Heinzelmännchen im Heuboden - Hans Fink - E-Book

Heinzelmännchen im Heuboden E-Book

Hans Fink

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Beschreibung

In ganz Mitteleuropa (nach der aktuellen Landkarte acht Länder und Südtirol) erzählte man einst Sagen von hilfreichen Zwergen des Typus Heinzelmännchen, männlichen und weiblichen. Diese Sagen weisen gemeinsame Motive auf: Die Zwerge werden von den Menschen verpflegt. - Sie verrichten Arbeiten, die weder Kraft noch Übung voraussetzen. - Man kann sie zur Hilfeleistung aufbieten - Sie sind konventionell unsichtbar, was entweder durch Schwärzung oder durch eine besondere Kopfbedeckung signalisiert wird. - Sie absolvieren einzeln ein soziales Praktikum. - Man entlässt sie mit einem Anzug von roter Farbe, und das gilt für die Sennengehilfen in Tirol genauso wie für die Schiffsjungen von der Ostsee, die als Klabautermänner bekannt sind. Da es praktisch unmöglich ist, dass die Erzähler sich abgesprochen haben, müssen sich die Sagen auf einen ehemals verbreiteten Brauch beziehen. Jener Brauch ist im frühen Mittelalter aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden. Nachdem die Erinnerung an ihn verblasst war, haben zahlreiche Entstellungen sein Bild verdunkelt und die Forscher verwirrt. Der Verfasser rekonstruiert den Brauch, wobei er sich auf die Jugendweihe der Naturvölker, auf Zaubermärchen und auf die Beschreibung der rumänischen Mädchen-Spinnstube sowie der ukrainischen Mädchen-Spinnstube stützt.

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INHALT

Das Vorhaben

Die Heinzelmännchen und ähnliche Gestalten

Die Saligen Fräulein und ähnliche Gestalten

Heinzelmännchen und Salige Fräulein im Vergleich

Der Aufenthaltsort im Sommer

Der Aufenthaltsort im Winter

Die Verpflegung durch die Bevölkerung

Einsätze nach Bedarf

Hilfe nach Anleitung

Ein soziales Praktikum

Die konventionelle Unsichtbarkeit

Das Gebot der Meidung

Die rituelle Umwandlung in Erwachsene

Die Entlassung

Das Rätsel der fremden Mädchen

Die bestraften Nixen

Der Verleih von Geschirr

Die Leiter der Buschschule

Das soziale Umfeld

Das Ende der Buschschule in Mitteleuropa

Übereinstimmungen in Märchen, Sagen und Brauchtum

Der Abstieg in die Unterwelt

Schwärzung und Unsichtbarkeit

Die Verpflegung

Die Erneuerung des Körpers

Der Unterricht

Im Dienste der Dorfgemeinschaft

Die Schweigepflicht

Eheanbahnung

Entstellungen

Schluss

Die Ortschaften

Bibliografie

Geschichte und Archäologie

Volkskunde und Völkerkunde

Erzählforschung

Sammlungen von Märchen und Sagen

Märchentypen aus dem Aarne-Thompson-Katalog

.

Das Vorhaben

In Mitteleuropa, das bedeutet Frankreich, die Benelux-Länder, Deutschland, Tschechien, Österreich, Südtirol und die Schweiz, hat eine Institution der Gentilordnung, die unter dem Namen Buschschule bekannt ist, bis ins Mittelalter bestanden. Das ergibt sich aus der Analyse der Sagen von den Heinzelmännchen, den Saligen Fräulein und vergleichbaren Gestalten der Folklore: Wichteln, Zwergen, Hollen, Heugüteln bzw. Erdweibeln, Seejungfrauen, Elfen, Nachtfräulein. Deren Urbilder waren Jugendliche, Halbstarke, die an einem spezifischen Ritus teilnahmen und sozialisiert wurden, indem die Dorfgemeinschaft sie als Hilfskräfte zur Erledigung einfacher Arbeiten einsetzte.

Die vorliegende Recherche setzt sich zum Ziel, die Zusammenhänge und die Hintergründe zu klären.

Sowohl ihre völlige Abhängigkeit von den Menschen durch die Verköstigung wie auch die Verrichtung von Hilfsarbeiten aller Art, und zwar auf Bestellung und Anweisung, widerlegen die in der Erzählforschung eingenistete Vorstellung, die hilfreichen Zwerge des Typus Heinzelmännchen und die Saligen Fräulein wären Dämonen des Volksglaubens. Wie vertraulich das Verhältnis war, ergibt sich aus den Mitteilungen, dass die Menschen ihre Mahlzeiten mit ihnen teilten und ihnen Kleinkinder anvertrauten. Die Bewohner vom Kretschhaus zu Lulzhausen in Luxemburg etwa setzten abends das vom Nachtessen Übriggebliebene auf den Küchenschrank, indem sie sagten: „Das ist für die Wichtelcher“, und gingen dann zur Ruhe, ohne das Tischgeschirr vom Tisch geräumt zu haben. Morgens beim Aufstehen fanden die Hausleute das Essgeschirr wohlgescheuert in Ordnung an seinem Platz aufgestellt, das Haus gereinigt und die auf dem Küchenschrank aufgestellten Überreste des Abendessens verzehrt (Wichtlein zu Lulzhausen1).

Die Buschschule, eine aus der Steinzeit stammende Einrichtung, war der Rahmen für die kollektive Jugendweihe.2 Sie lässt sich mit einer Internatsschule unserer Zeit vergleichen. Ihr Standort befand sich im Wald. Dort lernten die Knaben und Mädchen alles, was ein Erwachsener wissen und können musste, um selbstständig für sich und für seine Angehörigen zu sorgen. Irgendwann während der Schulzeit, vermutlich kurz nach der Einschulung, verwandelten der Stammeszauberer und die Stammeshexe sie rituell in Erwachsene.

Diese Einrichtung ist Gegenstand sowohl des Märchens als auch der Sage; Relikte in Form von Bräuchen überlebten bis in die nahe Vergangenheit. Bei der Darstellung macht sich ein deutlicher Unterschied zwischen Märchen und Sagen bemerkbar.

Im Falle der Märchen setzt sich die Handlung aus (z.T. umgedeuteten) Erlebnissen der Zöglinge von ihrer Einschulung bis zu ihrer Rückkehr ins Dorf zusammen. Bis auf den heutigen Tag erfreuen sich Märchen von der Buschschule großer Beliebtheit. Von den 200 Texten der berühmten Grimm’schen Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ enthalten drei Dutzend Motive, die Momenten der kollektiven Jugendweihe entsprechen, unter ihnen so bekannte wie „Der Froschkönig“ – „Marienkind“ – „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ – „Der treue Johannes“ – „Rapunzel“ – „Die sieben Raben“ – „Rotkäppchen“ – „Fitchers Vogel“ – „Die sechs Schwäne“ – „Dornröschen“ – „Sneewittchen“ – „Die drei Federn“ – „Hans mein Igel“ – „Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet“ – „Der Eisenofen“ – „Die weiße und die schwarze Braut“ – „Der Eisenhans“ – „Der Trommler“. Im international gebräuchlichen Verzeichnis der Märchentypen von Aarne-Thompson gehören mehr als 50 Typen zu dieser Kategorie. Besondere Erwähnung verdient der Typus AT 301 „Die drei geraubten Königstöchter“ mit den Untertypen AT 301 A „Die Prinzessinnen in der Unterwelt, AT 301 B „Die außerordentlichen Gesellen“ und AT 301 C „Der Apfelbaum des Königs“, weil die zahlreichen spezifischen Texte den Vorgang der Jugendweihe umfassend wiedergeben.3

Die Natur dieser Märchen hat der russische Erzählforscher Wladimir Propp in einem bahnbrechenden Werk enthüllt, das ist die 1946 in Leningrad veröffentlichte Abhandlung „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“.4

In den Sagen lernen wir die Zöglinge der Buschschule aus der Sicht der Dorfgemeinschaft kennen: Sie helfen bei allen fälligen Arbeiten, dafür werden sie von den Bauern verpflegt; ältere Knaben und Mädchen absolvieren einzeln ein soziales Praktikum auf einem Bauernhof oder bei einem Handwerker. Mit der Buschschule als Zange lässt sich das Rätsel der Hamelner Rattenfänger-Sage knacken, an dem sich viele Volkskundler und Historiker die Zähne ausgebissen haben.

Wenn man von Frankreich absieht, ist die Handlung des Märchens nur ausnahmsweise mit einer Ortschaft verknüpft. Dagegen sind Angaben zum Handlungsort bei den Sagen die Regel.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Märchen und Sagen betrifft ihr Alter. Die Märchen über die europäische Buschschule sind anderthalbtausend Jahre älter als die Sagen über Heinzelmännchen und Salige Fräulein. Ihre Entstehungszeit stimmt mit der Späten Bronzezeit (etwa 1200 bis 800 v.Chr.) überein. Wenn wir davon ausgehen, dass man in der Öffentlichkeit nicht über die Buschschule sprechen durfte, solange sie existierte, lässt sich die Entstehungszeit der Märchen durch zwei Vorgänge eingrenzen: Zum einen durch die Herstellung von Ganzmetallrüstungen aus Bronzeblech, die sich in den Texten widerspiegelt, denn in Mitteleuropa hat die Herstellung von Rüstungsteilen wie Helm, Panzer, Arm- und Beinschienen im 13. Jahrhundert v.Chr. begonnen.5 Zum anderen durch die Verbreitung des Reitpferds, denn in die Märchen von der Buschschule ist das Reitpferd nachträglich eingeführt worden, also hat es diese schon gegeben, als das Reitpferd noch nicht verbreitet war, und das heißt: noch nicht allgemein bekannt war. Folglich muss die Buschschule in Teilen des Kontinents während der Späten Bronzezeit aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden sein.

Damals haben die Menschen auf einem ausgedehnten Areal auf die Buschschule verzichtet. Man darf von einem ausgedehnten Areal sprechen, weil die Märchen zahlreiche gegensätzliche Angaben zur Jugendweihe enthalten:

(A) Wir unterscheiden drei Formen, was das Geschlecht der Teilnehmer betrifft, nämlich: ausschließlich Knaben, ausschließlich Mädchen und die gemischte Gruppe.

(B) Es zeichnen sich mehrere Möglichkeiten ab, wie der Initiand aus dem Elternhaus zur Initiationsstätte gelangte: Er wurde dem Schulleiter bzw. der Schulleiterin übergeben (AT 314, 325, 710). – Die Gruppe der Initianden folgte einer Tier-Maske (AT 303, 311, 313, 405); solche Masken verkörpern Hirsch, Fuchs, Kater, Schwein, Eule. – Man führte das Kind bis in die Nähe der Initiationsstätte, die letzte Wegstrecke bewältigte es allein (AT 502, 709 und rumänische Balladen, die Monica Brătulescu analysiert). – Der Initiand legte den Weg allein zurück (AT 313). – Die Schulleiterin griff sich das Mädchen mit Einverständnis der Eltern (AT 310). – Der Schulleiter und seine Gehilfen inszenierten eine Entführung der Mädchen (AT 301, 302).

(C) Wir stellen fest, dass Knaben und Mädchen in manchen Fällen gleichzeitig an der Jugendweihe teilnahmen und als künftiges Ehepaar nach Hause zurückkehrten (AT 301 und 303 A), während der Knabe in anderen Fällen früher initiiert wurde als seine künftige Braut oder an einem anderen Ort initiiert wurde, denn er holt sie von der Initiationsstätte ab (AT 402, 408, 409 A).

(D) Gemäß einer Vorstellung befanden sich die Initianden während der Ausbildungszeit unter dem Erdboden, gemäß einer anderen in der Tiefe eines Gewässers.

(E) Der Tunnel im künstlich aufgeworfenen Hügel, der angeblich in die Unterwelt führte, weist zwei Profile auf: a) wie der Großbuchstabe [L] und b) wie ein Kellerhals.

(F) Um die Körper der Initianden zu erneuern, haben Zauberer und Hexe sie angeblich verbrannt und wiederbelebt – oder zerstückelt, gekocht und wiederbelebt – oder Organe ausgetauscht.

Auf einem kleinen Gebiet wäre eine derartige Vielfalt nicht möglich gewesen

Warum hatte sich die Buschschule überlebt? Als Gründe dafür kommen die horizontale und die vertikale soziale Differenzierung in Betracht. Die Buschschule war in der egalitären Gesellschaft der Wildbeuter entstanden. Neben die Jäger waren mit der Zeit Viehzüchter und Bauern getreten, Töpfer und Salzsieder, Prospektoren, Bergarbeiter, Schmiede und Händler, parallel damit hatte eine Spaltung in Arm und Reich stattgefunden, sodass die Menschen schließlich auf die gemeinsame Erziehung ihrer Kinder verzichteten. Die vertikale Differenzierung führte zur Entstehung von zwei Hauptklassen: Bauernschaft und Adel. Diese Spaltung ist einerseits in burgartigen Festungen, andererseits in den Grabbeigaben greifbar, die große Unterschiede aufweisen. Die Archäologen registrierten sie auf einem Gebiet, das sich vom Balkan über die Slowakei und Böhmen bis Mittel- und Süddeutschland erstreckt, von der Iberischen Halbinsel über Frankreich bis zu den Britischen Inseln.6

Doch auf einem bedeutenden Teil des Kontinents, nämlich in Mitteleuropa und in Osteuropa, bestand die Buschschule weiter fort. In Mitteleuropa bis zur Verbreitung des Christentums, mit anderen Worten bis ins frühe Mittelalter. Davon künden die Sagen. Auf einem ebenfalls ausgedehnten Areal – Rumänien und Ukraine – hat sich die Buschschule für Mädchen in abgelegenen Dörfern bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Die rumänische Mädchen-Spinnstube wurde von Monica Brătulescu in einem 1978 veröffentlichten Aufsatz beschrieben.7 Brătulescu zitiert wiederholt Aussagen von Frauen, die in ihrer Jugend Mitglied in einer solchen Spinnstube waren. Im folgenden Jahr gelangte die Monografie über die ukrainischen Andreasbräuche von Bohdan Georg Mykytiuk in die Buchhandlungen, aus ihr lässt sich ersehen, dass die ukrainischen und die rumänischen Mädchen-Spinnstuben einander glichen wie Zwillinge.8 Durch seine Komplexität stellt dieser Brauch andere rezente Relikte in den Schatten.

An der rumänischen Mädchen-Spinnstube nahmen die Mädchen vom Eintritt der Pubertät bis zur Heirat teil, dann mussten sie diese verlassen. Ihre Zusammenkünfte fanden von September bis Ostern in einem Haus statt, in dem keine Männer lebten, auf diese Weise konnte sich die Schar von der Öffentlichkeit abschließen. Diese Art Spinnstube hatte den Charakter einer Schule, und zwar einer heidnischen Schule, weshalb die Rumänische Orthodoxe Kirche sie bekämpfte. Leiterin war eine in den Bräuchen bewanderte Frau mit großer Autorität. In ihr erkennt Brătulescu die ehemalige Zauberin, allerdings vermeidet sie dieses Wort, sie umschreibt es wie folgt: „eine Gestalt, die ehemals bei der Initiation eine Rolle spielte“.9 Der Unterricht setzte sich aus Wissensvermittlung, Riten und Übungen zusammen. Aus moderner Sicht umfasste der Lehrplan folgende Fächer: Handwerkliche Ausbildung – Heilpflanzenkunde – Magische Praktiken – Sexuelle Aufklärung – Rechte und Pflichten der Frauen.

Zum Verschwinden der Mädchen-Spinnstube trugen mehrere Faktoren bei: die Textilindustrie, weil sie das Spinnen und Weben in der Hauswirtschaft überflüssig machte – die Schichtarbeit, weil sie regelmäßige Zusammenkünfte vereitelte – der Unterricht in staatlichen Schulen – das Kulturheim – zuletzt das Fernsehen. In der ursprünglichen Form erhielt sich die Mädchen-Spinnstube in abgelegenen Dörfern bis in die dreißiger Jahre, in hybriden Formen (Zusammenkünfte von Mädchen und Frauen in wechselnden Häusern) sogar bis in die fünfziger Jahre.

Auch im westlichen Europa überdauerten uralte Initiationsriten für Mädchen als Relikte die Zeiten. Noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts konnte sie der Sprachforscher und Volkskundler Felix Karlinger in zwei Regionen Italiens, nämlich Apulien und Kalabrien, wie auch auf Sardinien beobachten. Im Folgenden gebe ich wieder, was er mir in einem Brief10 mitgeteilt hat:

„Natürlich kann ich nicht für den heutigen Stand und Zustand zeugen, denn meine praktischen Erfahrungen in der Feldforschung enden etwa mit 1972/73. Aber bis dahin darf gelten, dass die Initiation von Mädchen kurz vor der Reife im romanisch-katholischen Raum in rustikalen Kreisen noch sehr lebendig war. Ich will nur ein Beispiel wählen: Sardinien. Mit Hilfe von zwei Volksschullehrerinnen konnte ich vor allem im Zentrum der Insel solchen Ritualen nachgehen, wenn auch – selbstverständlich! – nie daran teilnehmen. Die entsprechenden Mädchengruppen wurden von zwei oder drei alten Frauen betreut. Die Mädchen hießen nuinantes, wohl weil es mit dem nuinare – neun mal nächtigen – zusammenhängt. Diese Nächte mussten sie außerhalb des Dorfes verbringen unter der Aufsicht der Frauen; untertags kehrten sie entweder nach Hause oder zur Feld- und Gartenarbeit zurück. Nur in einem Dorf (Lanusei) blieben sie den ganzen Tag an dem etwas entlegeneren Ort. Meist stehen solche kleine, oft fensterlose Hüttchen auf einem Berg, sogar unmittelbar neben kleinen Wallfahrtskapellchen, von einer Steinmauer eingefasst. Sie werden cumbessias oder muristenes benannt. Ich habe auch zwei der älteren Frauen kennen gelernt, welche diese Einführung vornahmen; sie haben mir auch Texte auf Tonband gesprochen, die zu diesen Initiationen gehörten: Legendenmärchen, Zaubermärchen auf mythischem Hintergrund, Volkslegenden um christliche Gestalten und Exempla.“

Die älteste Mitteilung über Salige Fräulein stammt vom Bischof Berthold von Regensburg (gestorben 1272); er hat vermerkt, dass man für sie abends bei offenen Fenstern Speisen auf den Tisch der Wohnstube stellte.11 Die Mitteilung ist nicht stichhaltig, weil von Berthold keine authentischen Predigten erhalten blieben. Doch bieten zahlreiche Sagen Anhaltspunkte wie Namen von Ortschaften, Höfen und Straßen – sie können erst entstanden sein, als jene Ortschaften, Höfe und Straßen schon existierten. Genauso die Sagen über hilfreiche Zwerge. Man kann diese Angaben nicht ignorieren.

Die Buschschule für Mädchen, die sich in den Sagen über die Saligen Fräulein abzeichnet, ist eindeutig archaischer als die rumänische Mädchen-Spinnstube zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

(A) Die Saligen Fräulein hausten den Sommer über in einer dürftigen Unterkunft in der Nähe des Dorfes. Sie wurden von den Bauern mit Nahrung versorgt. Bei kollektiven Hilfsarbeiten erhielten sie einen Imbiss. Wer ein individuelles soziales Praktikum in einem Bauernhof absolvierte, wurde dort verköstigt. Bei Winterbeginn kehrten die Mädchen nicht ins Elternhaus zurück, sondern fanden Aufnahme in einem anderen Bauernhaus. – Die Mitglieder der rumänischen Mädchen-Spinnstube versammelten sich von September bis Ostern regelmäßig in einem Haus, in dem keine Männer lebten, wohnten aber bei ihren Eltern.

(B) Die Saligen Fräulein waren konventionell unsichtbar, und das bedeutet, dass sie sich geschwärzt haben, um den Zustand des Todes zu veranschaulichen. – Die Mitglieder der rumänischen Mädchen-Spinnstube pflegten zwar Riten, die eine Beziehung zwischen Pubertät und Tod andeuten, aber sie schwärzten sich nicht. Gemeint sind folgende Riten: Das Mahl der Schar hieß Totenmahl der Mädchen-Spinnstube (pomana şezătorii). Bei den Zusammenkünften wurden mimisch Bestattungen dargestellt. Es gab ein Umsingen für die Toten (colinde de mort). Gelegentlich der Lioară, eines zu Ostern und Pfingsten geübten Brauchs, tanzte man auf dem Friedhof. In manchen Ortschaften webten die Mädchen vor dem Totensamstag ein Erfolgshemd (cămaşă de izbîndă) für die Toten. Manche Spiele mit betont erotischem Charakter wurden auch im Rahmen der Totenwache praktiziert.

(C) Die Saligen Fräulein erledigten unentgeltlich Arbeiten im Haus, auf dem Hof und auf dem Feld. Einzelne Fräulein hielten sich längere Zeit im selben Hof auf, aber es bestand kein Dienstverhältnis, denn sie erhielten keinen Lohn, nur die Kost und beim Abschied ein Gewand. – Im Falle der rumänischen Mädchen-Spinnstube ist nichts über kollektive oder individuelle Arbeitseinsätze bekannt.

Die meisten Sagen über Salige Fräulein stammen aus der Alpenregion, aber es gibt analoge Informationen über vergleichbare Gestalten aus anderen Gebieten, z.B. aus dem Schwarzwald.

Nach dem Verschwinden der Buschschule aus der sozialen Wirklichkeit haben die Dorfgemeinschaften nicht auf die Bräuche verzichtet, die zu ihrem Repertoire gehörten, sondern pflegten sie weiter, sei es aus wirtschaftlichen Gründen, sei es aus religiöser Überzeugung, sei es aus Gewohnheit.

Umzüge in der Neujahrszeit fanden in historischer Zeit in zahlreichen Ländern statt. Zusammen mit vielen Sagen erinnern sie an einen komplexen Fruchtbarkeitsritus, dessen Träger die Zöglinge der Buschschule waren, angeführt von der Stammeshexe und Schulleiterin. Das Programm des Umzugs umfasste – insgesamt – folgende Elemente: die Berührung mit der Lebensrute – rituelles Pflügen und Säen – Lieder mit Segenswünschen für die Wirtsleute – den Tanz vor dem Haus, in den die Frauen und die herangewachsenen Mädchen hineingezogen wurden – das Aufführen einer Posse. Von der Lebensrute wird berichtet aus England, Belgien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Kroatien, Rumänien und Bulgarien. Vom rituellen Pflügen wird berichtet aus England, Dänemark, Ukraine, Rumänien und Griechenland.

Das gemeinsame Quartier der Burschen. An den Charakter der Internatsschule, der für die alteuropäische Buschschule spezifisch war, gemahnt das gemeinsame Quartier der Burschen, die im südlichen Siebenbürgen, im Alt-Land (Ţara Oltului), aber auch in anderen Gebieten mit rumänischer Bevölkerung, an den Neujahrsumzügen teilnahmen. Dieser Brauch hat bis in die Zwischenkriegszeit bestanden.12

Dem gemeinsamen Quartier der Burschen im Alt-Land entspricht ein im nordwestlichen Thüringen gepflegter Brauch. In der Ortschaft Flarchheim (westlich von Bad Langensalza) stand den Pfingstburschen ursprünglich etwa fünf Wochen lang – vom Aufstellen der Pfingstmaie (Birke) am Pfingstsonnabend bis zu dem Tag, an dem diese umgeschmissen wurde – ein entsprechend geräumiges Haus für Versammlungen und Schmausereien zur Verfügung; es hieß Gelag. Das Auslosen der heiratsfähigen Mädchen (wie anderwärts beim Mailehen) fand in Flarchheim auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch statt.13

Genauso – Gelage (Jeloach, Gelog) – hieß in der Eifel die zeitweilige Vereinigung, die eine besondere öffentliche Veranstaltung vorbereitete, wie Mailehen, Maispiel, Feste und Feiern im Zusammenhang mit Pfingsten und mit der Kirmes, falls es keinen zuständigen Verband gab. Die Aufnahme in die Vereinigung erfolgte im Alter von 16 bis 18 Jahren. Deren Mitglieder hießen Große Jungen (Jruß Jonge).14 Den Großen Jungen standen die Großen Mädchen (Jruß Mädcher) zur Seite, die ebenfalls in einer Vereinigung zusammengeschlossen waren, im Rosengarten, den eine Seniorin präsidierte.

Die Selbstständigkeit der Großen Jungen und Großen Mädchen wurde durch Obliegenheiten gegenüber der Dorfgemeinschaft beschränkt. Bei Hochzeiten, in Krankheitsfällen, in Todesfällen, bei Beerdigungen und an kirchlichen Feiertagen fielen ihnen laut Tradition bestimmte Aufgaben zu.15 Obwohl die rumänische Mädchen-Spinnstube in ihrem Wesen heidnisch war und von der Orthodoxen Kirche verfolgt wurde, während der Rosengarten streng katholisch war, ist die Parallele unverkennbar. Die Mitglieder der Mädchen-Spinnstube erlernten u.a. die Rolle der Frauen bei Begräbnissen; die Mitglieder des Rosengartens lernten, wie man die Kirche schmückt und Blumengebinde für Prozessionen anfertigt.

Die rituelle Umwandlung in Erwachsene. In Böhmen gingen zu Weihnachten als Peruchten bezeichnete weibliche Masken von Haus zu Haus und mimten an jungen Burschen das Aufschneiden des Bauches – eine Anspielung auf den „zeitweiligen Tod“ durch den Austausch von Organen. Dafür wurden sie beschenkt. Dieser Brauch überlebte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – „nach 1867, als die Gendarmen aufkamen, hörte der Brauch nach und nach auf.“16

Die Mädchenhütte. In Mazedonien, und zwar im Skopje-Becken und im nördlich davon gelegenen Crna-Gora-Gebirge, war es bis zum Ersten Weltkrieg üblich, dass die Mädchen vom achten Lebensjahr an im Winter den ganzen Tag in einer besonderen Arbeitshütte verbringen, die in den Dunghaufen eingetieft war. Diese hieß Mädchenhütte (devojačka kućarica). Dort übten sie sich im Sticken und Nähen, Spinnen und Weben. Sie wurden von einem erwachsenen Mädchen angeleitet. Zuletzt fertigten sie ein gesticktes Hemd an, welches zu ihrer Mitgift gehörte. Sobald das Hemd fertig war, konnte das Mädchen noch im selben Jahr heiraten.17

Kreuzbrüderschaft. Der Brauch, sich zeremoniell zu verbrüdern, war im rumänischen Banat noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebendig.18 In Montenegro, wo sich archaische Gemeinschaftsbräuche am besten erhalten haben, sogar noch im 20. Jahrhundert.19 So wie die Absolventen der Buschschule einander beispringen sollten, verpflichtete die Kreuzbrüderschaft zu gegenseitiger Hilfe in jeder Notlage.

Gemeinschaftsmähler. Für die festlichen Mahlzeiten der ukrainischen Spinnstuben-Gemeinschaften brachten entweder die Mädchen Lebensmittel von zuhause mit oder die Buschen stahlen sie zusammen. „Diebstähle dieser Art galten im Rechtsempfinden der Dorfgemeinschaft als ‚Bagatelldelikte‘, die nicht geahndet wurden, insbesondere wenn die Burschen am Kosmos-und-Damians-Tag die Hühnerställe plünderten.“20 Dieser Mundraub hat Entsprechungen in Afrika, z.B. im Brauchtum der Bambara in Mali21, der Kpelle in Liberia22 sowie der Ukuanyama in Namibia23, und hängt mit dem Motiv der Räuber in den Märchen von der Buschschule zusammen.24

Erstaunlicherweise hat sich der geschilderte Brauch sogar innerhalb der zusammengewürfelten Volksgruppe der Banater Schwaben im rumänischen Banat bis in die Zwischenkriegszeit und von Fall zu Fall bis nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Die Beauftragten der Kameradschaft besorgten das Fleisch für ihren Paprikasch-Abend, indem sie die Hühnerställe der Mädchen visitierten, zu denen sie in die Reih gingen (eine aus der Spinnstube hervorgegangene Unterhaltung). Notfalls wurden auch die erforderlichen Zwiebeln und der Rote Paprika gestohlen. In manchen Dörfern lud man die Mädchen zum Mahl ein. Den Wein spendierten Erwachsene, und zwar ehemalige Mitglieder der Kameradschaft oder Väter von Mitgliedern, wenn sie – angeblich durch Zufall – zur Gesellschaft stießen.25 Die Vorfahren der Banater Schwaben stammten überwiegend aus dem Westen und Südwesten des Heiligen Römischen Reiches. Sie waren im 18. Jahrhundert von den Wiener Kaisern in den von den Türken zurückeroberten Gebieten angesiedelt worden. Nach der politischen Wende 1989 haben die meisten der noch in Rumänien lebenden Deutschen die Gelegenheit wahrgenommen und das von der kommunistischen Diktatur ausgemergelte, von politischen und wirtschaftlichen Krisen gebeutelte Land verlassen.

Im Lichte der Fachliteratur erscheint mein Vorhaben vermessen. Im „Wörterbuch der deutschen Volkskunde“ wird die Entstehung des Zwergen-Mythos durch kleinwüchsige Kelten und Slawen erklärt26 (während Paul Herrmann noch gemeint hatte, dass in den Zwergsagen der Kelten und Germanen die Erinnerung an ein kleines Geschlecht, die sogenannten Pfahlbauern, fortlebt27). In der „Enzyklopädie des Märchens“ werden die Zwerge als kleinwüchsige, menschenähnliche Wesen der niederen Mythologie vorgestellt.28 Ein langjähriger Redakteur der „Enzyklopädie“, Hans-Jörg Uther, definiert die hilfreichen Zwerge als Hausgeister: „Der Hausgeist ist meistens ein Einzelwesen: Er ist für die Bewohner des Hauses nicht sichtbar, wird aber stets mit Essen und Trinken versorgt, weil er als eine Art Schutzgeist gilt, der Glück und Segen über das Haus bringt. Oft verrichtet er auch heimlich die Hausarbeiten, dann wird er als Heinzelmann oder Heinzelmännchen bezeichnet. Solche Vorstellungen sind seit alters überliefert und haben besondere Popularität in der Gestalt der Heinzelmännchen von Köln gefunden. Der Dichter August Kopisch (1799-1853) stellte die Heinzelmännchen 1836 in einem Gedicht erstmals vor: In der Nacht bauten sie für den Zimmermann die Häuser, backten für den Bäcker das Brot, nähten für den Schneider die Kleider etc. […].“29 An einer Stelle der „Enzyklopädie“ wird postuliert, dass die Grundlagen des Hausgeisterglaubens, in dem sich Wunschprojektionen besonders agrarisch strukturierter Lebensgemeinschaften ausdrücken dürften, im menschlichen Sicherheitsverlangen liegen.30 Die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth hält das „kleine Volk“ für eine ursprüngliche, matriarchale Bevölkerung31. Das Wort Salige kommt in der „Enzyklopädie des Märchens“ als Stichwort gar nicht vor. Die Vertreter der traditionellen Erzählforschung zählen die Saligen zu den Naturdämonen.32, 33, 34, 35, 36, 37

Wieso die Wissenschaftler sich mit den zitierten Deutungen abgefunden haben, ist unbegreiflich angesichts der zahllosen Überlieferungen aus acht Ländern, die in wesentlichen Details übereinstimmen. Wer diese unvoreingenommen analysiert, gelangt zu einer rationalen Erklärung.

Die menschliche Natur der angeblich dämonischen Wesen wird überzeugend durch ihre Vergnügungen und Streiche offenbart: Wenn der Bauer im Saale-Tal seinen vollen Erntewagen von steilen Höhen herab nach Hause fuhr, saß oft ein Heimchen, bekränzt mit Ähren, jubelnd auf dem Zugvieh.38 – Eine besondere Belustigung für die Bergmännchen vom Pleschberg bei Ardning war es, auf dem Rücken der Rinder zu reiten (Die verwünschte Alm39, aus der Steiermark). – Wenn im Martelltal die Knechte im Herbst das Heu auf Schleipfenwagen herausführten, kamen die Bergfräulein, setzten sich auf die Heufuder und fuhren oft so weit mit, dass die Knechte sie mit ihren Geißeln herabjagen mussten (Die wilden Bergfräulein in Martell40, aus Tirol).

Bedenkenswert ist auch die Geschichte der Jungfrau aus dem See von Oberellenbach, die zur Kirmes auf dem Wacholderberg kam. Statt sich am Abend mit ihren Schwestern zu entfernen, blieb sie die Nacht über bei ihrem Tänzer und kehrte erst gegen Morgen in den See zurück. Nach Verlauf von drei Vierteljahren wurde eines Tages die Kinderfrau von Oberellenbach gerufen, einer Wöchnerin im See beizustehen (Der See bei Oberellenbach41, aus Hessen). Hier haben die Erzähler die örtliche Überlieferung mit der weitverbreiteten, auch in Afrika bekannten mythischen Erzählung vom Besuch der Hebamme bei der kreißenden Zwergin verknüpft.

Wir dürfen annehmen, dass die Buschschule als Einrichtung der Urbevölkerung Europas auf dem gesamten Kontinent üblich war. Die Annahme stützt sich a) auf die Relikte in Form von Bräuchen in einem Gebiet, das von Rumänien und der Ukraine über Mitteleuropa bis Apulien, Kalabrien und Sardinien reicht – b) auf die Sagen von den Heinzelmännchen und Saligen Fräulein, die aus Mitteleuropa stammen – c) auf die Erkenntnis der Archäologen, dass in der Späten Bronzezeit auf einem ausgedehnten Areal Änderungen in der sozialen Struktur feststellbar sind (siehe oben), wobei diese Erkenntnis mit der Analyse spezifischer Märchen übereinstimmt.

Die Heinzelmännchen und ähnliche Gestalten

Bei näherer Betrachtung stellen wir fest, dass die Heinzelmännchen nur eine Gruppe der zahlreichen Gestalten bilden, die man unter dem Begriff „Zwerge“ zusammenfasst. Sie verrichten Arbeiten im Haushalt, auf dem Feld und im Steinbruch, sie dienen als Hirten, helfen in der Sennhütte, in der Mühle, in der Werkstatt und im Bergwerk, ja sogar auf einem Schiff, und werden dafür verköstigt. Mit ihnen identisch sind die Zwerge, die bei Hochzeiten und Kindstaufen Geschirr verleihen, aber auch die Zwerge, die Erbsen von den Feldern, Brot und andere Nahrungsmittel aus den Häusern stehlen. Dagegen unterscheiden sie sich funktional von den Unterirdischen, die mit der Bauernfamilie in Streit geraten, weil der neue Stall sich über ihrer Wohnung befindet.42 Desgleichen von jenen, die eine Hebamme rufen lassen.43 Die Mitglieder dieser Gruppe gehören keiner Zwergen-Familie und keinem Zwergen-Volk an (obwohl die Erzähler es unter dem Einfluss anderer Sagenkreise nicht selten so darstellen). Sie haben auch nichts gemein mit den zauberkräftigen Zwergen, die dem „guten“ Mädchen beispringen, als es von der Stiefmutter in den verschneiten Wald geschickt wird, um ihr Erdbeeren bzw. Heidelbeeren zu bringen (Die drei Männlein im Walde44, aus Hessen, AT 480; Die Stiefgeschwister45, aus Niedersachsen, AT 480).

Die hilfreichen Zwerge sind wohlbekannte Gestalten der deutschen, französischen, niederländischen, luxemburgischen, belgischen, österreichischen, tschechischen und schweizerischen Folklore. Wie verbreitet die einschlägigen Sagen im deutschen Sprachraum waren, geht indirekt aus den Namen der Wasserläufe hervor, die sie angeblich überquerten, um ihre alte Heimat zu verlassen, weil sie sich gestört fühlten oder weil man sie vertrieben hatte: Ems, Rhein, Weser, Leine, Aller, Saale, Elbe, Eider, Trave, Schwalm, Werra, Weiße Elster, Neiße, Eger, Drau. Sogar auf Rügen wurde von einer Überfahrt der Zwerge erzählt, dort flüchteten sie angeblich aus Wittow auf die gegenüberliegende Seite der Insel und ließen sich in den Banzelvitzer Bergen nieder (Auswanderung der Zwerge aus Wittow46).

In Hessen, wo man von Wichteln erzählte, hat sich die Erinnerung an diese Altersklasse in zahlreichen Flurnamen niedergeschlagen. Dazu vermerkte Karl Lyncker Mitte des 19. Jahrhunderts:

„Von den Wichtelmännchen hört man überall in Althessen, von der Diemel bis zur Werra, Schwalm und Lahn, und an vielen Orten werden noch Felsenritzen und Höhlen gesehen, worin sie gewohnt haben.

Um Rotenburg herum findet man bei Erkshausen ein Wichtelfeldchen und einen Wichtelgraben, bei Richelsdorf eine Wichtelkammer, bei Süß einen Wichtelstein.

Bei Abterode hinterm Weißner wird ein Wichtelloch gezeigt. Bei Datterode liegt ein Wichtelberg. Im Otterbachstein zwischen Allendorf und Osterrode, im Burgberg bei Ermschwerd und bei Laudenbach haben Wichtel gehaust.

Unfern Cassel [Kassel] bei Sandershausen liegt ein Wichtelberg und eine Wichtelbreite, und in der Wichtelwiese der Wichtelborn.

In der Nähe von Homberg sieht man bei Mühlbach einen Wichtelberg, bei Holzhausen eine Wichtelhecke und dabei unter zerrissenem Gestein eine Wichtelkirche.

Über Ernsthausen bei Frankenberg liegt auf einem Berge das Wichtelhaus, eine Höhle, die von Wichtelmännchen bevölkert gewesen sein soll.“ (Wichtelwohnungen.47)

Bei Jestädt, heißt es in einer anderen Mitteilung, zeigt man noch den Wichtelanger, auf welchem sie sich herumtummelten, eine Wichtelkirche und eine Wichtelküche (Wichtelanger, Wichtelkirche und Wichtelküche48).

Was lesen wir in einem hessischen Sagenbuch? „In vielen Gegenden unseres lieben Hessenlandes gab es ehemals Wichtelmännchen, Wichteln oder Erdmännchen. In anderen Ländern werden sie Zwerge genannt. In Viermünden heißen sie Heinzelmännchen, in Niederelsungen die guten Hollen, in Kelze bei Hofgeismar Wispelmännerchen, im Schaumburgischen Mäumken, d. i. Mütterchen. An sie erinnern noch die Namen Wichtelberg, Wichtelhecke, Wichtelstein, Wichtelloch, Wichtelkammer, Wichtelkirche, Wichtelhaus u. a.“ (Die Wichtelmännchen und Schuster Jobst in Eschwege49.)

Im „Hessischen Flurnamenarchiv Gießen“ sind 19 Flurnamen mit dem Wort Heinzel, 61 Flurnamen mit dem Wort Wichtel und 66 Flurnamen mit dem Wort Zwerg eingetragen. Davon sind a) 9 historisch und 10 rezent; b) 30 historisch und 31 rezent; c) 61 historisch und 5 rezent. Sie beziehen sich u.a. auf Wege, Felder, Wiesen, Gräben, Anhöhen (z.B. Heinzelberg, Wichtelskopf, Zwerghöhe) und auf Höhlungen (z.B. Heinzelkammer, Wichtelloch). Merkwürdig sind die Flurnamen Wichtelhäuser (bei Treisbach und Wetter) sowie Wichtelkirche (bei Holzhausen und Zierenberg).50

Im Harzgebirge, das sich nordöstlich von Hessen ausbreitet [heute auf dem Territorium von drei Bundesländern], gibt es kaum ein Felsenloch oder eine Höhle, die nicht von Zwergen bewohnt war (Von den Zwergen des Harzes51).

Der Sammler der mecklenburgischen Sagenwelt Richard Wossidlo kannte neun Mönkenberge (d.h. „Männchenberge“) in Mecklenburg, außerdem Erhebungen, die Zwerchenbarg oder Ünnerierdsch-Barg hießen.52

Johann Wilhelm Wolf, der in den Niederlanden Folklore aufzeichnete, berichtete im Jahre1843: „In den wallonischen Landen findet man keinen Flecken und kein Dorf, welches nicht eine Zwerghöhle oder ein Zwergloch besäße.“ (Zwergschmieden.53)

Eine Anhöhe bei Beggen in Luxemburg hieß op de wichtelcher; mit dieser Mitteilung verband Paul Zaunert den Vermerk, dass solche und ähnliche Flurnamen sich häufig finden.54

Auf dem Gebiet der Gemeinde Feldthurns in Südtirol (italienisch: Velturno) heißt der Fußweg zwischen dem Dorf Feldthurns und dem Weiler Schrambach bis heute Törggelesteig.

Nach dem „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ gilt der Name Zwerg vor allem in Mitteldeutschland vom Rheinland und Harz bis zur Lausitz, doch auch hier neben anderen Namen.55 Er dient als Gattungsname für alle vergleichbaren männlichen Helfer, die oft anders heißen. Im deutschen Sprachraum verbreitete Bezeichnungen sind: Zwerge, Wichtel, Männlein und Hollen. Man nennt die Helfer ferner: Aulken (Emsland), Sgönaunken (Osnabrück), Gupel, Heimchen, Zinselmännchen, Böhlersmännchen, Schlätzla, Hütchen (Thüringen), Lutken (Lausitz), Schrazen (Bayerischer Wald), Orgen (Tirol), Fänggen (Ostalpen), Schrätteli (Schweiz).56 Ein lokaler Name ist Killewittchen. So hießen sie im Eschweiler Wald am Niederrhein. Laut Paul Zaunert erinnerte an sie „heute noch“, das heißt 1924, der Flurname Im Killewittchen beim Dorf Hastenrath.57 Ein anderer lokaler Name ist Fähnskedinger im ehemaligen schlesischen Kreis Falkenberg.58

Nach dem tatsächlichen oder angeblichen Aufenthaltsort während der Jugendweihe heißen die Helfer: Unterirdische, Erdmännlein, Seemännlein, Moosmännlein, Bergmännchen bzw. Erdweiblein, Seejungfrauen, Holzweibchen, Holzweiblein, Buschweibchen. Außerdem gibt es Bezeichnungen, aus denen hervorgeht, wie und wo sie sich nützlich machten: Futtermännchen, Futterknecht, Buttermännchen, Dreschmännel, Kasmandl, Kasertörggelen, Sennenzwerg, Almlotterle (Landwirtschaft); Kohlenmandl (Köhlerhandwerk); Grubenmandl, Stollenmandl (Bergbau), Erzmännchen, Hüttenmännchen, Hüttenkobold (Metallgewinnung und -verarbeitung).

Im Erzgebirge nannte man die kleinen Helfer Heugütel, weil sie sich in der Scheune aufhielten, wo das Heu untergebracht war (Breitenbrunn: Das Heugütel59).

Zweideutige Bezeichnungen sind Hausgeist und Kobold. Sie meinen einerseits den fleißigen, bescheidenen Helfer, andererseits den tückischen, tyrannischen Quälgeist.

Sowohl die Vielfalt der Bezeichnungen als auch die Verbreitung der Sagen und die Häufigkeit der alten Flurnamen mit Bezug auf die hilfreichen Zwerge hätten die Erzählforscher davor warnen müssen, jene als Erfindungen abzutun.

Die auf die Körpergröße bezogenen Bezeichnungen Zwerge, Wichtel, Heinzel, Männlein scheinen als Spottnamen für neu eingeschulte Initianden gebraucht worden zu sein. Sie sind mit der Bezeichnung Dummling vergleichbar, die eine direkte Entsprechung in Namen für die Novizen in Westafrika hat: Im Falle des Nkimba-Bundes in der Katarakten-Gegend des Kongo kehrten die Ausgebildeten als tongwata (d.h. „Eingeweihte“) in das profane Leben zurück, man unterschied sie von den mungwata oder mungwala (d.h. „Uneingeweihten“).60 – Im Falle des Ndembo-Bundes im Kongo-Becken hoben sich die Erwachsenen als nganga (d.h. „Wissende“) von den uneingeweihten Kindern ab, die man mit vanga bezeichnete.61 – Bei den Kpelle in Liberia hießen die Absolventen der Poro-Schule kena nu (d.h. „eingeweihter Mensch“). – In der Gola-Sprache gab es sogar je eine besondere Bezeichnung für die Knaben, die die Poro-Tänze verstehen: ewoeda, und für die Knaben, die sie noch nicht verstehen: ekende.62 – Die Kpelle-Mädchen, welche im Sande-Busch die Tänze erlernt hatten, gehörten dem Tanz-Sande an und hießen deshalb Tanz-Frauen. – Bei den Gola hießen die Mädchen, welche das Tanzen noch nicht gelernt hatten, wie die entsprechende Knabenklasse: ekende.63

Der im Saale-Tal übliche Name Heimchen, ein Synonym für Grille, könnte ebenfalls ein Spottname gewesen sein. Eine deutsche Sage aus Nordsiebenbürgen stellt die Helfer der Bauern und Köhler als die Kleinen vor (Die „Kleinen“ aus dem Wald64). Die Vorfahren der Siebenbürger Sachsen, die diese Sage erzählten, sind ab dem 12. Jahrhundert auf Einladung der Könige von Ungarn in Transsilvanien eingewandert, ins „Land jenseits der Wälder“, die ersten Gruppen kamen aus dem Rheinland.

Offenbar haben spätere Erzähler die Spottnamen als objektive Bezeichnung aufgefasst.

Nun wird die Vorstellung von kleinwüchsigen Menschen fürs Erste durch Sagen widerlegt, die davon handeln, dass die Bauern, sooft ein Fest bevorstand, sich von den Zwergen Gefäße zum Kochen, Brauen und Essen borgten. Als Gegenleistung erhielten die Zwerge etwas von den festlichen Speisen: Braten – frisches Bier – frisches Brot – Kuchen.

Wir haben solche Sagen u.a. mit Bezug auf Scharfenberg im Hochsauerland (Die Hollen bei Scharfenberg65) – Rübeland im Harz (Zwerge in Rübeland66) – Lautenthal im Harz (Spar-die-Müh und die Zwerge am Bielstein I67) – Dardesheim im Harz (Die Zwerge bei Dardesheim68) – Jena im mittleren Saaletal (Die Zwerge in den Teufelslöchern69) – Tauchlitz im thüringischen Holzland (Die Braupfanne auf dem Mühlberge bei Krossen70) – Hitzacker an der Niederelbe (Zwerge bei Hitzacker71) – Plau in Mecklenburg (Unterirdische in Plau72) – Teschow in Mecklenburg (Unterirdische bei Teschow73).

Eine Überlieferung aus dem Harz verdient hervorgehoben zu werden: In ihr wird mitgeteilt, dass die Bewohner von Dardesheim sich an die Zwerge wandten, sobald sie a) ein selteneres Gerät und b) ein Feierkleid brauchten (Die Zwerge bei Dardesheim74).

Aus dem Motiv des Verleihs von Geschirr und Kleidern ergeben sich mehrere Fragen. Zunächst die Frage nach der Identität der Zwerge, wenn sie nicht kleinwüchsig waren. Wenn die Zwerge so klein gewesen wären, wie man sie oft beschreibt, hätten die Menschen weder mit ihrem Geschirr noch mit ihren Kleidern etwas anfangen können. Dann die Frage nach der Herkunft des als selten bezeichneten Geschirrs. Schließlich verlangt eine auf den ersten Blick unscheinbare Parallele nach Aufklärung: Der Grînkenschmied, auch eine Sagengestalt, leiht ebenfalls Gerät aus, nämlich einen Bratspieß, und erhält zum Dank ein Stück Braten, das geschieht bei Hochzeiten wie auch zu Ostern und Pfingsten (Sagen vom Grînkenschmied75, aus dem Münsterland).

Höchst merkwürdig ist die Beschränkung der als Zwerge bekannten Gestalten auf Mitteleuropa. In der polnischen Überlieferung blieb das Auftreten der Zwerge auf die westlichen Grenzgebiete beschränkt, woraus Indira Malcher den Schluss zog, sie seien teutonischen Ursprungs.76 In der rumänischen Folklore kommen Zwerge nur sporadisch vor.77 Friedrich S. Krauss hat mit Verwunderung festgestellt, dass die Südslaven kaum Zwergen-Sagen kennen.78 Italo Calvino hielt im Kommentar zu einer „Schneewittchen“-Variante fest, dass Zwerge in der mündlichen italienischen Überlieferung so gut wie unbekannt sind.79 Die „Schneewittchen“-Varianten, die außerhalb des deutschen Sprachraums aufgezeichnet wurden, bestätigen die Abgrenzung, denn hier findet die Heldin Zuflucht in einem Häuschen oder in einem Schloss, in dem Brüder, Räuber, Drachen, Recken oder Jäger wohnen. Nur Island bildet eine Ausnahme, in der isländischen Variante gelangt die Heldin ebenfalls zu Zwergen und heiratet zuletzt einen deutschen König (Schneewittchen80, AT 709). Die Bezeichnung Räuber ist, wie schon vermerkt, ein im Märchen verewigter Spottname. Sie bezieht sich auf die Erlaubnis, während eines Abschnitts der Jugendweihe Nahrungsmittel zu stehlen.81AT 709 „Schneewittchen“:

Brüder: „Die Jungfrau, so weiß wie der Schnee und so rot wie das Blut“82 (rätoromanisch) – „Die Stieftochter“83 (rätoromanisch) – „Drei Schwestern, welche wird Zarin?“84 (bulgarisch) – „Der Vampir, der König, der Minister und das Mädchen“85 (aramäisch).

Räuber: „Die böse Stiefmutter“86 (polnisch aus der Provinz Posen) – „Die Prinzessin mit der Nadel im Kopf87“ (polnisch) – „Die Unschuld kommt an den Tag“88 (polnisch) – „Das Mädchen im Räuberhaus“89 (estnisch) – „Der Zauberspiegel“90 (rumänisch aus dem Banat) – „Wer ist die schönste Frau der Welt?“91 (rumänisch aus Siebenbürgen) – „Die Weltenschöne“92 (rumänisch aus Siebenbürgen) – „Wer ist schöner?“93 (rumänisch aus der Moldau) – „Fatima“94 (albanisch) – „Die Geschichte der zwölf Räuber“95 (italienisch aus der Schweiz) – „Die dreizehn Räuber“96 (sardinisch) – „Maria, die böse Stiefmutter und die sieben Räuber“97 (sizilianisch) – „Blanca Rosa und die vierzig Räuber“98 (chilenisch, d.h. spanischer Herkunft). Das Motiv begegnet auch in türkischen Fassungen.99

Drachen: „Die böse Mutter“100 (rumänisch aus Siebenbürgen) – „Die schöne Naramza“101 (rumänisch aus der Walachei) – „Schneewittchen“102 (albanisch).

Recken: „Der Zauberspiegel“103 (russisch) – „Die Schöne“104 (russisch).

Krieger: „Schön-Jelena mit dem goldenen Zopf“105 (russisch).

Jäger: Text ohne Titel106 (deutsch aus Schleswig-Holstein) – „Das Mädchen und die sieben Jäger“107 (arabisch aus Syrien).

Offenbar haben die germanischen Stämme die Sitte, die Zöglinge der Buschschule mit einem Spottnamen zu belegen (Zwerg, Wichtel, Männchen usw.) zusammen mit der Institution von der bodenständigen Bevölkerung, d.h. von den Kelten, übernommen haben.

In Frankreich sind folgende Namen gebräuchlich: esprits servants (Franche-Comté), sotrets (Lothringen), dracs (Provence), solèves oder sarvans (Savoyen), gobelins (Normandie), corandons (Nord-Bretagne), fulletus (Korsika), cadets (Lyonnais).108

In einem Standard-Werk der französischen Volkskunde finden wir weitere Bezeichnungen: Im Alpen- und im Pyrenäengebiet kamen nachts lutins in die Häuser und verrichteten verschiedene Arbeiten, außerdem hüteten sie die Kühe. Man nannte sie deshalb servants („Knechte“). Allerdings bestanden sie auf einer traditionellen kleinen Vergütung, z.B. Rahm.109 Im Osten – im Elsass – erzählte man von nains. Diese reparierten ein Hufeisen oder eine Pflugschar, wenn man zugleich damit einen Kuchen vor den Eingang der Höhle legte.110Lutin wird mit Kobold, nain mit Zwerg übersetzt.

Die Herausgeberin einer Anthologie mit keltischen Märchen setzt die corigane der Bretagne mit den Heinzelmännchen gleich, weil sie wie diese nachts guten Menschen halfen und dafür Essen und ein Schüsselchen Milch erhielten (Wie die Korigane ihre Schätze trockneten111).

Auch in einer Sammlung mit Überlieferungen aus dem Tessin begegnen wir unseren Zwergen. Sie halfen heimlich in der Landwirtschaft, und sobald eine Familie Brot buk, stellten sie sich mit der Bitte um einen Laib Brot ein (Die Zwerge von Catto112).

Warum in der Folklore der Polen, Südslawen und Italiener keine Zwerge vorkommen, kann ich nicht erklären. Sagen mit Hausgeistern wurden auch in Ost-, Nord- und Westeuropa aufgezeichnet, doch weisen sie durch die Bank Entstellungen auf, wie weiter unten an Beispielen gezeigt werden soll. Folglich bildeten sich diese Sagen nicht lokal aus Erinnerungen an die Jugendweihe, sondern gelangten auf mündlichem Wege dorthin, wo man sie erzählte.

Merkwürdig sind zwei Überlieferungen aus Schwaben, die zwischen Wichteln und Bauernburschen einen Unterschied machen: Im Winter kamen die Erdwichtel gewöhnlich zweimal in der Woche in die Spinnstuben und setzen sich, wie es Sitte war, auf die linke Seite der Spinnerinnen, gerade so wie die Bauernburschen. Weil sie aber so klein waren, setzten sie sich nicht auf einen Stuhl, sondern – auf das Kunkelstühlchen ganz unten zu den Füßen des Mädchens (Erdwichtele113). – Die Erdmännlein von der „Halde“ oberhalb Schlath, die nachts die Lichtstuben besuchten und sich mit den Spinnerinnen unterhielten, hatten immer rote Mäntelchen um, deshalb wurden sie von den Burschen Rotmäntele genannt (Die Rothmäntele114).

Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass eine arabische Erzählung, die sich auf ein Gebiet im heutigen Land Sudan bezieht, nämlich auf die „Halbinsel“ zwischen Weißem und Blauem Nil, von hilfreichen Zwergen handelt, die den mitteleuropäischen gleichen wie Brüder (Die Heinzelmännchen vom Nil115). Die wissenschaftliche Gründlichkeit erfordert, diese Erzählung zu vermerken, und sie erfordert auch, die Übereinstimmungen nach Möglichkeit zu erklären. Ich zitiere:

„Auf der Großen Halbinsel zwischen dem Weißen und dem Grünen Nil lebt ein al-Karnīnā genannter Volksstamm, der ein weites, vom Nil und vom Regen bewässertes Gebiet einnimmt. Wenn die Zeit der Saat anbricht, zieht bei ihm ein jeder mit allem Samen, den er besitzt, hinaus. Nachdem er je nach der Menge seines Saatgutes eine Fläche abgesteckt hat, sät er ein klein wenig an den vier Ecken des Feldes. Das übrige Saatgut stellt er in die Mitte, dazu etwas Bier und geht wieder von dannen. Am nächsten Morgen findet er die abgesteckte Fläche eingesät und das Bier ausgetrunken. Kommt dann die Zeit der Ernte, so mäht er ein klein wenig davon ab, legt es mit Bier an eine beliebige Stelle und geht wieder fort. Nachher findet er dann alles abgeerntet und gebündelt. Das gleiche tut er, wenn er das Getreide gedroschen und geworfelt haben möchte. Manchmal kommt es vor, dass einer sein Saatfeld vom Unkraut gereinigt wissen möchte. Dann reißt er nur wie aus Versehen etwas Unkraut aus dem Feld heraus, und am nächsten Morgen ist alles gejätet. […]“

Die Bewohner der Gegend selbst behaupten, heißt es weiter, dass die Geister diese Arbeit tun. Der Herausgeber steuert keine Erklärung bei. Die Erklärung besteht wohl darin, dass der Brauch der Nachbarschaftshilfe unter den afrikanischen Bauern weit verbreitet ist und die Jugendlichen in das System der gegenseitigen Hilfe hineingewachsen sind. Im westafrikanischen Land Burkina Faso z.B. (bis 1984 Obervolta) lernten die Knaben und Mädchen eines Dorfes im Rahmen einer traditionellen zeitweiligen Vereinigung gemeinschaftlich arbeiten. Sie hieß Naam.

Diese Altersklassenvereinigung trat jedes Jahr befristet für die Dauer der Regenzeit zusammen. Die Naam-Gruppe sollte die Jugendlichen an Solidarität und Verantwortung gewöhnen. Innerhalb der Gruppe bestanden mehrere Funktionen, die die Aufgaben der Würdenträger des Mossi-Reiches kopierten: der Chef – der Sprecher des Chefs – der Chef der Trommler – der Verantwortliche für die Wege – der Richter, dafür zuständig, dass Strafen vollzogen werden – ein Beamter, der Strafen mildern oder aufheben kann – der Spaßvogel, der negative Eigenschaften karikiert – der Schatzmeister – schließlich der Vorkoster, der für die Sicherheit der Gruppe verantwortlich ist. „Ein- bis zweimal pro Woche arbeiten die Mitglieder der Naam auf den Feldern des Dorfes, vor allem auf jenen der Alten oder Kranken, die diese Arbeit selbst nicht verrichten können. Sie bearbeiten die Felder, ernten und besorgen den Transport der Ernte zum Markt. Für diese Tätigkeiten werden sie mit einem Teil der Ernte oder mit Geld belohnt. Am Ende der Regenzeit findet als Abschluss ein großes Fest statt, bei dem alle Ersparnisse verbraucht werden. Die Naam löst sich durch diesen Festakt auf.“116

Die Saligen Fräulein und ähnliche Gestalten

Die Saligen sind weibliche Gestalten der alpenländischen Folklore. Ihnen entsprechen die Wilden Frauen der deutschen Überlieferung, die Feen der französischen und die Vilen der balkanischen Folklore. Die Verbindung zwischen den Saligen der Alpenregion und den Feen der französischen Folklore wird eindeutig durch das Motiv der Saligen-Ehe hergestellt: Vor der Heirat stellt die Frau dem Mann eine Bedingung: nicht zu schimpfen – nicht zu schlagen – keine Geliebte zu haben – nicht nach dem Frauenbund zu fragen – der Frau einen Tag zu gewähren, an dem sie tun darf, was sie möchte. In jedem Text wird nur eine Bedingung genannt, weil das genügt, um die Spannung zu erhalten; zusammengenommen ergeben die Bedingungen einen Kodex von Rechten. Wahrscheinlich bezieht sich das Motiv auf die Zeit des Übergangs von matriarchalischen zu patriarchalischen Verhältnissen, als die genannten Rechte nicht mehr selbstverständlich waren, weshalb der Mann vor der Heirat ein förmliches Versprechen ablegen musste.

Viele Überlieferungen schildern das Auftreten der jungen Saligen oder Saligen Fräulein, die sich als Zöglinge der Buschschule zu erkennen geben. Ihnen lassen sich die Wilden Fräulein und die jungen Vilen zur Seite stellen. In Frankreich haben die Höhlen von einem Ende bis zum anderen Namen, die an die Feen erinnern117, und zwar an die Novizen, die zeitweilig dort hausten (denn in der französischen Folklore gilt die Bezeichnung Fee sowohl für die Novizen als auch für die Vollmitglieder des Frauenbundes). Daneben gibt es Sagen über erwachsene Frauen, die einander beistehen: Als ein Hagelsturm droht, eilen die Bergfeen der ganzen Umgebung herbei, um das Getreide der Familie zu retten (Die Fee von Cleibe118, französisch aus der Schweiz). – Als der Ehemann einer Fee verreist, muss er sich keine Sorgen um seine Herde machen, weil ihre Schwestern ein Auge auf sie haben (Von Feen im Roussillon119, katalanisch). In beiden zitierten Sagen kommt das Motiv der Saligen-Ehe vor. Darauf hat schon Heinrich Schreiber hingewiesen: Wo es Not tut, führt das schwesterliche Verhältnis die Feen ganzer Bezirke zur gegenseitigen Unterstützung zusammen.120 Schließlich berichten die Sagen über Salige Frauen mit besonderen Fähigkeiten: Diese beraten die Bauern über die beste Zeit für Anbau, Heumahd und Ernte. – Sie sagen die Zukunft voraus. – Sie helfen Kranken mit heilsamen Getränken. – Sie machen Frauen gesund und fruchtbar und leisten Hebammendienste.

Schreiber hat vom schwesterlichen Verhältnis der Feen auf einen Schwesternbund oder auf ein Frauen-Kollegium mit hierarchischer Einrichtung geschlossen.121 Wir gehen kaum fehl, wenn wir die erwachsenen Saligen bzw. die erwachsenen Feen als Mitglieder eines Bundes betrachten, der als Träger der Jugendweihe für Mädchen fungierte.

Mit der Führungsriege der Saligen Frauen lassen sich die Wilden Frauen der hessischen Überlieferung vergleichen, ebenso die Billeweiß von Kärnten (Die Billeweiß122) und die Weißen Frauen von Slowenien (Zlatorog123). Die späteren Erzähler, die nicht mehr wussten, wovon sie sprechen, haben die Vertreter der Ränge zusammengeworfen, so auch in zwei Sagen aus dem Westerwald (Die Wilden Weiber in Oberdresselndorf124; Der Wildweiberfelsen bei Langenaubach125).

Von der Gestalt her gleichen die Saligen Fräulein völlig den Menschen. Das gilt auch für die Guten Leute, die einst in Kärnten den Menschen bei verschiedenen Arbeiten zur Hand gingen: Die geheimnisvolle Helferin, die einer Döllacher Bäuerin zwei Jahre lang das Brot bäckt, entpuppt sich als eine schöne Jungfrau (Die guten Leutlan126). Den Seejungfrauen vom Mummelsee haftet ebenso wenig ein Makel an (Die guten Seejungfrauen127). Bei der Darstellung ihrer Schwestern jedoch machen sich die Tücken der mündlichen Überlieferung bemerkbar. Zum einen werden sie als kleinwüchsig beschrieben, zum anderen haben die Erzähler ihre Maske als Missbildung begriffen: Die zwei Meerweiblein, die die Spinnstuben von Walddürn im Odenwäldischen Bauland besuchten, waren oben wie Menschen, unten wie Fische gestaltet (Der Marsbrunnen und die Meerweiblein128). – Ebenso die Meerfräulein auf dem Spucherschrofen oberhalb Kematen in Tirol (Die Meerfräulein129). – Die Trittspuren der Nachtfräulein, die vom Urschelberg aus nach Pfullingen in die Karz oder Spinnstube kamen, glichen denen von Entenfüßen (Die Pfullinger führen die Nachtfräulein hinters Licht130, aus Schwaben). Aus derselben Sage geht hervor, dass die Nachtfräulein Schläpperchen trugen. Vielleicht wurden die entenförmigen Trittspuren von den Schläpperchen erzeugt, aber mit Sicherheit nicht auf dem Weg zur Spinnstube.

Was die Missgestalt betrifft, gibt es eine Parallele auf Seiten der hilfreichen Zwerge: Die Seemännlein im Seebenweiher oder Glaswaldsee waren so groß wie Kinder und genauso beschaffen wie die sogenannten Meerweiblein – halb Mensch, halb Fisch (Seemännlein131, aus Baden). Dagegen hatten die Erdmännlein von der Ramsfluh Enten- und Geißenfüße (Die Erdmännlein auf der Ramsfluh132, aus dem Aargau). – Die Zwerge in der Berner Gegend hatten Gänsefüße (Die Füße der Zwerge133). – Die Zwerge von der Wolfshöhle südwärts von Pfirt hatten Geißenfüße (Die Zwerge in der Wolfshöhle134, aus dem Elsass). – Die Fußstapfen der Erdleute aus der Tropfsteinhöhle bei Hasel waren denen der Gänse ganz ähnlich (Erdleute135, aus Baden). – Die Fußabdrücke der thüringischen Heugütel ähnelten denen von Entenbeinen.136

Die vermeintlichen Missbildungen sind verblasste Erinnerungen an die rituelle Maskierung. Dafür sprechen jene Schläpperchen, die Entenbeine vortäuschten. Aber es gibt ein noch besseres Argument, nämlich eine Sage aus dem oberen Rheintal, aus der eindeutig hervorgeht, dass die Initianden Masken aufsetzten: „Auf dem Kaistenberg und der Kinzhalde vom Dorfe Frick an bis zur Stadt Laufenburg haben in den Höhlen des Juras und in den Felslöchern des Rheinufers Erdmännchen gehaust. Da schwärmten und schwirrten sie in der Wildnis herum wie Feld- oder Perlhühner, und wie diese in der Kindersprache Biberli heißen, so nannte man die Zwerge Erdbiberli. Wenn sie aber unter die Leute gehen wollten, so legten sie ihre Vogelgestalt vorher ab, sonst hätten sie nicht in Haus und Feld so gewandt mit wirtschaften können, wie sie im Dorfe Öschgen taten oder beim Bauern auf der Kinzhalde, dem sie jährlich beim Kornschnitt halfen.“ (Das Kloster der Erdbiberli137, aus der Schweiz.)