Wittenberg - Engelbert Manfred Müller - E-Book

Wittenberg E-Book

Engelbert Manfred Müller

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Beschreibung

In der Titelgeschichte begegnet ein "Wessie" bei einem Besuch der Lutherstadt Wittenberg sowohl der DDR-Vergangenheit dieser Stadt als auch ihm selbst nicht bekannten Facetten seiner eigenen Person. Dabei erfährt man auch etwas über weniger geläufige Seiten von Martin Luther. Die Erzählung handelt von einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte, in der sich Alt und Jung begegnen. Sie ist gut geeignet als Vor- oder Nachbereitung eines Gangs durch die Stadt Wittenberg und ihre Sehenswürdigkeiten.

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zum Text:

In der Titelerzählung „Wittenberg“ begegnet ein „Wessie“ sowohl der DDR-Vergangenheit als auch der Nazizeit und dem historischen Luther, und einem ihm bis dahin unbekannten Teil seiner eigenen Person. Handlung und Dialoge kreisen um Schuld und Liebe. Gleichzeitig lernt man die kulturellen Sehenswürdigkeiten und die Menschen dieser faszinierenden Stadt kennen.

zum Autor:

Engelbert Manfred Müller, 1940 geboren, in Köln und Leverkusen aufgewachsen, war 40 Jahre als Lehrer an Volksschulen, Hauptschulen und Gesamtschulen tätig. Davon verbrachte er 9 Jahre an Schulen in Chile und Mexiko. Nach seiner Pensionierung 2003 tauschte er sein jahrelanges Malhobby gegen das Schreiben ein.

2015 erschienen „Das Auge der Stadt“ und 2016 der Roman „Ein Schlüsselanhänger“, ein Band mit Erzählungen aus Lateinamerika unter dem Titel „So nah und so fremd“ und ein Band mit Erzählungen aus Südeuropa unter dem Titel „Extremadura“ im Buchhandel.

Engelbert Manfred Müller lebt seit 1982 in Bergisch Gladbach.

Inhalt

Wittenberg

Mord am Bahnhof

Der letzte Lehrer

Tee aus Luxemburg

Niedrigwasser

Ein unscheinbarer Betrug

Wittenberg

So nah hatten seine Augen lange nicht mehr vor einzelnen Kieselsteinen gelegen, kleinen, größeren, winzigen, die alle in dem festgetretenen Sand steckten. Aber er sah sie von der Seite, nicht von oben. Merkwürdig. Auch in seiner Kindheit hatte er sie zumindest aus der Hocke angeschaut, nie aus dieser Position, in der er selber gleichsam einer von ihnen war. Stein zu Stein. Erde zu Erde. Asche zu Asche. Von hier aus hätte er auch die Tischbeine aus der gleichen Lage sehen können, wie er sie im Arbeitszimmer von Armin erblickte, wenn er morgens auf der Matratze aufwachte oder am Abend, wenn Armin spät nach Hause kam und noch einmal das Licht anschaltete, um sich an seinen Laptop zu setzen. Hartwig war dann im ersten Moment immer ein bisschen verärgert über die Störung, sagte sich dann aber stets, dass er die Gelegenheit nutzen müsse, wenn Armin ihn in ein Gespräch verwickelte. Hatten sie nicht früher viel zu selten miteinander geredet? Und wer war daran schuld, wenn nicht er selber? Er war schließlich der Vater.

In den rasenden Schmerz in seinem Hinterkopf hinein hörte er Armins Stimme, wie sie klar und deutlich über den Artikel redete. Aber was hatte das mit diesem fürchterlichen Ziehen in seinem Hinterkopf zu tun?

„Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall von Befehlsverweigerung, der schlimme Konsequenzen nach sich gezogen hätte.“

Aber ging es darum?

Ging es nicht um Zahlen? Und um die Novemberwahlen. Die Nazis hatten schwere Verluste erlitten. Waren ganz verzweifelt. Das schrieb auch Goebbels in seinem Tagebuch. Weniger als ein Drittel. Die übergroße Mehrheit hatte ihn nicht gewählt.

„Und wieso haben sie in diesen riesigen Zahlen an der Vernichtung der Juden mitgewirkt? Alle. Aus allen Schichten.“

200 000. Eine beschämend große Zahl. 60 Millionen geteilt durch 200 000. Durfte man so etwas ausrechnen? 0,3%. Also was willst du?

Wie wenn ihm auf einmal die Maske eines Neonazis aufgedrückt würde. Ihm. Aber man konnte doch nicht einfach das Denken abstellen. Und dann seine Eltern. Die waren doch nicht schuld. Nie hatte er das so empfunden. Dazu hätte man Macht haben müssen. Man hätte zumindest in der Lage sein müssen Zeitung zu lesen. Die lagen doch am Boden. Von Anfang an. Und jetzt lagen sie drunter. Und er kurz darüber. So dass er den leicht säuerlichen Geruch der Erde wahrnehmen konnte.

***

Die harten Schlagzeugtöne am Anfang der Platte hatten auf ihn immer gewirkt wie der Beginn von etwas Neuem. Das Alte wurde ausgewischt wie mit einem triefenden Schwamm auf der Tafel. Und dann die neue Welt mit ihrer zarten Berauschtheit. „Something in the way she moves“ musste er sich immer noch anhören, wenn er das Gefühl hatte, in eine neue Welt eintauchen zu können und alte Gewohnheiten abstreifen konnte. Er drehte den Kassettenrekorder in seinem Wagen auf volle Lautstärke.

Bei der Fahrt von der Autobahn nach Wittenberg war er überrascht gewesen von der Einsamkeit auf der Straße, den kilometerlangen Wäldern, die er durchfuhr, aber auch von der Tatsache, dass die Strecke auf seiner Karte als landschaftlich sehenswert gekennzeichnet war. War sie eigentlich nicht, wenn man von der Ausgedehntheit der Wälder absah. Sonst flache Landschaft, forstwirtschaftliche Wege, Kiefern und Buchen, keine Bäume, die durch besonders großen Stammumfang und damit außergewöhnliches Alter aufgefallen wären. Eher das Gegenteil. Die durchfahrenen Ortschaften menschenleer, bis sich das Bild bei der Einfahrt nach Wittenberg selber änderte. Ihm fielen die herausgeputzten Villen aus der Gründerzeit auf. Später sah er ein ganzes preußisches Viertel, das den mittelalterlichen Kern wie ein Kordon umgab.

„In der Stadt wohnten in langen Zeiten fast mehr Soldaten als Einwohner“, erklärte ihm eine alte Frau, als er vor einem der preußischen Schulgebäude stand, das mit seiner erstaunlichen historistischen Fassade aus Backsteinen die Umgebung beherrschte.

***

Pension Freundschaft, eine ganz besondere Pension. So hatte es im Internet gestanden. Was war hier wohl so besonders? Er parkte seinen alten Golf auf einem Parkplatz hinter dem Wohnblock mit seinen großen Rasenflächen und den Teppichstangen. Eine runderneuerte Siedlung aus DDR-Zeiten? In der Sonne, die sich nun endlich entschlossen zu haben schien, den Beginn des Aprils zum Frühling zu erklären, standen Nachbarn, die sich über Nachbarn unterhielten, über die Kinder der Nachbarn und die angekündigten mikroskopischen Rentenerhöhungen. Der dunkelblaue Golf wurde mit Verwunderung registriert. Der gehörte doch nicht hierhin!

Als Hartwig an der Nummer 10 klingelte und ihm keiner öffnete, erblickte er den Zettel, auf dem man aufgefordert wurde, sich bei Neumanns zu melden, falls niemand da sei. Neumanns sollte man in dem großen grauen Haus auf der anderen Straßenseite finden. Er fand aber weder geradeaus ein Türschild mit diesem Namen, noch an dem nächsten Haus nach links, noch ein Haus weiter nach rechts. Er schaute sich noch mal den Zettel an. „Straße überqueren und das große graue Haus hinter“ Was hieß denn hier „hinter“? Das Wort war doch hier offensichtlich nicht als Präposition, sondern adverbial gebraucht. „Ganz hinten am Ende der Straße“ vielleicht? Ein merkwürdiger Sprachgebrauch wäre das allerdings. So war es dann aber. Auf der Rückseite dieses Hauses befand sich das Klingelschild mit dem Namen Neumann.

„Es kommt gleich jemand“, meldete sich eine gleichgültige Stimme, als er sich durch die Sprechanlage vorgestellt hatte. Er hatte das Zimmer von Berlin aus vorbestellt. Es erschien eine weite schmuddelige Freizeithose, aus der schwarze Nylonsocken hervorschauten, die in Badelatschen endeten. Darüber eine Frisur, die sich längst nach einem Friseur oder einer Pflege sehnte, darunter schlitzäugige Spreewaldaugen ohne Augenbrauen. Kein Gruß, nur ein Winken mit dem Müllbehälter: „Einen Moment!“ Auch danach kein Gruß. Nur „Dann gehen wir mal rüber.“

In dem Gebäude, an dem Hartwig geklingelt hatte, holte sie einen Schlüssel und öffnete damit das identisch aussehende Gebäude daneben. Alles blitzsauber. Fenster in Souterrainhöhe. Zahlreiche Zettel mit Anweisungen, durch die man erfuhr, wann man das Zimmer bei Abreise zu verlassen hatte, dass man nach 21 Uhr die Haustür zu verschließen hatte, wie man die Toilette zu behandeln hatte. War man hier Gast oder streng reguliertes Mitglied einer Volksgemeinschaft? Aus welcher Zeit auch immer. Alles von praktischer, gefühlsloser Sachlichkeit. Und wenn sich ein Gefühl darin ausdrückte, dann das von Gehorsam und der Frage, ob man alle vorgeschriebenen Normen erfüllt hatte. Von Normen, die von selbstverständlicher, unumstößlicher Gesetzmäßigkeit waren. Die Frisur, die keine war, und die schwarzen Nylonsocken in den Badelatschen verschwanden so unauffällig, wie sie erschienen waren.

***

Als ehemals katholischer Rheinländer und geschichtlich interessierter Mensch die Luft um Luther herum schnuppern. In diesem Vatikan des Protestantismus, was ihm im gleichen Augenblick, als er es dachte, als maßlos übertrieben vorkam. Diese Konfession war ja von vorneherein so, dass sie einen Vatikan ausschloss. Stattdessen etwas, was er so nicht erwartet hatte: Fast dörflich anmutende enge Gassen um die Stadtpfarrkirche herum, mit dem mönchisch mittelalterlichen, mühsamen Backsteinbau der Fronleichnamskapelle. Und die wahrhafte Revolution auf den Altären der Stadtpfarrkirche von einer provinziellen Bescheidenheit. Der Reformationsaltar, auf dem Luther und seine Freunde Cranach und Melanchthon alias Schwarzerd ohne Hemmungen in der illustren Umgebung des Herrn dargestellt sind. Sogar in der allerheiligsten Abendmahlsszene. Welcher noch so vermessene Papst oder Herrscher in unserer Zeit würde es wagen, sich so malen zu lassen? Das musste damals als Blasphemie aufgenommen werden. Genauso wie die Tafel mit den Arbeitern im Weinberg, wo die Reformatoren in ihrer schwarzen, teilweise pelzverbrämten Kleidung fleißig den Weinberg des Herrn in Ordnung bringen, den auf der linken Seite Papst, Bischöfe und Äbte in kostbaren farbenprächtigen Gewändern sinnlos verwüsten und ausplündern.

Draußen vor der Stadtpfarrkirche das Mahnmal im Boden, das an den Holocaust erinnert und an die Verstrickung des Christentums in die Judenverfolgung, mit einem Hinweis auf die „Judensau“ an der Seite dieser Kirche, hoch oben, aber deutlich zu erkennen: Eine Person, die hinter dem Schwein kniet und ihm den Schwanz hochhebt, als gäbe es da großartige Entdeckungen zu machen, unter dem Schwein oder der Sau ein Gewusele von kleinen Figuren. Saugten sie an den Zitzen der Sau? Das Mahnmal wies daraufhin, dass hier im Mittelalter der hochheilige jüdische Name des Herrn im Namen des Christentums in den Schmutz gezogen wurde und so der Boden bereitet wurde für die gnadenlose Vernichtung der Juden in der Nazizeit. Hatte Luther diese mittelalterliche Figur gekannt? Und was hätte er dazu gesagt?

***

Das pralle Leben war im Frühstücksraum an der rückwärtigen Schmalseite angeordnet, sauber, sorgfältig, liebevoll. Auf dem Sideboard mit hellem imitiertem Holzfurnier reihte sich Fensterblatt an Fensterblatt und Azalee an Ananaspflanze. Miniaturexotik in biederen Übertöpfen. Dazwischen der steif dastehende Riesennussknacker aus dem Erzgebirge in seiner strengen Bergmannskluft und die Stoffblüten der Sonnenblumen, die jetzt im April, oder wahrscheinlich immer, das fehlende Licht ersetzen sollten.

„Kaffee oder Tee?“

Hartwig schaute in das sportliche Gesicht des Hausherrn, auf seinen riesigen Schädel mit seinen kurz geschorenen Haaren.

„Haben Sie auch Grünen Tee?“

„Aber ja doch.“

Nun standen Lichtpunkte in den kugelförmigen Lampen des Kronleuchters, die von geschwungenen Massivholzbügeln gehalten wurden. Gelsenkirchener Barock. Daneben mehrere selbstgebastelte Sterne in Gelb. Pension Freundschaft. Woher dieser Name?

„Bitte schön. Ihr Tee.“ Der freundlich blickende Wirt stellte eine gelbe Plastikkanne vor Hartwig auf den Tisch, die sich in seinen hünenhaften Händen winzig ausnahm. Dieser Mann war doch nicht immer Pensionswirt gewesen.

„Warum heißt Ihre Pension eigentlich Freundschaft?“

Nun überzog ein sanftes Lächeln das braungebrannte Gesicht.

„Wissen Sie, dieses ganze Viertel gehörte einmal zur russischen Kaserne. In den Häusern ringsum wohnten russische Offiziere. Und über der Sternstraße, die kennen Sie sicher, hing ein riesiger roter Sowjetstern.“

„Stammt das Gebäude der Pension auch aus dieser Zeit?“

„Nein, dieses und die Nachbarhäuser wurden erst nach der Wende gebaut.“

Merkwürdig. Eine etwas andere Pension. So hatte es im Internet gestanden. Deshalb hatte er nach der Ankunft auf DDR-Gebäude getippt, die nun ihre Nutzung geändert hatten. Umgebaute Plattenhäuser oder, ja Kasernengebäude, das wäre plausibel. Konnte der Wirt nicht ein ehemaliger Volksarmist sein? Der sich nun scheute, seine Vergangenheit zuzugeben. Jedoch seine Freundlichkeit. Aber sollte es nicht auch solche gegeben haben? Oder war er durch seinen neuen Beruf völlig umgeschwenkt auf die Notwendigkeiten der Ökonomie? In der Freundlichkeit zum Geschäft gehörte.

Gerahmt wurde der Hausaltar der biederen Gemütlichkeit von zwei dunklen Lautsprechern, aus denen gedämpft die Häkeldeckenpartyraummusik ertönte, die ihn sonst so nervte. Der immerwährende Karneval, gemäßigter Mallorca-Ballermann. Mit leichtem Volksmusiktouch. Während er auf seinem Tisch mit der Nummer 4 sein Brötchen mit Butter und einem Aldihonig bestrich, empfanden seine Hände einen leichten Ekel, den die Berührung mit dem durchsichtigen Plastiküberzug auf der Batisttischdecke hervorrief, die natürlich geschont werden musste, und auch seine Lippen sträubten sich, als er sie mit der gesteiften Serviette betupfte, um ein Zuviel der Butter zu beseitigen. Sein Blick ruhte dabei weiter auf den Hausfrauenfreuden der Regale über dem Sideboard, den Lebensbäumen aus Spanholz, in denen sich eine Fülle von Osterküken tummelte, den Erntekränzen aus Strohblumen und der endlosen Zahl von rot lackierten Weihnachtsmännern. Die großen Tage des Jahres, Ostern, Weihnachten und Erntedank, vervielfältigt und verewigt, in der Suppe der Dauerpartymusik präsentiert. Was konnte einem da noch Übles geschehen? Hatte sich so Otto Normalverbraucher in den düsteren Zeiten der DDR über Wasser gehalten?

„Sie können natürlich auch Müsli haben, wenn Sie wollen. Ich bringe Ihnen dann die Milch.“

Hartwig schrak im ersten Moment zusammen, als die Stimme des Hünen wieder in seinem Nacken ertönte.

„Nein, nein, danke.“

Die heitere Freundlichkeit in dem Gesicht des Wirts beruhigte ihn sofort, als er hoch schaute.

„Ach, ich hätte da noch eine Frage. Ich würde gerne einmal in die Elbaue spazieren. Gibt es einen Fußweg, der dorthin führt?“

Er wunderte sich, dass seine Frage Verwunderung im Gesicht des Pensionswirts auslöste. Hatte er doch auf einer Abbildung aus dem Mittelalter das Stadtpanorama hinter der Elbaue gesehen, und er wusste, dass die heutige Bebauung zur Elbe hin kaum über die mittelalterlichen Grenzen hinausging. Was lag also näher, als das alte Zentrum, das offenbar dabei war, sich für den Tourismus zu mausern, zumindest durch den einen oder anderen Weg an die breite Elblandschaft anzubinden? Der brauchte ja auch nicht den Hochwasserschutz, von dem der Wirt nun redete, zu beeinträchtigen. Immerhin fand Hartwig es anerkennenswert, dass dieser Mann, der eher einen technisch-wirtschaftlichen Eindruck auf ihn machte, überhaupt solche ökologischen Gedanken äußerte.

***

Im preußischen Viertel der Stadt fiel ihm ein prächtiges Schulgebäude auf. Melanchthon-Gymnasium. Im ersten Stock des aufwändigen Ziegelsteingebäudes sah man einen Raum mit riesigen Fenstern. Das konnte nur die Aula sein. Vor dem Gebäude harkten zwei Männer in blauer Arbeitskleidung den Rasen. Hausmeister? Er fragte sie. „Nee, mir sin nur 1€- Jobber. Is ja besser als jar keene Arbeet.“

„Wissen Sie denn, ob man die Aula des Gymnasiums besichtigen kann?“

„Nee, wissen ma nich. Aber fragen Se mal die Sekretärin. Moment, wir bringen Se zu ihr hin.“ Das war ja sehr nett und zuvorkommend!

Die sorgfältig frisierte Sekretärin holte sich telefonisch die Erlaubnis des Schulleiters und führte ihn über das altväterlich stilvolle Treppenhaus mit seinen schmiedeeisernen Geländern und Säulen mit neoromanischen Kapitellen in den lichten Raum auf der ersten Etage, in dem noch die simplen Tische standen, die die Schüler beim schriftlichen Abitur benutzt hatten. Hartwig bestaunte die riesigen Fenster und die komplizierte Holzkonstruktion der Decke. Dann fiel sein Blick auf das Wandgemälde an der Stirnseite. Merkwürdig, dass das nicht bei den Sehenswürdigkeiten der Stadt aufgeführt war! Ein monumentales Gemälde in warmen Orangetönen, das Luther auf dem Reichstag zu Worms darstellte, in dem Moment, da er die gefürchtete Situation hinter sich hatte. „Ich bin hindurch“, stand denn auch auf dem Spruchband darunter, und er stand da, wie ein dankbarer Sieger, von einem engelhaften Licht beschienen, von seinen Gönnern, dem Landgrafen Philipp von Hessen und dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen, stolz beglückwünscht, ein Mann, der im Namen Gottes einen schweren Gang getan hatte. Hier war er der große Held in seinem Glanz. Ganz sicher eine Verherrlichung, sehr im Gegensatz zu der Bescheidenheit seines Grabs in der Schlosskirche und zu der Biederkeit seiner Wohnung im Lutherhaus, die Hartwig später besichtigen würde.

***

Mit einem hochgestimmten Gefühl machte sich Hartwig nun auf den Weg zur Elbaue. Zwei kleine Jungen, die in einem Baum vor der Schule hockten und „Hallo, Opa!“ riefen, als er vorbeiging, ließen einen kleinen Wermutstropfen in sein Inneres fallen. „Unfug, wieso ärgerst du dich darüber?“ sagte er zu sich selber. „Die geben doch nur ihrer Freude Ausdruck, dass sie so hoch über den anderen im Baum sitzen.“ Trotzdem verstärkte sich der leichte Unmut noch, als zwei junge Männer im Vorbeifahren hupten und etwas aus dem offenen Fenster riefen, was er nicht verstand. Wurde er denn hier als Fremder erkannt? Sah er irgendwie anders aus? Und gab es tatsächlich im Osten so etwas wie eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit? Aber was machte er sich Gedanken? Es war doch absolut nichts geschehen. Und vielleicht war alles nur Übermut und Lebensfreude.

Die überdimensionierte Verkehrsführung von Bundesstraße und Eisenbahnbrücke gaben ihm allerdings ein Gefühl des Ausgestoßenseins, des Abartigen, als er sich zwischen Kreiseln, Rampen, Brücken und komplizierten Zufahrten einen Fußweg zum Elbufer suchte. Und das Elbufer selber machte keinen sehr einladenden Eindruck. Trockene Staudenreste und Brennnesselfelder bedeckten weite Flächen, unterbrochen von Papier- und Plastikabfällen, dem einen oder anderen Autoreifen, umgestürzten oder angeschwemmten Baumstämmen. Aber wurden hier nicht zusätzlich auch noch Bäume gefällt? Ein PKW mit einem offenen Anhänger stand auf dem Schotterweg, der von Ölspuren verunreinigt war, daneben ein älterer und ein jüngerer Mann, die mit einer Kettensäge einen Weidenstamm in verladbare Stücke zerlegten.ornungrufen Sie schauten mit misstrauischen Blicken auf den seltsamen Fußgänger, der sich hierhin verirrt hatte. Den Radfahrer mit der Aktentasche auf dem Gepäckständer, der vorüberholperte, fanden sie nicht merkwürdig. Und den Kinderwagen mit dem blutjungen Elternpaar kannten sie. Das Elternpaar, das sich offensichtlich noch nicht an seinen Status gewöhnt hatte, vor allem der Vater, der auch noch arbeitslos war und mit seiner unfreiwilligen jungen Familie in dieser abgelegenen Gegend seine Scham und seine Wut spazieren führte. Aber diesem einsamen Fußgänger musste man vielleicht misstrauen. Sah er nicht aus wie ein Schnüffler? Die kannte man ja noch von früher. Diebstahl am Volkseigentum. Aber was sollte man denn machen? Mit den paar Euro von Hartz 4 konnte man doch kaum über die Runden kommen. Und ein Job für einen Euro? Da ballte man doch die Faust in der Tasche. Und jetzt fragte der nach einem Weg unter der Brücke hindurch, auf dem man durch die Elbaue zurück zum Stadtzentrum käme. Den gab es ja. Wenn es weiter nichts war. Den konnte man ihm ja erklären. Vielleicht war es ja einfach ein Sonderling. Ein Wessie womöglich. Die hatten ja sowieso oft die sonderbarsten Ideen. Er hatte ja nicht nach der Verwendung der Holzstämme gefragt. Auch nicht, wie viel sie damit verdienten. An wen sie sie verkauften. Sie arbeiteten weiter im Schweiße ihres Angesichts, während der Sonderling hinter der Rampe der Eisenbahnbrücke verschwand.

***

„Wie schön wäre es, wenn Ihre Altstadt an die Elbaue angebunden wäre, finden Sie nicht?“

Das Ehepaar mit Hund fand das überhaupt nicht.

„Wie sollte das verwirklicht werden?“

„Ich habe doch gehört, dass es Leute gibt, die die Umgehung der Stadt im Norden befürworten. ‚Wittenberg stirbt ohne Nordumgehung’ las ich auf einem Schild. Wenn also dieser ganze riesige Verkehr auf der Bundesstraße hier vor uns umgeleitet würde, dann könnte man die Altstadt direkt mit der Elbaue verbinden.“

Ein Kopfschütteln der beiden war die Antwort, während weiter ein ununterbrochenes Band von Lastern und PKWs hinter den hässlichen Leitplanken an ihnen vorüberrauschte.

„Wir sind doch froh, dass wir diese Umgehung haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie es vorher war, als sich der gesamte

Verkehr durch die Altstadt quälte.

Er konnte es sich schon vorstellen. Und das war doch nicht die Alternative. Aber hier war offensichtlich etwas lange Ersehntes eingetroffen, und das durfte nun durch weitere Neuerungen nicht in Frage gestellt werden. Unbeweglichkeit? Oder hatte er sich wieder in etwas eingemischt, was ihn als Fremden eigentlich nichts anging?

***

Die Kellnerin stellte ihm das Glas Kirschsaft auf den Tisch, das er bestellt hatte, als er sich das weißgetünchte Rathaus anschaute, das mit seinen vier Giebeln und den beiden Denkmälern davor in der Sonne glänzte. Edel sahen sie hier beide aus, Melanchthon sowohl als auch Luther, der die Bibel aufgeschlagen hielt und mit der Rechten auf den Text wies, nicht als stolzer Autor, sondern wie ein Moses, der dem Volk die Gesetze Gottes zeigt. Der Faltenwurf seines Gewands war von strenger geistlicher Autorität. Nur die vorgestülpte Unterlippe hatte noch etwas von dem Trotz, der ihn sonst oft auszeichnete.

„Du siehst doch, was heute in unserem Land abgeht. Ich sage dir, das kann jederzeit wieder passieren.“

Ein junger Mann mit langen braunen Haaren, die hinten zu einem Zopf zusammengebunden waren, redete mit vorgeneigtem Kopf auf seinen Nachbarn ein, der mit seinem kahlgeschorenen Schädel zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß, die Arme vor der Brust gekreuzt.

„Und trotzdem ist es falsch, was der Film suggeriert.“

„Was suggeriert er denn nach deiner Meinung?“

„Dass alle schuld sind und alle schuld waren.“