jenseits des siebenmalsiebenten Landes, jenseits des Óperencia-Meers. Der geheimnisvolle Name rührt vermutlich vom Gebiet Ob der Enns her; wie es scheint, haben die im oberösterreichischen Wels kantonierten ungarischen Husaren die verballhornte geografische Bezeichnung in ihre Heimat mitgenommen, worauf sie im Sinne von „ferne, unbekannte Gegend“, „Rand der bekannten Welt“ verwendet wurde. Der Unterlauf der Enns bildet die Grenze zwischen Nieder- und Oberösterreich. Mit dem Óperencia-Meer könnten die Seen im Salzkammergut gemeint sein.

Eine Änderung der ursprünglichen Aussage, die unbedingt vermerkt werden muss, ist die von Propp entdeckte Umwertung des Ritus. Ich zitiere: „Der Ritus war für Kinder und Mütter furchterregend und entsetzlich, aber er galt als notwendig, weil der, der ihn durchlaufen hatte, etwas erlangte, was wir als magische Herrschaft über die Tiere bezeichnen würden, d. h. der Ritus entsprach den Verfahrensweisen einer primitiven Jagd. Doch wenn mit der Vervollkommnung der Werkzeuge, mit dem Übergang zur Landwirtschaft und mit einer neuen Gesellschaftsordnung die alten grausamen Riten als unnötig und verhasst empfunden werden, kehrt sich ihre Spitze gegen die, die sie ausführen. Wenn im Verlauf des Ritus der Jüngling im Walde von einem Wesen geblendet wird, das ihn quält und zu verschlingen droht, dann wird der Mythos, der sich vom Ritus schon gelöst hat, zum Mittel eines gewissen Protestes. Einen ebenso gearteten Fall werden wir noch bei der Analyse des Motivs des Verbrennens sehen. Im Ritus werden die Kinder ,verbrannt', im Märchen verbrennen die Kinder die Hexe.“43

Infolge der Umwertung erscheinen Zauberer und Hexe gewöhnlich als böse, als heimtückisch, als gefährlich. In der Buschschule zitterte der Initiand vor dem Schulleiter – in den Märchen jedoch tritt der Held mutig zum Kampf gegen die Zauberer-Gestalt an und macht ihr den Garaus.

Eine nicht minder folgenreiche Entstellung ist ein Phänomen, das ich als Ökonomie der Erzähler bezeichne. Statt alle bekannten Merkmale eines Begriffs zu nennen, beschränkten sich die Erzähler dem flüssigen Vortrag zuliebe auf einige davon, im Extremfall auf nur eins, weil das für die Spannung genügte. Im Laufe der Zeit fielen diesem Kunstgriff unzählige Einzelheiten zum Opfer. Auch aus diesem Grunde sind die Initiationsmärchen alles andere als eine protokollarische Wiedergabe der ehemaligen Wirklichkeit.

Denken wir, beispielsweise, an das große Gebäude, in dem der Männerbund und der Frauenbund residierten. Vor dem Gebäude befanden sich tiergestaltige Totemfiguren (Löwe, Bär, Schlange), denen die Gäste Opfer darbrachten. Das Gebäude hatte keinen Eingang zu ebener Erde, man betrat es durch eine höher gelegene Öffnung, zu der eine Art Leiter hinaufführte. Es umschloss mehrere Räume, die als Arbeitsstätte und als Herberge dienten. In einem für Novizen verbotenen Raum befanden sich Masken und anderes Zubehör für die Riten. Die Gäste wurden von Initianden bedient, die konventionell unsichtbar waren, weil sie sich geschwärzt hatten, um ihren Zustand als Tote anzudeuten. In der Nähe befanden sich Ställe und Gärten, denn das große Gebäude, in den Märchen als großes Haus, Schloss oder Turm bezeichnet, in einem Fall auch als Kloster, bildete den Mittelpunkt einer kleinen, im Wald verborgenen Siedlung. Von diesem Gesamtbild bietet der einzelne Text nur wenige Details. Andere Beispiele für die Ökonomie der Erzähler sind die Erscheinungsformen der Zauberer-Gestalten, die Begegnung des Helden mit den „außerordentlichen Gesellen“, die Marterung der Helden durch die Hexe bzw. durch den Zwerg Ellenbart und die Bedingungen der Saligen-Ehe.

In den Märchen-Varianten hat die Zauberer-Gestalt bei gleichem Handlungsverlauf eine jeweils andere Erscheinungsform. Die männliche Zauberer-Gestalt tritt auf als Zauberer – als alter Mann – als Wassermann – als Riese – als Menschenfresser – als Schlange – als Vogel – als Blumenmann – als Kaiser der wilden Tiere – als der Mann ohne Herz bzw. als der unsterbliche Koschtschej – als Sonne – als Wind – als Eisenmann – als schwarzer Mann oder als grüner Mann. Für diese Erscheinungsformen finden sich Entsprechungen bei der weiblichen Zauberer-Gestalt, es zeichnet sich eine prinzipielle Übereinstimmung ab. Die funktionale Identität der Erscheinungsformen führt zu dem Schluss, dass diese ursprünglich ein Ganzes bildeten, entsprechend dem komplexen Erscheinungsbild des Stammeszauberers bzw. der Stammeshexe. Jede Erscheinungsform repräsentiert ein Merkmal, man darf sie als personifiziertes Merkmal betrachten. Der Zauberer steht für die magische Kraft – der alte Mann für das ansehnliche Alter – der Mann ohne Herz bzw. Koschtschej für die angebliche Unsterblichkeit. – Der Wassermann verweist auf den angeblichen Aufenthaltsort. – Der Menschenfresser erinnert an die Rolle beim rituellen kannibalischen Mahl, welches die Aufnahme der Initianden in den Stammesverband besiegelte. – Der Riese, die Schlange, der Vogel und der Blumenmann stehen für Masken. – Die Sonne und der Wind stehen vermutlich für eine Schlüsselposition im Kult der beiden einst als Gottheiten verehrten Naturkräfte. – Der Kaiser der wilden Tiere erinnert an die wichtige Aufgabe, vor der Jagd den „Herrn der Tiere“ günstig zu stimmen. – Der Eisenmann schließlich wie auch andere Erscheinungsformen, die einen Namen mit Metall-Komponente haben, lassen sich durch die Tätigkeit des Stammeszauberers als Schmied erklären. Mit Sicherheit wurden Zauberer und Hexe ursprünglich umfassend vorgestellt, doch in dem Maße, in dem sich die Erinnerungen in Geschichten verwandelten, in ein literarisches Genre, verzichteten die Erzähler auf mehr und mehr Einzelheiten, um das Publikum durch eine flüssige Handlung zu fesseln, bis aus dem komplexen Erscheinungsbild nur je ein Merkmal übrigblieb. Die Merkmale verteilten sich auf die Überlieferungen wie die Eigenschaften des Auerochsen auf die Rassen der Hausrinder, dabei führte der Zufall Regie.

In wunderlichem Gegensatz zu den hunderterlei Entstellungen hat sich das Skelett der Märchentypen – die Folge von Motiven, die Momenten der Jugendweihe entsprechen – als stabil erwiesen. Das Handlungsschema stimmt auch bei Textvarianten aus Ländern überein, die durch Wälder und Ströme, durch Gebirge und Meere getrennt sind. Ohne diese Übereinstimmung im Aufbau wäre ein Typenkatalog wie der von Aarne und Thompson nicht möglich. Ein frappantes Beispiel sind die oben genannten Varianten des Typus AT 425 A „Amor und Psyche“. Das Märchen von den „zwei Brüdern“ (AT 303) erzählte man bei den Yoruba in Nigeria weitgehend so wie im Herzen Europas (Die Zwillinge44). Dieses Märchen dürfte über die Handelsstraßen, die von Tunis und Tripolis aus durch die Sahara zum Golf von Guinea führten, nach Nigeria gelangt sein. Es kann nicht erst im Zuge der kolonialen Eroberungen vermittelt worden sein, weil die afrikanische Variante in der lokalen Mythologie verankert ist. Die zahlreichen Übereinstimmungen mit europäischen Varianten beweisen seine einstige Popularität an den Lagerfeuern. Ohne häufige Wiederholungen vor einem die Kontrolle ausübenden Publikum wären die Texte bis zur Unkenntlichkeit entstellt und zerzählt worden.

Meine Ausführungen stützen sich auf zahlreiche Berichte von Forschern und Reisenden. Manche davon sind relativ neu, nicht älter als 25 Jahre, ihre Autoren verwenden das Präsens. Weil ich nicht überprüfen kann, ob und inwieweit sich die Verhältnisse vor Ort mittlerweile veränderten, habe ich meine Mitteilungen ins Perfekt gesetzt.

Ergänzungen zum Geschichtsunterricht. Vom Hintergrund der Märchen und Sagen weiß das breite Publikum so wenig, wie die Kolonisten aus Europa, die sich in Australien niederließen, von der spirituellen Kultur der Aborigines wussten, nämlich gar nichts. Ich möchte diesen Hintergrund aufdecken, der den späteren Erzählern aus eigener Anschauung nicht mehr vertraut war, sodass ihre Bezugnahmen verschwommen oder lückenhaft sind oder ins Fantastische übergehen.

Die Abschnitte des vorliegenden Buches handeln von Bräuchen und Vorstellungen, die im Geschichtsunterricht aus Zeitmangel unter den Tisch fallen. Meine Ausführungen ergänzen die Mitteilungen des Lehrers.

Nun ist der Geschichtsunterricht, den meine Enkel erleben, durch Fotos, Landkarten, Dokumentarfilme, Besuche vor Ort und praktische Aufgaben unvergleichlich anziehender, als mein Geschichtsunterricht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war. Trotzdem hoffe ich, dass sie einmal nach diesem Buch greifen.

Gießen, September 2014, als Arian und Julia eingeschult wurden,

Hans Fink

Anmerkung. Im Text kommen unvermeidlich die Wörter Neger und Zigeuner vor, weil der Verfasser sich auf Folklore-Sammlungen stützt, die vor Jahrzehnten erschienen sind, als diese Wörter noch nicht mit einem Tabu belegt waren. Zum Beispiel die Sammlung „Märchen aus Brasilien“ (1972), die einen Abschnitt mit Märchen brasilianischer Neger enthält – mit Märchen der Schwarzen, deren Ahnen als Sklaven nach Brasilien verschleppt worden sind. Ebenso wenig ist es möglich, die Bezeichnung Zigeuner aus der Fachliteratur zu tilgen. Aber das ist auch gar nicht nötig. Die Roma selbst gebrauchen sie. In Rumänien bestehen die Gábor von Klausenburg (Cluj-Napoca) und Neumarkt (Târgu-Mureş) darauf, so genannt zu werden. Nach der politischen Wende 1989 sind in Rumänien politische Parteien entstanden, die eben dieses Wort im Namen führten. Zudem weiß ich von meinem Freund Franz Remmel, der ein Vertrauter des Zigeunerkönigs Ioan Cioabă war, dass die Roma nichts gegen das Wort haben, wenn es nicht abwertend gemeint ist.

1 FRIEDRICH PANZER: Märchen. In: JOHN MEIER (Hg.): Deutsche Volkskunde. S. 219-262, hier S. 219.

2 ENZYKLOPÄDIE DES MÄRCHENS [EM]. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von KURT RANKE. 15 Bde. Berlin/West und New York: de Gruyter, 19772015. An der EM wirkten rund 1.000 Autoren aus 80 Ländern mit.

3 Siehe die Abhandlung „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“ von WLADIMIR PROPP. Russisch: Leningrad 1946; deutsch: München und Wien: Hanser, 1987.

4 ANTTI AARNE: The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. Antti Aarne’s Verzeichnis der Märchentypen (FF Communications No. 3). Translated and Enlarged by STITH THOMPSON. Second Revision. Helsinki: Academia Scientiarum Fennica, 1961. (FF Communications No. 184.)

5 DIEDRICH WESTERMANN: Die Kpelle. S. 241, 243, 256.

6 ALEX HALEY: Wurzeln (engl. „Roots“). Vom Aufenthalt des Helden in der Buschschule handeln die Abschnitte 22 bis 25.

7 MONICA BRĂTULESCU: Ceata feminină – încercare de reconstituire a unei instituţii tradiţionale româneşti. [Die Mädchen-Schar – Versuch der Rekonstruktion einer traditionellen rumänischen Institution.] In: Revista de etnografie şi folclor. Bukarest: Editura Academiei Republicii Socialiste România. Tomul 23. Nr. 1/1978, S. 37-60. – BOH-DAN GEORG MYKYTIUK: Die ukrainischen Andreasbräuche und verwandtes Brauchtum. Wiesbaden: Harrassowitz, 1979.

8 JOSEF HANIKA: „Bercht schlitzt den Bauch auf“ – Rest eines Initiationsritus? S. 39-53, hier S. 42.

9 TRAIAN HERSENI: Forme străvechi de cultură poporană româneasca. S. 5-7, 49. – OCTAVIAN BUHOCIU: Die rumänische Volkskultur und ihre Mythologie. S. 55, 57-58, 61. – MIRCEA ELIADE: Geschichte der religiösen Ideen. Bd. III/1, S. 213-215.

10 Aus einem Brief von Dr. Diether Röth, datiert 15. Februar 2011 in Kassel.

11 VLADIMIR PROPP: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. Siehe insbesondere die Ausführungen auf S. 60-65.

12 Nu minți! (AT 710.) In: ION POP RETEGANUL: Poveşti ardeleneşti. S. 198-201.

13 Marienkind (AT 710). In: BRÜDER GRIMM: Kinder- und Hausmärchen. Nr. 3. Bd. 1, S. 36-41.

14 Der dem Teufel versprochene Königssohn (AT 313). In: AUGUST VON LÖWIS OF MENAR (Hg.): Finnische und estnische Volksmärchen. S. 84-87.

15 Der Federnteufel (AT 302 + 461). In: KARL HAIDING (Hg.): Österreichs Märchenschatz. S. 329-336.

16 Vom Re Porco (AT 425 A). In: LAURA GONZENBACH: Sicilianische Märchen. Erster Teil, S. 285-293.

17 Das Schlangenkind (AT 425 A). In: J. G. v. HAHN: Griechische und albanesische Märchen. Zweiter Teil, S. 116-124. Der Märchenforscher GEORGIOS A. MEGAS meint, dass es sich um ein griechisches Märchen handelt. Siehe: Märchensammlung und Märchenforschung in Griechenland seit dem Jahre 1864. In: FELIX KARLINGER (Hg.): Wege der Märchenforschung. S. 361-371, hier S. 362.

18 De witt Wulf (AT 425 A). In: WILHELM WISSER: Plattdeutsche Volksmärchen. Bd. 1, S. 266-274.

19 Der Quappfisch und die Prinzessin Marja (AT 425 A). In: E. POMERANZEWA (Hg.): Die Herrin des Feuers. S. 87-99.

20 WALDEMAR LIUNGMAN: Die schwedischen Volksmärchen. S. 62. Die Übereinstimmung der zwei Titel – „Metamorphosen“ – ist reiner Zufall.

21 Text ohne Titel (AT 650 A + 301 B). In: KURT RANKE: Schleswig-Holsteinische Volksmärchen. Bd. 1, S. 76-80.

22 BROCKHAUS-ENZYKLOPÄDIE. 21., völlig neu bearbeitete Aufl. Bd. 17 (2006), S. 189.

23 ROBERT VON RANKE-GRAVES: Griechische Mythologie. S. 243, 304.

24 MARKUS KAPPELER: Berberaffe. In: WWF Conservation Stamp Collection, 1988. (Aus dem INTERNET.)

25 Das Märchen vom goldenen Baum (AT 303). In: ANGELIKA MERKELBACH-PINCK: Lothringer Volksmärchen. S. 92-95, hier S. 92.

26 De twe Bröder (AT 303). In: WILHELM WISSER: Plattdeutsche Volksmärchen. S. 1-14, hier S. 2.

27 Die zwei Brüder, die Förster waren (AT 303). In: OLDŘICH SIROVÁTKA (Hg.): Tschechische Volksmärchen. S. 135-140, hier S. 136.

28 Von den zwei Brüdern (AT 303). In: JAROMÍR JECH (Hg.): Tschechische Volksmärchen. S. 40-44, hier S. 41.

29 Die Söhne des Fischers (AT 303). In: RENATO APRILE (Hg.): Die Schöne mit den sieben Schleiern. S. 212-219, hier S. 213.

30 Von den zwei Brüdern (AT 303). In: LAURA GONZENBACH: Sicilianische Märchen. Erster Teil, S. 272-280, hier S. 274.

31 Măr şi Păr (AT 303 + 300). In: ION POP RETEGANUL: Poveşti ardeleneşti. S. 164-178, hier S. 166 bzw. 172.

32 Das rote Mädchen (AT 552 + 302 C). In: BRONISLAVA KERBELYTE (Hg.): Litauische Volksmärchen. S. 216-223, hier S. 219.

33 Crîncu, vînătoriul codrului (AT 304 + 552 + 302 C). In: ION POP RETEGANUL: Poveşti ardeleneşti. S. 116-124, hier S. 121.

34 ALBRECHT JOCKENHÖVEL: Schimmernde Wehr – Die ältesten Schutzwaffen aus Metall. In: ALBRECT JOCKENHÖVEL und WOLF KUBACH (Hg.): Bronzezeit in Deutschland. S. 84-85. – Siehe auch: ERNST PROBST: Deutschland in der Bronzezeit. S. 271. – Siehe ferner: OTTO SCHERTLER: Die Kelten und ihre Vorfahren. S. 103-106.

35 WIKIPEDIA; ARCHÄOLOGISCHES LEXIKON und UNIVERSAL-LEXIKON im Internet. – CORNELIA SCHÜTZ-TILLMANN: Späte Bronzezeit und Urnenfelderzeit. In: KARL HEINZ RIEDER und ANDREAS TILLMANN (Hg.): Archäologie um Ingolstadt. S. 89-112.

36 MARIANNE NICHOLS hat die Berufe in ihrem Buch über den Wahrheitsgehalt der griechischen Mythen aufgezählt: „Es gab Architekten und Maurer, Schmiede und Arbeiter in Kupfer und Bronze; Töpfer, Ölhersteller, Maler, Gemmenschneider, Holzhandwerker, Spezialisten, die sich mit der Fertigung und Verarbeitung von Tuchen beschäftigten, also Spinner und Weber, Walker und Schneider; es gab Weinkelterer, Schlachter, Gerber und Schuhmacher, Pferdeausbilder, Geschirrmacher und Wagenbauer; es gab Köche, Bäcker, Bauern, Schweinehirten und Schafhirten. Wenn die Palastanlage am Meer lag oder einen Zugang zum Meer kontrollierte, gab es zweifellos auch Stellmacher, Ruderer, Segelmacher und andere Schiffshandwerker.“ (Als Zeus die Welt in Atem hielt, S. 147.)

37 ALBRECHT JOCKENHÖVEL: Bauern und Krieger, Künstler und Händler – Bronzezeitliche Gesellschaft. In: ALBRECHT JOCKENHÖVEL und WOLF KUBACH (Hg.): Bronzezeit in Deutschland. S. 4547. – OTTO SCHERTLER: Die Kelten und ihre Vorfahren. S. 114-115.

38 CARL W. WEBER: Sklaverei im Altertum. S. 48-49.

39 HEINRICH SCHURTZ: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. Berlin: Reimer, 1902. – HUTTON WEBSTER: Primitive Secret Societies. A Study in Early Politics and Religion. [1908.] Second edition, revised. New York: Macmillan, 1932. Siehe die Kapitel VI und VII.

40 MARTIN KUCKENBURG: Das Zeitalter der Keltenfürsten. Eine europäische Hochkultur. Stuttgart: Klett-Cotta, 2010.

41 ERICH: CLINE: 1177 v.Chr. S. 205-212.

42 Sándor Keck (AT 301 A). In: HEINZ MODE und MILENA HÜBSCHMANNOVÁ (Hg.): Zigeunermärchen aus aller Welt. S. 348358.

43 VLADIMIR PROPP: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. S. 87.

44 Die Zwillinge (AT 303). In: ULLA SCHILD (Hg.): Westafrikanische Märchen. S. 130-142, hier S. 132.

Wie die Erde entstand

Merkwürdig an der folgenden Mythe ist nicht ihr Inhalt, sondern ihre Verbreitung, die auf ein hohes Alter schließen lässt. Sie muss schon erzählt worden sein, bevor die Urahnen der Indianer aus Sibirien über die Landbrücke Beringia nach Alaska wanderten, das bedeutet mehr als 10.000 Jahre. Man hat sie bei drei Indianerstämmen aufgezeichnet, nämlich bei den Cree, Seneca und Yuchi, die eindeutig im Verbreitungsgebiet des Amerindischen lebten, das ist die Sprachfamilie, die die Nachkommen der ersten Einwanderungswelle verbindet. Ihr Gebiet reicht von Kap Hoorn bis zur Hudson-Bai.45

In der ältesten Schicht der ukrainischen Koljada-Lieder (oder Weihnachtslieder) hat sich eine von der biblischen Schöpfungsgeschichte abweichende Vorstellung vom Werden der Welt erhalten. Es ist die Rede von drei auf dem Urbaum sitzenden Tauben, die vom Meeresgrund Sand und Steine holen, aus welchen dann die Erde, der Himmel und die Himmelskörper entstehen.46 Wie archaisch diese Vorstellung ist, erkennen wir daran, dass sie bei weit voneinander entfernt lebenden Völkern angetroffen wurde.

In einer finnischen Mythe ist es der Lappentaucher, der Meerschlamm aus der Tiefe holt (Der große Tauchvogel47). – Die Nganassanen oder Tawgy-Samojeden auf Taimyr erzählten, dass die Schwimmente Gras und Flechten aus der Tiefe gebracht und auf dem Wasser ausgebreitet hat (Wie die Erde entstand48). – In einer Mythe der Evenen, die nordöstlich von Jakutien leben, bringt der Haubentaucher ein Stück Erde vom Meeresboden nach oben und schafft es, dieses an der Wasseroberfläche zu halten.49 – In derselben Rolle erscheint bei den Tibetern die Schildkröte (Die erste Schildkröte50) – bei den zentralindischen Stämmen der Blutegel (Die Erschaffung der Welt51) – bei den Semang-Stämmen auf Malakka der Mistkäfer (Die Entstehung der Welt52).

In einer Mythe der Eskimos bringt Gott Tulungusak in Gestalt eines Raben Tonstücke vom Meeresboden und steckt sie der Reihe nach in die Erde; aus diesen Tonstücken wachsen die Tiere, die Pflanzen, die Berge und die Wälder, zuletzt die Menschen (Die Anfänge der Welt53).

Bei den Cree südlich der Hudson-Bai war es die Muskatratte, die zum Meeresboden tauchte (Der Anfang der Cree-Welt54) – bei den Seneca, einem Stamm der Irokesen westlich des Erie-Sees, waren es die Bisamratte, die Kröte und andere Tiere (Die Himmelsfrau55) – in der Überlieferung der Yuchi, einem heute verschwundenen Indianerstamm, der im südöstlichen Maisgebiet siedelte, an der Golfküste von Georgia, war es der Krebs (Die Erschaffung der Erde56).

Bei den Huzulen, einer ukrainischen Volksgruppe, die im südöstlichen Teil der Waldkarpaten lebt, haben die Koljada-Lieder am deutlichsten den Charakter von kosmogonischen Epen bewahrt. Die Huzulen betrachteten das Koljada-Singen als einen der wichtigsten Jahresbräuche. Ihm wurden bloß die am Gründonnerstag fälligen Gedächtnisriten für die Ahnen und das Bemalen der Ostereier gleichgestellt. Das Fortbestehen der Welt, so glaubte man, sei nur durch genaues Einhalten dieser Bräuche zu gewährleisten. Falls die Menschen diese drei Bräuche aufgeben sollten, würde der oberste Teufel sofort seine Ketten abwerfen und die Welt vernichten.57

In den eschatologischen (auf das Ende der Welt bezogenen) rumänischen Sagen der Bukowina erkundigt sich der Teufel, ob man zu Ostern noch rote Eier verziere und zu Weihnachten noch mit Liedern umherziehe, denn erst, wenn das nicht mehr üblich ist, könne er hervorkommen.58

Das Festhalten der Huzulen am Koljada-Singen und am Bemalen der Ostereier erinnert an eine Gepflogenheit der australischen Ureinwohner. Die traditionsbewussten Aborigines frischten periodisch die Farben auf den Felsmalereien auf, welche die Entstehung der Welt in der sogenannten Traumzeit darstellten. Es geschah in der Überzeugung, auf diese Weise das Fortbestehen der Welt zu gewährleisten.59

45 JOSEPH H. GREENBERG und MERRITT RUHLEN: Der Sprachstammbaum der Ureinwohner Amerikas. In: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT. Dossier Nr. 1/2004, S. 58-64.

46 BOHDAN GEORG MYKYTIUK: Die ukrainischen Andreasbräuche und verwandtes Brauchtum. S. 77-85, 141-142.

47 Der große Tauchvogel. In: HELMA MARX (Hg.): Das Buch der Mythen aller Zeiten aller Völker. S. 218.

48 Wie die Erde entstand. In: MICHAELA TVRDÍKOVÁ: Sibirische Märchen. S. 9.

49 VALENTINA GORBATCHEVA und MARINA FEDEROVA: Die Völker des Hohen Nordens. S. 156-162.

50 Die erste Schildkröte. In: HELMA MARX (Hg.): Das Buch der Mythen aller Zeiten aller Völker. S. 406-407.

51 Die Erschaffung der Welt. In: HELMA MARX (Hg.): Das Buch der Mythen aller Zeiten aller Völker. S. 295.

52 Die Entstehung der Welt. In: HELMA MARX (Hg.): Das Buch der Mythen aller Zeiten aller Völker. S. 367-368.

53 Die Anfänge der Welt. In: HELMA MARX (Hg.): Das Buch der Mythen aller Zeiten aller Völker. S. 396.

54 Der Anfang der Cree-Welt. In: FREDERIK HETMANN (Hg.): Indianermärchen aus Kanada. S. 31-33.

55 Die Himmelsfrau. In: FREDERIK HETMANN (Hg.): Indianermärchen aus Nordamerika. S. 7-8.

56 Die Erschaffung der Erde. In: GUSTAV A. KONITZKY (Hg.): Nordamerikanische Indianermärchen. S. 97-99. Laut Konitzky lag das Stammeszentrum der Yuchi ursprünglich im östlichen Tennessee (Anhang S. 285-292, hier S. 292).

57 BOHDAN GEORG MYKYTIUK: Die ukrainischen Andreasbräuche und verwandtes Brauchtum. S. 141-142.

58 ELENA NICULIŢĂ-VORONCA: Datinile şi credinţele poporului român. Bd. 1, S. 57, 308.

59 HANS DAMM: Kanaka. S. 83. – GEORGE THOMSON: Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis. S. 29. – HERBERT TISCHNER (Hg.): VÖLKERKUNDE. S. 40. – VÖLKERKUNDE FÜR JEDERMANN. S. 326.

Siegfried bei den Kwakiutl

Wie soll man es plausibel machen, dass ein Motiv der Siegfried-Sage mit einer Überlieferung der Kwakiutl verwandt ist, die an der Pazifik-Küste Kanadas leben? Das scheint nur durch die Mitteilung von weiteren auffälligen Analogien möglich, eine verblüffender als die andere.

Siegfried ist eine Hauptgestalt des Nibelungenlieds, einer Dichtung aus dem Mittelalter mit rund 2.400 Strophen. Diese Dichtung blieb trotz intensiver Forschungen rätselhaft. Sie erschien um 1200 wie aus dem Nichts, denn es gibt keine Vorgänger. Ihr Verfasser ist namentlich nicht bekannt. Sie beruht auf der Nibelungensage, deren Ursprünge in die germanische Völkerwanderung zurückreichen. Als ein historischer Kern der Sage gilt die Zerschlagung des Burgunderreichs im Raum von Worms um 436 durch den römischen Heermeister Aëtius mit Unterstützung hunnischer Hilfstruppen. Bis heute vermochten die Literaturhistoriker nicht zu klären, durch wen und auf welche Weise die Sage 700 Jahre lang überliefert worden ist. Wir fügen hier ein weiteres Rätsel hinzu, denn Europa, die vermeintliche Heimat der Siegfried-Sage, und das Siedlungsgebiet der Kwakiutl sind durch den größten Erdteil und das größte Weltmeer getrennt.

Als der Königssohn aus Xanten in Worms eintrifft, wo er seine Werbung um die schöne Kriemhild vorbringen will, erzählt der Lehensmann Hagen, was er über den Recken weiß, auch die Episode vom Bad im Drachenblut. In seiner Jugend hat Siegfried einen Drachen erschlagen und sich mit dessen Blut bestrichen, seither besitzt er eine unverletzliche Hornhaut (Dritte Aventure). Viel später, nach Jahren, als Siegfried und Kriemhild ihre Verwandten in Worms besuchen, empfiehlt Hagen König Gunther und dessen Brüdern, den Gast zu beseitigen, damit er ihnen nicht gefährlich werde. Es gelingt Hagen, Kriemhild das Geheimnis zu entlocken, an welcher Stelle Siegfried verwundbar geblieben ist, weil diese Stelle zufällig von einem Lindenblatt bedeckt war, als der Recke sich mit dem Drachenblut bestrich. Hagen macht Kriemhild weis, er wolle diese Stelle im Krieg beschützen. Nach einer Jagd bietet sich die Gelegenheit für die geplante Untat. Vorsätzlich wurde der Wein an eine falsche Stelle dirigiert, es gibt nichts zu trinken, deshalb laufen Siegfried, Hagen und Gunther, um ihren Durst zu löschen, zu einer Quelle. Dort wartet Siegfried aus Höflichkeit, bis Gunther getrunken hat, dann erst beugt er sich über das Wasser, und in diesem Augenblick stößt Hagen ihm den eigenen Speer zwischen die Schultern (15. und 16. Aventure).

Im Aarne-Thompson-Katalog ist die Siegfried-Sage als AT 650 C „Das Bad im Drachenblut“ registriert.

Dem Drachen der Siegfried-Sage entspricht in der Folklore der Indianer von der Nordwestküste ein Zauberfisch. Der Mann, der den Fisch glücklich gefangen hat, bestreicht mit dessen Blut den Körper seines neugeborenen Sohnes bis auf eine Stelle unter dem Kinn, und Jahre später trifft ein Neider eben diese Körperstelle des Helden, heimlich in Erfahrung gebracht, mit seinem Pfeil (Ahnensage des Geschlechtes Ne'nelpae60).

Die Sage der Kwakiutl wurde von Franz Boas aufgezeichnet. Nähmen die Erzählforscher das Motivregister der Sammlung von Boas in die Hand, kämen ihnen etliche Motive bekannt vor. Die Parallelen würden sie verwundern. Nun werden diese Parallelen von einem weiteren Gleichklang in den Schatten gestellt.

Die feuerländischen Yámana, ein inzwischen ausgerotteter Stamm, waren Wassernomaden. Eine ihrer Mythen schildert ein Ereignis im Kontext der geheimen Männerzeremonien. Nachdem mehrere Harpunen-Angriffe auf einen mächtigen Grindwal misslungen sind, springt der Jäger Latschich (d.h. „Mauerschwalbe“) ins offene Maul des Tieres und wird von diesem geschluckt. Latschich zerstückelt die Organe des Wals mit einem Messer, zuletzt wird das tote Tier ans Ufer angetrieben und von den Leuten im Lager gesichtet. Eben finden die geheimen Männerzeremonien statt. Zwei Prüflinge sollen für die Teilnehmer Fleischstücke aus dem Wal schneiden, und als sie sich ans Werk machen, ruft Latschich: „Stich mich nicht etwa!“ Die erschrockenen Prüflinge melden ihr Erlebnis den Männern, worauf diese Latschich befreien. Nach dem Aufenthalt im Walbauch ist der verwegene kleine Mann bleich und mager und kahlköpfig (Die Geschichte vom Grindwal61).

Diese Überlieferung stimmt mit einem Teil des ukrainischen Märchens über Iwan Hatnichtsan überein. Iwan wurde von seinem Vater ins Meer gestoßen, weil er auf eine Frage ungebührlich geantwortet hatte, und dann von einem Wal verschluckt. Im Walbauch nährt er sich vom essbaren Inhalt der Ochsenwagen, die der Meeresriese früher verschluckt hat. In einem der Wagen findet er eine Pfeife und einen Feuerstein; vom Tabakrauch betäubt treibt der Wal ans Ufer und schläft ein. Der Wal wird von Jägern erschossen und aufgebrochen. Plötzlich dringt aus seinem Inneren eine Stimme: „He-e, Brüder, zerhackt den Wal, doch keine ehrliche Christenseele!“ Da flüchten die Jäger vor Schreck, und Iwan kriecht aus dem Loch, das jene in den Leib des Tieres gehackt haben; seine Kleider sind verfault, splitternackt sitzt er da (Iwan Hatnichtsan und sein Bruder62).

Die Übereinstimmungen sind sensationell. Die Verbindung mit den geheimen Männerzeremonien lässt uns aufhorchen, denn die Mythe vom Aufenthalt im Walbauch hat Entsprechungen in den Märchen von der Buschschule. Die schöne Schwester des Helden aus AT 403 „Die weiße und die schwarze Braut“ wird stereotyp von einem großen Fisch, Hai oder Wal verschlungen, desgleichen das Mädchen aus AT 450 „Brüderchen und Schwesterchen“. Wahrscheinlich erzählte man die Mythe den Teilnehmern an der Jugendweihe, um sie auf den Ritus des Verschlingens durch den Tier-Ahnen vorzubereiten. Sie handelte vom Stammesgründer, den der Tier-Ahne verschlang und ausspie, wobei er ihn eine Weile in seinem Magen sitzen ließ, um ihm Fähigkeiten eines großen Jägers zu verleihen. (An welche Fähigkeiten unsere Vorfahren dachten, wenn sie den Ritus mit einem Mädchen vollzogen, wissen wir nicht.)

Niemand wird ernsthaft annehmen, dass die Mythe vom Aufenthalt im Walbauch über die einstige Landbrücke Beringia von Asien nach Amerika gelangte und dann auf dem Landweg von Generation zu Generation bis nach Feuerland weitergegeben wurde. Glaubhafter ist die Übermittlung der Mythe auf dem Seeweg, und zwar durch eine Population, die, aus Ostasien kommend, sich an der Westküste Amerikas nach Süden vortastete, immer in Kontakt mit den großen Seetieren, bis sie Feuerland erreichte. Historisch gesehen waren die Yámana die jüngsten Vertreter dieser Population. Für diese Hypothese spricht ihre Lebensweise, denn zum Unterschied von den auf der Großen Feuerlandinsel lebenden Selk’nam, die Guanakos jagten, entfernten sich die Yámana landeinwärts nie weit vom Ufer. „Fast den ganzen Tag“, berichtet Martin Gusinde, „befahren sie mit dem Kanu die vielverschlungenen Kanäle und Meeresarme oder jagen auf dem Strande. Wenn sie von diesen Arbeiten ausruhen, hocken sie in ihren Hütten, die sie regelmäßig auf dem Strandwall nahe der Wasserlinie errichten. Gelegentlich nur und mit besonderen Absichten entfernen sie sich von der Küste landeinwärts in das Innere einer Insel. Offenkundig sind die Wasseroberfläche und die schmalen Küstenstreifen das Betätigungsfeld und das Lebensgebiet der Yámana wie der Halakwúlup.“63

Folglich wurde die Mythe vom Aufenthalt im Walbauch durch Küstenbewohner verbreitet. So dürfte es auch im Falle anderer Überlieferungen gewesen sein, die erstaunliche Analogien aufweisen.

Ein schottischer Robbenjäger hat den Fürsten der Wassermänner verwundet, dem er in Gestalt einer riesigen Robbe begegnete, sein Messer ist in der Wunde stecken geblieben. Ein Sohn des siechen Wassermanns führt ihn zum Lager des Kranken, weil nur die Hand, welche die Wunde verursachte, diese erfolgreich behandeln kann. Solange der Held sich unter Wasser aufhält, hat er die Gestalt einer Robbe (Der Robbenfänger und der Wassermann64). – Dasselbe Motiv findet sich in einer Sage der Nutka (oder Nootka), die zur Kultur der amerikanischen Nordwestküste gehören. Der Held hat mit seiner Harpune einen Hai getroffen, aber das Tier ist entkommen. Auf der Suche nach ihm gelangt er ins Dorf der Haifische; dort wird er gefragt, ob er Schamane sei, und um Hilfe gebeten. Die Haie können die Waffe nicht sehen, sie glauben, ein Wurm sei in die Kranke gefahren. Der Held reißt die Harpune aus der Wunde und wirft sie fort, darauf gibt man ihm die zwei Töchter der Verwundeten zur Frau (Kwo’tiath65). – Ähnlich in einem Märchen der Kutubu auf Neuguinea. Hier hat ein Knabe einen Fisch gespeert, der mit dem Speer davongeschwommen ist. Weil er die Waffe wiederhaben möchte, taucht er am nächsten Tag an der bewussten Stelle, entdeckt einen Pfad und gelangt zu einem Haus, dessen Bewohner zwar die Gestalt von Menschen haben, aber sich von Würmern ernähren. Nach einiger Zeit nehmen sie an einem Fest teil; der Mann, für den das Fest abgehalten wird, ist von einem unbekannten Feind mit einem Speer getroffen worden. Tatsächlich befindet sich der Held unter Fischen. Er heiratet die Schwester seines Gastgebers und verwandelt sich, nachdem er von ihrer Speise gegessen hat, ebenfalls in einen Fisch.66

60 Ahnensage des Geschlechtes Ne’nelpae. In: FRANZ BOAS: Indianische Sagen von der Nord-Pacifischen Küste Amerikas. S. 153-155.

61 Die Geschichte vom Grindwal. In: MARTIN GUSINDE: Urmenschen im Feuerland. S. 351-360.

62 Iwan Hatnichtsan und sein Bruder (AT 554 + 519 + 507 B). In: DAS FLIEGENDE SCHIFF. S. 269-286, hier S. 269-270.

63 MARTIN GUSINDE: Urmenschen im Feuerland. S. 189-190. Neuerdings spricht die Forschung sich für ein Vordringen der Ur-Indianer mit Booten entlang der Küste aus. Siehe folgenden Aufsatz: HEATHER PRINGLE: Die ersten Amerikaner. Die Hinweise mehren sich, dass Menschen die Neue Welt früher als bislang gedacht erreichten – und auch auf dem Seeweg dorthin kamen. In: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT. SPEZIAL ARCHÄOLOGIE, GESCHICHTE, KULTUR. Nr. 1/2013, S. 6-14.

Sonne und Mond, Tag und Nacht

Sehr alt scheint die Vorstellung zu sein, dass ein Magier, der am Wegrand sitzt, den Wechsel von Tag und Nacht bewirkt, indem er mit zwei Knäueln hantiert, einem schwarzen und einem weißen. Wenn der Morgen naht, rollt er das schwarze auf und wickelt das weiße ab. Im türkischen Märchen „Der Wind-Dew“67 erscheint der Magier als alter Mann, im serbokroatischen Märchen „Šogo“68 als ein Bartloser, in einem von Legrand veröffentlichten neugriechischen Märchen69 als eine Frau. Der Held des Märchens ist ein junger Mann, der mit zwei Brüdern in einem gefährlichen Wald lagert. Ihr Feuer ist erloschen, während er Wache gehalten hat, deshalb muss er neues besorgen, bevor die Brüder munter werden. Um den Gang der Zeit anzuhalten, zwingt er jenen Magier, seine Tätigkeit zu unterbrechen. Wir erkennen hier ein Motiv aus dem Märchentypus AT 304 „Der gelernte Jäger“, es heißt AT 723* „Der Held fesselt Mitternacht, Morgen und Mittag“.

In etlichen Texten vom Balkan, allesamt Varianten des Typus AT 304, treten die Tageszeiten als weibliche Gestalten in Erscheinung, die einen vorgeschriebenen Weg zurücklegen, eine nach der anderen. Sie werden vorgestellt als Abenddämmerung, Mitternacht und Morgendämmerung – als Mitternacht, Morgen und Mittag – als Nacht und Tag – als Mutter der Nacht. Der Held bindet sie, als er ihnen begegnet, jeweils an einen Baum. Laut Lazăr Şăineanu wurden solche Varianten bei Rumänen und Griechen, Albanern, Serben und Ungarn erzählt.70 (Abweichend von der Regel sind die Tageszeiten in den meisten ungarischen Varianten männlich.71)

Aus Bulgarien stammt ein Märchen, in dem eine als Sonnensohn bezeichnete Gestalt als Fußgänger in Erscheinung tritt. Der Sonnensohn trägt einen goldenen, mit kostbaren Steinen besetzten Kranz auf dem Kopf, dessen Strahlen die Erde erhellen und erwärmen. Täglich wandert er einmal „um die Erde“, vom Morgen bis zum Abend, wobei er einen beschwerlichen, kräfteraubenden Weg zurücklegt (Der Mann, der den Sonnensohn vertrat72).

Nun kommt das Pferd ins Spiel. Ursprünglich wurde das Pferd als Trag- oder Zugtier verwendet und erst viel später als Reittier. Diese Entwicklung spiegelt sich in Mythologie und Folklore wider.

Im slowakischen Märchen „Das Sonnenpferd“73 spielt die Handlung in einem Land mit ewiger Dunkelheit. Zum Glück für die Bewohner besitzt der König ein Pferd mit einer Sonne auf der Stirn, aus der sich Strahlen nach allen Seiten ergießen. Der König lässt das Sonnenpferd durch sein Reich führen, von einem Ende zum anderen, und überall, wohin es gelangt, ist ein Leuchten wie am wunderschönsten Tag. Doch wenn man mit ihm weiterzieht, kommt dichte Dunkelheit auf. Als die Schwiegersöhne einer Hexe das Pferd stehlen (wie sonst drei Drachenbrüder die Himmelslichter), bleibt es dunkel.