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Nach knapp zehn Jahren besucht der Wanderer Micha nochmals seinen früheren Lehrer Jeduschin, der ihm tiefe spirituelle Erfahrungen ermöglicht hatte. In der Zwischenzeit wurde ihm vieles zum inneren Reichtum, doch anderes blieb zu klären. In dieser neuen Begegnung widerfährt ihm ganz Unerwartetes. Sein innerer Horizont weitet sich über alle Fragen hinaus, bis er zwischen sich und der Welt nicht mehr unterscheiden kann. Damit wird ihm das Mysterium des Lebens offenkundig Eine Erzählung von tiefer Einsicht und offenem Lebensbezug
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Seitenzahl: 199
E s war vor fast zehn Jahren, dass ich Jeduschin in seiner Klause besucht hatte. Die Begegnungen in seiner Klause hatten in wenigen Tagen mein Weltbild vollkommen verändert. Die Art, wie er lebte, und wie er mich herausforderte, stellte alles in Frage, was ich bisher glaubte. Meine Auffassungen von der Welt und von mir selbst erwiesen sich als die bloße Hülle dessen, was man das Leben nennen könnte. Diese Hülle schützte mich aber nicht, sondern verdeckte die Lebendigkeit, die wohl schon in mir schlummerte, bevor ich Jeduschin das erste Mal traf. Die meisten Menschen tragen eine derartige Hülle um sich, doch bleibt damit ihr wirkliches Wesen verborgen. Man kennt sich selber nicht wirklich, solange man sich vor sich selber schützt, und vor allem kennt man das Leben nicht. Viele fühlen sich dann lebendig, wenn möglichst viel geschieht, und sie suchen Aufregung – sei es in Ereignissen, in ihren Beziehungen, oder wenigstens im Kino. Das Wesen des Lebens kann durch die Anzahl intensiver Erlebnisse aber nicht multipliziert werden. Die Aktivitäten, die das Lebendige suchen, werden vielmehr zu jener Hülle, welche das eigentliche Leben verdeckt. Dies hatte ich in den Tagen mit Jeduschin begriffen, und ich hatte erkannt, dass die Suche nach dem wirklich Lebendigen, nach dem Charakter und dem Wesen des Lebens, nicht zu einem ‚Finden‘ führen konnte. Wer sucht, hat schon eine Vorstellung davon, was das Gesuchte sein könnte, und grenzt sich damit ein.
‚Das wirkliche Leben, kann nicht gefunden werden – denn es ist immer schon da‘ so hatte ich es mir damals notiert, nachdem mir Jeduschin wortlos eine Ahnung davon vermittelt hatte, was es denn war. Von seiner Klause aus hatten wir Wanderungen unternommen, und als wir einmal zum Meer gelangten, das weit unter seinem kleinen Anwesen lag, gewann ich einen Eindruck davon, was das Leben wirklich ist. Es ist unermesslich und unergründlich, und damals fielen für mich Begriffe wie ‚Leben‘, ‚Spiritualität’, ‚Gott‘ und ‚wahres Sein‘ in Eines zusammen und lösten sich darin auf. Es gab nur dieses Eine, das jenseits aller Begrifflichkeit lag, und ein Gefühl von unendlicher Freiheit hatte mich durchdrungen. Diese Freiheit war viel grösser, als sie in konkreten Situationen erlebt werden kann – es war eine Freiheit jenseits aller Ereignisse. Wo nichts Bestimmtes ist, da ist alles, und dazu hatte mich Jeduschin wortlos geführt. Mit meinen früheren Vorstellungen eines lebendigen Lebens fielen auch alle meine Ideen über ein erfülltes Leben dahin.
Das kleine Anwesen von Jeduschin, das ich damals auf einer Wanderung zufällig entdeckte, hatte sich in den zehn Jahren kaum verändert. Noch immer stand der Steintisch mit der Bank auf dem Hof, und noch immer war die Kapelle von weißem Licht erfüllt. Und doch schien mir etwas anders geworden zu sein, und ich wusste nicht, ob es nun an mir lag oder an Jeduschin, der hier schon lange lebte, und der inzwischen älter geworden war. Die kleine leere Kirche hatte für mich nicht mehr die Bedeutung von damals, wohingegen ich im Hof einen Ziehbrunnen entdeckte, der in der Zwischenzeit ausgehoben worden war. Ein Eimer stand daneben, doch war mir, als würde das tief im Schacht liegende Wasser von selbst empor quellen und den Hof wässern. Es war aber nur ein inneres Bild, das ich da sah, und der Hof war ganz ruhig an diesem windstillen Tag. Wie ich nach der langen Zeit wieder dastand, überkam mich ein unerwartetes Heimatgefühl. Das letzte Mal hier war ich verunsichert, beunruhigt, herausgefordert und zeitweilig auch erfüllt gewesen. Und als ich nach einer guten Woche Abschied nahm, war ich tief traurig, wenngleich ich wusste, dass mein Weg weiterführte. Ich musste unabhängig von Jeduschin meinen ganz eigenen Weg gehen. Das Leben verlangt manchmal solche Schritte, da es letztlich nicht um etwas Bestimmtes geht, sondern stets um das Unbestimmte. Das Bestimmte kann leicht zu einer Erstarrung führen, und das entspräche nicht mehr dem reinen Lebensfluss, der wir unserem Wesen nach sind.
Was ich während der umwälzenden Tage in der Klause erlebte – auch mit der Kunst und den beiden Frauen, die ich dort traf – hatte mich damals erschöpft, und ich spürte, dass ich alles tief in mich einsinken lassen musste, damit es Gültigkeit erhält. Manche Botschaft von Jeduschin hatte ich zwar erfühlt, aber nicht wirklich verstanden, und es hatte viele Jahre gedauert, bis diese Woche meines Lebens so verinnerlicht war, dass es nicht nur ein ‚bedeutender Teil meines Lebens‘ war, sondern das Leben selbst. Schon bei meinem Abschied hatte ich mir gewünscht, wieder einmal an diesen gesegneten Ort zurückzukehren, wenn die Zeit und das eigene Wesen dazu bereit sind.
Viel des damals Erlebten war in der Zwischenzeit zu meinem Wesen geworden. Es war dabei nichts Fremdes, das ich aufgenommen hatte, sondern ich hatte vielmehr das eigene Wesen mehr und mehr erfühlt, und es hatte in mir auch Gestalt angenommen. Trotzdem spürte ich auch noch lange nach meinem Aufenthalt in der Klause, dass ich nicht alles verstanden hatte, was mir Jeduschin damals sagte, und auch nicht, was er mir wortlos aufzeigte. So führte mich mein Weg auch deshalb wieder zu Jeduschin. Gerne hätte ich all dies weiter ergründet, und ich dachte, dass Jeduschin mir dabei eine Hilfe sein könnte. Und da war auch Barbara, die mein Herz damals bewegt hatte, und die ich in der ganzen verstrichenen Zeit niemals vergessen hatte. So war in den damaligen Tagen in der Klause nicht nur meine Seele, sondern auch mein Herz ergriffen worden, und zwischen beiden gab es keinen Unterschied.
Wie ich also auf dem Hof stand und gerade in den tiefen Brunnen blickte, trat Jeduschin aus seinem Haus und kam herzlich lachend auf mich zu. „Micha! Wie schön, dich nach so vielen Jahren wieder zu sehen!“ rief er aus, und wir sanken uns in die Arme. Also erinnerte auch er sich an unsere Begegnung, was mir eine große Freude war. „Ach weißt du“, erwiderte ich, „ich habe die Tage bei dir nie vergessen – im Gegenteil. Im Nachklang wurden sie immer dichter, und es war mir, als wäre ich bei Dir geblieben, und alles dauerte fort, was hier gewesen war. Nachdem ich hier meine Vorstellungen und Meinungen und damit auch meine bisherige Identität verloren hatte, bin ich unverhüllt weitergegangen – gewissermaßen ohne mich selbst, ohne das, was ich zu sein glaubte. Du hast mir wirklich den Boden unter den Füssen weggezogen, und so ist es geblieben. Wenngleich ich diese Art von Boden nicht wieder gewann, so schwebe ich doch gegenwärtig nicht. Ich bin einfach da. Und nun hat mich etwas nach all den Jahren wieder hierher gebracht. Es war nicht die Sehnsucht, Ähnliches wieder zu erleben, sondern vielmehr der Wunsch, das Erfahrene weiter zu vertiefen. Auch habe ich in jenen kurzen Tagen nicht alles begriffen, was du mir in verschiedener Weise mitgeteilt hast, und ich würde gerne über einiges nochmals mit dir reden und nachfragen.“ – „Da gibt es nichts zu verstehen“, antwortete Jeduschin kurz gefasst auf meine lange Rede, und ich spürte, dass er noch der Alte geblieben war. Zeitweilig hatte er damals wenig gesprochen, und doch hatte er mir auch Erläuterungen gegeben, damit mein Verstand nachkommen konnte, wenn er mir etwas aufzeigte. Es gab bei ihm keine Trennung zwischen Leben, Aufzeigen und Erklären – er war einfach stets ganz sich selbst und äußerte sich so, wie es ihm gerade zumute war.
„Wie ist es in der Kapelle“, fragte ich dann, da ich sie noch gar nicht betreten hatte. „Erinnerst du dich noch, wie ich erschüttert war, als ich mich erstmals darin aufhielt? Ist ihre Energie und Dichte noch wie damals?“ wollte ich gerne wissen. – „Natürlich erinnere ich mich“, antwortete Jeduschin, „aber die Dichte des Daseins ist überall. Hast du den Brunnen beachtet?“ – „Ja, ich hatte das Gefühl, dass das Wasser aus dem tiefen Schacht hervorquillt und über den Brunnenrand in den Hof fließt – unaufhörlich“, antwortete ich, „aber es war natürlich nur ein Bild.“ – „Es war so, als wir den Brunnenschacht ausgehoben haben“, sagte Jeduschin daraufhin, „und du hast es wohl deshalb gesehen. Und in gewisser Weise ist es immer noch so. Weißt du, was Wasser ist?“. Ich erinnerte mich daran, dass mir Jeduschin erzählt hatte, wie er am Meer in einer Höhle gelebt hatte, und welche tiefen Erfahrungen er dabei gemacht hat. „Das Lebenswasser?“ fragte ich daraufhin. „Lebenswasser – ein schönes Symbol. Aber nur ein Symbol“, meinte er daraufhin. „Warst du schon einmal durstig und hast dann Wasser getrunken?“ Das hatte ich nun tatsächlich einmal erlebt, als ich auf der Suche nach Wissen, Weisheit und Wahrheit in verlassener Gegend von einem Kloster zum nächsten gewandert war. Ich hatte nicht genügend Wasser mitgenommen und hatte mich nach vielen Wanderstunden in einen Bach gelegt, der endlich meinen Weg kreuzte. „Ja“, antwortete ich einfach. – „Und hast du in dem, was du ‚Lebenswasser’ nennst, tiefe Erkenntnis gefunden?“ fragte er weiter. – „Nein, ich war einfach durstig und habe getrunken“. – „Trinken ist geschehen“, präzisierte Jeduschin daraufhin. Und ich spürte in seinen Worten, dass es nicht um Wissen oder Weisheit ging. Sondern einfach, dass Trinken die Wahrheit war.
Und schon waren wir wieder mitten in der Art Gespräche, wie wir sie damals geführt hatten. Ich spürte, dass ich nun wieder ganz bei Jeduschin war, und ganz zuhause. Und ganz bei mir selbst – oder überhaupt einfach ganz. Dieses Gefühl hatte ich in den vergangenen Jahren zwar immer wieder erlebt, aber nun war es dichter. Und es bedurfte jetzt auch nicht mehr der kleinen Kapelle, in welcher ich es erstmals wahrgenommen hatte. Auch Kapellen sind vergängliche Erscheinungen. Und auch der Hof mit dem Brunnen, und selbst Jeduschin. Irgendwie wusste ich es, und doch hatte es mich wieder hingezogen zu diesem besonderen Menschen und zu seinem Anwesen, das so bescheiden und zugleich verheißungsvoll in der Landschaft lag. Eigentlich war ich ohne Plan gekommen – es schien einfach Zeit dafür gewesen zu sein, und doch war es mit wichtig, wieder hier zu sein. Selbst dann, wenn Bedeutungen in den Augen von Jeduschin nicht existierten, das wusste ich. Da bestand immer noch ein Unterschied zwischen uns, den es zwar nicht einzuebnen galt, doch wollte ich von diesem ‚weisen Mann‘ weiter lernen. Aber vielleicht war gerade dies der Fehler?
„Magst du etwas essen und trinken“, fragte er mich dann, „es gibt Käse und Brot in der Küche sowie einige Tomaten aus dem Garten“. „Und Wasser in Hülle und Fülle“, fügte er dann schmunzelnd hinzu. So war es also, wieder hier zu sein. Brot, Käse, Tomaten und Wasser. Und Jeduschin auf der Steinbank, und ich bald ohne Worte. Wie bei meinem früheren Besuch zerschlug es mir hier wieder die Sprache, und ich hatte nichts weiter zu sagen. Jedenfalls nichts ‚Wirkliches‘. Also schwieg ich und nahm das Angebot des Mahles dankend an. Zwar wollte ich noch viele Fragen stellen – all die Fragen, die mich über die Jahre beschäftigt hatten. Und ich wollte über all die Dinge sprechen, die mir unerklärlich geblieben waren. Doch nun gab es nichts zu sagen – ein merkwürdiges Gefühl, das mir zugleich vertraut war. Auch bei meinem letzten Besuch wusste ich oft nichts zu äußern, wenn zwischen uns eine dichte Stimmung aufkam. Doch ist wusste auch, dass meine Fragen wieder aufsteigen würden, und dass Jeduschin sie dann wohl beantworten würde – wenngleich auf seine Weise. Selbst nach fast zehn Jahren war er offensichtlich Herr unserer Gespräche geblieben, und wie damals lag es auch jetzt in seiner Hand, wie die Begegnungen verliefen. Seine Kraft war allerdings absichtslos, aber wenn es mir gelang, mich ebenfalls ohne Intentionen einzubringen, dann bestimmte letztlich niemand wirklich das Geschehen und den Gesprächsverlauf.
So aßen wir Brot, Käse und Tomaten, und wir tranken von dem Wasser, das gewissermaßen aus dem Brunnen quoll. „Es ist wie mit dem Leben selbst“, sagte Jeduschin dann unversehens, „es quillt auch unaufhörlich, unabhängig davon, was wir darüber denken. Immer wollen die Menschen etwas, oder sie suchen nach etwas, und sie übersehen, dass alles schon da ist. Etwas anderes als dieses quellende Leben gibt es nicht“. Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Denkst du noch an Barbara, die junge Frau mit dem Kind, für die du gute Gefühle hattest?“ Und wieder machte er eine Pause. Und dann fügte er an: „Es ist nicht nur so, dass sie mit dem Lebensstrom floss, vielmehr war und ist sie der Strom“. Musste dies nun sein, dass mich Jeduschin – kaum hatten wir uns nach so langer Zeit wieder gesehen – gleich daran erinnerte? Natürlich hatte ich sie nicht vergessen. Ich hatte mir vorgestellt, dass sich Jeduschin ganz allgemein danach erkundigen würde, was ich all die Jahre hindurch getan und erlebt hätte, und dass er sich vielleicht auch nach meinen Erkenntnissen erkundigen würde. Aber das tat er nicht. Er fragte einfach nach Barbara. Es hätte auch Esmeralda sein können, die so fragte. Ich hatte sie bei meinem früheren Besuch in der Klause kennen gelernt, und sie war so direkt und präzis, dass man sich leicht verletzt fühlen konnte. Aber sie meinte es nicht böse – sie brachte einfach die Dinge auf den Punkt. Und ich fragte mich, ob Jeduschin nun auch so geworden sei, doch fragte ich ihn nicht danach. Ich hätte auch keine Antwort bekommen, so gut kannte ich Jeduschin nun doch.
„Ja“, antwortete ich etwas kleinlaut, „ich habe sie nicht vergessen“. – „Sie lebt noch auf dem Bauernhof, aber nun ist auch sie zehn Jahre älter, und das Kind ist schon recht groß. Weitere Kinder hat sie nicht bekommen. Ich glaube, dass sie das mit ihrem Mann nicht wollte“, fügte er an, ohne dass ich ihn danach gefragt hätte. Und mir schien, dass in seinen Worten auch die Aufforderung lag, der Sache nachzugehen. „Den Kreis der wachen Menschen, den du das letzte Mal kennen gelernt hast, gibt es übrigens immer noch. Gelegentlich kommen sie und sitzen rund um den Steintisch. Und auch das Sonnensegel, an dem Du, Barbara und die vielen anderen gearbeitet haben, existiert noch. Manchmal spannen wir es auf, wenn es heiß ist. Allerdings ist es etwas ausgebleicht. Die vielen Farben sind matter geworden.“ – „Wie im Leben selbst“, fügte ich lächelnd an, dies im Gedanken, dass auch Jeduschin so etwas angefügt haben könnte. Barbara hatte seinerzeit mein Herz erfüllt, weil sie nicht nur von lieblichem Wesen war, sondern zugleich eine tiefe und weite Sicht auf das unergründliche Leben hatte. Sie kannte Jeduschin, war aber nie in eine Art spirituelle Schule gegangen, weder bei ihm noch sonst wo. Solche Schulen führen ja meistens auch nicht wirklich weiter – oft weil sie einen Weg vermitteln, der zum Nachahmen auffordert. Erkenntnis muss aber genuin sein und kann letztlich nicht gelehrt werden, denn der Weg des einen ist nicht der Weg des andern. Im besten Fall kann gezeigt werden, was Erkennen alles nicht ist, denn es hat nicht mit Wissen zu tun, sondern vielmehr mit Nicht-Wissen, und so geht es auch nicht um etwas, das mit dem Verstand erfasst werden kann.
Barbara hatte genau diese Art von genuiner Erkenntnis, und sie war ihr von alleine zugefallen – oder vielmehr zugestoßen. Erst später fand sie bei Jeduschin die Bestätigung, dass sie nicht der einzige Mensch mit einer solchen Sicht war. Denn auf dem Bauernhof, wo sie lebte, da gab es niemanden, mit dem sie sich hätte austauschen können, und in solchen Fällen kann leicht eine Orientierungslosigkeit eintreten. Barbara lebte ab da nicht mehr in der gleichen Welt wie alle anderen, und sie war nicht mehr aufgehoben in der Welt der ‚Normalität‘, in jener Welt, in welcher alle Erscheinungen rein äußerlich verstanden werden und der tiefe Existenzgrund nicht in Sichtweite ist. „Ich habe Barbara nach meinem Weggang besucht“, berichtete ich Jeduschin auf seine Bemerkung hin, „und wir waren wieder zusammen am Meer. Alles war ähnlich wie bei unseren ersten Treffen, und wir wussten beide still um die gewachsene Liebe. Barbara aber wollte keine Unruhe in die Beziehung mit ihrem Mann und ihrem Kind bringen, und so gingen wir verschiedene Wege, wenngleich unsere Bindung bestehen blieb.“
„Ich weiß“, sagte Jeduschin nur dazu. Und wie immer hatte sein Schweigen nicht im oft falsch verstandenen Sinn eine ‚tiefere Bedeutung‘, sondern es war vielmehr das reine Sein, das sich darin ausdrückte. Es war das Leben selbst, das schwieg, weil es nichts zu sagen gab. Und auch Barbaras Leben hatte geschwiegen. Was man über Situationen denkt, ist im Vergleich zu ihnen immer zweitrangig – nicht mehr das Eigentliche. Das Eigentliche war in diesem Fall, dass sie auf dem Bauernhof geblieben war, auch wenn niemand sie in ihrem Wesen verstehen konnte und sie ab dem Zeitpunkt ihrer neuen Sicht innerlich allein geblieben war. Aber offenbar klagte sie nicht darüber, sondern schaute vielmehr dem Leben schweigend zu, während sie ihre familiären Pflichten erfüllte. Jeduschins Worte ‚sie lebt noch auf dem Bauernhof ‘ machten mir all dies klar. Wie ich später erfuhr, wollte sie ihrem Mann auch deshalb keine Schmerzen bereiten, weil er nichts dafür konnte, dass er ihrer Entwicklung nicht zu folgen vermochte. Er war ein guter Mann, der sich alle Mühe gab und auch still hinnahm, dass er seine Frau in gewisser Hinsicht nicht verstehen konnte. Nur selten hatte sie ihm davon erzählt, was sie wirklich bewegte – vielleicht in der Hoffnung, dass er eines Tages doch etwas davon aufnehmen würde, aber die Hoffnung war unerfüllt geblieben.
So war ich also mit allen Themen wieder angekommen in der Klause von Jeduschin. Ich hatte ihm nichts zu verbergen und war auch nicht mehr so scheu wie bei meinem letzten Besuch, wo ich oft nicht über meine Gefühle sprechen mochte. Inzwischen war ich ja auch zehn Jahre älter geworden, und es gab keine Geheimnisse mehr, die ich hüten musste. In den Jahren nach meinem letzten Aufenthalt war mir durchaus klar geworden, dass das Leben in allem ganzheitlich ist, und dass es auch nichts zu verbergen gab – wem denn gegenüber? Nur Meinungen können verletzend wirken, aber Jeduschin hatte keine Meinungen – er war ein Diener der ‚Wahrheit‘, und die Wahrheit war das Leben selbst, das nicht zu kritisieren ist.
Nur Esmeralda fehlte noch im Kranz der wieder aufgelebten Begegnungen meiner ersten Zeit in der Klause, und ich fragte Jeduschin nach ihr. Die ältere weise Frau war mir in tiefer Erinnerung geblieben, weil sie mich so treffend herausgefordert hatte. Mit nur wenigen Worten brachte sie alle meine Widersprüche aufs Tapet, und ich hatte mich mehr als einmal tief ertappt gefühlt. So wohlwollend und herzlich, wie sie in ihrem Wesen war, fühlte ich aber immer den guten Geist und die Förderung von ihr. Nie ging es ihr darum, mich bloßzustellen, sondern sie ließ mich einfach spüren, was noch zu bereinigen war. „Sie ist nicht hier“, antwortete Jeduschin auf meine Frage, „ich weiß nicht, wo sie gerade ist.“ Bei seinen Worten wusste ich nicht, ob es einfach eine Feststellung war, oder ob da noch etwas anderes mitschwang. Die Beziehung, die Jeduschin und Esmeralda zueinander hatten, war mir beim letzten Besuch sehr bedeutsam erschienen – von tiefer Verbindung und zugleich von ungewöhnlicher Freiheit. Aus Jeduschins Worten konnte ich aber nicht ableiten, ob sie für längere Zeit wegbleiben würde. Vielleicht war es Esmeraldas Freiheit, die sich eben einen neuen Ausdruck suchte, und wofür sie vielleicht Zeit brauchte. So wie ich sie damals erlebt hatte, war auch nie ausgeschlossen, dass sich die beiden bald wieder begegnen würden und vielleicht gemeinsam weitere Schritte unternähmen. Nicht dass sie dann eine definierte Beziehung hätten, wie sie die meisten Menschen führen, sondern dass das Leben sie einfach wieder enger zusammenführen würde. Eine solche Gemeinschaft zu pflegen musste sehr anspruchsvoll sein und war für gewöhnliche Menschen wohl nicht denkbar, aber ihnen traute ich dies zu. Und alles was geschehen würde, wäre niemals die Absicht des einen oder der anderen, und auch nicht eine Absicht von beiden zusammen, sondern es wäre einfach das Leben selbst – wieder einmal. „Ist sie schon länger nicht mehr hier?“ wollte ich gerne wissen. Für solche Zeitfragen war Jeduschin aber nicht zu gewinnen – ich hätte es wissen müssen. Er lebte ja nicht in einer chronologischen Zeit, in welcher das eine dem anderen folgt, sondern verkörperte vielmehr das reine Dasein. „Es ist nicht wesentlich“, antwortete der daraufhin, „einfach gerade jetzt ist sie nicht da.“ Tatsächlich war es nicht ausgeschlossen, dass sie morgen wieder hier sein würde. Man weiß ja nie, was der nächste Tag bringt.
Bei den wenigen Worten, die wir austauschten, und den vielen Gedanken, die ich während unseres Schweigens gehabt hatte, war es später Abend geworden. „Dein Zimmer steht bereit“, meinte Jeduschin so nebenher, als wäre ich vor zwei Tagen weggegangen. Und es war die Einladung, wieder etwas bei ihm zu bleiben und den Weg mit ihm weiterzugehen, bis sich unsere Wege wieder trennen würden, wie schon letztes Mal. Und es war mir dabei, als würde es gar keine wirkliche Trennung geben können, selbst wenn wir uns niemals wieder sähen. In diesem einen Sein war alles eingeschlossen, die Anwesenden und die Abwesenden, und selbst die Toten. Ich bedankte mich für Jeduschins herzliche und so selbstverständliche Aufnahme in seiner Klause, und ich fühlte, dass mir wohl wieder gewichtige Tage bevorstünden, gerade wie bei meinem letzten Besuch. Aber damals hatte ich nicht gewusst, wie bedeutungsvoll dieser Ort und die Begegnung mit den Menschen hier für mich sein würden.
Diese erste neue Nacht im kleinen Gästehaus hatte ich gut geschlafen. Es kam mir wieder ganz vertraut vor, ganz wie damals. Und das war ganz im Sinne, wie Jeduschin es mir auch angeboten hatte. Er tat alles ganz unvoreingenommen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Und ebenso selbstverständlich war es, wieder hier zu sein. Darin fühlte ich einen Zustand von Zeitlosigkeit, wie ich ihn schon bei meinem früheren Aufenthalt hier erlebt hatte. Das hatte ich Jeduschin zu verdanken, der mit seiner präsenten Gegenwart alle Menschen erreichte. Vergangenheit schien ihn nicht zu interessieren, und für die Zukunft hatte er keine Pläne. Jeden Tag ließ er sich von dem überraschen, was geschah, und er führte dabei keineswegs ein langweiliges Leben. Weil er oft allein wohnte, hatte ich bei meinem ersten Besuch den Eindruck gewonnen, dass er ein Einsiedler sei – ein Eremit, der sich vom aktiven Leben zurückgezogen hätte. Dem war aber nicht so, denn er hatte hin und wieder Besuch von kürzerer oder längerer Dauer. Und damals hatte er mir auch erklärt, dass er im Alleinsein keinerlei Einsamkeit verspüre, sondern die Erfüllung eines Daseins erlebe, das alles umfasse. Und wie könne man in der Gegenwart von allem einsam sein?
Wie früher hatte er mir wieder ein kleines Frühstück zubereitet. Den Tee hatte er sorgfältig aus seinem Kräutergarten gemischt, und das frisch aufgebackene Brot duftete wunderbar. Dazu gab es den obligaten Käse, aber auch selbstgemachte Konfitüre stand zur Auswahl. Jeduschin war ein guter Gastgeber und auch ein Hausmann, was sich notwendigerweise ergibt, wenn man öfter allein lebt, und er machte es wunderbar. Alles war sauber, auch wenn ich ihn nie Wäsche waschen oder Bettlaken aushängen sah. Allerdings kam gelegentlich Bert vorbei, ein scheuer Junge, der ihm zur Hand ging und einige solche Aufgaben erledigte. „Heute gehe ich zu meinem Kollegen und Freund Mauro“, sagte Jeduschin dann, „möchtest du mitkommen?“ In der Selbstverständlichkeit, in welcher Jeduschin lebte, bezog er mich wie schon früher in sein alltägliches Leben ein. Er machte sich nie Sorgen darüber, zu welchem Resultat seine Handlungen führen könnten, sondern er folgte seinen jeweiligen Eingebungen, denen er jedoch keine besondere Bedeutung beimaß. Was immer sich ergab, war ihm einerlei. Und gerade darin sah ich etwas Besonderes, denn in der Absichtslosigkeit konnte sich seine große Kraft gestalten.