Meine Ur-Oma in der Buschschule - Hans Fink - E-Book

Meine Ur-Oma in der Buschschule E-Book

Hans Fink

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Beschreibung

Der Brauch war so alt, dass er Eingang in die griechische Mythologie gefunden hat, und zwar in Form der Geschichte vom Mädchen Kore, das vom Gott Hades in die Unterwelt verschleppt wird. Tatsächlich kletterten die eingeschulten Knaben und Mädchen in einen brunnenartigen Schacht und befanden sich dann angeblich in der Unterwelt. Für ihre Verwandten galten sie als gestorben. In der Buschschule wurden sie mit den Pflichten und Rechten eines Stammesmitglieds vertraut gemacht und rituell in Erwachsene ver-wandelt. Zugleich damit war der Brauch so zäh, dass er in Mitteleuropa bis ins frühe Mittelalter von Generation zu Generation weitergereicht wurde, trotz der unzähligen Wanderun-gen, Kriege, Seuchen und Hungersnöte. Erst nach der Verbreitung des Christentums haben die Menschen auf ihn verzichtet. In Rumänien und in der Ukraine überlebte er in Form der Mädchen-Spinnstube bis ins 20. Jahrhundert. Nach dem Verschwinden des Brauchs aus der sozialen Wirklichkeit begann man von ihm zu erzählen - in der Späten Bronzezeit entstanden die Urformen unserer Zaubermär-chen, im Mittelalter die Sagen von den hilfreichen Zwergen und Saligen Fräulein. In der europäischen Folklore sind die Zaubermärchen von den geraubten Königstöchtern au-ßerordentlich gut vertreten. Deshalb wählte der Autor sie als Ausgangsbasis bei dem Versuch, den Brauch zu rekonstruieren.

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INHALT

Erster Teil. Die Einleitung

Das Vorhaben

Propps Grenzen

Die Initiationsstätte

Das Programm der Buschschule

Das Ende der alteuropäischen Buschschule

Entstellungen und ihre Ursachen

Die Namen der Zauberer-Gestalt

Zweiter Teil. Die Motive des Märchentypus AT 301

Motiv Nr. 1: Die Prophezeiung

Motiv Nr. 2: Die Entführung

Motiv Nr. 3: Sonne, Mond und Sterne

Motiv Nr. 4: Die Statuen

Motiv Nr. 5: Im Drachenschloss

Motiv Nr. 6: Handarbeiten

Erster Exkurs: Ergänzungen zur Initiation der Mädchen

Motiv Nr. 7: Die Bekanntmachung

Motiv Nr. 8: Die Abstammung des Starken Hans

Motiv Nr. 9: Der Starke Hans als Knecht

Motiv Nr. 10: Der Starke Hans in der Schmiede

Motive Nr. 11-17: Die außerordentlichen Gesellen

Motiv Nr. 11: Der Fachmann für Steine

Motiv Nr. 12: Der Fachmann für Holz

Motiv Nr. 13: Der Fachmann für Erdarbeiten

Motiv Nr. 14: Der Fachmann für Brücken und Wehre

Motiv Nr. 15: Der Fachmann für Dammbauten

Motiv Nr. 16: Der Fachmann für Bewässerung

Motiv Nr. 17: Der Fachmann für Metallarbeiten

Motive Nr. 18-19: Die Quälgeister

Motiv Nr. 18: Hunger und Schrecken

Motiv Nr. 19: Ein Streifen Haut

Motiv Nr. 20: Zerstückelt und gekocht

Motiv Nr. 21: Das „Öffnen“ des Mundes

Zweiter Exkurs: Ergänzungen zur Initiation der Knaben

Motiv Nr. 22: Feen

Motiv Nr. 23: Der Tunnel zur Unterwelt

Motiv Nr. 24: Der Abstieg

Motiv Nr. 25: Die Gärten

Motiv Nr. 26: Die Befreiung

Motiv Nr. 27: Tanzende Frauen

Motiv Nr. 28: Ein Schloss auf Vogelbeinen

Motiv Nr. 29 Ein Haus ohne Türen und Fenster

Motiv Nr. 30: Geschenke der Königstöchter

Motiv Nr. 31: Tüchlein und Ei

Motiv Nr. 32: Der Verrat

Motiv Nr. 33: Dienstbare Geister

Motiv Nr. 34: Die Rückkehr auf dem Riesenvogel

Motiv Nr. 35: Forderungen der Königstöchter

Motiv Nr. 36: Die Hochzeit

Dritter Exkurs: Ergänzungen zum Unterricht

Motiv Nr. 37: Der Apfelbaum des Königs

Motiv Nr. 38: Eine zweite Unterwelt

Motiv Nr. 39: Bestrafung der falschen Gefährten

Vierter Exkurs: Die Saligen

Schluss

Anhang

Bibliografie

Geschichte und Archäologie

Volkskunde und Völkerkunde

Erzählforschung

Sammlungen von Märchen und Sagen

Liste mit Märchentypen aus dem Aarne-Thompson-Katalog

ERSTER TEIL DIE EINLEITUNG

Das Vorhaben

Ich bewundere meine fernen Vorfahren, die mit zusammengebissenen Zähnen tapfer durch die Martern der Jugendweihe gegangen sind, Männer wie Frauen, Generation für Generation. Ihr Leidensweg und die darauffolgenden Erlebnisse in der Buschschule bilden den Hintergrund vieler Zaubermärchen. Die Gelehrten konnten sich keinen Reim darauf machen, wovon in diesen Märchen eigentlich die Rede ist, sie rätselten jahrzehntelang. Endlich, im Jahre 1946, veröffentlichte ein russischer Forscher ein Buch und machte auf einen Schlag vieles klar. Der Mann hieß Wladimir Jakowlewitsch Propp, lebte in Leningrad, und seine Abhandlung erschien unter dem geheimnisvollen Titel „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“.1 Hier beschrieb er den Ablauf der archaischen Jugendweihe und ihren institutionellen Rahmen, der mit einem englischen Fachwort Buschschule heißt. Von den Herausgebern der „Enzyklopädie des Märchens“ und ihren Mitarbeitern wurde diese Leistung Propps nicht anerkannt. Meines Wissens ist niemand weiter in die von ihm gewiesene Richtung vorgedrungen. Weder haben andere Erzählforscher versucht, die Entstehungszeit der Märchen von der europäischen Buschschule näher einzugrenzen, noch gaben sie sich die Mühe, die Schlussfolgerungen Propps aufgrund von Forschungsberichten, die ihm nicht zugänglich waren (etwa über Frauenbünde und Mädcheninitiation), zu ergänzen und zu berichtigen.

Wären die Erzählforscher Propp gefolgt, hätten sie längst alle noch offenen Fragen beantwortet:

wie die alteuropäische Buschschule eingerichtet war;

wie das Initiationsritual ablief;

warum unsere Vorfahren auf die Buschschule verzichtet haben;

wann die Buschschule aus der sozialen Wirklichkeit verschwunden ist;

was wir aus den Märchen von der Buschschule über die Gesellschaft der Späten Bronzezeit erfahren;

wie und aus welchen Gründen sich die Märchen im Laufe von 3.000 Jahren veränderten;

wie das Märchen von den zwei Brüdern, das wir aus der Grimm'schen Sammlung kennen (KHM 60), in die Folklore der Yoruba in Nigeria gelangte;

wie sich die Übereinstimmungen zwischen europäischen Märchen von der Buschschule und Überlieferungen erklären lassen, die in Südchina, Vietnam, Laos, Kambodscha und Indonesien aufgezeichnet worden sind.

Wegen der Folgen des Zweiten Weltkriegs fanden Propps Erkenntnisse zum Ursprung der Zaubermärchen nur allmählich Verbreitung. Die deutsche Übersetzung der genannten Abhandlung erschien sogar mit einer Verspätung von vierzig Jahren. Die Redakteure und Mitarbeiter der „Enzyklopädie des Märchens“, unter ihnen Max Lüthi, hielten daran fest, dass alle Märchen erfunden worden sind.

Mir ist in den siebziger Jahren, als ich noch in Rumänien lebte, die rumänische Übersetzung von Propps Abhandlung in die Hände gefallen. Kurz darauf las ich den Aufsatz von Monica Brătulescu über die rumänische Mädchen-Spinnstube, die als Ausläufer eines antiken Initiationsritus erkannt wurde. Unter dem Eindruck dieser zwei Texte begann ich gezielt Märchen, Literatur über Märchen, volkskundliche und völkerkundliche Literatur zu lesen. Ich stieß auf Bücher, die das Bild, das Propp sich gemacht hatte, ergänzten und berichtigten. Zu diesen gehört die Monografie von Georg Bohdan Mykytiuk über die ukrainischen Andreasbräuche, denn aus ihr geht hervor, dass es in der Ukraine Mädchen-Spinnstuben gegeben hat, die den rumänischen glichen wie ein Ei dem anderen. Aus dieser Ähnlichkeit lässt sich auf eine gemeinsame Urform schließen.

Dank der Berichte über die kollektive Jugendweihe in Afrika, Amerika, Asien, Australien und Neuguinea ist es möglich, die europäischen Märchen von der Buschschule zu interpretieren. Sie enthalten – streng wissenschaftlich formuliert – Motive, die Momenten der archaischen Jugendweihe entsprechen. Oft bilden die Motive eine längere Kette, wobei ihr Platz in der Kette vom Ablauf der Jugendweihe bedingt ist.

Die archaische Jugendweihe, die im vorgeschichtlichen Europa praktiziert wurde, spiegelt sich in den Varianten von mehreren Märchentypen des Aarne-Thompson-Katalogs wider, z.B.

AT 301 „Die drei geraubten Königstöchter“ (auch bekannt als „Die Prinzessinnen in der Unterwelt“);

AT 303 „Die zwei Brüder“;

AT 303 A „Sechs Brüder suchen sieben Schwestern zu Frauen“;

AT 310 „Die Jungfrau im Turm“;

AT 313 „Der dem Teufel versprochene Königssohn“,

AT 325 „Der Zauberer und sein Schüler“,

AT 400 „Der Mann auf der Suche nach seiner verschwundenen Gattin“;

AT 425 A „Amor und Psyche“.

Aus meiner Lektüre ergab sich die Frage, ob man den Weg, den Propp gegangen war, um die Märchen von der Buschschule zu erklären, nämlich vom Brauch zum Text, nicht in umgekehrter Richtung beschreiten könnte, um die europäische Buschschule zu rekonstruieren, ausgehend von den bekannten Märchen. Für diesen Coup bot sich der Märchentypus AT 301 an, weil er a) einerseits weit verbreitet, andererseits gut belegt ist und b) die Handlung sich auf eine erstaunlich lange Motiv-Kette stützt – wenn man die Varianten in Betracht zieht, sind es 39 Motive. Mit AT 301 als Ausgangsbasis ließe sich der Ablauf der Jugendweihe im Alten Europa umfassend präsentieren, natürlich mit dem Vorbehalt, dass der Ritus nicht bei allen Stämmen identisch verlaufen ist.

Vorarbeiten zu einer derartigen Studie waren mir nicht bekannt. Ich gab mir Rechenschaft, dass ein Mensch allein dieses Projekt nicht zu bewältigen vermag – aber es war erlaubt, sich darüber Gedanken zu machen.

Im Folgenden wird beschrieben, was die archaische Jugendweihe war, wann sie aufgegeben wurde und warum das geschah. Manche Informationen, die schon in der Anthologie „Was einmal war“2 auftauchen, erscheinen hier in einem neuen Kontext. Im ersten Teil des Buches wird auch veranschaulicht, wie und warum die Überlieferungen, die sich auf die Buschschule beziehen, im Laufe von 3.000 Jahren umgemodelt und zugleich damit entstellt worden sind.

Beim Märchentypus AT 301 wird der Ritus der archaischen Jugendweihe nicht vollständig dargestellt, davon sind wir weit entfernt. Das betrifft nicht irgendeine Variante, sie gilt für die Gesamtheit der Texte, die zu diesem Typus gehören. Etliche Momente des Ritus sind hier gar nicht vertreten. Um die vermissten Momente zu benennen und durch Szenen aus anderen Märchen zu illustrieren, muss ich Exkurse einfügen, dabei sind Wiederholungen unvermeidlich.

Propps Grenzen

Im Leben unserer Ahnen war die Jugendweihe das größte Ereignis, denn nur wer sie bestanden hatte, wurde als vollberechtigtes Stammesmitglied anerkannt. Das verdeutlichen die Beobachtungen Diedrich Westermanns im Hinterland von Liberia, wo der Männerbund Poro die Jugendweihe für Knaben veranstaltete: Bei den Kpelle musste ein freier Mann Mitglied im Poro-Bund sein, sonst durfte er kein Landeskind heiraten, durfte kein öffentliches Amt ausüben, blieb vom Mitbesitz der religiösen Güter ausgeschlossen und erhielt kein ehrenvolles Begräbnis.3

Um zu verstehen, was in der Buschschule geschah, können wir von Propps Definition des Ritus ausgehen:

„Was ist Initiation? Es ist dies eine der Institutionen, die der Gentilordnung eigentümlich sind. Dieser Ritus wurde bei Eintritt der Geschlechtsreife vollzogen. Mit diesem Ritus wurde der Jüngling in den Stammesverband eingeführt, wurde dessen vollberechtigtes Mitglied und erlangte das Recht, in die Ehe zu treten. Das ist die gesellschaftliche Funktion dieses Ritus. Seine Formen sind verschieden, und auf sie werden wir noch in Zusammenhang mit dem Märchenmaterial eingehen. Diese Formen sind durch die gedankliche Grundlage des Ritus bestimmt. Es wurde angenommen, dass der Knabe während des Ritus starb und hernach als nunmehr neuer Mensch wieder auferstand. Dies ist der sogenannte zeitweilige Tod. Tod und Auferstehung wurden durch Handlungen hervorgerufen, die das Verschlucktwerden, das Verschlungenwerden des Knaben durch ein Untier darstellten. Er wurde gleichsam von diesem Tier gefressen und kehrte, nachdem er eine Zeitlang im Magen des Ungeheuers verbracht hatte, wieder zurück, d. h., er wurde ausgespieen oder ausgestoßen. Für den Vollzug dieses Ritus wurden manchmal spezielle Häuser oder Hütten gebaut, die die Form eines Tieres hatten, wobei die Tür den Rachen darstellte. Hier wurde auch die Beschneidung vorgenommen. Der Ritus vollzog sich immer tief im Walde oder im Dickicht, unter strenger Geheimhaltung; er war von körperlichen Misshandlungen und Verletzungen (Abhacken eines Fingers, Ausschlagen mehrerer Zähne u. a.) begleitet. Eine andere Form des zeitweiligen Todes äußerte sich darin, dass man den Knaben symbolisch verbrannte, kochte, briet oder in Stücke hieb und dann wieder zum Leben erweckte. Der Auferstandene empfing einen neuen Namen, und auf die Haut wurden ihm Brandmale und andere Zeichen des Ritus, den er durchgemacht hatte, aufgeprägt. Der Knabe durchlief eine mehr oder weniger lange und strenge Schulung. Man lehrte ihn die Methoden der Jagd, man teilte ihm Geheimnisse religiösen Charakters mit, geschichtliches Wissen, Regeln und Vorschriften des Brauchtums usw. Er durchlief eine Schule als Jäger und Mitglied der Gesellschaft, eine Schule der Lieder und Tänze sowie aller Dinge, die für das Leben erforderlich schienen.“4

Diese Definition ist nicht vollständig, ich muss sie aufstocken.

(A) Der russische Forscher hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Völkerkunde eingearbeitet, als die Feldforschung von Männern beherrscht wurde. Seine Gewährsleute berichteten über Männerbünde, Männerhäuser, die Jugendweihe für Knaben. Der ausführliche Bericht Westermanns über die Reifezeremonien für Mädchen bei den Kpelle (1921)5 ist ihm entgangen. Ebenso Martin Gusindes Mitteilungen über die gemeinsame Initiation von Knaben und Mädchen bei den Yámana im Feuerland, wo Männer und Frauen als gleichberechtigte Paten für die Zöglinge fungierten; Gusindes umfassender Bericht6 ist erst 1946 erschienen, im selben Jahr wie die „Historischen Wurzeln“. Deshalb konnte Propp als seriöser Wissenschaftler nur die Erlebnisse des männlichen Helden interpretieren, nicht aber die des weiblichen Helden. Die Mädchen-Spinnstuben in der Ukraine und in Rumänien, die Spätformen der Buschschule waren und bis ins 20. Jahrhundert fortdauerten, erwähnt Propp mit keinem Wort. Von den rumänischen wusste er mit Sicherheit wenig, denn die zusammenfassende Studie von Monica Brătulescu ist erst 1978 veröffentlicht worden, mehr als 20 Jahre nach seiner Abhandlung. Wie aber verhält es sich mit jenen der Ukraine? Ich stelle mir vor, dass der passionierte Volkskundler sie mit Stillschweigen überging, weil sie nach der Oktoberrevolution von den Behörden verboten worden sind: a) als Brutstätten des Aberglaubens und b) als Widerstandsnester des ukrainischen Nationalismus. Der ehemalige Sportfunktionär Iwan Lukjanowitsch Solonewitsch (1891-1953) erwähnt in seinem Buch „Die Verlorenen“, dass 1921 in Odessa 83 ukrainische Jugendliche erschossen worden sind, weil sie dem Verein zur Pflege der Heimatkultur und Bildung „Proswita“ angehörten; man hatte sie auf einem Spinnstuben-Abend überrascht.7

Aus demselben Grunde – Lücken in der Bibliografie – missverstand Propp die weibliche Zauberer-Gestalt, aus heutiger Sicht ein krasser Irrtum: „Der Lehrer und Waldgeist ist historisch, die Frau, die Alte, die Mutter, die Herrin, die Schenkerin von Zaubereigenschaften ist prähistorisch, sie ist außerordentlich archaisch, lässt sich aber in Rudimenten in den Riten verfolgen.“8

Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Margaret Mead (19011978) und Emmy Bernatzik (1904-1977) nahmen Frauen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Feldforschungen teil. Zum Unterschied von männlichen Forschern konnten sie das Vertrauen der eingeborenen Frauen erwerben und Einzelheiten über die Frauenbünde wie auch über die Reifefeiern für Mädchen erfahren.

(B) Ursprünglich war die Buschschule eine Institution der Wildbeuter, man denke an das Stammesleben der Aborigines, der Eskimos und vieler Indianerstämme. Doch als Viehzucht und Ackerbau die Jagd als Ernährungsbasis verdrängten, passte sich das Ausbildungsprogramm dem wirtschaftlichen Fortschritt an. So war es in Afrika: Den Knaben wurde u.a. beigebracht, wie man den Busch rodet, um Ackerland zu gewinnen.9 – Sie lernten, wie man Gärten mit Gemüse, Obst und Getreide anlegt.10 – Für ihren Bedarf mussten die zehn bis vierzehn Jahre alten Jungen unter Anleitung ihrer Lehrmeister eine Farm anlegen.11 – Pierre-Dominique Gaisseau berichtet über die Toma in Guinea: „Die Knaben bauen zuerst im Einführungslager ein kleines Dorf; sie werden auf diese Weise später die Hütte bauen können, die ihre Familie schützt. Sie roden ihre Lougans, säen und bebauen ihren eigenen Reis, ernten die Palmenschößlinge, um davon Öl zu gewinnen, und wissen bald alle eßbaren Waldfrüchte zu unterscheiden; sie merken sich die Wildspuren und jagen mit den Hunden. Sie weben selber die Baumwollstreifen ihrer Boubous, und in ihrer Freizeit machen sie Raffiagewebe. Aller Überschuß ihrer Produktion kommt ihren Eltern zugute.“12

Ähnlich in Europa: Der Prinz muss den Wassermann täglich begleiten, um ihm beim Säen und Pflanzen zu helfen, sodass er bald sehr geübt in der Gartenkunst ist (Der Prinz und der Wassermann13, dänisch, AT 314). – Der wilde Mann lehrt den Königssohn, wie man den Boden bebaut und Bäume pflegt (Der wilde Mann14, tschechisch, AT 502). – Der Wanderbursche soll, hier mit einem Sieb, Wasser aus dem Teich schöpfen und auf das Feld tragen (Die Hexe und ihre Töchter15, deutsch aus der Mark, AT 313). – Der Junge soll die Kanäle von Schlamm und Laub säubern (Der Junge und der Teufelszar16, serbokroatisch, AT 313).

Häufig hören wir von der Aufgabe, Körner auszulesen oder Körner zu sortieren, hier Kulturpflanzen, dort Unkraut, gewissermaßen das Abc des Pflanzenbaus: Alán soll über Nacht tausend Sack Weizenkörner von Verunreinigungen säubern (Prinz Alán und das Finstere Hochland17, spanisch aus Chile, AT 313). – Im Hause der Baba Jaga muss Wassilissa den Schwarzkümmel aus dem Weizen lesen und den Mohn auslesen, der mit Erde verunreinigt ist (Die wunderschöne Wassilissa18, russisch, AT - --). In einem eng verwandten sardischen Märchen muss Mariflor die Getreidekörner nach den verschiedenen Sorten ordnen (Das wundertätige Madonnenbild19, AT ---).

Aus den Märchen von der Buschschule erfahren wir, dass die Zöglinge lernten, wie man rodet – wie man Buckelwiesen einebnet – wie man einen Sumpf entwässert – wie man Wasserläufe umleitet – wie man Felder bewässert. Ihre Beteiligung an gemeinnützigen Vorhaben der Dorfgemeinschaft hat sich im Motiv der „schweren Aufgaben“ für den Helden niedergeschlagen, wir finden dieses Motiv in Varianten der Märchentypen AT 313 „Der dem Teufel versprochene Königssohn“, AT 403 „Die weiße und die schwarze Braut“, AT 425 A „Amor und Psyche“, AT 560 „Der Zauberring“.

Als Hinweis auf fortgeschrittenen Ackerbau dürfen auch die Märchen gelten, welche den Typus AT 301 mit dem Typus AT 300 „Der Drachentöter“ verbinden. AT 300 handelt von der Errettung einer Jungfrau, die dem Flussgott geopfert werden sollte, damit er eine reiche Ernte gewähre. Solche Märchen konnten erst entstehen, nachdem die Menschen auf den schrecklichen Brauch verzichtet hatten, weil sie einsahen, dass sie selbst die Fruchtbarkeit der Felder durch künstliche Bewässerung steigern können.

Schließlich stelle ich fest, dass es Märchen gibt, die in den Ausführungen Propps keine Rolle spielen. Zu diesen gehören die Varianten des Typus AT 301 B „Die außerordentlichen Gesellen“. Weder würdigt er den Kontakt der Initianden zu Spezialisten der Dorfgemeinschaft, noch schenkt er dem Motiv des Abstiegs in die Unterwelt durch einen Schacht Aufmerksamkeit. Dass die Initianden sich schwärzten, um ihren Aufenthalt im Lande der Toten zu veranschaulichen, kommt bei ihm nicht klar zum Ausdruck.20

Die Initiationsstätte

In Europa befand sich der Sitz der Buschschule tief im Wald, und zwar in einem Gebäude, das in den Märchen als großes Haus, als Schloss oder als Turm bezeichnet wird, in einem Fall auch als Kloster. Propp hat den Standort, das Aussehen und die Funktionen dieses Gebäudes aus den Märchen rekonstruiert, wobei er es mit dem Männerhaus der Völkerkunde verglich: Es ist von einem Zaun (einer Dornenhecke) umgeben, steht auf Pfählen, umfasst mehrere Räume und hat keinen Eingang zu ebener Erde, man erreicht die Eingangsluke über einen gekerbten Pfahl oder eine Leiter. Vor ihm befinden sich geschnitzte Tierfiguren. Es dient als Wohnung für die Zöglinge und als Herberge.21

Die Analyse von Texten, die dem russischen Gelehrten offenbar nicht zur Verfügung standen, erlaubt es uns, seine Beschreibung wesentlich zu ergänzen.

(A) Das Große Haus war nicht unbedingt ein „Männerhaus“. Zumindest bei manchen Stämmen stand es sowohl den Männern als auch den Frauen zur Verfügung. Zum einen wurde dort auch die Jugendweihe für Mädchen bzw. für gemischte Gruppen abgehalten, das geht aus Varianten des Märchentypus AT 710 bzw. der Typen AT 313 und 400 hervor, zum anderen fanden dort Feste der Frauen statt. Um diese Eigenheit zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Bevölkerung Alteuropas bis zum Eindringen der indoeuropäischen Stämme matriarchalisch war. Die Gesellschaft der Donauzivilisation, deren Blütezeit von 5500 bis 4500 v. Chr. reicht, wird von Harald Haarmann als egalitär beschrieben, Männer und Frauen waren gleichberechtigt. Im Falle der Donauzivilisation brachte erst die Ankunft der Steppennomaden den sozialen Umbruch.22 Im Süden der Balkan-Halbinsel fand der soziale Umbruch um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends statt, als die eingewanderten Urgriechen die matriarchalisch organisierten Pelasger unterdrückten.23 Mehrere Varianten des Märchentypus AT 710 lassen erkennen, dass im Großen Haus Männer eine Beratung abhalten, während die Jugendweihe für Mädchen im Gange ist (Die Schmiedetochter, die schweigen konnte24, slowakisch; Die Schmiedstochter und die schwarze Frau25, polnisch). Und als Marko Kuhsohn den Zwerg Ellenbart verfolgt, der in die Unterwelt geflüchtet ist, begegnet er zuerst tanzenden alten Weibern, dann tanzenden Frauen, zuletzt tanzenden jungen Mädchen (Der alte Ellenbart26, serbokroatisch, AT 301 B).

(B) Das Große Haus war der Mittelpunkt einer kleinen Siedlung, zu ihm gehörte ein Wirtschaftshof. Auffällig oft ist die Rede von einem Garten und von Viehhaltung, außerdem hat sich die Erinnerung an einen Komplex von Gebäuden erhalten.

(C) Das Große Haus gehörte nicht einem einzigen Dorf, an ihm waren mehrere Siedlungen beteiligt.

(D) Hier empfing der Stammeszauberer in seiner Funktion als Seelsorger und Wahrsager Männer, die aus verschiedenen Gründen einen Rat brauchten, darüber berichten die Varianten des Märchentypus AT 460 A „Die Reise zu Gott“ und des Märchentypus AT 461 „Drei Haare vom Barte des Teufels“. Was bedrückte die Menschen? Ein Brunnen, der sonst reichlich Wasser gespendet hat, ist versiegt. – Ein Baum, der sonst reichlich Früchte getragen hat, ist verdorrt. – Die Tochter ist erkrankt. – Drei Töchter finden, obwohl fleißig, keinen Mann. – Die Ehefrau versteckt die Eier ihres Huhns, weil sie nicht zum Haushalt beitragen will.

(E) Im Großen Haus waren Männer und Frauen mit Handarbeiten beschäftigt.

(F) Fassen wir zuletzt die geschnitzten Tierfiguren vor dem Gebäude ins Auge. Das Märchenschloss wird von gefährlichen Tieren bewacht, genannt werden Schlangen und Löwen (auch ein Tiger kommt vor). Wir finden die Wächtertiere bei AT 301, 313, 314, 400, 425 A, 551, 709, 894. Sie lassen sich als Abbilder des Totem-Tiers interpretieren. Die Gabe des Helden, um sie abzulenken, erinnert an rituelle Speise- bzw. Trankopfer. Im Märchen von Amor und Psyche bewacht ein dreiköpfiger Hund die Burg Plutos, des Herrschers der Unterwelt. Psyche muss, um in das Innere der Burg zu gelangen, wo sie mit Plutos Gattin Proserpina sprechen möchte, an dem Untier vorbeigehen – sie beruhigt es mit einem honigsüßen Gerstenkuchen (Amor und Psyche, römisch, AT 425 A).27

Unter dem Zaun, der die Initiationsstätte umgab, muss man sich ein undurchdringliches Dornengestrüpp vorstellen, wie es die Ortschaften schützte, bevor man Mauern baute. Das Gestrüpp wuchs aber nicht von allein, wie in der Geschichte von Dornröschen, sondern wurde mühselig angepflanzt. Dafür war ein Spezialist zuständig, der Bäumekrummbieger; in den Varianten des Märchentypus AT 650 + 301 B „Die außerordentlichen Gesellen“ schauen wir ihm bei der Arbeit zu. In Europa wurden derlei Hecken bis ins späte Mittelalter verwendet, in Süddeutschland nannte man sie Gebück (vom Beugen der Zweige) und in Norddeutschland Knick (vom Knicken der Äste). Cäsar beschreibt im „Gallischen Krieg“, wie die Nervier zu Werke gingen, um ein Gebück herzustellen: „Um nun desto leichter räuberische Reitereinfälle ihrer Nachbarn aufzuhalten, hatten sie seit alter Zeit Zäune angelegt, indem sie noch biegsame Bäume anschnitten und zur Erde niederbogen, ihre zahlreichen Triebe seitlich herauswachsen ließen und Brombeer- und Dornsträucher dazwischen pflanzten. So hatten sie erreicht, dass diese Zäune mauerähnliche Befestigungen bildeten, die nicht bloß den Durchgang, sondern selbst den Durchblick unmöglich machten.“28

Das Programm der Buschschule

Die Jugendweihe war darauf ausgerichtet, die herangewachsenen Knaben und Mädchen in Erwachsene zu verwandeln und diese zu vollwertigen Stammesmitgliedern zu erziehen. Nun stellt sich die Frage, ob die europäische Buschschule a) eine permanente Einrichtung war, die laufend Neulinge aufnahm, sei es einzeln, sobald die Kinder ein bestimmtes Alter erreicht hatten (wie es bei den Schawano-Indianern im nordwestlichen Kanada geschah29), sei es gruppenweise, etwa jeweils nach der Ernte, oder b) eine periodische Einrichtung, die, wenn sie eröffnet wurde, Knaben und Mädchen aus mehreren Jahrgängen erfasste, d.h. jüngere und ältere (wie es bei den Kpelle in Liberia üblich war30). Die Frage lässt sich nicht sicher beantworten. Für eine permanente Einrichtung sprechen Spottnamen wie Dummling, Zwerg, Wichtel, Männken als Bezeichnungen für Initianden, die nach den Aufnahmeriten zu den älteren Schülern stießen und von diesen gehänselt wurden.

Bei den Kpelle am Paulsfluss in Liberia, über die Westermann berichtet, dauerte die volle Lehrzeit im Busch zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Knaben vier Jahre, für die Mädchen drei Jahre.31 Bei manchen benachbarten Völkern konnte sie auch länger sein: bei den Gbunde fünf Jahre – bei den Stämmen am Rio Nunez nach Leo Frobenius sieben bis acht Jahre – bei den Temne nach Winterbottom bis zehn Jahre.32 In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verbrachten die Knaben der Buszi im Hinterland von Liberia noch sechs bis sieben Jahre an der Initiationsstätte.33 Um die Mitte des 20. Jahrhunderts währte die Erziehung im „Heiligen Wald“ im Hinterland der Elfenbeinküste noch vier bis sieben Jahre.34 Allerdings konnte die Lehrzeit auch kürzer sein, und je mehr die Stämme mit europäischem Leben in Berührung kamen, desto mehr nahm die Dauer des Schulbesuchs ab. So verbrachten die Knaben bei den Nyende, einem Pflanzervolk im Nordwesten von Benin (vormals Dahomey), in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts nur drei Monate im Initiationslager.35

Im Falle der rumänischen Mädchen-Spinnstube wurden die Neulinge mit etwa dreizehn Jahren aufgenommen, nach ihrem Eintritt in die Pubertät, und beteiligten sich bis zu ihrer Heirat an den Aktivitäten der Gruppe. Ihre Zusammenkünfte fanden von September bis Ostern in einem Haus statt, in dem keine Männer lebten.

Das Programm der Jugendweihe setzte sich aus Riten, Belehrungen, Übungen und Proben zusammen. Im Falle der gemischten Gruppe von Initianden (AT 301 A, 303 A, 313, 325, 400) wurde seine Durchführung vom Stammeszauberer und Chef des Männerbundes in Kooperation mit der Stammeshexe und Oberin des Frauenbundes überwacht. Es gibt Hinweise auf Gruppen bestehend nur aus Knaben (AT 451) und auf Gruppen bestehend nur aus Mädchen (AT 402). Aus der vergleichenden Analyse der Märchen von der Buschschule ergibt sich folgender Ablauf:

Die Schulleiter und ihre Helfer offenbaren den Initianden Mythen, damit sie den Sinn der Handlungen verstehen, an denen sie teilnehmen werden. Propp zufolge hat man die Mitteilungen durch Tänze verdeutlicht.

36

Dem Initianden wird der kleine Finger abgehackt. Den Verwandten zeigt man den abgehackten Finger als Beweis des Todes. So geschieht es in Varianten des Märchentypus AT 502 „Der wilde Mann“ und AT 709 „Schneewittchen“.

Die Initianden nehmen an einem rituellen kannibalischen Mahl teil, ein Akt der Aufnahme in den Stamm.

Die Schulleiter und ihre Helfer schneiden die Stammesmarken in die Haut der Initianden ein.

Sie „öffnen“ die Augen, die Ohren und den Mund der Initianden für das Leben als Erwachsener, nachdem diese jeweils durch einen ätzenden Saft geblendet, durch einen heftigen Schlag betäubt bzw. durch einen Stich in die Zunge der Sprache beraubt worden sind. Zu diesen Eingriffen gehört auch die Beschneidung, die das Märchen laut Propp nicht bewahrt hat.

37

Man martert die Initianden zusätzlich, damit diese, sobald sie physisch und geistig geschwächt sind, die inszenierte Begegnung mit dem Tier-Ahnen sowie den Abstieg in die Unterwelt für wahr halten.

Die Schulleiter verwandeln die Initianden rituell in Erwachsene. Das geschieht entweder durch symbolisches Verbrennen und anschließendes Wiederbeleben oder durch symbolisches Zerstückeln des Körpers nebst dem Kochen der Teile und anschließendes Wiederbeleben oder durch symbolisches Öffnen der Bauchhöhle nebst einem Austausch von Organen.

Ein als Tier-Ahne maskierter Helfer verschlingt symbolisch den Initianden und lässt ihn eine Weile in seinem Magen sitzen, um ihm auf diese Weise Fähigkeiten eines erfolgreichen Jägers zu verleihen. Welche Fähigkeiten ein Mädchen erhielt, ist mir nicht bekannt. Als Verschlinger tritt ein Wolf oder ein Vogel in Erscheinung, eine Schlange, ein Schwein oder ein großer Fisch (bzw. ein Wal). Nun gilt der Initiand als tot. Auch das Verschlucktwerden durch den Tier-Ahnen symbolisiert die Aufnahme in den Stamm.

Bei manchen Stämmen klettern die Initianden durch einen Schacht, der vermeintlich in die Unterwelt führt. Bei anderen Stämmen springt der Schulleiter mit dem Initianden in ein Gewässer, um das Eintauchen ins Reich der Toten zu simulieren.

Nach dem Eintritt in die Unterwelt schwärzen die Initianden ihren Körper, um den Zustand des Todes zu veranschaulichen. Dadurch sind sie konventionell unsichtbar, denn ein Lebender kann einen Toten nicht sehen. Sie setzen eine Tier-Maske oder eine Pflanzen-Maske auf, um zu verdeutlichen, dass sie sich bei den gestorbenen Ahnen befinden, die sich nach ihrem Tod in Tiere bzw. in Pflanzen verwandelt haben.

38

Nach einer Weile kehren sie allmählich ins Leben zurück, was dadurch angezeigt wird, dass sie schrittweise auf die Schwärzung verzichten – man kann immer mehr Teile ihres Körpers „sehen“, erst die Hände, dann den Kopf usw.

Der Stammeszauberer defloriert rituell die Initiandinnen.

Sobald ihre Wunden verheilt sind, nehmen die Knaben und Mädchen an einem komplexen Unterricht teil, der folgende Fächer umfasst: Pflichten und Rechte – Geschichte und Gesellschaftskunde – Mythologie und Folklore – Körperliche Ertüchtigung und Selbstbeherrschung – Handwerkliche Ausbildung – Magische Praktiken – Sexuelle Aufklärung.

Sie beteiligen sich an gemeinnützigen Vorhaben der Dorfgemeinschaft (Roden – Anpflanzen von Dornenhecken zum Schutz der Ortschaften – Entwässern von Sümpfen – Umleiten von Wasserläufen – Bau von Wegen – Bau von Brücken – Anlegen von Bohlenwegen – Einebnen von Buckelwiesen – Bestellen und Bewässern der Felder – Säubern der Fischteiche – Säubern der Kanäle). Bei diesen Einsätzen lernen sie die Fachleute der Dorfgemeinschaft kennen.

Sie müssen Proben bestehen: klettern, tauchen, den Geschlechtstrieb zügeln. Besonders anspruchsvoll ist die Aufgabe, längere Zeit allein in der Wildnis zu leben.

Die Absolventen erhalten ein Zeugnis in Form eines rundlichen Gegenstands, in der Überlieferung erscheint dieser Gegenstand als Apfel, Ball, Ei, Knäuel, Nuss oder Orange. In den Varianten des Märchentypus AT 530 „Der Ritt auf den Glasberg“ wird dieser Gegenstand in einer Schlüsselszene erwähnt, nämlich dann, als der Held die auf der Bergspitze wartende Prinzessin erreicht: Sie gibt ihm – oder er gibt ihr – einen Apfel, woraus man ableiten darf, dass beide Teile ihr Zeugnis vorzeigten. Die späteren Erzähler haben den Vorgang im Prozess der künstlerischen Gestaltung vereinfacht.

Nach der Rückkehr ins Dorf legen die Absolventen vor der Dorfgemeinschaft eine Prüfung ab. Vermutlich fielen Prüfung und Vermählung zusammen. Die Märchen vom Typus AT 303 A „Sechs Brüder suchen sieben Schwestern zu Frauen“ belegen, dass die einander verlobten Kinder bei manchen Stämmen gemeinsam an der Jugendweihe teilnahmen, wahrscheinlich gehörten sie derselben Altersklasse an. Beim Typus AT 301 „Die drei geraubten Königstöchter“ erfolgt die Hochzeit, unmittelbar nachdem der Held sich durch die Probestücke als der wahre Befreier ausgewiesen hat. Wir erinnern uns: Beim Typus AT 930 „Der reiche Mann und sein Schwiegersohn“ bestimmen die Schicksalsfrauen einen Knaben und ein Mädchen zu einem Paar, die zur selben Stunde geboren worden sind. In anderen Fällen ist das gar nicht so – wir hören etwa, dass der Held seine Verlobte von der Initiationsstätte abholt, das heißt, er hat früher und an einer anderen Stelle die Jugendweihe absolviert (AT 402, 408, 409 A).

Das Ende der alteuropäischen Buschschule – die Geburtsstunde unserer Märchen

Zu Lebzeiten der Buschschule war es verboten, in der Öffentlichkeit über sie zu sprechen. Nachdem sie aus der Wirklichkeit verschwunden war, büßte das Tabu seine Kraft ein, damals bildeten sich aus den Erinnerungen an jene geheimnisvolle Einrichtung die Urformen unserer Märchen. Dazu macht Propp nur vage Angaben. „Das Verschwinden des Ritus“, heißt es an einer Stelle, „hängt mit dem Verschwinden der Jagd als einziger oder überwiegender Quelle der Existenz zusammen.“39 Hier irrte der Gelehrte, denn in Europa wie auch in Afrika hat sich die Buschschule – wie oben ausgeführt – der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst und Ackerbau wie Obstbau in ihr Programm integriert.

Mir ist es gelungen, die Entstehungszeit der europäischen Märchen von der Buschschule auf die Späte Bronzezeit (1200 bis 800 v.Chr.) einzugrenzen, die mit der Urnenfelderkultur übereinstimmt. Diese Kultur war von England bis zur Balkanhalbinsel verbreitet, allerdings mit zahlreichen regionalen Unterschieden.

Die untere Grenze der Entstehungszeit – die uns näher liegende Grenze – konnte ich anhand von mehreren wesentlichen Motiven, die sich in die uns bekannte Geschichte einordnen lassen, weiter und weiter in die Vergangenheit rücken.

Wer viele Texte vergleicht, stellt bald fest, dass es heidnische und verchristlichte Varianten gibt. In den verchristlichten sind positive und negative Rollen von Gestalten der christlichen Legende besetzt: einerseits von Gottvater, der Gottesmutter, einem Engel oder einem Heiligen, andererseits vom Teufel oder einem anderen Feind der Christenheit, etwa einem Araber, einem Mauren, einem Sarazenen, einem Türken. Folglich waren diese Märchen schon im Umlauf, bevor sich die christliche Lehre verbreitete. AT 310 „Die Jungfrau im Turm“: In einer sizilianischen Variante wird das Mädchen von einer Hexe erzogen, in einer zweiten von einem Drachen (Von der schönen Angiola40; Acciulilla41). In einer dritten aber ist es der heilige Franz von Paula (Von dem Pathenkinde des heiligen Franz von Paula42). AT 313 „Der dem Teufel versprochene Königssohn“: In einer polnischen Variante wird der Held einem Wassermann übergeben (Der Wassermann und der Fischersohn43), in einer finnischen Variante aber einem Teufel, der im Meer lebt (Der dem Teufel versprochene Königssohn44). – In einer griechischen Variante erscheint die Zauberer-Gestalt als menschenfressender Araber (Der schwarze Krug45), in einer portugiesischen Variante als hartherziger Maurenkönig (Die Töchter des Maurenkönigs46). AT 461 „Drei Haare vom Barte des Teufels“: In einer Variante aus Oberösterreich soll der Held drei Federn vom Vogel Fenus bringen (Die drei goldenen Federn47), in einer Variante aus dem Burgenland jedoch drei goldene Federn vom Federnteufel (Der Federnteufel48). AT 710 „Marienkind“: In einer rumänischen Variante aus Siebenbürgen wird das Mädchen von der mächtigsten Fee adoptiert (Lüge nicht!49), in einer rumänischen Variante aus der Bukowina – wie auch sonst – von der Muttergottes (Die Muttergottes50).

Der nächste Anhaltspunkt sind zwei aus der römischen Literatur bekannte Texte: das von Apuleius bearbeitete Märchen „Amor und Psyche“ und die noch älteren „Metamorphosen“ des Ovid. Dem Dichter Ovid (gestorben etwa 17 n.Chr.) waren offenbar die wesentlichen Züge des Märchens vom Zauberer und seinem Schüler (AT 325) bekannt, denn er hat sie zitiert. Allerdings ist nicht von einem Mann und dessen Sohn, sondern von einem Mann und dessen Tochter die Rede:

Als der Vater bemerkte, sie konnt' die Gestalten vertauschen,

Hat er nicht selten verkauft sie. Sie wußt' sich zu retten,

Bald als Stute, als Vogel, als Hinde, jetzt wieder als Färse,

Und ihrem gierigen Vater ein nicht ehrliches Leben bereitend. (Kapitel 8, Verse 89-92.)51

Der dritte Anhaltspunkt ist der Löwe. Zuweilen erscheint der Märchenheld in seiner verzauberten Gestalt als Löwe wie sonst als Bär, Wolf, Schwein, Rabe, Schlange oder Frosch. Der in die Unterwelt hinabgestiegene Initiand galt als tot, und man glaubte, dass die Toten sich in Tiere bzw. in Pflanzen verwandeln; um diesen Zustand anzudeuten, setzten die Initianden Tier-Masken bzw. Pflanzen-Masken auf. Die Vorstellung vom Löwen als mythischer Ahne der Sippe kann nur aus einer Zeit stammen, als der Löwe noch eine alltägliche Erscheinung war, d.h. aus den Jahrhunderten vor der Zeitenwende, denn in Europa sind die letzten Bestände um 200 v.Chr. ausgerottet worden.52AT 425 A „Amor und Psyche“: In einer hessischen Variante ist der Tierbräutigam ein Löwe (Das singende, springende Löweneckerchen53). AT 425 C „Die Schöne und das Tier“: Hier ist es in einer niedersächsischen Variante genauso (Das goldene Salzfass, der goldene Haspel und der Tannenzweig54). AT 450 „Brüderchen und Schwesterchen“: In einer okzitanischen Variante verwandelt sich das Brüderchen, weil es aus der Quelle getrunken hat, in einen Löwen (Die Quelle, deren Wasser in einen Löwen verwandelt55). AT 451 „Das Mädchen, das seine Brüder sucht“: In einer spanischen Variante sind die Brüder in Löwen verzaubert (Die drei Löwen56).

Im alten Athen hat es noch einen Löwenclan gegeben. Dessen Mitglieder durften nicht in den Leopardenclan heiraten, der zur gleichen Unterphratrie gehörte. (Ebenso war es den Mitgliedern des Lamm- und des Ziegenclans verboten, untereinander zu heiraten.)57

Um glaubhaft zu machen, dass unsere kollektive Erinnerung so weit zurückreicht, berufe ich mich auf die rumänischen Weihnachtslieder „für den Burschen“ (pentru fecior), deren Held die Männlichkeitsprobe besteht, indem er einen Löwen fängt und lebend heimbringt.58 Für den modernen Europäer klingt eine solche Forderung fantastisch, aber bei den Massai in Ostafrika musste bis vor wenigen Jahrzehnten jeder Bursche einen Löwen töten, um als Krieger anerkannt zu werden.59 Die gebürtige Australierin Catherine Oddie hat in ihrem Buch „Enkop Ai. Mein Leben als Weiße bei den Massai“ (1994) geschildert, wie ihr Mann Robert, geboren 1964, im Alter von 18 Jahren diese Probe bestand.60

Als Argument für ein hohes Alter kommt auch das zur Äffin verzauberte Mädchen in Varianten des Märchentypus AT 402 „Die Katze als Braut“ in Betracht. Die Geschichte vom jüngsten Bruder, der eine Äffin zur Frau nimmt wie sonst eine Katze, Ratte, Maus, Schildkröte, Fröschin oder Kröte, wurde im Mittelmeergebiet erzählt (Die Äffinnen61, portugiesisch; Die Prinzessin als Äffin62, spanisch; Die Affenprinzessin63, mallorquinisch; Der Palast der Affen64, italienisch; Die Äffin65, griechisch). Diese Märchen können nur in einem Land entstanden sein, in dem die Menschen eine so lebhafte Vorstellung vom Affen hatten wie sonst von der Maus und der Kröte. Im Mittelalter hat es in Europa kein solches Land gegeben, wohl aber in vorgeschichtlicher Zeit. Zwischen Spanien im Süden, England im Norden und Ungarn im Osten wurden an verschiedenen Stellen fossile Reste von Berberaffen gefunden; sie beweisen, dass diese Tiere zu Urzeiten nicht nur im nördlichen Afrika, sondern auch in Europa lebten. Zudem sind auf etruskischen Wandmalereien, auf alten griechischen Vasen und auf frühen italienischen Bronzegegenständen Berberaffen abgebildet.66 Dass auf Kreta einst Affen lebten, bezeugen uralte Fresken.

Schließlich führen die Überlegungen zur Rolle des Reitpferds im Märchen weit zurück in die Vergangenheit. Die Analyse einer großen Anzahl von Texten erlaubt den Schluss, dass das Reitpferd nachträglich in die Märchen von der Buschschule eingeführt worden ist – mit anderen Worten: dass diese Märchen bereits existierten, bevor das Reitpferd in Europa verbreitet, bevor es allgemein bekannt war. Zum einen sind die Mitteilungen zum Gebrauch des Reitpferds widersprüchlich (A und B), zum anderen veranschaulichen sie den Aufstieg des Reitpferds zum Helfer und Mentor des Helden (C und D).

(A) Hie und da zieht der Held, obwohl Sohn eines Königs oder Kaisers, zu Fuß in die Welt. Sogar im selben Land erzählte man parallel zwei Varianten des Märchentypus AT 303 „Die zwei Brüder“ – die eine ohne Pferd, die andere mit Pferd. Zum Beispiel: (1) Das Märchen vom goldenen Baum67, deutsch aus Lothringen – Die zwei Brüder68, deutsch aus Holstein; (2) Die zwei Brüder, die Förster waren69, tschechisch – Von den zwei Brüdern70, tschechisch; (3) Die Söhne des Fischers71, sizilianisch – Von den zwei Brüdern72, sizilianisch. Offenbar handelt es sich um zwei Generationen von Varianten.

(B) Richten wir unseren Blick auf das Motiv der „magischen Flucht“ beim Märchentypus AT 313 „Der dem Teufel versprochene Königssohn“. Wenn der Held und seine Verlobte zu Fuß aus dem Machtbereich der Zauberer-Gestalt fliehen, läuft der Bösewicht mit Meilenstiefeln hinter ihnen her, womit vermutlich Stelzen gemeint sind, ein Bestandteil der Riesen-Maske. Wenn sie als Tauben fliehen, nehmen die Verfolger die Gestalt von Raubvögeln an (Sperber, Weih, Adler, Geier) oder die Gestalt einer Wolke. In anderen Varianten wieder benutzen die Flüchtlinge oder die Verfolger oder beide Teile Pferde. Und hier lassen die Widersprüche uns aufhorchen: In einer norwegischen Variante stellt der Riese dem Königssohn die Aufgabe, sein feuriges Reitpferd von der Weide zu holen, doch als der Königssohn mit dem Meistermädel fortläuft, verfolgt er sie zu Fuß (Das Meistermädel73). – In einer ukrainischen Variante dient Iwan beim Bösewicht Wind. Dieser besteigt ein Ross, um die Flüchtlinge zu verfolgen, und als das Ross ihn zu guter Letzt abwirft, stürzt er sich zu Tode (Der arme Iwan und die Weise Duljana74). – In einer russischen Variante jagt der Seezar auf einem geflügelten Ross hinter den Verlobten her, wird aber durch einen Eichenwald, einen spiegelglatten Berg und eine Wüste aufgehalten (Vom Seezaren und seiner klugen Tochter Jelena“75). Hier haben die Erzähler zum einen nicht beachtet, dass der Sitz des Seezaren sich in der Tiefe des Wassers befindet, zum anderen, dass ein geflügeltes Ross sich in die Luft erheben kann. – In der serbokroatischen Variante „Vila bleibt Vila“76 flüchten die Verlobten mit Meilenstiefeln, und die Frau des Vampirs, die zu Fuß unterwegs ist, kommt ihnen wiederholt gefährlich nahe. Um die Verfolgerin zu täuschen, verwandeln sie sich erst in einen Hengst und in eine Stute, dann in einen Schlehdorn- und in einen Brombeerstrauch, zuletzt, als sie an einer Kapelle vorbeikommen, in einen Priester und in einen Messdiener. Offenbar sind Hengst und Stute naive Hinzufügungen. Warum verwandeln sich die Verlobten, wenn sie schon zaubern können, nicht gleich in Pferde, warum fliehen sie nicht blitzschnell durch die Luft? So wär's im Falle einer frei erfundenen modernen Geschichte, doch der vorliegende Text ist ein überlieferter Bericht. Die Erzähler waren der ihnen mitgeteilten Fassung verhaftet und gaben sie automatisch weiter, einschließlich der Widersprüche durch gelegentliche Neuerungen.

Auch in einem italienischen Märchen aus dem Tessin, einer Kombination von AT 310 und AT 313, finden wir einen eklatanten Widerspruch: Der Königssohn Sepp reitet auf einem feurigen Renner zu dem Schloss, wo ein altes Weib die Schöne mit den goldenen Zöpfen gefangen hält, aber dann flüchtet das Paar zu Fuß, als ob jenes Ross nie existiert hätte (Die Schöne mit den goldenen Zöpfen77).

(C) Die Bewunderung für das Reitpferd im realen Leben färbte auf die Überlieferung ab: Im Märchen stieg das Pferd zum Berater und Helfer des Helden auf, der in allen Notlagen einen Ausweg weiß. So ist es beim Märchentypus AT 314 „Goldener“ und beim Märchentypus AT 531 „Das kluge Pferd“.78

(D) Dieselbe Entwicklung veranschaulicht ein Vergleich der Texte, die zum Märchentypus AT 302 „Das Herz des Unholdes im Ei“ gehören, mit den Texten, die zum Märchentypus AT 302 C „Dienst um ein Zauberpferd“ gehören. Abermals lassen sich zwei Generationen von Varianten unterscheiden. Im Falle der älteren Varianten bezwingt der Held den Unhold, nachdem er in Erfahrung gebracht hat, wo jener sein Herz versteckte, es kommt kein Pferd vor. Im Falle der jüngeren Varianten aber besitzt der Unhold ein Zauberpferd, und der Held muss, um seine Braut zu befreien, sich ein Zauberpferd besorgen, das jenem überlegen ist, indem es mehr Beine oder mehr Herzen oder mehr Flügel besitzt. Die nahe Verwandtschaft der zwei Gruppen bezeugen u.a. Texte mit kuriosen Dubletten: Der Tod des Drachen steckt in einem Steinchen, trotzdem muss sich der Held ein schnelleres Ross besorgen (Fjodor Tugarin und die wunderschöne Anastassja79, russisch). – Der Held muss sich ein schnelleres Ross besorgen, aber er muss zudem in Erfahrung bringen, wo das Herz des Drachen versteckt ist (Märchenprinz Ionica80, rumänisch aus Siebenbürgen; Die Tschuda-Tochter81, rumänisch aus der Bukowina). – Der Held muss sich ein schnelleres Ross besorgen, aber auch das Ei mit dem Leben des unsterblichen Koschtschej finden, um es ihm an die Stirn zu werfen (Iwan Zarensohn und Jelena die Wunderschöne82, russisch).