Zen für niemanden - Dieter Wartenweiler - E-Book

Zen für niemanden E-Book

Dieter Wartenweiler

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Beschreibung

Viele Menschen suchen nach Erlösung, glauben aber, diese "für sich" gewinnen zu können. Gemäss den buddhistischen Texten geht es aber nicht um die Befreiung einer Person, die dann frei ist, sondern um die Freiheit davon, eine Person zu sein. Dies ist auch die zentrale Botschaft des Zen, was anhand grundlegender Zen-Texte belegt wird. Im Weiteren wird in diesem Buch dargelegt, wie eine entsprechende Befreiung auch heute möglich ist, sofern sich die übliche dualistische Weltsicht auflösen kann. Zen gibt auch viele Hinweise zu solchen Prozessen. Jenseits der Person zeigt sich, dass alles schon vollständig ist und darüber hinaus nichts erlangt werden kann oder muss.

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«Wenn, Subhuti, ein Bodhisattva an der Vorstellung festhält, dass ein Selbst, eine Person, ein Lebewesen oder eine Lebensspanne existiere, dann ist er kein echter Bodhisattva.»

Diamant-Sutra

Inhalt

Einleitung

ZEN IM URSPRUNG

Zen

Weisheit der Sutren

Die Botschaft der alten Zen-Meister

Sitzen in der Soto-Tradition

Fragen im Rinazi-Zen

Der weglose Weg

Nichts und „etwas“

Jede Lehre ist einschränkend

Das Zen-Paradox

Wege setzen Trennung voraus

DIE WENDE DER SICHT

Nichtwissen

Spiritualität ist eine Vorstellung

Jenseits von Zeit

Die Welt als Traum

„Du“ kannst es nicht erlangen

Wenn das Ich weicht

Auflösung der Perspektive

Das lange Hin und Her

Orientierungslosigkeit

Der Sprung ins Unfassbare

WAS BLEIBT IST ALLES

Das Leben genügt sich selbst

Da ist nichts Bestimmtes

Zen ist wie ein Kleid

Von der Fülle der Leere

Das Leben wird nicht erlebt

Freiheit

Nirvana im Samsara

Keine Lehre

Wellen im Meer

Fehlt noch etwas?

Anmerkungen

Einleitung

Zen weist über alles hinaus, was wir üblicherweise als unsere Welt verstehen. Es hat nichts mit all den Vorstellungen zu tun, die wir uns über das eigene Leben, das Leben überhaupt und über alle Zusammenhänge machen. Zen zeigt auf, dass derartige Vorstellungen gedankliche Konstrukte sind, und nicht das, was das Leben und die Welt sind. Sie werden dem vorangestellt, was ist, doch „was ist“ kann letztlich nicht benannt werden. Zen verweist auf das Mysterium allen Seins, und darüber kann nichts Abschießendes, ja nicht einmal etwas Bedeutendes gesagt werden. Die Worte bleiben immer hinter dem zurück, worum es eigentlich geht, und das gezwungenermaßen, weil das Eigentliche nicht beschrieben werden kann. Ja es kann nicht einmal gesagt werden, ob es dieses überhaupt gibt. Etwas als eigentlich zu benennen ist schon ein Konstrukt, und selbst Existenz erweist sich bei näherer Betrachtung ebenfalls als eine reine Hypothese. Unter Existenz kann man sich ja etwas vorstellen, und darum geht es im Zen nicht. Im Rahmen des Zen wird auch oft von der Einheit des Seins gesprochen, was nicht unzutreffend ist. Das ist allerdings eine besondere und für den Verstand nicht leicht zu akzeptierende Sache. Es wird damit nicht nur der Zusammenhang von verschiedenen Erscheinungen bezeichnet, sondern der Umstand, dass es ursprünglich gar keine Trennung gibt. Das schließt uns selber in dem Sinne ein, dass da kein unabhängiges Wesen existiert, das Einheit „erfährt“, sondern man selbst ist diese Einheit.

Was im Zen angesprochen ist, entzieht sich jeder einfachen Erläuterung. Schon die alten Zen-Meister haben sich mit diesem Dilemma schwergetan, und es blieb ihnen nur, auf heute manchmal ungewohnt wirkende Weise auf das hinzuweisen, was sie meinten. Nachdem Zen nun im Westen angekommen ist, werden auch hierzulande die alten Zen-Geschichten kolportiert, besprochen und erklärt. Zweifellos gehören manche dieser Geschichten (vor allem die vielen Koan – Gespräche zwischen Zen-Meistern und ihren Mönchen) zur Weltliteratur, weil sie nicht weniger tiefgründig sind, als etwa Goethes Faust. Ihre stetige Repetition und auch die in der Zen-Praxis üblichen Rezitationen führen aber nicht ohne weiteres zu tieferer Einsicht, so wie das Auswendiglernen und das Rezitieren des Faust in Schulklassen nicht bereits ein tiefes Verständnis garantiert.

Zen nimmt einem gewissermaßen den Boden unter den Füssen weg, indem es einem die gewohnten Verständnisschlaufen entzieht und man ohne etwas dasteht – gewissermaßen nackt – bis auch das eigene Selbstverständnis in der Unergründlichkeit versinkt. Entsprechend bietet dieses Buch keine Erklärungen an, aber es mag dem allgemeinen Wunsch nach gedanklicher Orientierung etwas entgegenwirken, auf dass in der darauf folgenden Ratlosigkeit aufscheinen kann, was mit Zen gemeint sein könnte.

Im Zusammenhang mit Zen wird von Befreiung, Erleuchtung, Öffnung oder Erfüllung gesprochen, worauf später noch eingetreten wird. Oft ist damit die Idee verbunden, dass es so etwas wie einen Weg gibt, den man beschreiten kann und der irgendwann einmal zu einem derartigen Ziel führt – was immer man sich darunter vorstellen mag. Dafür können die eigenen Kräfte eingesetzt werden, und der Ort dafür ist für viele die Sitz-Meditation, Zazen genannt. Meditierend wird man ruhiger, wird von den eigenen Gedankenströmen unabhängiger, gewinnt mehr Gelassenheit und bessere Gesundheit – und was alles sonst erwartet werden und durchaus auch eintreten kann. Gelegentlich werden solche Ergebnisse auch als Vorstufe dessen bezeichnet, was noch folgen kann, oder als Nebenerscheinung eines tieferen Prozesses. Auch wird davon gesprochen, dass man mehr zu sich komme, wobei aber unklar bleibt, was „bei sich sein“ eigentlich heißen soll. In all dem besteht allerdings die Gefahr der Instrumentalisierung, und der eigentliche Gehalt des Zen kann aus dem Blickfeld geraten.

In seinen Grundzügen weist Zen aber über alle möglichen Ziele hinaus in einen Bereich, der sich jeder Beschreibung entzieht. Der Umgang mit dieser Unfassbarkeit ist eine große Herausforderung, die sich auch in diesem Buch stellt. Zahlreiche Bezüge auf die buddhistischen Sutren (als Ursprung des Zen), manche Zitate alter Zen-Meister und weitere Überlegungen sollen helfen, einen tiefen Zugang zu den schwer fassbaren Grundzügen des Zen zu ermöglichen. Da der Kern des Gemeinten aber unaussprechbar ist – was gerade das besondere Wesen des Zen ausmacht – kann dieser letztlich doch nur umkreist werden. Weil die Bezüge von recht unterschiedlichen Seiten her erfolgen, kann das Ganze dabei fast wie eine Litanei wirken – nicht ganz unähnlich der alten buddhistischen Texte, wo das Unbeschreibliche in der steten Wiederholung und Beleuchtung anklingen kann. Die Abfolge der Erwägungen können dabei wie ein klassisches Musikstück wirken, in welchem ein Hauptthema in verschiedenen Variationen, Tonlagen, Umkehrungen und Tempi behandelt und mit Nebenthemen verbunden wird, bis sich schließlich alles im Schlussakkord und in der darauf folgenden Stille verdichtet, worin das Unfassbare hinter den Klängen spürbar werden kann.

Zen im Ursprung

Zen

„Keine Person, kein Selbst, kein Leben, keine Lebensspanne“

(Diamant-Sutra)

Weisheit der Sutren

Zen hat seinen Ursprung im Buddhismus. In Indien wurde die Meditation Dhyana genannt, und wie die Geschichte lehrt, soll Buddha nach asketischen Versuchen lange in Meditation gesessen haben, bis er bei Tagesanfang angesichts des Morgensterns tiefes Erkennen erlangt haben soll. Buddha war selbstredend kein Buddhist, sondern dem Hinduismus zugehörig, und seine spätere Lehre fußt im Hinduismus. Wenn daraus später in der Begegnung des Buddhismus mit dem chinesischen Taoismus Zen entstand, so zeigt sich allein schon in der Verbindung dieser großen geistigen Strömungen des Ostens, dass Zen von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung ist. Es darf also nicht unterschätzt werden, und seine Wirkkraft kann nicht darin liegen, dass es uns etwas mehr Gelassenheit und Zentrierung ermöglicht oder „psychologische Prozesse unterstützt“, wie gelegentlich gesagt wird.

Die Frage ist also, was Buddha dem Mythus nach erkannt hat. Es heißt, dass er mit seiner Erkenntnis das Leiden überwunden habe, und wie geschildert wird, hat er darauf aufbauend seine Lehre von der Überwindung des Leidens entwickelt. Sie wird durch die „vier edlen Wahrheiten“ charakterisiert: (1) Leben ist Leiden, (2) der Grund des Leidens liegt in den Anhaftungen, (3) mit dem Erlöschen dieser Ursachen vergeht das Leiden, und (4) dazu führt der edle achtfache Pfad (rechte Gesinnung, rechte Erkenntnis; rechtes Streben, rechte Achtsamkeit, rechte Versenkung; rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenswandel). Es kann dabei angenommen werden, dass die erwähnte „rechte Erkenntnis“ auch als Resultat der übrigen Verhaltensweisen gelten kann. Selbstredend gibt es unzählige Darstellungen und Interpretationen dieser Lehre, die auch viele Präzisierungen der einzelnen Punkte enthalten, und die ganze buddhistische Literatur umfasst tausende von Werken. Bereits der Pali-Kanon, die im 1. Jh. verfasste und ursprünglich auf Palmblättern niedergelegte Sammlung der Lehrreden Buddhas, ist ein umfassendes Werk. Im Rahmen des Zen wurde versucht, deren Aussagen wieder auf die anfängliche Erkenntnis Buddhas zurückzuführen. Dies hat sich vor allem in zahllosen Gesprächen zwischen Zen-Meistern und ihren Mönchen niedergeschlagen, die heute als Koan bekannt sind. Das heißt aber nicht, dass die ursprünglichen Lehrreden Buddhas, die in den Sutren dargelegt sind, für Zen nicht auch von großer Bedeutung wären. In manchen Sutren wird dargelegt, wie sich Buddha an seine Schüler richtet, allen voran an Subhuti, der sich durch tiefes Verständnis auszeichnete. Während manche Sutren eher einer Litanei gleichen (etwa das Lotos-Sutra), sind andere in ihrer Aussage von fordernder Präzision. Darunter kann das Diamant-Sutra als Steilpass gelten, indem es in kaum zu überbietender Radikalität aufzeigt, um was es geht.

Darin heißt es:1 „Wenn, Subhuti, ein Bodhisattva den unübertrefflichen Geist des Erwachens entwickeln will, muss er alle Vorstellungen aufgeben. Er kann sich nicht auf Form stützen, will er diesen Geist entwickeln, noch auf Klang, Ton, Geruch, Geschmack, Berührbares oder Objekt des Geistes. Nur den Geist kann er entwickeln, der an nichts verhaftet ist.“ Mit den Bodhisattvas, den „nach höchster Erkenntnis strebenden Wesen“, sind die Schüler Buddhas gemeint, die er anspricht. Für den „Geist des Erwachens“ müssen also alle Vorstellungen aufgegeben werden: alle Meinungen (auch über sich selbst), und damit alle Charakterisierungen, Fixierungen und Identifikationen. Damit lösen sich auch jene Verstrickungen, die heute im Rahmen der Psychologie und entsprechender Therapien beschrieben und behandelt werden.

Weiter steht im Diamant Sutra: „Der Tathagata hat erklärt, dass alle Vorstellungen Nicht-Vorstellungen sind und alle Lebewesen Nicht-Lebewesen. Subhuti, der Tathagata spricht von den Dingen so, wie sie sind, er sagt, was wahr ist und mit der Wirklichkeit übereinstimmt.“ Mit Tathagata meint Buddha sich selbst und sagt dazu im Dimant-Sutra: „Subhuti, die Bedeutung von Tathagata ist ‚Der von nirgendwoher kommt und nirgendwohin geht‘.“ Wenn gesagt wird, dass Vorstellungen Nicht-Vorstellungen sind, so bedeutet dies, dass sie ohne wirkliche Substanz sind. Und ebenso verhält es sich mit den Lebewesen: auch die Idee eines getrennten Lebewesens ist nichts anderes als eine Vorstellung. Kein Lebewesen existiert für sich selbst – vielmehr ist es Teil eines umfassenden Austausches, beginnend bei Atemluft und Nahrung bis hin zur Erde und letztlich zum Sternenstaub. Nichts existiert für sich allein und alle Trennungen sind künstlich – lediglich der Wahrnehmung eines sich als getrennt erfahrenden Teils davon entsprechend.

Ähnliche Charakterisierungen des Buddha betreffen auch die Zeitdimension und darüber hinaus die Vorstellungen eines Geistes: „Der Buddha sagte: ‚Subhuti, der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, noch der gegenwärtige oder der zukünftige Geist‘.“ Was Geist sein soll, ist bei näherer Betrachtung tatsächlich nicht zu beschreiben – im besten Falle geht es um Gedanken oder Inhalte, die ihrerseits wiederum keine wirkliche Existenz aufweisen. „Geist“ ist im Grunde nur ein Begriff oder ein Konzept. Und was die Zeit anbelangt, stellen Vergangenheit und Zukunft ebenso lediglich Vorstellungen dar, welche in der Gegenwart erscheinen. Wenn es aber weder Vergangenheit noch Zukunft wirklich gibt, kann auch keine Gegenwart bestimmt werden, denn es gibt nichts, wozu diese im Gegensatz stehen könnte. Damit aber wird auch dieser Begriff im Grunde hinfällig.

Entsprechend fragte Subhuti den Buddha: „Weltverehrter, ist der höchste, vollkommen erwachte Geist, den der Buddha erlangt hat, das Nicht-Erlangbare?“, und Buddha sagte: „Das ist richtig. Die Frucht des höchsten, vollkommen erwachten Geistes wird durch die Übung aller heilsamen Handlungen verwirklicht im Geiste von Nicht-Selbst, Nicht-Person, Nicht-Lebewesen und Nicht-Lebensspanne.“ Bereits an früherer Stelle im Diamant-Sutra sagte Buddha zu Subhuti: „Wenn, Subhuti, ein Bodhisattva an der Vorstellung festhält, dass ein Selbst, eine Person, ein Lebewesen oder eine Lebensspanne existiere, dann ist er kein echter Bodhisattva.“ So wie Lebewesen und Lebensspanne eine Trennung der Erscheinungswelt in Einzelteile und die Vorstellung getrennter Zeiten voraussetzen, verhält es sich letztlich auch mit dem, was hier als Selbst und Person bezeichnet wird. Es geht dabei wohl um das, was wir heute als „Ich“ bezeichnen, als Vorstellung von sich selbst als getrenntem Wesen, das durch die Identifikation mit den verschiedenen Eigenschaften auch als Person erscheint. All dies ist nicht von tatsächlichem Gehalt, wobei sich selbst der „höchste vollkommen erwachte Geist“ eines Bodhisattva als Vorstellung erweist. Das Nicht-Erlangbare, das nicht nur für den Buddha, sondern für uns alle gilt, kann nicht erfasst werden – es ist ein Mysterium.

Dennoch besteht im Diamant-Sutra nicht die Meinung, dass die Welt wegen ihres unfassbaren Wesens nicht existiere. So steht im Diamant-Sutra: „Subhuti, denke nicht dass jemand, der den höchsten, vollkommen erwachten Geist in sich erweckt, alle Objekte des Geistes als nicht-existent, als vom Leben abgeschnitten, betrachten müsse.“ Er ist einfach unbeschreiblich und damit jenseits von Begriffen wie existent oder nicht-existent.

Wenn wir den Buddhismus in seinen Ursprüngen als Grundlage des Zen betrachten, so ist das Diamant-Sutra eine wunderbare Referenz dafür. Der Name weist darauf hin, dass die Weisheit des Sutras so scharf ist, dass sie sogar einen Diamanten zu spalten vermag. Neben dem Herz-Sutra, auf das später Bezug genommen werden soll, kann es mit seinen prägnanten Aussagen als eine der bedeutenden Grundlagen des Zen betrachtet werden. Die Aussagen des Zen und des Buddhismus liegen darin in konzentrierter Form vor.

In vielen heutigen Interpretationen des Zen und in entsprechenden Lehrreden werden die genannten wesentlichen Aussagen des Diamant-Sutra aber wenig berücksichtigt und oft ausgeklammert. Der Grund dafür mag in der großen Schwierigkeit liegen, von sich selbst als einer „Person“ abzusehen – und genau genommen kann man selbst dies auch gar nicht tun. Da würde ja wiederum ein „Ich“ übrigbleiben, dass nun von sich selbst absieht – womit es nicht aufgehoben wäre. Damit sich dieses Dilemma klären kann, bedarf es einer ganz anderen, unpersönlichen Sichtweise, als würde das eigene Wesen über sich selbst hinausreichen in eine Dimension, in welcher es keines Selbst und keiner Person mehr bedarf – ja wo sich diese tatsächlich als inexistent erweisen.

In einem anderen bedeutenden Sutra, dem Akashagarbha-Sutra2 (Schatzkammer des unendlichen Raumes), wird die im Diamant-Sutra angesprochen Thematik von Existenz und Nicht-Existenz näher erläutert. Danach berichtet Buddha: „Akashagarbha lehrt zum Wohle der Lebewesen, um sie abzubringen von den zwei falschen Sichtweisen von Existenz und Nicht-Existenz. Er unterweist sie, damit ihnen Einsicht zuteil wird in die Natur aller Dharmas und sie auf diese Weise erkennen mögen, dass sie weder existieren noch nicht existieren.“3 Buddha selber sagt dazu in diesem Sutra: „Betrachtet die zusammengesetzten Dinge, als wären sie wie ein Stern, eine Luftspiegelung, der Schein einer Butterlampe, wie eine Illusion, ein Tautropfen, eine Luftblase im Wasser, wie ein Traum, ein Blitz oder eine Wolke.“ Es wird darauf verwiesen, dass bei der Vorstellung von getrennten Erscheinungen (was wir als Dinge wahrnehmen) jede einzelne Erscheinung wiederum aus vielen interdependenten Teilen zusammengesetzt ist und sich auch diese Einzelteile wiederum auf die Summe kleinerer Teile reduzieren lassen. Umgekehrt ist jeder Teil wiederum Part eines größeren Ganzen. Deshalb haben die Erscheinungen als Beschreibung von Teilen keine eigene Substanz. Gemäß dem Akashagarbha-Sutra sagen die Bodhisattvas in diesem Sinne, dass „alle Phänomene keinerlei eigene Natur besitzen“, was als die „Leerheit von inhärenter Existenz aller Phänomene“ bezeichnet wird.

Im Weiteren wird in diesem Sutra von Buddhas Rede berichtet: „Gute Kinder, ihr habt die Bedeutung der Leerheit recht erkannt, die in der Abwesenheit eines Ichs oder Selbst besteht und zum völlig offenen Geisteszustand ohne Ichbezogenheit führt. Kein entstandenes Phänomen verweilt für einen einzigen Augenblick, sondern entsteht und vergeht jeden Moment neu. Die Erscheinungen wie die Erde, das Wasser, das Feuer und der Wind, unser Körper, unsere Gedanken, unser Bewusstsein ändern sich stets. Das Leben ist vergänglich wie der Tau auf der Spitze eines Grashalms. Gebt alle sinnlosen Unterscheidungen auf, trennt euch von falschen Ideen und folgt dem Weg der Wahrheit. Unterscheidet nicht zwischen lang und kurz, zwischen Existierendem und Nichtexistierendem. Wenn ihr die vollkommene Wahrheit verstanden habt, werdet ihr keine Angst mehr haben und nicht mehr an Existenz oder Nichtexistenz festhalten.“

Hier ist die Rede davon, dass diese Gegensätze reine Konstrukte sind und nicht der „Wahrheit“ entsprechen. Explizit wird von der Abwesenheit des Ichs oder Selbst gesprochen, also jener Instanz, die alles in Einzelteile zerlegt und die es so auch nicht wirklich gibt. Das deckt sich mit der Aussage des Diamant-Sutra, dass es weder eine Person noch ein Selbst gibt – beides nur Begriffe welche etwas scheinbar Getrenntes umschreiben, wo doch nur Einheit besteht – dieses eine Sein, das alles umfasst.

Im Lankavatara-Sutra, ein für Zen (und den chinesischen Chan-Buddhismus) ebenfalls bedeutendes Sutra, wird der Charakter der Gegensätze eingehend behandelt. Dabei wird diese Betrachtungsweise als rein geistige Erscheinung verstanden, die nicht einer letzten Wirklichkeit entspricht. Danach hat die Wahrnehmung der Welt in Gegensätzen ihren Ursprung in Unterscheidungen, und „wo es Unterscheidung gibt, da ist die Vielfalt der Dinge“. Unterscheidung basiert dabei auf den Sinneswahrnehmungen (den fünf Skandhas) und ihrer Verarbeitung durch Erinnerungen, Interpretationen, Vorstellungen, Konzepte (im Lankavatara-Sutra Vijñanas genannt). So wird dargelegt: „Was als Vielfalt angesehen wird, ist eine Täuschung, die nicht existiert.“ Und weiter: „Es gibt nichts, was entstanden ist und nichts, was entstehen ließ, selbst Verursachung gibt es nicht. Nur aufgrund des weltlichen Gebrauchs sagt man, dass Dinge existieren. Alle Dinge haben keine Eigennatur, sie sind nur Worte der Leute. Das, was unterschieden wird, hat keine Realität; sogar Nirvana (unterscheidungsloser Geisteszustand) ist wie ein Traum. Es wird nichts im Samsara (Kreislauf von Werden und Vergehen) gesehen, und nichts geht ins Nirvana ein.“ In einem anderen Vergleich wird das Wesen der Erscheinungen so beschrieben: „Wie Wellen, die im Ozean entstehen, angetrieben vom Wind, tanzend und ohne eine Unterbrechung zu kennen, wird der Alaya-Ozean (umfassendes Bewusstsein) ständig von den Winden der objektiven Welt aufgewühlt und tanzt mit der Vielfalt, wobei die Vijñanas (als Wahrnehmung von Erscheinungen) die Wellen sind.“ Die Erscheinungen sind dabei „weder unterschieden noch nichtunterschieden, ganz wie Wellen und Ozean.“ Entsprechend stellt sich die Realität als eine Vielfalt dar, „obwohl es keine Vielfalt in ihr gibt.“

Das betrifft nun auch die Menschen selbst. Auch sie haben nach dieser buddhistischen Lehre keine wirkliche Eigennatur, und dennoch bewegen sie sich in der Welt. Dazu findet sich eine Darstellung im Avatamsaka-Sutra4 (auch „Blumengirlanden-Sutra“ genannt, was durchaus dessen blumigen Formulierungen entspricht): „Das Wissen und die Werke sind verschieden, aber die Erlösung ist immer dieselbe wie der eine und derselbe Raum der Leere. – Der Heilige vollendet die Weisheit und die Tugend, und doch folgt er gehorsam dem weltlichen Leben. Er ist wie der Raum der Leere von der Welt gereinigt und erscheint doch immer in der Welt. Wenn er auch in seiner Weltlichkeit die Leiden von Geburt, Altern, Krankheit und Tod erträgt und eine bestimmte Lebensdauer hat, ist er im Grund doch so rein und ewig wie der Raum der Leere.“ Auch bezüglich des Menschen wird hier in schöner Weise beschrieben, wie das Verhältnis von Erscheinungen und „letzter Wirklichkeit“ verstanden werden kann: Was uns bewegt, geschieht in der großen Weite, so wie sich die zuvor zitierten Wellen des Ozeans zeigen. Die Ereignisse sind einfach die Wellen des Ozeans, der sich bewegt – sie sind damit in gewisser Weise real und nicht-real zugleich. Sie werden nicht in Abrede gestellt, aber doch in ihrer Bedeutung relativiert, denn immer sind sie der Ozean. Von diesem Einen sind auch wir nicht unterschieden. Den anderen Sutren entsprechend sagt auch das Avatamsaka-Sutra: Da ist „kein Ich, kein Eigentum, keine Selbstheit, kein Entstehen und kein Vergehen, kein Kommen und kein Gehen. Alles ist so wie der Raum der Leere. Die mannigfaltigen Werke werden dennoch nie zunichte gemacht.“

Die buddhistischen Sutren als Grundlage des Zen weisen klar auf den relativen Charakter unserer Erscheinungswelt hin, und dazu gehören wir selbst. Unsere Vorstellungen und Identifikationen sind ohne wirkliche Substanz, und die Vergänglichkeit aller Erscheinungen ist offensichtlich. Dass wir uns als getrennte Wesen erfahren und damit die ganze Welt als eine Ansammlung getrennter Dinge und Erscheinungen wahrnehmen, beruht in buddhistischer Sicht auf einer Täuschung. Indem wir das eigentliche Wesen allen Seins nicht erkennen, entsteht Leiden. Es ist die Folge einer falschen Sichtweise, und doch ist auch diese Feststellung nur eine Welle auf dem Ozean. Demgegenüber geht es in unserer Kultur ganz wesentlich um das „Ich“, um unsere Identität, die – wie dargelegt – letztlich nur aus unseren Vorstellungen besteht. Dennoch dreht sich bei uns so vieles um die Fragen: wer bin ich? wie bin ich? habe ich Erfolg? Das Besondere an den Sutren und Herausfordernde am darauf basierenden Zen ist, dass es genau darum nicht geht. In den Sutren und im Zen werden diese Vorstellungen und Identifikationen als unwichtig betrachtet, und das Leiden und die Sorgen, die daraus entstehen, erscheinen als unnötige Irritation.

Die Botschaft der alten Zen-Meister

Wie erwähnt entstand Zen in China unter dem Namen Chan in der Begegnung von Buddhismus und Taoismus. Der Taoismus geht als Lehre auf Laotse, eine möglicherweise mythische Gestalt, und das bedeutende Werk Dao De Djing (Tao de King) zurück. Unter Dao / Tao wird dabei ein Urprinzip oder eine Urkraft verstanden, welche die Grundlage oder das Wesen aller Erscheinungen ist. Das japanische Do steht dazu in enger Beziehung und meint nicht nur Weg (was der wörtlichen Übersetzung entspricht), sondern auch das Prinzip allen Seins, was im Buddhismus auch etwa Dharma genannt wird, worunter wiederum nicht nur die wörtliche Übersetzung „Gesetz“ zu verstehen ist.

Zen resp. Chan erlebte in China in der Zeit von 600 – 950 eine erste Hochblüte, in welcher Zeit viele bis heute sehr bekannte Zen-Meister wirkten, etwa (mit den japanischen Namen bezeichnet) Sosan, Eno, Yoka, Nansen, Joshu, Obaku, Rinzai, Tozan und Ummon, um nur die Bekanntesten zu nennen. In einer zweiten Blütezeit ca. 1100 – 1300 entstanden mehrere bedeutende Koan-Sammlungen (Aussagen der alten Zen-Meister) die in der Rinzai-Tradition bis heute für die Vertiefung des Zen-Verständnisses benutzt werden. Die wichtigsten sind Hekiganroku, Mumonkan, Shoyoroku und Denkoroku. Zu Ende dieses Zeitraums gelangte Chan/Zen durch Eisai und vor allem durch Dogen von China nach Japan, wo sich neben der von Eisai vermittelten Rinzai-Schule durch Dogen die Soto-Richtung etablierte.

Was war nun die Botschaft der alten Zen-Meister? Das soll anhand einiger Beispiele erläutert werden, dies mit einer anschließenden Zusammenfassung der grundlegenden Aussagen. Nach Bodhidharma, dem Überbringer des Buddhismus nach China (er war der 28. indische und zugleich der 1. chinesische Patriarch, von dem später noch die Rede sein wird), und dessen Nachfolger Huike ist Sosan Zenji (chin. Seng T’san) der dritte chinesische Patriarch, dessen Todesdatum mit ca. 500 angegeben wird. Er ist bis heute durch sein Werk Shinjinmei (Inschrift über den Herzgeist) sehr bekannt. Nebst dem Lankavatara-Sutra und dem Herz-Sutra (worauf an anderer Stelle eingetreten wird) gilt das Shinjinmei als grundlegender Text des Zen. Es ist ein Gedicht und beginnt mit zwei Zeilen, welche die Aussagen des ganzen Textes zusammenfassen: „Der höchste Weg ist nicht schwer, wenn Du nur nicht wählst. Wo weder Liebe noch Hass, ist alles offen und klar.“5 Mit anderen Worten: sobald wir unterscheiden, sobald sich die Welt in Gegensätze aufteilt, wird es schwierig und das Leiden beginnt. Und weiter: „Der Weg (das Dao) ist vollkommen wie leerer Raum, ohne Mangel und ohne Überfluss. Nur wenn du wählst und zurückweist, geht das Sosein verloren. Jage nicht äußeren Erscheinungen nach, verharre auch nicht in der Erfahrung der Leerheit. Bleibe gelassen im Einen, und alle Verwirrung verschwindet von selbst.“ Das Dao, das wie leerer Raum ist, deutet auf die Unergründlichkeit allen Seins hin, das die Erscheinungswelt ebenso umfasst und übersteigt wie die Erfahrung reiner Leere. Es ist unvorstellbar und unbeschreiblich, und doch einer Art von Wahrnehmung zugänglich, wovon später noch die Rede sein wird.

Und weiter wird im Shinjinmei präzisiert: „Je mehr Worte und Gedanken, desto weiter entfernt ist die Wirklichkeit. Schneide Worte und Gedanken ab, und ES durchdringt alles. Kehrst du zur Wurzel zurück, erfasst du die Wahrheit. Kein Grund, die Wahrheit zu suchen, lass all deine Meinungen fahren. Zwiespältigkeit halte nicht fest. Sei achtsam und folge ihr nicht. Auch nur eine Spur von richtig oder falsch, und der Geist ist in Wirren verloren.“ In auffordernder Art weist das Shinjinmei über die Gedankenwelt und damit über alles verstandesmäßige Erfassen der Wirklichkeit hinaus. Solange man diese zu verstehen sucht, kann sie sich nicht zeigen, weil dieses Verstehen-Wollen der Wahrnehmung dieser Wirklichkeit im Wege steht. Sind aber die eigenen Meinungen, Vorstellungen und Beurteilungen nicht mehr relevant, zeigt sich das Wesen (die Wahrheit) allen Seins. Ohne ein Licht, das alles beleuchten will, zeigt sich, wie die Dinge aus sich selbst heraus leuchten. „Alle Dinge predigen den Dharma“, heißt es in einem Zen-Text sinngemäß. Alles ist, wie es ist, und in dieser Weise vollständig. Aber dies kann nur gesehen werden, wenn dem keine eigene Meinung im Wege steht. „Lass los, und alles ist natürlich“, sagt Sosan weiter. Allerdings heißt dies, dass es auch darum geht, sich selber loszulassen, und das ist tatsächlich eine große Schwierigkeit.

Im weiteren Text des Shinjinmei werden diese Grundaussagen mehrfach wiederholt – als wollte Sosan diese den Menschen einbläuen, und effektiv ist es so, dass gewisse Zusammenhänge, welche der üblichen Wahrnehmung zu widersprechen scheinen, mehrfach geäußert werden müssen, bis sie vielleicht angenommen werden können. Die eigenen Vorstellungen und Meinungen wirken fast wie ein Schutzschild vor neuen Erkenntnissen, und manchmal braucht es einiges, bis diese überwunden sind. Das Schwierige daran ist auch, dass diese Überwindung eigentlich gar nicht aktiv bewerkstelligt werden kann – nicht mit einem intensiven Bemühen. „Bringe Ruhe in die Bewegung, und es gibt keine Ruhe“, sagt Sosan dazu. Solange das Ziel aktiv verfolgt wird, gelingt es nicht. Ganz ähnlich, wie es in den Sutren geschildert wird, meint Sosan: „In der Welt des Soseins ist kein Anderes und kein Ich“ – da gibt es eben keine Trennung. Sogar „Sein ist nichts anderes als Nicht-sein, Nichtsein nichts anderes als Sein“. Auch hier: keine täuschende Begrifflichkeit! „Wenn der Geist nicht unter-scheidet, sind alle Dinge das eine Sosein. Das Wesen dieses einen Soseins ist ein Geheimnis: unbewegt, absolut, alle karmische Bindung vergessend. Siehst du alle Dinge gleich, kehren sie heim zum natürlichen Sein. Ursachen verschwinden, und Vergleiche sind nicht möglich.“

Von ganz besonderer Bedeutung in der Zen-Tradition ist der sechste chinesische Patriarch Eno (chin. Hui-Neng). Er gilt als eigentlicher Begründer des Zen in China und war der Stammvater von ursprünglich fünf Zen-Schulen (Igyo, Rinzai, Soto, Ummon, Hogen) wovon heute Rinzai und Soto noch von Bedeutung sind, abgesehen von der kleineren Schule Obaku in Japan, die sich von Rinzai abgespalten hat. Von Eno wird berichtet, dass er schon in jungen Jahren beim Hören eines Textes aus dem Diamant-Sutra („Der Geist hat nirgends eine Wohnstatt, und dennoch erscheint er.“) eine starke innere Resonanz entwickelte und deshalb ins Kloster eintrat. Viel später wurde er dort aufgrund seiner Formulierung: „Im Ursprung gibt es nichts“ vom fünften Patriarchen zum Nachfolger ernannt. Bekannt von ihm ist auch die Frage, was das „uranfänglichen Angesicht“ sei, oder, in einer anderen Ausdrucksweise, wer man „vor der Geburt seiner eigenen Eltern“ sei. Diese Fragen weisen auf das zeitlose Wesen des Menschen und den leeren Ursprung und Charakter aller Erscheinungen hin.

Die Reden von Eno wurden als einzige buddhistische Texte in den Rang eines Sutra erhoben, obwohl sie nicht von Buddhas Aussagen berichten. Später wurden sie unter dem Titel Plattform-Sutra in elf Kapitel unterteilt, wovon hier einige Passagen aus „Mahaprajnaparamita“ (inhaltlich mit der Bedeutung „Die große Weisheit des jenseitigen Ufers“) dargelegt werden sollen. Der Text beginnt wie folgt:6 „Verehrte Anwesende, dem Menschen ist die Weisheit des Erwachens (prajna) innewohnend, aber wegen der Verblendung seines Geistes kann er sie nicht erkennen und anwenden. Deshalb muss er Hilfe suchen bei einem Weisen, der ihn zu seiner eigenen Urnatur führt. Ihr sollt wissen, dass die Buddha-Natur des Unwissenden dem Wesen nach nicht anders ist, als die des Weisen.“ Er sagt damit (und führt auch weiter aus), dass die Weisheit in den Menschen selber liegt. Aber: „Die Menschen der Welt sprechen über Weisheit, ohne zu erkennen, dass diese Weisheit in ihnen selber ist. Das ist so, wie wenn jemand über eine Speise spricht, die er nie gekostet hat. Ein Mensch kann während vielen Kalpas (unendliche Zeitspannen) über Leerheit sprechen und seine innewohnende Natur trotzdem nie erkennen. Worte nützen gar nichts.“ Das Erkennen und damit die Weisheit hat also mit der Erfahrung der leeren Natur unseres Wesens und aller Erscheinungen zu tun. Dazu sagt Eno weiter: „Wenn ihr mich über Leerheit sprechen hört, sollt ihr nicht der Idee verfallen, dass es sich dabei um ein Nichts handelt, wie es die ketzerische Lehre der Zerstörung lehrt. Ihr sollt euch nicht irgendeine Vorstellung von Leerheit machen und dann daran festhalten. Die Idee, Leerheit bestehe darin, einfach still dazusitzen und den Geist leer zu halten, beruht auf einer falschen Vorstellung. Die grenzenlose Leerheit des Himmels umfängt die zehntausend Dinge, alle Erscheinungen jeglicher Gestalt und Form: Sonne, Mond, Sterne, Berge, Flüsse, Quellen und Bäche, Büsche und Bäume, schlechte Menschen und gute, gute Lehren und schlechte, Himmel und Hölle. All dies ist in der Leerheit eingeschlossen. Genau so verhält es sich mit der Leerheit eurer Urnatur. Auch sie umfängt alles. Der Ausdruck ‚ma-ha‘ bezieht sich auf diesen Aspekt. Alles und jedes ist in eurer eigenen Urnatur inbegriffen.“

Was hier gesagt wird, ist klar, wenn es auch ohne entsprechende Wahrnehmung nicht einfach – oder gar nicht – zu verstehen ist. Es geht um einen mit dem Verstand resp. einer trennenden Wahrnehmung nicht zu erfassenden Charakter aller Erscheinungen, der näherungsweise mit dem Begriff „leer“ bezeichnet wird, wobei man sich darunter aber nichts vorstellen darf. Um was es da geht, kann nur wahrgenommen und nicht beschrieben werden, weil es sich allen Formulierungen entzieht. Näherungsweise könnte man sagen, dass es um eine unfassbare Unendlichkeit geht, die allen Erscheinungen innewohnt. Wie Eno sagt, geht es nicht um ein „Nichts“, und auch nicht um eine Weltverneinung, sondern um eine Charakterisierung, die keinen Gegensatz aufweist, und daher nicht beschrieben werden kann. Gelegentlich wird auch von einer „Stille hinter der Stille“ gesprochen, also einer Unbewegtheit oder Unbeschreiblichkeit, die nicht direkt mit einer Abwesenheit von Lärm zu tun hat, aber in der gewöhnlichen Stille doch eher wahrnehmbar ist. Letztlich besteht sie aber immer unabhängig von der Art aller Erscheinungen.

Weiter sagt Eno: „Unser Geist ist grenzenlos und leer wie der Himmel, ein Zeuge von guten oder schlechten Taten, ohne von diesen berührt zu werden, ohne ein Interesse daran zu entwickeln und ohne darin verstrickt zu werden. Dieser Geisteszustand wird ‚maha’ genannt. Das Fassungsvermögen des Geistes ist grenzenlos. Die vollkommene prajna-Weisheit entspringt eurem eigenen Wesen. Sie kommt nicht von außen. Die ganze Wahrheit ist eine Wahrheit.“ Nebst Ausführungen über ‚maha‘ (groß) und ‚prajna‘ (Weisheit des Erwachens) schreibt Eno über ‚paramita‘: „Es ist ein Sanskritwort mit der Bedeutung ‚das jenseitige Ufer erreichen‘, d.h. jenseits von Leben und Tod zu gelangen. Wenn man an den äußeren Existenzformen anhaftet, befindet man sich bildlich gesprochen am ‚diesseitigen Ufer’. Wenn man die Erscheinungen der äußeren Welt transzendiert, indem man nicht anhaftet, hören ‚Anfang und Ende’, ‚Leben und Tod’, ‘Existenz und Nichtexistenzstenz’ auf. Dieser Zustand gleicht Wasser, das ungestört und ruhig dahinfließt, und wird mit dem Ausdruck ‚das jenseitige Ufer’ gekennzeichnet. Mahaprajnaparamita ist das heiligste, erhabendste und wichtigste Prinzip. Es beansprucht keinen Raum, weder kommt es, noch geht es. Trotzdem kommen alle Buddhas der drei Welten daraus hervor.“ Es geht also darum, die Weite unserer eigenen Existenz zu erkennen und uns nicht auf eine Sichtweise zu beschränken, welche durch eine Zentrierung auf das eigene Ich (das diesseitige Ufer) charakterisiert ist. Stattdessen ist auch die Erscheinungswelt in ihrer unendlichen Weite und Tiefe (das jenseitige Ufer) zu erkennen, die auch als „Leerheit“ oder einfach Unfassbarkeit bezeichnet werden kann. Nach Eno stellt sich die Welt und das eigene Wesen in einer Weise dar, welche die Wahrnehmung einer rein äußeren Welt und auch die Vorstellung eines eigenen individuellen Geistes weit übersteigt.

Ein Zeitgenosse von Eno, Yoka Daishi (chin. Yungchia) ist durch sein Werk Shodoka