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Im Märchen endet die Handlung oft damit, dass der Held nach mannigfachen Abenteuern sein Ziel erreicht und die Prinzessin heiratet. Der Held ist der Sohn eines armen Bauern, ein Hirte oder ein Handwerker, also jemand, mit dem sich die Zuhörer identifizieren, insbesondere das männliche Publikum. Was nach der Hochzeit geschieht, spielt im Märchen oft keine Rolle. Hans Fink richtet den Blick auf das Leben nach der Hochzeit. Er deckt auf, dass der soziale Unterschied die Ehe des Helden mit der Prinzessin regelmäßig untergräbt. Die Schwänke verdeutlichen, warum Mann und Frau nicht friedlich miteinander leben: entweder, weil sie nicht geprüft haben, ob sie zusammenpassen, oder weil sie sich nicht beherrschen. Zum Beispiel geraten sich der lange Lenz und die hagere Liese in die Haare, weil sie trotz schwerer Arbeit (sie rackern sich ab) auf keinen grünen Zweig kommen. Einen Schwerpunkt bilden Texte, wie Mann und Frau sich prüfen könnten, bevor sie einander das Jawort geben.
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Seitenzahl: 185
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Das Vorhaben
Der Bräutigam tritt in die Sippe der Braut ein
Glanz und Elend der Saligen
Erfundene Drachentöter
Gemeinsam in der Buschschule
Ein Apfelwurf entscheidet
Dornröschen und ihr Prinz
Eine todernste Prinzessin
Der Zauberlehrling hat mehr Glück als Verstand
Froschkönig und Hans mein Igel
Die Schöne und das Biest
Zertanzte Schuhe
Eine Zauberin gibt sich geschlagen
Ein Krug mit Wasser des Lebens
Im Land, wo man nicht stirbt
Das unmögliche Rätsel
Die faustdicke Lüge
Das letzte Wort
Müllersohn und Prinzessin
König Drosselbart
Käseprobe und Schlickerlinge
Die Rätselsprache als gemeinsamer Nenner
Die utopischen Triumphe der Bauerntochter
Nach der Hochzeit
Schluss
Bibliografie
Zitierte Grimm'sche Märchen
Märchentypen aus dem Aarne-Thompson-Katalog
In vielen Märchen, unglaublich vielen, ist die Hochzeit des Helden Höhepunkt und Endpunkt der Handlung. Oft genug steht sie unter einem schlechten Vorzeichen: Der Held und seine Braut sind einander nicht ebenbürtig. – Es handelt sich um eine Zwangsheirat unter dem Druck eines Elternteils. – Die Braut muss sich in die Ehe mit einem Mann fügen, der sie in einem Wettkampf überwunden oder auf andere Weise gedemütigt hat:
sei es, dass er schlagfertiger war
1
;
sei es, dass sie ein von ihm vorgetragenes Rätsel nicht lösen konnte
2
;
sei es, dass er hinter das Geheimnis der zertanzten Schuhe kam
3
;
sei es, dass er sich vor ihr verstecken konnte
4
.
Was nach der Hochzeit geschieht, erfahren wir in der Regel nicht, und die meisten Leute scheint das auch nicht zu interessieren. Nun hat ein Literaturwissenschaftler dieses Problem angeschnitten. Der Germanist und Märchenforscher Wilhelm Solms veröffentlichte im Jahre 2021 eine Studie über das Bild der Familie in der Märchensammlung der Brüder Grimm.5 Ein Kapitel handelt von Brautwerbung und Hochzeit, ein anderes nimmt die Märchenehe unter die Lupe, ein drittes handelt von Brautwerbung und Ehe im Schwank. An einer Stelle findet sich folgender Kommentar:
„Und wenn die Märchen mit Sätzen enden wie und sie lebten vergnügt bis an ihr seliges Ende (Das Mädchen ohne Hände), dann ist auch dies nicht die Feststellung einer Tatsache, sondern ein Versprechen. Denn mit der Märchenhochzeit lässt der Märchenerzähler den Vorhang fallen. Was hinter dem Vorhang bzw. nach dem Ende der Märchen geschieht, also der Ehe-Alltag, gehört – mit Ausnahme weniger Zaubermärchen – zu den Themen der Schwänke und wirkt dort ganz und gar nicht glücklich. Ob das Eheglück des Märchenpaars tatsächlich von Dauer ist, wie uns der Erzähler verspricht, bleibt also offen.“6
Mich hat dieser Kommentar zu den Recherchen für das vorliegende Buch angeregt.
Laut Solms ist die Hochzeit … die höchste Form des Glücks, nicht nur für die Heldin und den Helden, einschließlich ihrer Partner, sondern ebenso für den Erzähler und seine Zuhörer oder Leser beiderlei Geschlechts. Dieses Glück wird nochmals gesteigert, wenn der arme Junge die einzige Tochter des Königs heiratet und damit zugleich die Herrschaft über das Reich und großen Reichtum gewinnt.7
Ähnlich äußerte sich der rumänische Folklorist Ovidiu Bîrlea:
Die Entstehung des Märchens als literarische Gattung hängt mit dem Drang zusammen, zu zeigen, wie man das Leben auf der Erde nach gerechten Regeln ordnen soll, wobei der Gute belohnt und der Böse exemplarisch bestraft wird. Die Moral aus allen Märchen veranschaulicht die allgemeinste ethischen Norm: Das Gute siegt immer über das Böse. Um das zu veranschaulichen, beleuchtet das Märchen die häufigsten Konflikte innerhalb der menschlichen Gesellschaft seit jeher. Das Zaubermärchen widerspiegelt diesen Zug am deutlichsten. Trotz des Hintergrundes mit zahlreichen, oft verwirrenden wunderbaren Elementen, spiegelt das Zaubermärchen die großen Probleme der Gesellschaft wider, die Jahrtausende alt sind, und hat diese mit einer idealen Welt verquickt, die frei von Gebrechen ist. Die Länge der Märchenhandlung entspricht den Maßen des irdischen Lebens, doch zum Unterschied vom Epos und vom Roman wird der Held bis zu seiner Hochzeit begleitet, die gewöhnlich mit dem Besteigen des Throns übereinstimmt, und damit nicht nur den Höhepunkt der Märchenhandlung darstellt, sondern auch die höchste Erfüllung, die man sich für ein Menschenleben vorstellen kann.8
Auf zahlreiche Texte treffen diese Einschätzungen nicht zu. Aus der Sicht der ehemaligen Zuhörerschaft mag es gerecht scheinen, dass ein Mann aus bescheidenen Verhältnissen die Königswürde erwirbt und den Thron besteigt, aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Das Märchenkonzept der Brüder Grimm. Wie die Brüder Grimm die Texte für ihre Sammlung besorgten, hat Generationen von Germanisten beschäftigt. Für den Laien ist das Ergebnis schockierend. Sie schöpften nicht (bzw. nicht selbst) aus der lebendigen Überlieferung, ein Teil der Texte stammte aus zweiter oder dritter Hand, ein anderer Teil aus schriftlichen Quellen. Manche Märchen wurden ihnen von den Nachkommen nach Deutschland geflohener Hugenotten mitgeteilt, wurzelten also in der französischen Folklore.
Jacob und Wilhelm Grimm nahmen sich die Freiheit, mehrere verwandte Überlieferungen zu einer Geschichte zu kombinieren. Das haben sie im dritten Band dokumentiert. Der Erfolg gab ihnen recht. Doch Wilhelm Grimm ging stillschweigend darüber hinaus – er dichtete hinzu und änderte am Text. Der letzte Absatz von KHM 21 „Aschenputtel“ etwa wurde nach der ersten Ausgabe der Sammlung von Wilhelm Grimm erfunden und angehängt. Hier picken die Tauben den falschen Schwestern, die das Brautpaar auf dem Weg zur Kirche und auf dem Rückweg begleiten, die Augen aus. Das Märchen schließt mit einem moralisierenden Satz: Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag gestraft.9
(Das Aschenputtel-Märchen handelte ursprünglich von der individuellen archaischen Jugendweihe im Gehöft der Eltern.10 Die Stiefmutter ist wie der Königssohn und der Gang zur Kirche eine spätere Hinzufügung.)
In vier der bekanntesten Märchen hat Wilhelm Grimm bei der Bearbeitung der Erstausgabe die böse Mutter durch eine Stiefmutter ersetzt.11 Die Stiefmutter war eine soziale Erscheinung. Viele Männer blieben im Krieg, viele Frauen starben am Kindbettfieber oder an den Belastungen durch eine Vielzahl von Geburten und schwere Arbeit. Die Witwen und Witwer verehelichten sich aus praktischen Gründen ein zweites Mal, und dieses Phänomen hat sich in der Folklore niedergeschlagen. Grimms Märchen, vermerkt Solms, haben aber dazu beigetragen, dass Frauen, die es auf sich nehmen, einen verwitweten Mann mit Kindern zu heiraten, als böse Stiefmütter angesehen werden.12
In 48 Texten der Grimm'schen Sammlung ist von einem König, von einer Königin oder von Königskindern die Rede, Solms tut diese Besonderheit mit der Bezeichnung Königskult ab. Sie ist nicht auf das deutsche Märchengut beschränkt und erklärt sich durch das Bestreben der Erzähler, die Aufmerksamkeit des Publikums zu steigern. Man erkennt die Idealisierung anhand eines Vergleichs von mehreren Varianten. Beim Märchentypus AT 402 „Die Katze als Braut“ ist der Held mal der Sohn eines armen Besenbinders (Hans und die Kröte13, deutsch aus Lothringen), mal der Sohn eines Bauern (Die kleine weiße Katze14, deutsch aus Holstein), mal der Sohn eines Müllers (Die verwunschene Katze15, deutsch aus der Steiermark), mal der Sohn eines Königs (Die weiße Katze16, rätoromanisch). Im slowakischen Märchen „Raduz und Ludmilla“ (AT 313) sagt der König, der vier Kinder hat, eines Tages zu seiner Frau: „Du, mein Weib, wir sind zu zahlreich, wir müssen etwas unternehmen, sonst werden wir es nicht weit bringen. Weißt du was? Wir wollen einen unserer Söhne in die Welt schicken, er mag sich einen Dienst suchen und sich zurechtfinden, so gut er eben kann.“17 Dieser König überlegt eindeutig wie ein Handwerker – offenbar wurde er vom Erzähler gekrönt.
Die Brüder Grimm folgten dem Trend: Während der Junge im „Vogel Phönix“ der Ausgabe 1812 die Federn für den Verwalter holen muss, wird aus diesem in der Fassung von 1819 ein König.18
Die erste [zweibändige] Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ erschien 1812-1815, die Ausgabe letzter Hand (die siebente Ausgabe) im Jahre 1857. Vierzig Jahre lang hat Wilhelm Grimm die Texte immer wieder überarbeitet, nämlich ergänzt, verflüssigt, von anstößigen Ausdrücken gesäubert, mit Redensarten und Sprichwörtern angereichert. Infolgedessen stimmen diese Texte nur thematisch mit dem vormals überlieferten Volksgut überein.
Laut Johannes Merkel lassen sich drei Prinzipien festhalten, nach denen Wilhelm Grimm die aus mündlichen oder schriftlichen Quellen erschlossenen Vorlagen redigierte:
1. Mit der für eine Lesefassung erforderlichen ausschmückenden Schilderung wird die Märchenhandlung in ein romantisiertes und stereotypes Mittelalter versetzt.
2. Anspielungen auf Sexualität werden umgedeutet oder ganz ausgeblendet, weibliche Protagonisten zu unschuldigen Mädchen oder bösartigen Hexen gemacht und überhaupt alles entfernt, was bürgerliche Moralvorstellungen hätte verletzen können.
3. Die Texte werden in einer Sprache stilisiert, die Mündlichkeit suggeriert, als kämen die Erzählungen, so wie sie im Buche stehen, unvermittelt aus dem Munde des „Volkes“.19
Die Ausgabe letzter Hand umfasst Tiermärchen, Brauchtumsmärchen, Alltagsmärchen, Legendenmärchen, Märchen mit Wichtelmännern und Lügenmärchen. Zu diesen tritt eine beachtliche Anzahl von Schwänken.
Die Brauchtumsmärchen. Seit dem Jahre 1946, als der russische Folklorist Wladimir Propp seine Abhandlung über die historischen Wurzeln des Zaubermärchens veröffentlichte20, muss man zwischen zwei Kategorien von Märchen unterscheiden: solchen, die sich aus Erinnerungen an abgestorbene Bräuche bildeten, und solchen, die erfunden worden sind. An die abgestorbenen Bräuche erinnern zahllose Texte, aber sie haben keinen zusammenfassenden Namen. Solche Bräuche waren:
die kollektive Jugendweihe im Rahmen der Buschschule;
die individuelle Jugendweihe zwischen Dorf und Wildnis;
die individuelle Jugendweihe im Gehöft der Eltern;
die periodische Opferung einer Jungfrau, damit der Flussgott eine reiche Ernte gewähre;
die mütterliche Erbfolge;
der Kult um die sakralen Könige;
die Altentötung.
Ich ergänze mit der Vorstellung der Naturvölker, dass Mensch und Tier urverwandt sind. Gemäß dieser Vorstellung ist ein Tier, sobald es sein Fell bzw. sein Federkleid oder seine Schuppenhaut ablegt, so beschaffen wie ein Mensch. Deshalb kann der Märchenheld ein Vogelmädchen oder ein Robbenmädchen heiraten. Aus demselben Grund versteht er in etlichen Grimm'schen Märchen die Sprache der Tiere, ob es nun Ameisen sind, Bienen, Vögel, Fische oder Vierbeiner.
Das Märchen vom Schiff, das über Wasser und Land fährt (Aarne-Thompson 513 B), erinnert an einen im Mittelalter gepflegten Brauch, den Jacob Grimm dokumentiert hat.21 Ein solches Schiff kommt im Märchen von der „Goldenen Gans“ (KHM 64) vor.
Die archaische Jugendweihe im Rahmen der Buschschule strotzte von Grausamkeiten. Zunächst führte man die herangewachsenen Kinder zur Initiationshütte im Wald. Dort wurden sie geblendet, betäubt und an der Zunge verletzt, damit Zauberer und Hexe anschließend rituell ihre Augen, ihre Ohren und ihren Mund für das Leben als Erwachsener „öffnen“. Während des Aufenthalts in der Initiationshütte wurden sie mit den Stammeszeichen tätowiert und auf mannigfache Art und Weise gemartert, damit ihr Denkvermögen getrübt sei und sie die vorgetäuschte Begegnung mit dem Tier-Ahnen, der sie angeblich verschlang und ausspie, sowie den Abstieg in die Unterwelt für wahr halten. Es folgte die Lehrzeit beim Sitz der Buschschule in einer abgelegenen kleinen Siedlung. Sie schloss Proben ein, die wahrscheinlich schlimmste davon war das Überleben in der Wildnis, wovon die Varianten des Märchentypus AT 710 „Marienkind“ berichten (den Antti Aarne nach KHM 3 benannte).
Die späteren Erzähler besaßen keine Vorstellung von der Buschschule, sie wussten nicht, wovon sie sprechen. Teils mit Absicht, teils unbewusst glichen sie die Lebensumstände der Helden ihren eigenen Lebensumständen an. Nach und nach bildeten sich Märchen in der uns bekannten Form heraus, ein wunderliches Gemisch von Einzelheiten, in dem sich, innig verquickt, ein grausamer Brauch und Aspekte aus dem gesellschaftlichen Leben der frühen Neuzeit spiegeln. Man kann aus diesem Gemisch keine Schlüsse ziehen, die auf das Familienleben nach 1800 zutreffen. Deshalb ist es grotesk, wenn Solms aus KHM 26 „Rotkäppchen“ zitiert, wie die Mutter das Mädchen ermahnt, nicht vom rechten Weg abzuweichen22, denn das Verschlingen durch den Wolf entspricht einem archaischen Ritus der Aufnahme in den Stamm.23
Von den 200 Texten der Ausgabe letzter Hand enthalten 47 Motive, die Momenten der archaischen Jugendweihe entsprechen. In Teilen unseres Kontinents ist die Form der kollektiven Jugendweihe in der Späten Bronzezeit, vor ungefähr 3.000 Jahren, auf einem ausgedehnten Areal erloschen. In Mitteleuropa jedoch, gemäß der aktuellen Landkarte in acht Ländern und Südtirol, lebte der Brauch bis ins frühe Mittelalter fort, bis zur Ausbreitung des Christentums; dort hat er sich in den Sagen über hilfreiche Zwerge und Salige Fräulein niedergeschlagen. Ausläufer in Form der rumänischen und der ukrainischen Mädchen-Spinnstube überlebten bis ins 20. Jahrhundert.
Weil die Brüder Grimm nichts von der archaischen Jugendweihe ahnten, blieben ihnen viele Motive unverständlich.
Eine unvollständige Studie. Solms kommentiert die „Kinder- und Hausmärchen“ so, als ob er nichts von Brauchtumsmärchen wüsste, als ob er nichts von der archaischen Jugendweihe ahnte, siehe seine Bemerkungen zu KHM 1 „Der Froschkönig“, KHM 3 „Marienkind“, KHM 9 „Die zwölf Brüder“, KHM 12 „Rapunzel“, KHM 21 „Aschenputtel“, KHM 25 „Die sieben Raben“, KHM 53 „Sneewittchen“, KHM 108 „Hans mein Igel“, KHM 153 „Die weiße und die schwarze Braut“ u.a. Die (oft umgedeuteten) Motive stammen aus der Späten Bronzezeit, die moralisierende Bearbeitung durch Wilhelm Grimm aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deshalb dürften die Kommentare kaum überzeugen.
Obwohl ein Teil der Texte aus literarischen Werken stammt und Solms über die einschneidenden Änderungen durch Wilhelm Grimm Bescheid weiß, hält er in seinen Kommentaren an Erzählern als Quelle fest.
Es wird belegt, dass in den Märchen und Schwänken der Sammlung zahlreiche frauenfeindliche Aussagen vorkommen. Den Erzählern zufolge sind Frauen erst dann für die Ehe geeignet, wenn sie sich ihrem Mann unterworfen und damit auf ihr Glück oder ihre Zufriedenheit verzichtet haben.24 Mit dieser Grundhaltung hängen die schrecklichen Strafen für Frauen zusammen:
Während dem ungetreuen Bräutigam von seiner Braut sowie vom Erzähler rasch vergeben wird, muss die untreue Braut oder Ehefrau schwere Buße tun oder wird von ihrem Gemahl geköpft, von Steinen, die er zusammenbrechen lässt, erschlagen oder im Meer ertränkt.
Die Stiefmutter muss sich in glühenden Schuhen zu Tode tanzen oder sie wird von Schlangen getötet oder wie eine Hexe verbrannt. Die Schwiegermutter ebenso. Oder die Stiefmutter wird zusammen mit der Stiefschwester in einem Nagelfass zu Tode geschleift.25
Laut Solms wird dies alles vom Erzähler nicht beanstandet, manchmal sogar begrüßt. Demzufolge ist der Erzähler nicht nur dem König unterwürfig, sondern auch frauenfeindlich, was die Beliebtheit der Märchen beim weiblichen Publikum aber nicht beeinträchtigt hat.26
Woher diese Einsicht stammt, ist nicht vermerkt.
Wie Johannes Merkel ausführt, unterschied sich das, was Frauen in europäischen Dörfern erzählten, nur wenig von den Geschichten ihrer männlichen Kollegen: Zwar wird gelegentlich von Unterschieden im Repertoire berichtet, Frauen waren in der Gascogne und den Pyrenäen anscheinend stärker auf Zaubermärchen spezialisiert, Männer auf „erotische und satirische Schwänke“ (EM 1999, Bd. 9, Sp. 224/225). Für das Kriterium, welche Helden in den Geschichten bevorzugt werden, lassen sich jedoch kaum Unterschiede feststellen. Weder erzählten Erzählerinnen häufiger von weiblichen Helden – in den Geschichten beider Geschlechter überwiegen männliche Helden zu etwa zwei Dritteln -, noch zeichneten sie andere Rollenbilder als ihre männlichen Kollegen (EM 1987, Bd. 5, Sp. 212 und 216). Das dürfte wohl auf den Durchschnitt der europäischen Märchenerzähler zutreffen, kann in einzelnen Fällen aber durchaus anders ausfallen. Unter den von Tang Kristensen in Dänemark aufgezeichneten Märchen haben etwa die Hälfte der von Frauen erzählten Märchen eine weibliche Hauptperson, während das bei den von Männern gehörten Erzählungen nur für 15 Prozent zutrifft (Holbek 1990, S. 264). Demgegenüber ergeben die wenigen Sammlungen, die nachweislich und ausschließlich weibliches Erzählen im Orient dokumentieren, ein eindeutiges Bild. Hier überwiegen bei weitem jene Erzählungen, in denen Protagonistinnen im Mittelpunkt stehen: In den 46 Geschichten, die Monia Hejaiej hörte, geht es nur in 10 um einen männlichen Helden. In der umfangreichen Sammlung von Erzählungen arabischer Frauen, die El-Shamy zusammenstellte, steht nur in 8 von 61 Geschichten ein Mann im Mittelpunkt.27
Zufälle der Überlieferung. Merkel, der nicht viel von Propp hält28, hat seine Rechnung ohne die gemischte Gruppe der Initianden gemacht. Abgesehen davon zog er nicht in Betracht, dass es im neuzeitlichen Europa männliche und weibliche Erzählgemeinschaften gegeben hat.
A) Eine ansehnliche Reihe von Märchen, deren Handlung sich einem Märchentypus des Aarne-Thompson-Katalogs zuordnen lässt, weicht vom Schema ab, indem die Rolle des männlichen Helden von einem Mädchen bzw. einer Frau besetzt ist und die Rolle des weiblichen Helden von einem Knaben bzw. einem Mann. Das Phänomen wurzelt in der identischen Behandlung der Zöglinge. Märchentypen mit solchen Ausnahmen sind: 303 A – 311 – 313 – 314 – 326 – 361 – 400 – 425 A – 451 – 675 – 923 – 930. Beispiele habe ich im Schlussteil aufgelistet.
B) Ich stelle mir vor, dass man etliche Märchen, ausgehend von der gemischten Gruppe der Zöglinge, wie sie bei AT 301, 303 A, 311, 313, 325, 400 u.a. greifbar ist, ursprünglich sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Helden erzählt hat und einerseits nach und nach der weibliche Held, anderseits nach und nach der männliche Held verdrängt und ausgebootet wurde. Möglicherweise hat das Erzählen vor ausschließlich männlichem Publikum bzw. vor ausschließlich weiblichen Zuhörern zu der Einseitigkeit geführt. Männliches Publikum: Hirten, Fischer, Seeleute, Holzfäller, Flößer, Bergarbeiter, Eseltreiber, Kameltreiber, Soldaten, Arbeiter der Tabakmanufakturen, Kaffeehausbesucher. Weibliche Zuhörer: Erzählgemeinschaften der von der Außenwelt abgeschotteten Frauen, wie es im alten Athen der Fall war, Spinnstubengemeinschaften, Gruppen von Frauen bei Arbeiten wie Weinlese, Baumwollpflücken, Hopfenpflücken und Hanfbrechen, Gemüsehökerinnen (in Berlin) und Fratschlerinnen (in Wien).
Zu der thematischen Spaltung zwischen Märchen, die von Männern, und Märchen, die von Frauen erzählt wurden, hat Merkel anhand orientalischer Frauenmärchen Überlegungen angestellt. Er gelangt zu dem Schluss, dass in den Volkserzählungen des Orients Kämpfe und Konflikte, Liebe und Hass zwischen den Geschlechtern offener ausgetragen werden als im europäischen Märchen.29 (Auf Märchen, die aus Erinnerungen an die einstige Buschschule entstanden sind, geht er nicht ein.)
1 Schlagfertiger als die Königstochter (AT 853). In: PAUL ZAUNERT (Hg.): Deutsche Märchen seit Grimm. Bd. 2, S. 179-182. AT – die übliche Abkürzung für den Katalog der Märchentypen von ANTTI AARNE und STITH THOMPSON.
2 Siehe KHM 22 „Das Rätsel“ (AT 851). KHM – die übliche Abkürzung für die Grimm'sche Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“.
3 Siehe KHM 133 „Die zertanzten Schuhe“ (AT 306).
4 Siehe KHM 191 „Das Meerhäschen“ (AT 329).
5 WILHELM SOLMS: Die Familie in Grimms Märchen. Marburg: LiteraturWissenschaft.de, 2021.
6 Ebd., S. 79. Zaubermärchen sind Erzählungen, deren Held über Wünscheldinge oder magische Kräfte verfügt.
7 Ebd., S. 79.
8 OVIDIU BÎRLEA: MICĂ ENCICLOPEDIE A POVEŞTILOR ROMÂNEŞTI. S. 46.
9 WILHELM SOLMS: Die Familie in Grimms Märchen. S. 46-47.
10 Siehe: Die individuelle Jugendweihe im Gehöft der Eltern. In: HANS FINK: Im verwunschenen Schloss, im verbotenen Zimmer. S. 6568.
11 WILHELM SOLMS: Die Familie in Grimms Märchen. S. 41.
12 Ebd., S. 49-50.
13 Dr Hons un die Krott (AT 402). In: ANGELIKA MERKELBACH-PINCK: Volkserzählungen aus Lothringen. S. 28-33, hier S. 28.
14 De lütt wit Katt (AT 402). In: WILHELM WISSER: Plattdeutsche Volksmärchen. Bd. 1, S. 132-136, hier S. 132.
15 Die verwunschene Katze (AT 402). In: VIKTOR VON GERAMB: Kinder- und Hausmärchen aus der Steiermark. S. 121-127, hier S. 121.
16 Die weiße Katze (AT 402). In: URSULA BRUNOLD-BIGLER (Hg.): Die drei Winde. S. 196-197.
17 Raduz und Ludmilla (AT 313). In: PAVOL DOBŠINSKÝ: Slowakische Märchen. S. 155-167, hier S. 155.
18 JOHANNES MERKEL: Hören, Sehen, Staunen. S. 457.
19 JOHANNES MERKEL: Hören, Sehen, Staunen. S. 462-463.
20 VLADIMIR PROPP: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. [Leningrad, 1946.] München und Wien: Hanser, 1987.
21 JACOB GRIMM: Deutsche Mythologie. Bd. 1, S. 214-218.
22 WILHELM SOLMS: Die Familie in Grimms Märchen. S. 37.
23 HANS RITZ: Die Geschichte vom Rotkäppchen. S. 10-11. (Mit Berufung auf ANSELMO CALVETTI.)
24 WILHELM SOLMS: Die Familie in Grimms Märchen. S. 139.
25 WILHELM SOLMS: Die Familie in Grimms Märchen. S. 137.
26 Ebd., S. 137.
27 JOHANNES MERKEL: Hören, Sehen, Staunen. S. 266-267. EM – „Enzyklopädie des Märchens“.
28 Ebd., S. 377-378.
29 JOHANNES MERKEL: Schehrezad und ihre Schwestern [Nachwort]. In: Ders. (Hg.): Löwengleich und Mondenschön. S. 123-139.
Mehr oder weniger versteckt sind in etlichen europäischen Märchen Hinweise auf eine urtümliche Form der Verwandtschaft enthalten – auf die mutterrechtliche oder matrilineare Sippe, bei der die Zugehörigkeit nach der Mutter, Großmutter und Urgroßmutter angegeben wurde. Wenn ein Mann heiratete, wurde er in die Sippe seiner Frau aufgenommen und gliederte sich in die Hausgenossenschaft ihrer Eltern ein.
AT 313 „Der dem Teufel versprochene Königssohn“. Im Märchen verlobt sich die Tochter von Zauberer und Hexe heimlich mit dem Königssohn und hilft ihm bei den „schweren Aufgaben“. Zuletzt flieht sie mit ihm aus dem Machtbereich ihrer Eltern. Doch dann vergisst der Königssohn auf seine Helferin, weil er „eine andere Frau geküsst hat“, und verschwindet aus ihrem Gesichtskreis, als er zum Wohnsitz jener anderen Frau übersiedelt. Die Verlobte aus dem Wald findet ihn erst nach langer, beschwerlicher Wanderschaft. Sie besticht die andere Frau durch kostbare Geschenke, damit sie in seinem Schlafzimmer übernachten darf, und kann zuletzt seine Erinnerungen wecken, dann ziehen sie gemeinsam heim.
Um die Märchenhandlung zu verstehen, muss man sich zahlreiche Einzelheiten hinzudenken.
Vormals verlobte man die Kinder bereits in der Wiege mit Kindern aus einer anderen, wenn möglich einflussreichen Sippe. Demnach waren die Eheleute etwa gleich alt. Diese Besonderheit wird in mehreren Varianten des Märchentypus AT 930 „Der reiche Mann und sein Schwiegersohn“ vermerkt: Nach dem Kiebitzberg30, deutsch aus Holstein; Die drei goldenen Haare von Vater Allwissend31, tschechisch; Der Knabe im Sarg32, ungarisch.
In der Buschschule hat man Knaben und Mädchen sexuell aufgeklärt. Den praktischen Teil der Aufklärung übernahmen im Falle der Knaben junge Frauen aus armen Familien. Es kam vor, dass eine Helferin und ein Initiand sich verliebten und ihr Verhältnis nach der Rückkehr ins Dorf gegen den Widerstand der zwei Sippen durchsetzten – jener des jungen Mannes und jener seiner rechtmäßigen Verlobten. Allerdings musste die Sippe des jungen Mannes die Sippe der rechtmäßigen Verlobten durch Geschenke entschädigen. Sie sind identisch mit den Kleinodien, die im Märchen zur Bestechung dienen, und zwar Arbeitsgeräte (wie Haspel, Webstuhl, Stickrahmen) und Kleintiere (wie Tauben, Ferkel, eine Glucke mit Küken). Im Märchen sind diese von Gold. Sie werden in Varianten des Märchentypus AT 425 A „Amor und Psyche“ genannt, dessen Handlung streckenweise mit der Handlung von AT 313 übereinstimmt: Mit Hat-Prinz33, rumänisch aus der Moldau, AT 425 C + A; Die Schlange des Alten34, rumänisch aus der Walachei; Trandafiru35, rumänisch aus dem Banat; Der Junge in der Schlangenhaut36