Eugen Drewermann
Wozu Religion?
Der vorliegende Band ist eine Neuauflage eines Buches gleichlautenden Titels aus dem Jahr 2003, das auf die heutige Situation des »Kriegs der Kulturen« hin aktualisiert wurde.
Aktualisierte Neuausgabe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Wozu Religion? Ihre Notwendigkeit, Krise und Chance
Die Flüchtlingswelle und die Angst vor der Überfremdung
Für den Islam ist ein säkularer Staat undenkbar
Naives Denken und Wahrheit
Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter
Aufgabe der Religion
Glaubensfrage oder Anstandsregel?
Was eine Gesellschaft tolerieren muss
Wie viel Satire ist erlaubt?
Der Verlust von Liebe
Religions- oder Ethikunterricht
Gemeinsam beten
Religion als Kraft zum Widerstand – der Buddhismus zum Beispiel
Der Gottesverlust in Europa
Darwin und die Evolution
Die Geburtsstunde der Religion
Etwas radikal Neues
Schöpfungsmythen
Die Vorsehung Gottes
Fragen an die Schöpfungswirklichkeit
Jesus – Gottes Sohn
Gottvertrauen
Ewiges Leben
Glaube und Kirche
Naturwissenschaften brauchen Religion
Religion ist emotional
Gott – der Schöpfer
Der Allmächtige
Die unsterbliche Seele
Medizin und Ethik
Der Mensch macht den Menschen
Über die Zerstörung der Natur
Religion gestaltet sich neu
Gott braucht kein Sprachrohr
Maria und Jesus
Die Sprache des Mythos
Selbstfindung ist Gottfindung
Vom Buddha lernen
Über die Autoren
Einleitung: Wozu Religion?
Ihre Notwendigkeit, Krise und Chance
Herr Drewermann, wenn heute von Religion die Rede geht, so sind die Ansichten sehr unterschiedlich. Den einen gilt Religion als etwas höchst Bedenkliches, ja, geradezu Gefährliches, anderen erscheint sie als unentbehrlich; im ganzen aber ist sie, zumindest in Westeuropa, offenbar auf dem Rückzug befindlich. Warum ist das so?
Nicht wenige Menschen sind enttäuscht. Man hat sie gelehrt, dass da ein Gott ist, der in seiner Macht und Güte helfen kann in Not und helfen wird, wenn man ihn darum bittet; dann aber starb qualvoll der liebste Mensch trotz allen noch so flehentlichen Betens. »Wenn es einen Gott gäbe, könnte er das nicht zulassen.« Zu dieser Ansicht kommen viele, – ein Atheismus aus Enttäuschung, der bitter machen kann und zynisch angesichts der hoffnungsvollen, aber irreführenden Verkündigung der Kirchen. »Es ist kein Gott, – zu seinen Gunsten möchte ich das glauben«, meinte zornig und empört über all die Tragödien der Welt der Dichter Christian Dietrich Grabbe. Das ist 150 Jahre her, doch quer durch das 19. Jahrhundert bereits breitet sich das Gefühl für den Widerspruch aus, der zwischen dem Bild von Gott in der herrschenden Theologie und dem namenlosen Leid der Welt besteht.
Andere geben sich als Agnostiker. Wirklich ist für sie nur, was sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln erkennen lässt. Für sie ersetzt die Physik die Metaphysik und die Evolutionslehre den Schöpfungslauben; von der Neurologie glauben sie sich zudem in der Meinung bestätigt, dass alle geistigen Tätigkeiten sich auf neuronale Prozesse des Zentralnervensystems zurückführen lassen; was einmal als Seele oder Person bezeichnet wurde, erscheint ihnen als ein Produkt des Gehirns für das Gehirn, als eine Art Selbsttäuschung. Naturwissenschaftliches Denken kann methodisch nicht anders, als die Frage nach Gott konsequent auszuklammern – Gott ist kein Teil der Natur –, die Dominanz der Naturwissenschaften schon in den Schulen aber macht aus dem an sich begrenzten Weltbild der Naturwissenschaften eine Art Weltanschauung, in welcher die Hypothese Gott zur Erklärung irgendeines Phänomens als überflüssig und methodisch falsch erscheint. Im übrigen verhilft die praktische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Technik offenbar zu alledem, wofür man in weniger aufgeklärten Zeiten vordem die Götter oder den Gott um Schutz und Beistand anging. Für die Fruchtbarkeit der Felder gibt es die Agrochemie, für Fragen der Gesundheit die Medizin, für Wärme, Licht und Wasser die Energieerzeuger. Man muss seine Rechnungen bezahlen, aber nicht Gebete entrichten und Opfer darbringen.
Wenn Sie sagen, die Religion befinde sich auf dem Rückweg, dann ist die Esoterik zweifellos auf dem Vormarsch. In einer immer kälter werdenden Welt suchen viele die Naturwissenschaften zu spiritualisieren und zu emotionalisieren. Ihre Bekenntnisse lauten dann: »Alles hängt mit allem zusammen. Es gibt keine Zufälle. Alles ist Energie, alles Geist. Es liegt an uns, die positive Energie zu stärken und zu übertragen, indem wir einschwingen in den Gesang des Universums.« Steine, Quellen, Bäume, Geistwesen dienen als Mittler zu Wohlgefühl und Harmonie, und auf eine anrührende Weise wird versucht, durch Psychologisierung der physikalischen Zusammenhänge den materialistischen Reduktionismus der Naturwissenschaften zu kompensieren. So hilflos die Versuche einer quasi mystischen Deutung der Quantenmechanik im einzelnen auch sein mögen, sie verlangen förmlich nach einer theologisch glaubwürdigen Antwort.
Die wir hier geben sollten.
Gewiss. Wir müssen den methodischen, aber auch inhaltlichen Gegensatz von Gauben und Wissen, von Religion und Wissenschaft, von Gefühl und Verstand zu überwinden suchen, damit die Menschen nicht länger von einer abergläubigen Frömmigkeit und einer ungläubigen Intellektualität zerrissen werden. Ein Hauptproblem der Religion besteht ohnehin in dem Vorwurf, sie stelle ein irrationales Wunschdenken dar, geboren aus Angst und Unwissenheit, fähig, ganze Epochen und Gesellschaften in den Wahnsinn zu treiben. Was alles ist nicht im Namen der Religion schon geschehen, das uns heute als geradezu verbrecherisch anmutet! Menschenopfer wurden dargebracht, um grausame Götter um Gnade anzuflehen und vermeintliche Schulden abzubüßen, Kriege wurden geführt, um die Macht des eigenen Stammesgottes zu vergrößern, die eine Glaubensform verteufelte die andere, wer anders lehrte, als die Religionswächter es wollten, konnte oder musste als Ketzer getötet werden, – Fanatismus, Aggressivität und Intoleranz geben sich als die Schicksalsgöttinnen jeder Religion. Hatte da nicht Sigmund Freud recht, als er einer künftigen Menschheit wünschte, von den Formen verinnerlichter Gewalt, infantiler Denkeinschränkungen und unterdrückter Triebbedürfnisse endlich sich freimachen zu können? Immer mehr Menschen denken wirklich so, man müsse Gott verneinen, um den Menschen zu bejahen, man müsse den Glauben an ein Jenseits aufgeben, um hier auf Erden glücklicher zu werden, man müsse sich von Gott und Himmel trennen, um eigene Verantwortung zu lernen und zu übernehmen.
Ja, zeigt denn nicht auch der islamische Terrorismus mit seinen Selbstmordattentaten, welch eine Lebensverneinung und Todesbereitschaft in der Religion liegen kann? Insbesondere den drei monotheistischen Religionen wirft man ihren Absolutheitsanspruch vor, mit dem sie einander bekämpfen.
Das wird ein Punkt sein, auf den wir sicher noch zu sprechen kommen werden. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die polytheistischen Religionen der Antike in sich widersprüchlicher sein mochten, aber miteinander friedfertiger umgingen. Den Grund können wir hier schon vorweg benennen: sie dachten in Bildern, nicht in Dogmen, sie erzählten mythische Geschichten und führten nicht metaphysische Begriffssysteme gegeneinander ins Treffen, sie betrachteten einander als ergänzend statt ausschließend. Es wird im Gespräch sehr wichtig sein, die sogenannten Offenbarungsreligionen so zu verstehen, dass sie die unbewussten Schichten der menschlichen Psyche mit ihren traumnahen Bildern und Symbolen integrieren, statt abspalten. An sich sollte Religion, sollte das Sprechen von Gott den Menschen mit sich selber eins werden lassen und die Menschen untereinander in gerade den wichtigen Wesenszügen und Erfahrungen zur Einsicht führen; Gott sollte eine Quelle der Versöhnung und des Friedens, nicht der Feindschaft und des Krieges sein. Doch dazu müssten wir es wieder lernen, von Gott zu singen wie in einem Bach’schen Choral, ihn zu malen wie in den Fenstern einer gotischen Kathedrale oder auf der Ikonostase eines russischen Klosters und von ihm zu künden wie in den Liedern und Gedichten Rumis oder Rilkes. Nichts ist der Gewalt mehr abhold als die Lyrik und die Liebe.
Das hieße, Gott von den Kathedern und den Kanzeln den Menschen wieder zurückzugeben! Doch dagegen steht die Angst, vor allem gegenüber dem militärischen Islamismus. Wir schließen gerade die Grenzen aus sicherheitspolitischen Gründen, wir stationieren Truppen im Kampf gegen den IS …
Ihre Frage formuliert bereits zwei Seiten: eine religiöse, aber besonders auch eine politische. Beides kann zusammenhängen, doch sollten wir es getrennt behandeln. Man sollte Religion nicht politisch instrumentalisieren. Was den Islam angeht, so haben wir ihn nach 1989, nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums, in aller Form als ein neues Feindbild aufgebaut, um die alten Hegemonialansprüche beizubehalten und ausweiten zu können: 1991 Krieg im Irak, 1992 Krieg in Somalia, 1995 Krieg auf dem Balkan, 2001 Einmarsch in Afghanistan, 2003 der nächste Krieg im Irak, dann die Bombardierung Libyens, die Regime-change-Politik in Syrien, Truppenstationierung in Mali, – es hat kein Ende und es soll kein Ende haben. So viel scheint klar: Al Qaida hätte es nie gegeben ohne den Stellvertreterkrieg der USA gegen die Sowjets in Afghanistan, den IS gäbe es nicht ohne das verheerende Desaster amerikanischer Militärpolitik im Nahen und Mittleren Osten. Und sprechen wir erst gar nicht von der untragbaren Hypothek von 300 Jahren europäischer Kolonialpolitik und der Selbstbedienungsmentalität nach 1918, nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Der Islam als Religion ist unendlich größer als die verengten Reaktionen auf den Hass, den wir selbst bewusst gesät haben.
Aber ruft nicht der Koran selber zum Heiligen Krieg auf, und führen die Gotteskrieger nicht stets ihr Glaubensbekenntnis auf den schwarzen oder grünen Fahnen mit sich?
Damit berühren Sie ein Problem in allen Religionen. Wer die heiligen Urkunden nicht innerlich liest, sondern sie äußerlich und unhistorisch »wörtlich« nimmt, der findet in ihnen ohne Zweifel viele Gründe zur Gewalt. Die Bibel enthält, weit schlimmer noch als der Koran, den Befehl Gottes etwa zur Ausrottung der Midianiter; ihr zufolge hat Gott »seinem« Volk »das Land gegeben«, – ein Auftrag, der in der Gegenwart die »historische« Begründung der Landnahmepolitik gegen die Palästinenser liefert und eine Friedensregelung kaum zulässt; und wie die Christen sogar die »Kreuzabnahme« Jesu zur Aufforderung für sieben Kreuzzüge umstilisieren konnten, ist bekannt. Sagen wir hier schon: alle Veräußerlichung und Vergegenständlichung religiöser Aussagen führt zu Aberglauben und Gewalt.
Und was sagt dann die Religion, innerlich gelesen? Wozu soll sie gut sein?
Die Religion in all ihren Formen ist notwendig, weil mit dem Menschsein ein Problem auftaucht, das in der gesamten Natur keine Lösung findet. Nur die Religion kann dem einzelnen Menschen sagen, dass er berechtigt ist zu sein. Das Universum meint ihn nicht, dem Kosmos ist sein Dasein gleichgültig, und die Gesellschaft interessiert sich für ihn allenfalls als Produzenten und Reproduzenten. Nur die Religion versichert dem Menschen, dass da ein Gott sei, der möchte, dass es ihn gibt, der bei ihm ist in den Stunden der Einsamkeit und dessen Güte die Sinnlosigkeit und die Schuld aus unserem Leben nimmt. Die Endlichkeit unseres Daseins tröstet sie durch Gottes Unendlichkeit. Alle Religionen atmen den Geist eines Satzes, der Augustinus zugeschrieben wird: »Auferstehen ist unser Glaube, Wiedererstehen unsere Hoffnung und an Dich denken unsere Liebe.« Die Religion verwandelt die ganze Welt in ein Kaleidoskop von Bildern, in denen inmitten der Zeit sich Gottes Ewigkeit spiegelt und er ahnen lässt. Und so verhilft sie zu einem Vertrauen, das den elenden »Kampf ums Dasein« erübrigt und uns anziehen lässt den »neuen Menschen«, mit Paulus zu sprechen. Endlich verlassen wir den Schlachthof der Geschichte, in dem wir uns allzu lange gequält und geplagt haben.
Bilden in Ihren Augen alle Religionen eine Einheit? Gehören sie alle zusammen? Gehört auch der Islam zu Europa?
Christian Wulff als Bundespräsident hat so gesagt und erntete dafür viel Protest. »Es gibt Muslime in Europa«, korrigierte ihn hernach Joachim Gauck. Doch ohne den Islam gäbe es »unser« Abendland nicht. Die Sterne am Himmel: der Deneb im Schwan, der Altair im Adler, der Alkor im Großen Wagen, tragen arabische Namen, ihre Stellung berechnen wir in der sphärischen Trigonometrie mit Azimut und Nadir auf arabisch – vom Dezimalsystem ganz abgesehen –, die Anfänge der Chemie, die Fortschritte der Medizin, die Rückkehr der griechischen Philosophie – das alles bis hin zur Architektur des Kaiserdomes in Aachen verdanken wir den Arabern. – Nehmen Sie für die Einheit der Religionen nur eine einfache Tatsache, die innerlich, symbolisch gelesen, ein Bild von verbindlicher Bedeutung darstellt: Im 11. Jahrhundert war Rashi (ein Akronym aus Rabbi Salomom ben Isaak) der bedeutendste Talmud-Interpret des Judentums; er soll seine Schule nach Worms verlegt haben, wo die Tosafot, die Hinzufügungen, von seinem Schüler Baruch weiterentwickelt wurden. Dann aber wurden die Juden um 1200 aus Worms vertrieben, und sie retteten sich mit ihren Schriften ins südspanische Al Andalus zu den Mauren. Dort, allein dort, überlebte der Talmud, der schließlich um 1520 in Venedig von einem Christen, von Daniel Bomberg, gedruckt wurde. Religionen sind wahr und lebendig nur, wenn und solange sie sich kulturell austauschen und ergänzen.
Aber wissen das auch diejenigen, die jetzt zu uns kommen? Die Salafisten, die »Gefährder« , die terroristischen Schläfer?
Die Flüchtlingswelle und die Angst vor der Überfremdung
Herr Drewermann, mit der unerwarteten Flüchtlingswelle, die wir derzeit in Europa erleben, haben sich in der gesellschaftspolitischen Landschaft Europas, vor allem aber in Deutschland, Stimmungen und Haltungen verschoben. Das Verhältnis zum Islam, den Muslimen, mit denen wir bisher eher friedlich und tolerant zusammen gelebt haben, hat sich plötzlich dramatisch verändert. Zunehmend mehr Menschen sehen im Islam eher eine Bedrohung, eine Überfremdung. Viele Menschen wissen zu wenig über den Islam, und dadurch entsteht ein ganz neues, um nicht zu sagen ein gefährliches Gemisch.
Es sind mindestens zwei Ebenen, auf denen die derzeitige Auseinandersetzung mit dem Islam zu erfolgen hätte. Die eine ist: Wir sollten versuchen, den Islam als Religion zu verstehen, um dann im Abstand dazu die Verwerfungen zu bemerken, die wir selber vom Westen her mit verursacht haben, bis dahin, dass wir den »Islamismus« nach 1989, nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus, zu einem Ersatzfeind aufbauen, um die Kriegspolitik des Kalten Krieges beibehalten zu können. Wir sprechen von einer Flüchtlingskrise in Erwartung, dass die UNO ihr trauriges Zahlenwerk wird bestätigen müssen: Wir haben in Afrika allein etwa sechzig Millionen Flüchtlinge auf der Suche nach irgendeinem Ort, an dem sie leben könnten. Dahinter stehen gewaltige wirtschaftliche Zerrüttungen, die auf dem Kapitalmarkt, auf dem Nahrungsmittelbörsenmarkt in Chicago, im Landkauf und Landraub vom Westen durch die Multi- und Transnationalen Konzerne in ganz großem Stil verursacht werden.
Die unfairenTerms of Trade auf dem Weltmarkt sind ein Beispiel. Aus Afrika können eigentlich nur Agrarprodukte exportiert werden. Diese haben aber keine Chance, sobald sie europäischen oder nordamerikanischen Produkten Konkurrenz bieten. Dann nämlich werden sie bei uns oder in Nordamerika subventioniert, und wieder stehen die Länder Afrikas, vor allem südlich der Sahel-Zone, vor der Unmöglichkeit, mit dem Preisdumping, das wir betreiben, mithalten zu können. Das Infame ist, wir wollen genau diesen Zustand. Denn auf diese Weise bekommen wir einen Zugriff auf Billigstlohn-Arbeitskräfte. Wir sehen Staaten zerfallen, bei denen wir dann die Regimes einsetzen können, die unseren Zugriff auf die Ressourcen begünstigen. Wir lassen über den IWF, den Internationalen Währungsfonds, die Schulden so ansteigen, dass die Länder auf unabsehbar lange Zeit unsere Wirtschaftssklaven sind.
Empörend wirkt nicht zuletzt die »Willkommenskultur« der EU: jahrelang hat man das Mittelmeer als Massengrab für Flüchtlinge hingenommen, man hat im Schengen-Abkommen innereuropäisch Freizügigkeit ermöglicht, doch die Südgrenzen Europas juristisch und elektronisch abgeriegelt; man hat mit Frontex die Flüchtlingsströme mit militärischen Mitteln aufzuhalten versucht, und man glaubt, in den Maghreb-Staaten und vor allem in dem zerbombten Libyen KZ-ähnliche Auffanglager für Flüchtlinge einrichten zu können, – angeblich um das Schleuserunwesen zu stoppen und die Flüchtlinge zu schützen. Dieser »Schutz« soll sie offenbar davor abschrecken, überhaupt nach Europa gelangen zu wollen. Wenn sie es bis dorthin geschafft haben, lässt man – nach dem Dublin-Abkommen – die Erstaufnahmeländer allein, das absolut überforderte Griechenland zum Beispiel; man kündigt das italienische Mare-nostrum-Programm aus Geldgründen auf; man errichtet in Ungarn und Österreich Sperrzäune – wo in all dem bleibt da die Christlichkeit unserer abendländischen Wertegemeinschaft?
Und nun kommt die 2. Ebene: Wenn es gar nicht anders geht und die Leute wirklich nicht mehr wissen wohin, wenn Bürgerkriege ausbrechen, dann spielt plötzlich ihre Religion eine verzweifelte Rolle. Für Menschen, die gar keinen Ort mehr auf der Welt haben, wird die Religion der letzte Halt, ein Hoffnungsmoment inmitten der Verzweiflung. Sie regredieren im Bewusstsein auf einen Zustand, in dem historisch einmal ihre Welt in Ordnung war. Das kann um Jahrhunderte zurückgehen, womöglich bis ins Mittelalter, als der Islam eine sehr große, starke, gegenüber dem Westen kulturell führende Kultur- und Religionsform bildete. Da sucht man dann Anknüpfungspunkte zur Gestaltung der Gegenwart.
Aber das rechtfertigt doch nicht Terror, das rechtfertigt doch nicht Mord.
Etwas verstehen heißt niemals, es rechtfertigen. Aber nur wenn man es versteht, begreift man die Gründe, auf die hin man so antworten könnte, dass aus dem Terror nicht sofort der eigene Gegenterror in Gestalt des weltweiten zeitlich unbegrenzten Antiterrorkrieges wird. Wir bewegen uns im Moment in einer Blutmühle ohne Ende. Denn wir haben gegenüber dem Terror, von dem ich gerade andeute, dass wir ihn selber mit verschuldet haben, keine andere Antwort, als Gewalt mit Gewalt zu beantworten. »Diese verstehen nur die Sprache der Gewalt«, – Originalzitat des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama. Wenn es so steht, müssen wir nicht mehr schauen, mit was für Menschen wir es zu tun haben. Wir müssen sie ausrotten. Auch Präsident Donald Trump spricht genau so: Man muss sie ausrotten. Wenn das so ist, wollen wir einen unendlichen Krieg global gegen alles, was in unsere kulturellen Schemata nicht hinein passt, ganz egal, wie es zustande gekommen ist. – Wir müssen, was die aktuelle Flüchtlingslage angeht, insbesondere betonen, dass es die Regime-Change-Politik der USA ist, die seit 1991, seit dem ersten Golf-Krieg unter George Bush dem Älteren, konzeptionell die Verwüstung des ganzen Nahen Ostens zugunsten genehmer Regime zur Agenda erklärt hat. Der spätere Weltbankpräsident Paul Wolfowitz, einer der Architekten des Zweiten Golf-Kriegs 2003, hat genau dies vorgesehen: Es sollte ein amerikanisches Jahrhundert entstehen unter dem Diktat der Neokonservativen, wobei der Nahe Osten schon seiner Erdöllieferungen wegen hoch attraktiv ist. Man muss nach diesem Programm den Irak, Syrien, am besten auch den Iran, den Libanon, Ägypten, Somalia, den Sudan, ganz Libyen, Nordafrika so weit aufrollen, dass es den Erdölinteressen der USA zu passe wird.
Aber die Erdölinteressen spielen doch nicht mehr die Rolle. Der Verbrauch des Erdöls in Amerika ist drastisch zurückgegangen.
Das ist aber erst seit ein paar Jahren durch die Einführung der Fracking-Technologie ermöglicht worden. Bis dahin hat man völlig anders konzipiert, und die Folgen tragen wir heute. Vor allem die Bedenkenlosigkeit, mit der man Millionen von Toten in Kauf nimmt. Allein im Irak starben bei den beiden Golf-Kriegen 1991 und 2003 bis zu zwei Millionen Menschen. Gemessen daran ist alles, was durch Terror an Unmenschlichkeit geschieht, quantitativ auf ein Prozent, im Verhältnis 1:100 oder 1:200 anzusetzen. Wenn der IS bisher zehntausend Menschen getötet hat – eine furchtbare Zahl –, muss man das vergleichen mit den zwei Millionen Toten, die auf westliche Militäraktionen in der Region zurückzuführen sind. Dann haben wir ungefähr die Proportionen, um zu bestimmen, woher die Gewalt kommt und wie sie weiter wirkt.
Aber nehmen wir das Beispiel Afghanistan, Herr Drewermann. Es ist ja nicht nur Amerika zuzuschreiben, dass dort Chaos herrscht, dass dort Gewalt herrscht. Der gesamte Westen hat doch versucht, dem Land ein Stück Freiheit zu geben, gerade auch den Frauen, etwas für die Bildung zu tun. Hätte man besser sagen sollen: Lasst sie doch so beten, wie sie wollen. Wäre das Ihre Position, Herr Drewermann?
Afghanistan hätten wir von Anfang an leben lassen sollen, wie es will. Es hat noch niemals eine Möglichkeit gegeben, Afghanistan von außen zu beherrschen. Alexander der Große hat das versucht, die Engländer haben das versucht, die Russen hat man da hineingelockt, und die Amerikaner haben ihr Erbe übernommen. Es ist die Frage, bis zu welchem Chaos-Zeitpunkt wir zurückgehen. Der ehemalige Nationalsicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski (1977−1981), rechnet es sich heute noch als Verdienst an, die Sowjets unter der Phantasmagorie, die Südflanke ihres Imperiums sei vom Islam bedroht, nach Afghanistan gelockt und dann daraus wieder vertrieben zu haben, mit der Lieferung von Stinger-Raketen an die damals befreundete Dschihadistenorganisation Al Kaida. Weil das sehr gottgläubige, fromme Leute sind, waren es in amerikanischer Lesart unsere Brüder, und sie waren genau die Richtigen, die Kommunisten zu bekämpfen. Die Kommunisten hatten in Afghanistan ein ähnliches Programm wie wir heute: Gleichstellung der Frauen, Abschaffung der Burka, Zugang zu den Schulen, Aufbau von sanitären Anlagen, Tiefbrunnenbohrungen, Infrastruktur, Straßenbau, Elektrifizierung, – alles, was wir auch wollen, war längst schon das Programm fortschrittlicher Sowjets in Afghanistan. Das durfte aber nicht erfolgreich sein, weil natürlich Amerika die Falle zuschnappen lassen wollte. Anschließend hatten wir einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg. Damals haben wir die Taliban durch Waffenlieferungen dahin gebracht, gegenüber den War Lords eine Herrscherschicht zu bilden. Das Ganze ging so gut, bis dass wir im August 2001 in Bonn eine Verhandlung über den Bau von zwei Pipelines vom Kaspischen Meer zum Persischen Golf abgehalten haben. Nur: Die bis dahin unterstützen und befreundeten Taliban stimmten dem Plan nicht begeistert genug zu. Sie hätten nötig gehabt, die Loja Jirga zu befragen, also komplizierte Verhandlungen zur inneren Befriedung einzuleiten. Das passte den Amerikanern gar nicht. Also standen sie auf der Abschussliste. Dass es Trainingslager von Al Kaida in Afghanistan immer noch gab, bildete dann den Vorwand, um in großem Stil in Afghanistan einzurücken. Man hätte es wahrscheinlich unter allen Umständen getan, – die Taliban waren nicht mehr fügsam. Das ist der wirkliche Kriegsgrund. Al Kaida bestand damals aus maximal tausend Leuten. Heute können wir damit rechnen, dass der IS zehntausend, dreißigtausend kampfbereite, todesbereite Aktivisten rekrutiert hat. Der südafrikanische Präsident Nelson Mandela hatte völlig recht, als er einmal sagte: »Auf jeden so getöteten Terroristen kommen zehn weitere Terroristen.« Wir wissen das, und wenn wir es dennoch so weiter machen wollen, dann offensichtlich mit der Absicht, dass es genau so kommt: Je mehr Terroristen, desto mehr können wir die gesamte Welt überwachen, für die Sicherheit angeblich mit Hilfe der NSA. Wir müssen im Prinzip alle Bewohner der Welt kontrollieren können aus Gründen der Sicherheit. In Deutschland können Sie schon heute an keiner Bushaltestelle stehen, auf keinen Zug warten, kein Kaufhaus betreten, keine Hotellobby aufsuchen, ohne dass Sie fotografiert, aufgenommen, gespeichert werden, ihr Bewegungsprofil beim Handy wird registriert. Sie sind total kontrollierbar. Und genau diese Angsterzeugung will man, damit die absolute Machtinanspruchnahme der einzig verbliebenen Weltmacht, der USA, und in ihrem Gefälle auch der andren Staaten sich routiniert und perfektioniert. Nicht der Bürger kontrolliert mehr diejenigen, die er mit einem lächerlichen Kreuzchen auf dem Stimmzettel alle vier Jahre wählt. Umgekehrt: Der Staat kontrolliert jeden seiner Bürger bei jeder seiner Handlungen, bei seinem Kauf- genau so wie bei seinem Leseverhalten. Es ist nicht übertrieben, wenn die Geheimdienste sagen: Wir wissen, was Sie denken. Das stimmt in den Zentralen, die es abrufen wollen, unbedingt. Und eben dieser Zustand muss ausgebaut werden, – dann, angeblich, hätten wir keine Terroristen mehr. Aber Sie hören mich bei all dem mit einer verhaltenen Wut sprechen. Wenn ich mir vorstelle, dass in Ländern der Dritten Welt allein infolge des Zynismus und der Barbarei, mit der man da glaubt, nicht Kultur-, aber Macht- und Wirtschaftsinteressen in die Länder vor allem des islamischen Kulturkreises hineinbomben zu können, ist mir begreifbar, wie die Reaktion fast parallel, wenngleich asymmetrisch auf Gewalt programmiert wird.
Worauf ich hinaus möchte, Herr Drewermann, ist, von Ihnen zu erfahren, welche Rolle der Islam in dieser ganzen Konstellation spielt, die Sie beschreiben. Es ist ja nicht so, als sei die Religion eine Nebensache. Sie ist eine Hauptsache. Die Frage ist doch, ob im Islam mehr an Ideologie, auch an Gewalt, steckt, als in anderen Religionen. Gibt es überhaupt eine Religion, die nicht Gewalt und Schrecken in sich trägt?
Das ist eine deswegen schwierige Frage, weil, wer von Religion spricht, etwas Absolutes berührt und meint. Absolut bedeutet etwas nicht Verhandelbares, das jenseits der Diskutierbarkeit gestellt ist. Wer es mit religiösen Wahrheiten zu tun hat, steht vor dem Problem, dass in der Religionsgeschichte im Raum der Offenbarungsreligionen es kaum anders möglich war, als den Gedanken, dass Gott sich mitteilt, auf bestimmte Inhalte festzulegen. Wenn Gott am Sinai Gebote erlässt, haben sie zu gelten. Wenn Moses vom Sinai kommt, mit sechshundertzwölf Gesetzen verschriftlicht in der Thora, gelten sie als Gotteswort. Sie sind unanfechtbar, sie tragen in sich den Anspruch, genauso, wie sie da stehen, befolgt zu werden, denn in den Gesetzen werden bereits Strafen für ihre Nichtbefolgung bis hin zur Todesstrafe angedroht. Wenn, wie im Islam, die Offenbarung Gottes darin besteht, dass der Engel Gabriel dem Propheten ein von Gott selber geschriebenes Buch überreicht hat, das nur noch zu lesen ist, um befolgt zu werden, ist deutlich, dass menschliche Aspekte der Relativierung, der Reflexion, der kulturellen Einordnung in die Zeitgeschichte der Entstehung des heiligen Buches keine Rolle spielen können. Der Koran besteht, wie die hebräische Thora, aus einer Fülle von Gesetzen. Wenn sie unmittelbar von Gott kommen, sind sie jenseits aller Relativierungsmöglichkeiten. Sie gelten absolut. Wenn, wie im Christentum, in Jesus der Sohn Gottes, die zweite Person der dreifaltigen Gottheit, selber Mensch wird und zu uns spricht, und es wird im Neuen Testament, einem inspirierten Buch, überliefert, was er gesagt hat, ist deutlich, dass das, was da zu vernehmen ist, die absolute Wahrheit sein muss. Wir müssen sie jetzt nur noch unter die Menschen tragen. Schon aber haben wir damit drei verschiedene, sich gleichermaßen auf Gott beziehende Religionen, die mit absolutem Anspruch in Konkurrenz zueinander stehen. Scheinbar wird es auf diese Weise zu einer Machtfrage, wer über wen herrscht, um sich durchzusetzen. Und da Gott selber mächtig ist, wird er diejenige Religion bevorzugen, die sich auf Erden im Konkurrenzkampf gegeneinander als die mächtigste erweist. Also braucht man vor allem Mittel, um herrschen zu können. Dann haben wir in jeder solchen Religion einen Gewaltauftrag, der sich mit der entsprechenden Art von Frömmigkeit verbindet. – Ich spreche wohlgemerkt über einen historisch gewordenen Zustand, ich spreche nicht davon, dass es so bleiben müsste oder überhaupt so sein dürfte in der Gegenwart.
Wie sehen Sie diese Gegenwart? Erleben wir die Spitze einer falschen Entwicklung?
Für den Islam ist ein säkularer Staat undenkbar
Dann ist aber für den Islam ein säkularer Staat gar nicht denkbar?
Absolut nicht denkbar. Und die Frage ist, warum wir in Europa überhaupt auf die Idee haben kommen können, dass es – nach Jahrhunderten eines »heiligen römischen Reiches« – eine Trennung von Religion und Politik überhaupt geben sollte, einen säkularen Staat. Ich möchte, damit wir ungefähr den Weg wenigstens beschreiben, der nötig wäre, um das Denken des alten oder sogar des modernen Orients auszufiltern, zwei Aspekte einführen: das historische und das symbolische Element.
Zum ersten: das historische Verstehen. Wir sollten die Urkunden der heiligen Bücher historisch lesen. Das ist deswegen sehr schwer, weil, wer mit dem Absolutheitsanspruch beginnt, den Glauben zerstört fühlen wird, wenn er historisiert werden soll. Historisch zu lesen bedeutet, Aussagen zurückzuführen auf den Horizont damaliger Erkenntnismöglichkeiten, einstiger weltanschaulicher Gegebenheiten und der kulturellen Bedingtheiten, in denen eine religiöse Urkunde entstanden ist. Dann aber ist sie nicht mehr einlinig von Gott, sondern sie erscheint als ein Gebilde, das von Menschen formuliert worden ist. So wird von der Bibel heute in der Exegese eigentlich verpflichtend gesagt: Die Bibel ist Gottes Wort, aber man hat gelernt hinzuzufügen: sie ist Gottes Wort in Menschenwort. Es ist scheinbar ein Paradox, aber genau das hat man lernen müssen.
Wie schwer das im christlichen Abendland war, zeigt die gesamte dogmatische Auseinandersetzung noch im neunzehnten Jahrhundert und bis in die Gegenwart. Es war ein Umbruch, der auf vielen Lehrstühlen die Dozenten der Theologie selber in den Atheismus getrieben hat. Was bleibt noch von der Bibel, wenn man sieht, dass ihre Urkunden weit, weit zurückgehen auf Erzählungen im antiken Sumer? Die Geschichte vom Turmbau zu Babel zum Beispiel, die Geschichte von der Sintflut, die Geschichte vom Sündenfall – wenn alles das gar nicht originär ist, sondern wenn die Bibel selber in eine Tradition sich einfügt, die zweitausend Jahre älter ist als sie selber, wo ist dann das Gotteswort? Wie verschmilzt das Relative mit dem Absoluten? Erst wenn man darüber nachdenkt, dass wir die Wahrheit nicht absolut und fertig haben, sondern dass wir Zugangswege finden, die von Gott geleitet und begleitet sein mögen, die aber uns nicht als Menschen überspringen oder außer Kraft setzen können, treten wir ein in einen möglichen Dialog. Und dann hätte vermutlich die Nathan-Parabel bei Lessing recht: Es geht doch nicht um bestimmte fixierte Inhalte, es geht darum, was wir für Menschen sind. Das möchte Gott sehen. Und der einzige Parameter dafür ist: ein Umgang mit Menschen unter Menschen, welcher der Liebe entspricht, die wir in Gott als real voraussetzen und glauben.
Könnte man das auf die Formel bringen: Eine Ethik der Mitmenschlichkeit ist eigentlich wichtiger als eine Religion?
Da sind wir wie beim Dreisprung noch einen Satz weiter. Islam und Judentum sind wesentlich Gesetzesreligionen. Sie sind identisch mit dem ethischen Anspruch, den sie an die menschliche Lebensführung stellen. Was sie von einer rein philosophischen Ethik unterscheidet, ist das göttliche Offenbarungsmoment: Die Gesetze, die zu befolgen sind, sind von Gott selber gegeben. Sie entspringen nicht einfach der Vernunft des Menschen. Sie sind nicht wie in der Aufklärung für jeden Vernünftigen bei Gebrauch seiner praktischen Vernunft evident, keinesfalls, sondern sie müssen positiv gesetzt werden von der Gottheit selber.
Darin liegen dann auch gewisse Unterschiede. Kann Gott sich widersprechen? – Kann er nicht. Also muss man darum ringen, was Gott nun wirklich gesagt hat. Hat er die sechshundertzwölf mosaischen Gesetze gegeben? Hat er die Gesetze des Korans gegeben?
Das Christentum bildet an dieser Stelle und in dieser Frage eine wesentliche Ausnahme, und es könnte eine Richtung zeigen, die wir im Gespräch zwischen den drei monotheistischen Religionen zu beachten hätten. Das Christentum nämlich ist der Meinung, dass wir den Menschen zu vordergründig betrachten, wenn wir ihm zutrauen, er könnte kraft seines vermeintlich freien Willens positiv gegebene Gesetze einfachhin in Selbstkontrolle befolgen. Ich nenne diese Auffassung gern den ethischen Optimismus und definiere sie so, wie sie auch in der philosophischen Ethiktradition des Abendlandes, von den Griechen herkommend, sich wie selbstverständlich verfestigt hat und unsere Moral bestimmt ebenso wie unser Strafrecht. Die gesamte Justiz hat unser Menschenbild in dieser Vorstellung zutiefst geprägt. Sie lautet simpel: Der Mensch ist frei, und er weiß, was Gut und Böse ist; sofern nicht, wird man ihm nachhelfen. In der Konkretheit, in der Gut und Böse in einem bestimmten Kulturraum definiert werden soll und muss, bedarf es womöglich noch einer Reihe näherer Informationen, aber im Großen und Ganzen ist klar, was unter Gut und Böse zu verstehen ist. Und da Mensch frei ist, hat er sich danach zu richten. Sofern er das nicht tut, gehört er nach Maßgabe der Gerechtigkeit bestraft, und je schwerer seine Verstöße, desto strenger hat die Strafe zu sein. Kein Gesetz, das nicht in seiner Werthaftigkeit Strafe bewehrt sein müsste, denn sonst könnte es folgenlos übertreten werden, es schiene gleichgültig zu sein, ob man es einhält oder übertritt. Dieses Menschenbild ist so verfestigt, dass es ohne jede Änderung auch religiös gestützt erscheint. Wenn Gott den Menschen frei erschaffen hat und ihm Gebote gegeben hat, so ist es selbstverständlich, dass er diese einzuhalten hat. Es ist in all dem scheinbar überhaupt kein Problem erkennbar. Das Problem tritt erst im Neuen Testament zu Tage. Denn an jeder Stelle führt der ethische Optimismus dahin, dass die sogenannten Guten sich trennen von den sogenannten Bösen. Da sind die anderen: die Gesetzesbrecher! Die wissen genau wie wir, was sie tun müssten, sie tun es aber nicht. Also gehören sie bestraft. Und wir, die wir uns nach den Geboten halten, sind die Instanz, die im Namen Gottes und des Volkes verfügt, dass und wie sie ausgeschlossen gehören.
Das können wir doch mit dem Begriff Fundamentalisten belegen.
Es ist noch in unserem ethisch orientierten Abendland auch ohne jede Religion die ganz normale Praxis. Gesetzesbrecher gehören bestraft, in jeder Form.
Aber die, die das in Anspruch nehmen, glauben, sie seien die wahren Christen, die wahren Muslime, die wahren Juden.
Es sind vor allem bei uns die guten, anständigen, ordentlichen Bürger und Steuerzahler.
Ja, aber jetzt auf die Religion bezogen kann man doch sagen, dass es eher die Sektierer sind. Es sind doch fundamentalistische Sektierer. Meine Frage zielt dahin: Schützt der säkulare Staat uns vor diesen fundamentalistischen religiösen Strömungen?
Das kann er überhaupt nicht, weil er selber fundamentalistisch ist. Er reduziert sich auf ein bestimmtes uns im Abendland überkommenes Kulturniveau, das er seinerseits absolut setzt. Wir könnten das gleich in einer Reihe von Beispielen erläutern. Worauf ich hinaus will, ist dieses: Es ist die Betrachtungsweise des Mannes aus Nazareth, der dieses unser im sogenannten christlichen Abendland selbstverständlich gewordene Weltbild des ethischen Optimismus in Moral und Justiz, im Umgang miteinander und vor Gericht, über den Haufen geworfen hat mit dem Blick auf die Wirklichkeit des Menschen.
Es sind zwei entscheidende Erfahrungen Jesu, die den Unterschied bedingen. Die eine taucht in der Legende schon im ersten Kapitel des Markus-Evangeliums auf, als Jesus am Jordan der Bußpredigt des Täufers folgt und damit auch der Androhung schwerster Strafen Raum gibt, nur um zu erleben, wie sich vor ihm der Himmel öffnet und eine Stimme ihn anredet: »Aber du bist doch mein Sohn!« Jesus wird in den Dörfern Galiläas nie mehr etwas anderes sagen als im Grunde diese Botschaft: »Gott verstößt euch nicht.« Wohl, Johannes hat recht: Das müsste er tun, wenn er gerecht wäre, aber so ist er nicht. Die Bergpredigt beginnt mit diesen Worten: »Wenn eure Vorstellung von Gerechtigkeit nicht gründlich anders ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, kommt ihr nicht ins Himmelreich. Ihr versteht Gott überhaupt nicht. Die Frage ist nicht: Wie übt man Gerechtigkeit, sondern: Wie wird man der Not von Menschen gerecht? Denn das, was ihr Sünder nennt, sind nichts weiter als Menschen in Not.« – Der Existenzphilosoph Søren Kierkegaard hat die so genannten »Sünder« als Verzweifelte bezeichnet, um die Reethisierung des Christlichen ein für allemal wieder hinter sich zu bekommen. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion, keine Selbstbestätigung für selbstgerechte Zwangsneurotiker in moralischer Absicht.
Und der Islam?
Ebenso wie das Judentum und wie das verfasste Christentum der Kirchen sieht auch er die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen praktisch nicht; er setzt also zu kurz an, er nagelt die Menschen fest auf fixe, positiv gegebene göttliche Gebote und Gesetze.
Ist das die Quelle für Fundamentalisten?
Es ist eine zu kurz geratene Anthropologie, die geneigt ist, von außen her Menschen zu normieren, zu zensieren und dann zu justifizieren, und die sich damit selber zwingt, grausam zu bleiben. Verdrängt wird dabei mit System das Unbewusste im Menschen, die sechs Siebtel seiner Psyche; verdrängt wird die Wirklichkeit des Tragischen, ausgebeutet bleibt die Hilflosigkeit und Ausgeliefertheit des Menschen an die Prägungen und Wiederholungszwänge seiner Kindheit, vernachlässigt wird die Unableitbarkeit jeder individuellen Situation, die nicht nach allgemeinen Regeln zu gestalten ist, – man braucht vom Menschen, wie er wirklich ist, kaum noch etwas zu wissen, indem man ihn abstrakt für frei erklärt.
Tut man das, um den Menschen zu manipulieren?
Es muss als Erstes trainiert werden, wie die Erwartungsnormen der Gesellschaft innerhalb ihrer religiösen Kontexte zu befolgen sind, die man in sich aufnehmen muss, um als Mitglied der jeweiligen Kultur- und Religionsform identifizierbar zu werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Jesus den Menschen so äußerlich nicht länger betrachten wollte, weil es grausam ist, weil es immer wieder Grenzen zieht im Namen Gottes zwischen den Guten und den Bösen, den Richtigen und den Falschen, den Anständigen und den Unanständigen, den Braven und den Aufsässigen, weil es im Namen des Gottesrechtes den Unglücklichen und Verlorenen, statt ihnen zu helfen, neuerlich schweres Unrecht zufügt.
Das ist eine Besonderheit des Christentums, des Mannes von Nazareth.
Naives Denken und Wahrheit
Liegt darin ein Grund dafür, dass sich solche extremistischen Strömungen leichter verbreiten können?
Naives Denken glaubt, die Wahrheit unmittelbar zu fassen: Die Welt ist, wie ich sie sehe, die Wahrheit ist, wie ich denke. Erst wenn man beginnt, darüber zu reflektieren, wie denn Sehen zustande kommt, merkt man, wie subjektiv alle Eindrücke sind. Erst wenn man über erkenntnistheoretische Überlegungen sich klar macht, wie abhängig von bestimmten Voraussetzungen sämtliche Erkenntnisvorgänge sich gestalten, wächst die Bereitschaft, das, was man für wahr hält, in die Diskussion zu bringen.
Philosophisch hat das Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit wahrer Erkenntnis eine lange Tradition. Platon meinte, dass wir die Wahrheit zwar in uns tragen, doch wie verhüllt; nur im Dialog, miteinander sprechend, könnten wir uns gemeinsam auf den Weg zu ihr machen. Platon glaubte auch, dass, wenn wir das ehrlich tun und in fairer Weise den Verstand gebrauchen, indem wir die Gründe, die der andere vorträgt, zu verstehen versuchen und dann eventuell auch zu widerlegen, wir unvermeidbar auf Wahrheiten kämen, die von Ewigkeit her in uns Menschen hineingelegt worden seien, indem wir sie schon geschaut hätten, bevor unsere Seele in den Körper gefügt wurde; in der Teilhabe an diesen ewigen vorgegebenen Ideen lasse sich etwas Gemeinsames, Unantastbares, absolut Gültiges finden. Der Weg dahin sei allemal relativ, das zu Findende aber absolut. Natürlich könnten wir heute darüber ins Gespräch kommen, ob ein solcher Platonismus der ewigen Ideen, der göttlichen unwandelbaren Wahrheit Bestand hat oder ob wir die Relativierung womöglich nicht noch viel weiter ins Historische treiben müssten.
Unsere Grundfrage heißt ja: Wozu Religion? Ist nicht ein Grundgefühl der Menschen heute, vor allem auch in Deutschland, dass sie fragen: Ja, wozu eigentlich Religion? Was bewirkt die Religion an Gutem? Brauchen wir diese Religionen überhaupt?
Als Erstes haben wir eigentlich schon gefunden, dass wir unbedingt zumindest Religion in der Form brauchen, wie der Mann aus Nazareth sie innerhalb seiner vorgefundenen jüdischen Offenbarungsreligion zu formen versucht hat. Er wollte uns einen Gott bringen, der uns dahin vermenschlicht, Güte walten zu lassen, Verstehen zu üben, geduldige Begleitung uns selber aufzuerlegen − gerade im Umgang mit denen, die wir als draußen befindlich wahrnehmen und die dort draußen doch sicher nicht sind, weil sie da mutwillig hin gelangen wollten, sondern weil sie Gründe hatten, sich vertrieben zu fühlen und sich als nicht zugehörig zu betrachten. Ein solches religiöses Denken vom Menschen hält uns an, auch den eigenen Anteil an den Tragödien der anderen mit durchzugehen.
Wir brauchen die Religion mithin deshalb, weil sie der einzige Ort ist, an dem man den menschlichen Formen von Hilflosigkeit, Gebrochenheit, Verzweiflung, Ausgegrenztheit, Einsamkeit, Unfreiheit, Verlorenheit einen Raum gibt, in dem nicht länger zensiert wird, wo die Frage auch nicht mehr lautet: »Was hast du gemacht?«, sondern allenfalls: »Was hat man mit dir gemacht? Was geht in Dir vor sich? Wie fühlst du dich selber?« Eine Asylstätte, nicht für Flüchtlinge von draußen nur, sondern vor allem auch im Umgang miteinander wird da errichtet. Solche Stellen zu schaffen, ist im Strafrecht nicht erlaubt, es ist moralisch undenkbar, es ist mit dem Begriff der Gerechtigkeit nicht kompatibel, aber es ist umso mehr zur Menschwerdung unerlässlich. Den Menschen zu begegnen mit Gnade – das kann nur die Religion, das wird nie eine Staatsphilosophie, nie eine verordnete Jurisprudenz, nie eine ethische Theorie genannter Prägung zu entwickeln vermögen. Es kann nur dort geschehen, wo ein Einzelner in seiner Befindlichkeit als etwas Absolutes derjenigen Person gegenüber gestellt wird, die wir als die absolute Person, als Gott, bezeichnen.
Aber das sehen Sie doch vor allem, wenn ich Sie recht verstanden habe, jetzt in der christlichen Religion im Beispiel des Mannes von Nazareth gegeben?