Im verwunschenen Schloss, im verbotenen Zimmer - Hans Fink - E-Book

Im verwunschenen Schloss, im verbotenen Zimmer E-Book

Hans Fink

0,0

Beschreibung

Der Verfasser beschreibt ein Dutzend vorgeschichtliche Bräuche, die dauerhaft in die Folklore eingegangen sind, sei es in Form von Relikten, auf die noch unsere Großväter Wert legten, sei es, dass man von ihnen erzählte. Freilich wussten die Erzähler längst nicht mehr, wovon sie sprechen. Die Sippenältesten, die sich an der Wiege eines Neugeborenen zu einer Beratung versammelten, werden im Falle Dornröschens als Feen vorgestellt, in den Märchen vom reichen Mann und seinem Schwiegersohn als Schicksalsfrauen. Das Buch endet mit einem Paukenschlag, nämlich mit einem Staatsstreich: Der Stammeszauberer wird vom Oberhäuptling entmachtet, als die Mehrheit der Sippenchefs einverstanden ist. Das lässt sich aus den Märchen vom Wilden Mann ableiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 291

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

Das Vorhaben

Bräuche und Märchen

Der Herr der Winde fordert eine Frau

Das Ende der Altentötung

Die Saligen-Ehe

Ein Drache sperrt das Wasser

Das versteckte Herz

Sakrale Könige

Heirat mit der Königstochter

Die Beratung der Sippenältesten an der Wiege eines Neugeborenen

Die kollektive Jugendweihe

Audienz beim Stammeszauberer

Der Flug auf dem Riesenvogel

Die individuelle Jugendweihe zwischen Dorf und Wildnis

Die individuelle Jugendweihe im Gehöft der Eltern

Ein Drache im Brautgemach

Das über Wasser und Land fahrende Schiff

Gutsherr und Bauer

Das Geschlecht des Helden

Märchen mit vertauschten Rollen als häufige Ausnahme

Die Entstellungen

Amor, Psyche und Liombruno

Märchenforscher in der Sackgasse

Sexuelle Aufklärung

Die Anwerbung der Helferinnen und Helfer

Die traditionswidrige Heirat

Heiratsmodelle

In der Werkstatt des Erzählers

Weltgeschichte im Märchen: der erste Staatsstreich

Das Märchen vom Wilden Mann (AT 502)

Soziale Verhältnisse der Späten Bronzezeit im Spiegel der Märchen von der Buschschule

Männerbund und Frauenbund

Die Verhaftung des Stammeszauberers

Die Fachliteratur über den Niedergang des Männerbundes

Vor dem Staatsstreich

Nach dem Staatsstreich

Schlusswort

Zeittafel

Bibliografie

Geschichte und Archäologie

Volkskunde und Völkerkunde

Erzählforschung

Sammlungen von Märchen und Sagen

Liste mit Märchentypen aus dem Aarne-Thompson-Katalog

Das Vorhaben

Als Antti Aarne im Jahre 1910 sein Verzeichnis der Märchentypen1 veröffentlichte, galten die sogenannten Zaubermärchen noch allgemein als Erfindungen. Knapp fünfzig Jahre später hob Wladimir Propp diese Ansicht mit seiner Abhandlung über die historischen Wurzeln des Zaubermärchens2 aus den Angeln.

Propp wies nach, dass viele Zaubermärchen sich aus Erinnerungen an Bräuche und Riten bildeten. Im Vordergrund seiner Ausführungen stehen die archaische Jugendweihe im Alten Europa, an die überaus viele Märchen erinnern, und, in Verbindung damit, die Bestattungsrituale, denn vermeintlich ging ein Initiand in den Tod, weshalb man ihn, sobald er vom Dorf zur Initiationsstätte im Wald geführt wurde, mit den Kleidungsstücken und mit dem Schmuck ausstattete, die man sonst einem Verstorbenen auf den letzten Weg mitgab. Die späteren Erzähler haben die zwei Motivkomplexe, hervorgegangen einerseits aus den Erinnerungen an die Jugendweihe, andererseits aus den Vorstellungen von der Wanderung eines Toten ins Jenseits, auf unterschiedliche Weise kombiniert.

Dem Phänomen der sakralen Könige, von deren Wohlbefinden vermeintlich das Glück ihres Volkes abhing, sind längere Passagen gewidmet (S. 41-45, 424-436). Das gilt auch für die Opferung einer Jungfrau, damit der Flussgott eine reiche Ernte gewähre (S. 23, 325-332). Andere Bräuche werden nur erwähnt, so die Altentötung (S. 23) und die Schamanenweihe (S. 265-266).

Auf alle Bräuche trifft zu, dass man erst dann begonnen hat, von ihnen zu erzählen, nachdem sie abgestorben waren – nachdem sie aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden waren. Manche Märchen handeln ausdrücklich von der Aufgabe eines Brauchs, von seinem Ende. Der Held tötet den Drachen, der in regelmäßigen Abständen eine Jungfrau fordert; der König verwirft den Befehl, die alten Leute als vermeintlich unnütze Esser zu töten.

Propps Ideen verbreiteten sich nur allmählich. Seine Abhandlung war 1946 im zerstörten Leningrad veröffentlicht worden, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und am Anfang des Kalten Krieges, der den Kulturaustausch zwischen Ost und West jahrzehntelang beeinträchtigte. Die deutsche Übersetzung ist mit einer Verspätung von vierzig Jahren erschienen. Das Buch fand so wenig Anklang, dass der Hanser-Verlag die unverkäufliche Restauflage hat einstampfen lassen.3

Den politisch naiven Leser, der nicht Bescheid wusste über die Spielregeln im real existierenden Sozialismus, mochte der Tribut des Verfassers an die Zensur befremden. Damit ist nicht die historische Betrachtungsweise gemeint, die der marxistischen Philosophie entspricht; ohne sie würde sich die Abhandlung in Luft auflösen. Auch nicht der Exkurs über das Märchen als Erscheinung mit Überbaucharakter, wo es darum geht, welche Produktionsweise das Zaubermärchen hervorgebracht hat.4 Gemeint ist etwas anderes. Damit das Werk erscheinen kann, musste Propp sich als linientreuer Sowjetbürger ausweisen, zumal sein Standpunkt unter den sowjetischen Wissenschaftlern umstritten war. Also hat er gleich im ersten Absatz dick aufgetragen: „Vor der Revolution war Folklore die Schöpfung der unterdrückten Klassen, […] die Folkloristik eine Wissenschaft mit einer Ausrichtung von oben nach unten. […] Heute erlaubt es die Methode des Marxismus-Leninismus, den Weg des abstrakten Theoretisierens zu verlassen und den Weg des konkreten Forschens einzuschlagen.5

In Deutschland war das Feld von anderen Theorien besetzt.

Der Erzählforscher Gottfried Henßen schrieb noch im Jahre 1957:

„Wer ihre Verfasser waren und wann sie entstanden sind, wissen wir nicht. Die Brüder Grimm erblickten in ihnen ein geistiges Erbgut aus der frühen indogermanischen Zeit; die heutige Forschung ist wieder zu dieser Ansicht zurückgekehrt; anders kann sie sich die große Verwandtschaft der europäischen Märchen untereinander nicht erklären.

Was sicher feststeht, ist, dass sie seit vielen Jahrhunderten in der mündlichen Überlieferung umlaufen und als Beispiele einer vollendeten Erzählkunst zu gelten haben. Nur so ist ihr fest umrissener sprachlicher Stil zu erklären, die gerundete Form mit den stehenden Eingangs- und Schlussformeln, die klare Gliederung des Aufbaus und die rhythmische Sprache.“6

Als Friedrich von der Leyen seine Studie über das Märchen redigierte (erste Ausgabe 1911, die vierte 1958 zusammen mit Kurt Schier), war die mythologische Schule von der psychologischen Schule abgelöst worden, die wenig Beifall erntete, weil die Auslegungen ihrer Vertreter nicht übereinstimmen. Von der Leyen lehnte sie ab.7 Dafür nehmen bei ihm Beispiele für die Entstehung der Märchenmotive aus Traumerlebnissen viel Raum ein.8 Es liege ein Traum zugrunde, wenn der Held mit einem Sieb einen Teich ausschöpfen muss – wenn er aus einem unendlichen Haufen des verschiedensten Getreides die einzelnen Arten aussondern muss – wenn er mit einer hölzernen Axt ausgestattet einen ganzen Wald an einem Nachmittag umhauen muss. (In Wirklichkeit sind solche überspitzten Forderungen der Zauberer-Gestalt eine Folge der Umwertung des Ritus und Übertreibungen der Erzähler.) Das Märchen vom Tierbräutigam erklärte von der Leyen durch eine Traum-Ehe. (Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Knaben in der alteuropäischen Buschschule von eigens dazu verpflichteten Helferinnen sexuell aufgeklärt wurden, allem Anschein nach in der Phase, in der sie die Tier-Maske trugen.)

Was Friedrich von der Leyen sich dachte, verdient deshalb Beachtung, weil er die erfolgreiche Reihe „Märchen der Weltliteratur“ begründet hat, die seit 1912 erscheint, sie umfasst mehr als 160 Bände. Er selbst hat rund 50 Bände mitbetreut. Von der Leyen war geneigt, für einige Motive ein hohes Alter anzunehmen. Im Drachen vermutete er richtig die Gottheit eines Flusses, die man bewegen wollte, nicht über die Ufer zu treten und nicht Fluren und Äcker zu zerstören.9 Er nahm an, dass es sich um einen Initiationsbrauch handelt, wenn Mädchen im Pubertätsalter in unterirdische Gemächer geführt werden, damit kein Sonnenstrahl zu ihnen dringe10 (was nicht stimmt, denn alle Frauen mussten das Sonnenlicht meiden, sobald die Regelblutung einsetzte). In einem anderen Fall kam er der Wahrheit sehr nahe. Er nahm an, dass im Grimm’schen Märchen „Bruder Lustig“ (KHM 81) mit der Zerstückelung und Wiederbelebung der Königstochter durch den Apostel Petrus die Vision eines Schamanenlehrlings wiedergegeben wird11; bei Licht besehen ist dieses Motiv das Echo einer in der alteuropäischen Buschschule praktizierten Form des „zeitweiligen Todes“.

Felix Karlinger, der die Arbeit von der Leyens bei der Herausgabe von Märchen-Anthologien fortsetzte, war fasziniert von der Möglichkeit, manche Motive durch Traumerlebnisse zu erklären. Er ist in Griechenland einem talentierten Erzähler begegnet, der freimütig zugab, in seine Vorträge auch Träume einzuflechten.12

Indem Propp ältere Theorien vom Tisch wischte und sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kein Blatt vor den Mund nahm, forderte er die etablierten Theoretiker zur Ablehnung und Ächtung heraus. Er warf die Vorstellung von der Entstehung der Märchen im Mittelalter über den Haufen, von der andere Forscher sich nicht lösen konnten, weil die Erzähler im Mittelalter – über tausend Jahre lang – die überlieferten Texte mit Fakten aus ihrer Umwelt ausgeschmückt hatten. Linda Dégh etwa vermerkte als hervorstechendstes Merkmal des europäischen Märchenmaterials, dass die gesellschaftlichen Einrichtungen und Auffassungen, die wir darin antreffen, das Zeitalter des Feudalismus widerspiegeln.13 Die Gesellschaft im Märchen, schrieb auch Maria Tatar, spiegelt im Allgemeinen die Gesellschaftsordnung feudaler Zeiten wider.14

Wer vom Europozentrismus beseelt war, jener mit dem modernen Kolonialismus entstandenen Auffassung, derzufolge Europa den Nabel der Welt bildet, mochte sich gekränkt fühlen, weil es aus dieser Sicht absurd scheint, dass europäische Märchen Bräuche schildern, die bei Naturvölkern beobachtet worden sind. Und noch etwas mag ihn unangenehm berührt haben. Die Initiationsmärchen lenken den Blick auf ein Schulsystem, welches nicht nur jenem der Griechen und Römer, sondern auch dem des Mittelalters überlegen war: Alle Kinder nahmen verpflichtend am Unterricht teil, der sie dazu befähigte, selbst für sich zu sorgen; bei den Kpelle in Liberia dauerte ein voller Lehrgang für Knaben vier Jahre, bei anderen Völkern noch länger.

Schließlich bewertete Propp die Märchen nicht als gesunkenes Kulturgut, und es kann sein, dass der eine oder andere ihm das übel nahm, weil er darin mit der marxistischen Kunstauffassung übereinstimmt, obwohl Friedrich von der Leyen sich kategorisch im selben Sinne geäußert hatte. Von der Leyen schrieb: „Uns erscheint die ganze Dichtung als eine in ewiger Bewegung befindliche Masse, aus der die hohe Dichtung aufsteigt und wieder in die Masse zurücksinkt, um mit ihr neue Verschmelzungen einzugehen, bis daraus wieder eine neue Dichtkunst aufsteigt. Die ganze Volksüberlieferung, das Märchen so gut wie Sage und Legende, die Volksmusik und die Volkskunst insgesamt nur als Abfallprodukt höherer Kultur, als ‚gesunkenes Kulturgut‘ zu betrachten, halten wir für völlig falsch. Im Gegenteil: aus dem reichen Bestand volkstümlicher oder gar primitiver Dichtung löst sich das Werk eines einzelnen großen Dichters heraus, lebt nach seinen eigenen Gesetzen und kehrt dann wieder in den gemeinsamen Besitz aller zurück.“15 Der Märchentheoretiker Max Lüthi aber äußerte sich ganz anders: „Als reine Dichtung ist es vermutlich das Werk hoher Künstler, von denen es zum Volke herabkommt. [...] Das Volk ist Märchenträger und Märchenpfleger, kaum Märchenschöpfer. Das Märchen ist, will mir scheinen, ein Geschenk seherischer Dichter an das Volk.“16 Darin stimmte er mit Jan de Vries überein, der geschrieben hatte: „[...] das Volk hat sie [die Dichtungen] einfach übernommen, als die aristokratischen Kreise sie preisgaben [...].17

Max Lüthi, der mehrere Studien zum Wesen des Märchens veröffentlich hat (1943, 1947, 1961, 1962, 1969, 1989), war von 1973 bis 1984 Redakteur der „Enzyklopädie des Märchens“.

Unter dem Einfluss der Lehre von Carl Gustav Jung (1875-1961) nehmen gegenwärtig tiefenpsychologische Kommentare in der Märchenforschung viel Raum ein. Hier ist Eugen Drewermann zu erwähnen. Für Walter Scherf, den Verfasser eines zweibändigen Märchenlexikons mit 1.600 Seiten Umfang, waren die Märchen „psychodramatisches Spielmaterial“.18 Tatsächlich kann die Psychologie erklären, warum ein Märchen, welches aus einer anderen Gesellschaftsordnung stammt, das moderne Publikum – ob Leser oder Hörer – beeindruckt und beschäftigt. Doch die Versuche, die darüber hinausgehen und sich auf die Entstehung der Initiationsmärchen konzentrieren, sind albern, weil es überzeugende Belege für deren sozial-historische Wurzeln gibt.

Hätten die Jünger der Tiefenpsychologie geschwiegen, statt sich an der Deutung von Märchentexten zu versuchen, wären sie vielleicht Weise geblieben, so aber haben sie sich lächerlich gemacht.

Mit Blick auf Propps Ausführungen lassen sich die Märchen wie folgt gruppieren: A) Volksmärchen und B) Kunstmärchen. Die Volksmärchen gliedern sich in zwei Abteilungen. Die eine umfasst erfundene Geschichten, die andere aus Erinnerungen an ehemalige Bräuche gewachsene Erzählungen.

Zu den erfundenen Volksmärchen zählen folgende Arten:

Tiermärchen:

Alltagsmärchen;

die Märchen von der klugen Bauerntochter;

erotische Märchen;

Lügenmärchen:

Schwankmärchen;

Rätselmärchen.

Zu den in Bräuchen wurzelnden Volksmärchen zählen folgende Arten:

die Opferung einer Jungfrau, damit der Herr der Winde günstiges Jagdwetter gewähre;

die Altentötung;

die Saligen-Ehe;

die Opferung einer Jungfrau, damit der Flussgott eine reiche Ernte gewähre;

das versteckte Herz;

die sakralen Könige;

Heirat mit der jüngsten Königstochter, um den Thron zu besteigen;

die Beratung der Sippenältesten an der Wiege eines Neugeborenen;

die kollektive Jugendweihe im Rahmen der Buschschule;

der Zauberer als Ratgeber;

der Flug auf dem Riesenvogel;

die individuelle Jugendweihe in einer Hütte zwischen Dorf und Wildnis;

die individuelle Jugendweihe im Gehöft der Eltern;

der Drache im Brautgemach;

das über Wasser und Land fahrende Schiff.

Weil Antti Aarne über den Hintergrund der Märchen in vielen Fällen nicht Bescheid wusste, ordnete er die von ihm definierten Typen nach formellen Kriterien. Deshalb finden wir Märchentypen, die sich auf die Jugendweihe beziehen, sowohl im Abschnitt mit Zaubermärchen (heute die Typen 300-725) als auch im Abschnitt mit Novellenmärchen (die Typen 850-981). Stith Thompson hat nichts an dieser Einteilung geändert, und Diether Röth hat sie in seinem Verzeichnis natürlich beibehalten.

Die Märchen von der Buschschule sind 3.000 Jahre alt. Auf den ersten Blick ein hohes Alter, aber es liegt auf der Hand, dass einzelne Motive oder ganze Märchen, die auch in Afrika oder sogar in Amerika als Teil der einheimischen Folklore aufgezeichnet wurden, noch viel, viel älter sind. Franz Boas hat im Erzählgut der Indianerstämme von der Nordwestküste Motive gefunden, die aus der europäischen Märchenliteratur bekannt sind: das Wasser des Lebens – die „magische Flucht“ mit Hindernissen – das versteckte Herz – der Knabe im Sack – ein Verschlinger, der von innen getötet wird. Weitere gemeinsame Motive: die Warnung eines Gefährdeten durch eine Maus – ein Mann wird erprobt, indem er in ein Schwitzhaus gehen muss, welches überheizt wird – einem Abwesenden erscheinen Jahre wie ebenso viele Tage – die Erde verbrennt durch zu tiefes Herabsteigen des Sonnenträgers – der halbe Mensch.19 Als Boas die Folklore der nordwestlichen Indianer studierte, gab es noch keinen Katalog der europäischen Märchen. Zwar hat er vermerkt, dass die „magische Flucht“ mit Hindernissen auch bei den Samojeden belegt ist [die beiderseits vom Ural leben]20, doch zu irgendwelchen europäischen Parallelen konnte oder wollte er sich nicht äußern. So fällt in seinem Kommentar auch kein Wort zur Übereinstimmung einer indianischen Sage – es ist die „Ahnensage des Geschlechtes Nē’nelpaē“21 – mit der Siegfried-Sage.

Mit Blick auf den Helden, der die Schätze des Menschenfressers entwendet [AT 328 „Der Knabe stiehlt die Schätze des Unholds“], hat Leo Frobenius festgestellt, dass „in sämtlichen Schichten der amerikanischen Mythologie ähnliche Mythen vorkommen“.22 In Afrika wurden eng verwandte Märchen erzählt, sogar mit weiblichen Helden.

Die Märchen vom Typus AT 480 „Das gute und das schlechte Mädchen“ waren in Europa, Asien und Afrika verbreitet. Held und Unheld (zwei Brüder oder zwei Stiefschwestern oder zwei Ehefrauen usw.) begeben sich nacheinander ins Land der Geister und müssen unterwegs mehrere Entscheidungen treffen. Der Held erweist sich als höflich, mildtätig, hilfsbereit, bescheiden und fleißig, der Unheld als frech, geizig, hartherzig, gierig und faul. Vom Gastgeber wird der Held mit körperlichen Vorzügen oder mit Reichtum belohnt, der in einer Schatulle verborgen ist (z.B. Herden). Der Unheld wird mit Missbildungen oder Unheil bestraft, das in einer Schatulle verborgen ist (z.B. Feuer oder Schlangen). Eine im Kongogebiet aufgezeichnete Variante hat die Natur einer Ursprungsmythe. Als vier Batua sich an den Gott Fidi Mukullu wenden, schenkt er jedem einen Deckelkorb. Zwei der Leute öffnen ihre Körbe schon während des Rückwegs, da flüchten aus den Körben alle Tiere der Steppe, des Waldes, des Wassers und der Luft, sodass man seither auf sie Jagd machen muss. Die andern zwei öffnen ihre Körbe erst im Dorf, da bleiben die Ziegen, die Schafe und die Hühner, die darin waren, bei ihnen (Die Batua23).

Für Märchenfreunde, die keine Gelegenheit hatten, Propps Abhandlung zu lesen oder – sich nicht mit dem lapidaren, langatmigen Stil des Gelehrten anfreunden können, werde ich im Folgenden das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bräuchen und Märchen veranschaulichen.

1 ANTTI AARNE: Verzeichnis der Märchentypen mit Hülfe von Fachgenossen ausgearbeitet. Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia. Toimituksia 1910. (FF Communications No. 3.)

2 VLADIMIR PROPP: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. [Leningrad, 1946.] München und Wien: Hanser, 1987.

3 Mündlich von Margarete Möckel, vormals Stellvertretende Vorsitzende der Europäischen Märchengesellschaft.

4 VLADIMIR PROPP: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. S. 16-18.

5 Ebd., S. 11.

6 GOTTFRIED HENSSEN: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Die güldene Kette. S. 276-277, hier S. 276.

7 FRIEDRICH VON DER LEYEN und KURT SCHIER: Das Märchen. S. 39.

8 Ebd., S. 63-74.

9 Ebd., S. 86.

10 Ebd., S. 83.

11 Ebd., S. 76.

12 Ein Erzähler erzählt, wie ein Erzähler erzählt. In: FELIX KARLINGER: Auf Märchensuche im Balkan. S. 98-102.

13 LINDA DÉGH: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaften. S. 68.

14 MARIA TATAR: Von Blaubärten und Rotkäppchen. S. 81.

15 FRIEDRICH VON DER LEYEN und KURT SCHIER: Das Märchen. S. 178.

16 MAX LÜTHI: Das europäische Volksmärchen. S. 92.

17 JAN DE VRIES: Betrachtungen zum Märchen. S. 178-179.

18 GUDRUN MARIA LEHMANN SCHERF: Nachwort für die Sonderausgabe. WALTER SCHERF: DAS MÄRCHENLEXIKON. S. 1478-1483, hier S. 1479.

19 FRANZ BOAS: Die Entwicklung der Mythologien der Indianer der Nord-Pacifischen Küste. In: Ders.: Indianische Sagen von der Nord-Pacifischen Küste Amerikas. S. 329-363, hier S. 354-363, und zwar die Motive Nr. 199, 55, 146, 96, 185, 198, 126, 87, 36, 69.

20 Ebd., S. 352.

21 Ahnensage des Geschlechtes Nē’nelpaē. In: FRANZ BOAS: Indianische Sagen von der Nord-Pacifischen Küste Amerikas. S. 153-155.

22 LEO FROBENIUS (Hg.): Das Zeitalter des Sonnengottes. Bd. 1, S. 377.

23 Die Batua. In: LEO FROBENIUS: Atlantis. Bd. XII. Dichtkunst der Kassaiden. S. 124-125. Siehe ferner: Haustiere und Jagdtiere. S. 135-136.

Bräuche und Märchen

Der Herr der Winde fordert eine Frau

Für die Wildbeuter war günstiges Jagdwetter lebenswichtig. Der Eskimo-Forscher Knud Rasmussen hat an einer Geisterbeschwörung teilgenommen, die angesetzt worden war, weil seit drei Tagen ein Schneesturm tobte, der die Jagd vereitelte. Es geschah im April 1924 während seiner fünften Thule-Expedition, in der Nähe von Kap Barrow in Alaska. Der Schamane und ein alter Mann, der den Sturm vertrat, beide in Trance, kämpften miteinander auf Leben und Tod. Der alte Mann verlor dreimal sein Bewusstsein, was die Anwesenden als Sieg über den Sturm auslegten. Tatsächlich schien am nächsten Tag die Sonne.24 Doch in der höchsten Not entschloss man sich zu einem Menschenopfer. Der Religionshistoriker James George Frazer gibt Beispiele, wie die Naturvölker vorgingen, um einen Gott gnädig zu stimmen, den man sich als Mann vorstellte: sie opferten ihm eine Frau.25 So handelten auch die Jäger, die dem Wettergott ein Mädchen als Braut zuführten, wenn tagelanger Sturm die Jagd verhinderte. Das Opfer wurde in der Wildnis ausgesetzt und erfror.

An diesen Brauch erinnern zwei im Folgenden zitierte Märchen, das eine wurde bei den Nenzen, das andere bei den Tschuktschen aufgezeichnet. Während die Wohngebiete der Nenzen sich im nördlichen Uralgebiet befinden, teils in Europa, teils in Asien, leben die Tschuktschen auf der nach ihnen benannten Halbinsel, die das Nordpolarmeer vom Beringmeer trennt. Demnach war der Brauch weit verbreitet. (1) Ein alter Mann deutet den langen Schneesturm als Zeichen, dass Kotura, der Herr der Winde, eine gute Frau fordert. Also schickt er seine drei Töchter der Reihe nach zu Koturas Zelt. Der Dämon stellt sie auf die Probe: Sie müssen ein Stück Fleisch kochen, Häute walken und aus diesen ein Gewand, Fellstiefel und Fäustlinge nähen. Nur mit den Leistungen der jüngsten Tochter gibt sich der Dämon zufrieden (Der Herr der Winde26). – (2) Damit der Tundrasturm nicht länger tobe, verspricht ein Tschuktsche ihm die einzige Tochter. Er gibt vor, sie verheiraten zu wollen, und führt das festlich gekleidete Mädchen in ein einsames Waldstück, wo er es an eine Krüppelkiefer bindet. Als seine Frau den Spuren folgt, findet sie die Tochter im Zelt des Tundrasturms. In der Folge erweist der Tundrasturm den Tschuktschen viel Gutes (Das Märchen vom Tschuktschenmädchen, das den Wind heiraten musste27).

Wahrscheinlich entstanden die Märchen aus der Mythe, die den Brauch begleitete. Das Happyend war dazu bestimmt, die Gestalt des geopferten Mädchens zu verklären.

Nun finden wir dasselbe Motiv auch in Märchen, die ehemals im östlichen Europa kursierten. Hier heißt der Dämon, dem das Mädchen zugeführt wird, Junker Frost oder Väterchen Frost. Solche Märchen sind: „Der Frost“28 (russisch) – „Junker Frost“29 (russisch) – „Das Mädchen und Väterchen Frost“30 (lappländisch) – „Der ‚Mrosek‘ und die ungleichen Schwestern“31 (deutsch aus Masuren). Allerdings weicht die Handlung hier in mehreren Einzelheiten ab. Weil die späteren Erzähler nichts vom grausamen Brauch ahnten, auf den sich die Überlieferung bezieht, führten sie eine gehässige Stiefmutter ein, die den Vater zu einer unmenschlichen Tat überredet: Er soll, so heißt es in einer russischen Variante, das Mädchen zu einer Stelle im verschneiten Wald bringen und Junker Frost vermählen. Nicht der Vater, sondern die Stiefmutter ist die treibende Kraft. Das Stiefmutter-Motiv regte andere Erzähler an, den Stoff in die populäre Doppelform AT 480 „Das gute und das schlechte Mädchen“ zu gießen. Nun tritt eine unerwartete Wendung ein: Statt das „gute“ Mädchen zu töten, beschenkt der Dämon es mit einem Pelz und mit einer Aussteuer, weil es ihm höflich geantwortet hat, das „schlechte“ Mädchen aber geht zugrunde.

Das Ende der Altentötung

Dieser Brauch wurde bei den Wildbeutern und Wanderhirten beobachtet. Sie müssen lange Wege zurücklegen, haben aber keine Möglichkeit, bejahrte Verwandte auf einem Reittier oder Wagen mitzunehmen. Überlieferungen, die sich auf die Altentötung beziehen, wurden in Asien, Afrika und Europa aufgezeichnet.

Im europäischen Märchen spielen die genannten Umstände keine Rolle, die späteren Erzähler, die nur mit der Wirtschaftsform des Ackerbaus vertraut waren, gaben als Grund für das Töten der alten Menschen an, dass sie nicht mehr arbeiten können (mithin unnütze Esser sind). So ist es in der bulgarischen Variante „Weshalb man die alten Leute nicht tötet“32, in der rumänischen Variante „Die Alten, die man tötete“33 und in der lettischen Variante „Die Weisheit des Vaters“34. Das Umdenken erfolgt nach einer Hungersnot, weil nur der Mann einen Ausweg wusste, der seinen Vater aus Mitleid verschonte und von ihm heimlich beraten wurde.

Ein Yoruba-Märchen handelt von einem übermütigen jungen König, der ohne den Rat der Alten regieren will und deshalb ehrgeizige junge Männer anstiftet, ihre Väter umzubringen, wobei er ihnen Häuptlingstitel verspricht. Aber dann will er auch die jungen Häuptlinge loswerden, weil sie sich noch mehr in seine Regierung einmischen als früher die alten. Er stellt ihnen die unmögliche Aufgabe, beim neuen Anbau zu seinem Palast mit der höchsten Dachspitze zu beginnen (Der Sohn, der seinen Vater verschonte35). – Mit diesem Märchen ist eine Sage aus dem Elsass vergleichbar: Hier haben die jungen Ratsherren die alten vertrieben, um allein regieren zu können (Die jungen Ratsherren36).

Die Saligen-Ehe

Die Überlieferungen von der Saligen-Ehe beziehen sich auf einen Abschnitt der europäischen Geschichte, als der Begriff „Vater“ schon existierte, aber die Ehe noch ein lockeres Verhältnis war, das leicht gelöst werden konnte. Im Märchen stellt die Salige dem Freier eine Bedingung, die lautet jedes Mal anders; wenn wir alle Bedingungen zusammenrücken, ergibt sich ein Kodex von Rechten. Der Mann darf nicht schimpfen – nicht schlagen – keine Geliebte haben – keine Frage stellen, welche die Mitgliedschaft im Frauenbund betrifft. Außerdem muss er seiner Frau einen Tag freigeben, an dem sie tun kann, was sie möchte.

Dass ein solches Gelöbnis nicht von mir erfunden worden ist, sondern tatsächlich in einer ähnlichen Form geleistet wurde, beweist ein Brauch der Mauren in der westlichen Sahara. Dort war eine von den Bedingungen der Saligen-Ehe bis in unsere Tage Gegenstand eines förmlichen Abkommens zwischen den Eheleuten. Der Mann verpflichtete sich in einem Ehevertrag schriftlich und vor Zeugen, keine weitere Frau zu heiraten und seiner Frau unbedingt die Treue zu halten, andernfalls würde sie sich von ihm trennen. Obwohl der Islam dem Mann mehrere Ehefrauen gestattet, setzten die Maurinnen sich durch. Peter Fuchs hält dies für ein mögliches Erbe ihrer matriarchalischen berberischen Vergangenheit.37

Die Salige lebt im Haus ihres Mannes, wobei wir uns vorstellen müssen, dass der Ehemann der Hausgenossenschaft seiner Sippe angehört, was im Märchen niemals präzisiert wird. Als der Mann sein Versprechen bricht, zieht sich die Salige zurück, kehrt aber von Zeit zu Zeit wieder, um die noch kleinen Kinder zu pflegen. Wo sie sich aufhält, wird im Märchen nicht mitgeteilt. Wir müssen uns hinzudenken, dass sie Zuflucht bei ihrer Sippe gefunden hat und nach der Trennung in deren Hausgenossenschaft lebt.

Übrigens nimmt sie bei der Trennung mit, was sie in die Ehe mitgebracht hat, ein Hinweis auf Gütertrennung. So wird es in einem Märchen aus Wales geschildert (Die Frau aus dem See38).

Als die Institution der Ehe noch auf schwachen Beinen stand, konnten sich die Partner leicht trennen. Die genannten Scheidungsgründe sind zweitausend Jahre älter als die irischen Gesetze, die das Eheleben im Mittelalter regelten, als die Scheidung ebenfalls noch leicht zu bewerkstelligen war – sie konnte aus folgenden Gründen erfolgen: bei falscher Beschuldigung seitens des Gatten – bei Lächerlichmachung durch denselben – bei übler Behandlung durch Beschimpfung oder Schläge – bei offenem Verlassen oder öffentlicher Beschuldigung der Untreue – bei Ehebruch oder Vernachlässigung – beim Nachweis, dass vor der Eheschließung ein Liebestrank verabfolgt wurde – bei Nichteinräumung der häuslichen Rechte.39 Bei den Kpelle in Liberia, die um 1900 noch in einer Stammesgesellschaft lebten, konnte eine Frau die Scheidung beantragen, falls ihr Mann sie schlecht behandelte oder die ehelichen Pflichten nicht erfüllte.40

Durch eine bei den Kpelle gültige Regelung wird die im Märchen vermerkte Pflicht der geschiedenen Frau, sich um die noch kleinen Kinder zu kümmern, als historisch bestätigt: Wurde die Ehe auf Antrag der Frau gelöst, dann verblieben die Kinder dem Manne; einen Säugling aber behielt die Mutter bis zur Entwöhnung, um ihn dann dem Vater zu übergeben.41

Ein Drache sperrt das Wasser

Im Deutschen ist das Wort Drache vieldeutig, es bezeichnet zum einen verschiedene Begriffe des Volksglaubens, zum anderen Funktionen des Stammeszauberers. Diese sind:

der mythische Dämon, der Sonne und Mond raubt (AT 300 A);

das Untier, in dessen Blut Siegfried badet (AT 650 C);

eine Erscheinungsform des Unholds in den Menschenfresser-Märchen (AT 312 D, 327 B);

das geflügelte, mehrköpfige Scheusal, das in regelmäßigen Abständen eine Jungfrau fordert und entweder damit droht, den einzigen Brunnen zu sperren, oder damit, das Land durch eine Überschwemmung zu verwüsten (AT 300);

die Vogel-Maske des Stammeszauberers (AT 461);

der Unhold, der ein herangewachsenes Mädchen entführt (AT 301);

der Unhold, der ins Brautgemach des Königssohns dringt (AT 516).

Die Drachen sehen nicht in jedem Märchen gleich aus. Beim Typus AT 300 „Der Drachentöter“ hat das Untier zwei Vorderbeine, zwei Hinterbeine, zwei Flügel und einen langen Schwanz, öfter auch mehrere Köpfe, die auf je einem langen Hals sitzen. Abweichend davon gleicht der Drache im schottischen Märchen „Assipattle und der Meister Lindwurm“42 einem riesigen Wal. Beim Märchentypus AT 300 A „Der Kampf an der Brücke“ tritt der Drache als Kombination von Mensch und Reptil auf: er reitet auf einem Pferd und kämpft mit den Waffen eines Ritters. Dasselbe gilt für AT 301, 302 C, 312 D, 468. Beim Märchentypus AT 461 „Drei Haare vom Barte des Teufels“ soll der Held in manchen Varianten einem Drachen drei Federn ausreißen. In anderen Varianten soll er einem Vogel – einem Riesen – einem Popanz – einem Teufel drei Federn ausreißen, die alle gleich jenem Drachen Menschenfresser sind. Also handelt es sich in all diesen Fällen um die Vogel-Maske des Stammeszauberers, die aus irgendeinem Grund auch als Drache bezeichnet wird. Nebenbei sei vermerkt, dass der Stammeszauberer auch mit einer Schlangen-Maske aufgetreten ist, aber dann bloß Schlange heißt (Das Schloss mit den Klapptüren43, spanisch, AT 425 A mit vertauschten Rollen + 400).

Vom Drachen, der eine Jungfrau fordert und, je nachdem, mit einer Dürre oder mit einem Flutschlag droht, falls die Forderung nicht erfüllt wird, hat man in Asien, Afrika und Europa erzählt. Die Überlieferungen erinnern mehr oder weniger deutlich an den Brauch, dem Flussgott eine Jungfrau zu opfern; im Märchen trifft das Los gewöhnlich die Königstochter. Das unglückliche Mädchen wurde am Flussufer angebunden (dieses Detail hat sich in mehreren Texten erhalten) und wurde dann von Krokodilen oder anderen Raubtieren gefressen.

Im Katalog der Märchentypen von Antti Aarne (zweimal überarbeitet von Stith Thompson) eröffnet die Geschichte vom Drachentöter den Abschnitt der Zaubermärchen. Erstaunlicherweise wird nicht vermerkt, dass der Drache etwas mit dem Wasser zu tun hat. In den europäischen Varianten blieb diese Beziehung nur ausnahmsweise erhalten. So in einem rumänischen Märchen aus Siebenbürgen – hier haust der Drache im einzigen Brunnen und droht immer wieder, das Wasser zu sperren (Vom zwölfköpfigen Drachen, dem alljährlich ein Mädchen geopfert werden musste44).

Als Einsprengsel finden wir die Geschichte vom Drachentöter in den Zaubermärchen von den geraubten Königstöchtern (AT 301) und in jenen von den zwei Brüdern (AT 303). Im Falle von AT 301 gelangt der von seinen Gefährten verratene Held in eine zweite Unterwelt. Dort besiegt er einen Drachen, der den Brunnen des Königreichs sperrt, worauf ihm der König den Proviant für den Riesenvogel zur Verfügung stellt, der ihn zurück in die Oberwelt befördern will. Im Falle von AT 303 wird die Beziehung des Drachen zum Wasser manchmal vermerkt (Der verwunschene Wald45, slowakisch; Apfelbaum und Birnbaum46, rumänisch aus Siebenbürgen; Die Zwillingsbrüder47, griechisch). Aus anderen Texten ist sie verschwunden (Die zwei Brüder48, deutsch, von den Brüdern Grimm aus mehreren Überlieferungen zusammengesetzt; (Die Zwillingsbrüder49, französisch aus der Gascogne; Die zwei Brüder, die Förster waren50, tschechisch).

Abweichend davon zirkulierte in der Folklore die Sage von einem Drachen, der durch das Zerreißen von Flussufern eine furchtbare Überschwemmung und fiebrige Krankheiten verursachte, bis er durch einen Sendboten Gottes besiegt worden ist. In Österreich, Deutschland, Frankreich und Belgien hat sich das Motiv des Drachenkampfes in Drachenspielen und als Programmpunkt von Umzügen, etwa der Fronleichnamsprozession, bis in die Neuzeit erhalten. Als Sendbote Gottes fungierte meist der Schutzpatron der betreffenden Stadt.51

Propp zufolge ist die Errettung der zum Opfer bestimmten Jungfrau ein irrealer Vorgang, der geraume Zeit nach der Aufgabe des grausamen Brauchs erdichtet wurde. „In der Blütezeit dieses Rituals wäre er [der Retter] als Gottloser, der den lebenswichtigsten Interessen des Volkes zuwiderhandelt, umgebracht worden. Sein Handeln hätte die Ernte in Frage gestellt. Im Märchen ist er ganz im Gegenteil ein Held, der öffentlich geehrt wird.“52 Dessen ungeachtet ist ein solcher Fall aus Nebraska bekannt.53

Der Brauch wurde aufgegeben, als die Menschen sich Rechenschaft gaben, dass sie imstande sind, die Fruchtbarkeit der Felder durch künstliche Bewässerung zu gewährleisten. In Europa waren die mykenischen Griechen Meister der Hydrotechnik, die Belege dafür stammen aus der Mittleren Bronzezeit, d.h. 1600 bis 1200 v.Chr. (ihre Reiche sind um 1200 v. Chr. zusammengebrochen). Natürlich stellt sich die Frage, ob die Vorfahren der mykenischen Griechen, als sie in die Peloponnes einwanderten und die ansässige Bevölkerung unterwarfen, über das Knowhow der Wasserkunst verfügten oder ob sie es von den Einheimischen übernahmen, was wahrscheinlich ist. In den Märchen von der Buschschule tritt ein Mann auf, der für Dammbauten und für das Umleiten von Wasserläufen zuständig ist, er heißt Flüsselenker oder Flüsseaustrockner. Wenn ein Wasserlauf gestaut und umgeleitet wird, dann trocknet das frühere Flussbett aus, also knüpfen die zwei Namen am selben Vorgang an. Als Flüsselenker kommt der Kerl in einem finnischen und in einem aus Spanien stammenden mexikanischen Märchen vor (Der mannhafte Mikko54, AT 650 A + 301 B; Der Bärenhans55, AT 650 A + 301 B). Als Flüsseaustrockner tritt er in einem portugiesischen Märchen auf (Sohn einer Eselin56, AT 301 B).

24 KNUD RASMUSSEN: Rasmussens Thulefahrt. S. 472-487. Thulefahrt – zusammenfassender Name für die sieben Expeditionen, die Rasmussen von 1912 bis 1933 zur Erforschung der von Eskimos bewohnten Gebiete organisierte. Während der fünften Expedition unternahm er eine Schlittenreise entlang der Nordwestpassage, um alle dort lebenden Stämme kennenzulernen.

25 JAMES GEORGE FRAZER: Der goldene Zweig. S. 210-213.

26 Der Herr der Winde (AT ---). In: DIE GOLDENE SCHALE und andere Märchen der Völker der Sowjetunion. S. 321-331. – Unter dem Titel „Chozjain vetrov“ in: M. BULATOV (Hg.): Gora samocvetov. S. 346-355.

27 Das Märchen vom Tschuktschenmädchen, das den Wind heiraten musste (AT ---). In: HARRI FINDEISEN (Hg.): Vom Seehund, der auf Brautschau ging. S. 257-259.

28 Der Frost (AT 480). In: ALEXANDER N. AFANASJEW (Hg.): Russische Volksmärchen. Bd. 1, S. 99-101.

29 Junker Frost (AT 480). In: ERNA POMERANZEWA (Hg.): Russische Volksmärchen. 284-288.

30 A lány és Fagy apó (AT 480). In: LÁSZLÓ SZABÓ (Hg.): A ravasz pókasszony. S. 56-61.

31 Der „Mrosek“ und die ungleichen Schwestern (AT 480). In: ALFRED CAMMANN (Hg.): Märchenwelt des Preußenlandes. S. 196-200.

32 Weshalb man die alten Leute nicht tötet (AT 981). In: KYRILL HARALAMPIEFF (Hg.): Bulgarische Volksmärchen. S. 230-235.

33 Bătrânii ce se omorau (AT 981). In: ELENA NICULIŢĂVORONCA: Datinile şi credinţele poporului român. Bd. 1, S. 130.

34 Die Weisheit des Vaters (AT 981). In: OJĀRS AMBAINIS (Hg.): Lettische Volksmärchen. S. 292-294.

35 Der Sohn, der seinen Vater verschonte (AT 981): In: ULLA SCHILD (Hg.): Westafrikanische Märchen. S. 37-39, hier S. 37.

36 Die jungen Ratsherren (AT 981). In: ULLA SCHILD (Hg.): Sagen und Märchen aus dem Elsaß. S. 285-286.

37 PETER FUCHS: Menschen der Wüste. S. 92-93.

38 Die Frau aus dem See. In: FREDERIK HETMANN (Hg.): Roter Drache, grünes Tal. S. 29-35, hier S. 34-35.

39 MARTIN LÖPELMANN: Erläuterungen und Anmerkungen. In: Ders. (Hg.): Erinn. S. 391-489, hier S. 419. (Mit Berufung auf E. O’CURRY.)

40 DIEDRICH WESTERMANN: Die Kpelle. S. 62.

41 Ebd., S. 63.

42 Assipattle und der Meister Lindwurm (AT 300). In: HANNAH AITKEN und RUTH MICHAELIS-JENA (Hg.): Märchen aus Schottland. S. 106-117. – Unter dem Titel „Aschenpütter und der Meerdrache“ enthalten in: ALFRED EHRENTREICH (Hg.): Englische Volksmärchen. S. 212-227.

43 A csapóajtós kastély (AT 425 A mit vertauschten Rollen + 400). In: LAJOS BOGLÁR (Hg.): A három narancs palotája. S. 94-99, hier S. 94-95. Mit vertauschten Rollen: Die Heldin handelt wie sonst der Held und umgekehrt.

44 Vom zwölfköpfigen Drachen, dem alljährlich ein Mädchen geopfert werden musste (AT 300). In: FRANZ OBERT: Rumänische Märchen und Sagen aus Siebenbürgen. S. 463-465.

45 Der verwunschene Wald (AT 303). In: PAVOL DOBŠINSKÝ: Der verwunschene Wald. S. 12-20.

46 Măr şi păr (AT 303). In: ION POP RETEGANUL: Poveşti ardeleneşti. S. 164-178.

47 Die Zwillingsbrüder (AT --- + 303). In: JOHANN GEORG VON HAHN: Griechische Märchen. S. 125-132.

48 Die zwei Brüder (AT 567 + 303). In: GRIMM, BRÜDER GRIMM: Kinder- und Hausmärchen. KHM 60. Bd. 1, S. 312- 334.

49 Die Zwillingsbrüder (AT 303). In: JEAN FRANÇOIS BLADÉ: Der Davidswagen. S. 55-62.

50 Die zwei Brüder, die Förster waren (AT 303). In: OLDŘICH SIROVÁTKA (Hg.): Tschechische Volksmärchen. S. 135-140.

51 HANS MOSER: Der Drachenkampf in Umzügen und Spielen. In: BAYERISCHER HEIMATSCHUTZ. 30. Jahrgang. München, 1934. S. 45-59, hier S. 55.

52 VLADIMIR PROPP: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. S. 329.

53 Ehemals opferten die Pawnees vor dem Setzen der Maiskörner im Frühjahr eine geraubte Jungfrau. Sie wurde getötet, indem jeder Mann einen Pfeil in ihren Leib schoss; davon erhoffte man eine reiche Ernte. Das war die Morgensternfeier, ein Menschenopfer nach aztekischem Vorbild. Anfang des 19. Jahrhunderts – angeblich im Jahre 1817 – lehnte sich ein Häuptlingssohn gegen diesen Brauch auf. Im kritischen Augenblick durchschnitt er die Riemen am Gerüst, schwang das Mädchen auf sein Pferd und ritt mit ihm davon, um es freizulassen. Erstaunlicherweise wurde er nach seiner Rückkehr nicht bestraft, sondern für seinen Mut bewundert. Es gelang dann dem Häuptling, die Fortsetzung des Brauchs zu verhindern. Siehe: OLIVER LA FARGE: Die große Jagd. S. 62. Jener Held hieß Petalasharo, er lebte von 1797 bis 1852 und stieg vom Häuptling der Wolf-Pawnees zum Oberhäuptling des Pawnee-Stammes auf. Siehe: KUNO MAUER: DAS NEUE INDIANERLEXIKON. S. 242-246.

54