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Diese Frage stellt sich allen: Was ist, wenn ich gepflegt werden muss? Doch kaum eine Frage wird so oft verdrängt. "Wundgelegen" schafft, in zweiter, vollständig überarbeiteter Auflage, einen handlichen, kompakten Überblick zum Thema. Und liefert Antworten auf die gängigsten Fragen. Ein ideales Handbuch für den interessierten Verbraucher und für den Finanzdienstleistungsvertrieb.
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Seitenzahl: 94
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Vorwort
Aus der Pflegepraxis: Ein Praktikumsbericht in 7 Szenen
1. Szene 1: Ein Leitungskomplex „Trösten“ ist nicht vorgesehen
2. Pause ist nicht vorgesehen
3. Unvorstellbare persönliche Belastung - trotz eines Arsenals an Hilfsmitteln
4. Galgenhumor und Papierkram
5. Blaue Flecken und freiheitsentziehende Maßnahmen
6. Menschenwürde und Haftungsfragen
7. Grenzerfahrungen in vielen Facetten
Pflegepflichtversicherung im Lauf der Zeit
8. Geburtsstunde unter Norbert Blüm - die Pflegepflichtversicherung
9. Viel erreicht und neue Probleme
10. Pflege und moderne Familienstrukturen - ein Dilemma?
11.Die Pflegepflichtversicherung von 1995 bis heute (1)
12. Die Pflegepflichtversicherung von 1995 bis heute (2)
13. Der neue Pflegebegriff und das Neue Begutachtungsassesment (NBA)
14. Demographischer Wandel und Sozialversicherung
15. Die Kommune, der Ort der Pflege
16. Zahlen, Daten, Fakten: Pflege heute und morgen
Herausforderungen aller Orten
17. Die Kosten der ambulanten Pflege
18. Die Kosten der stationären Pflege
19. Kinder haften für ihre Eltern
20. Die osteuropäische Alternative
21. Schöner Wohnen
22. Der Besuch zur Begutachtung
23. Vorbereitung auf den Begutachtungstermin
Lösungen und Hilfen
24. Leistungen der gesetzlichen Pflegepflichtversicherung im Überblick
25. Private Versicherungslösungen - grundsätzliche Überlegungen
26. Was alles versichert werden kann (1)
27. Was alles versichert werden kann (2)
28. Assistanceleistungen
29. Lösungen der Privaten Krankenversicherung
30. Angebote der Lebensversicherung
31. Einmalbeitrag oder laufender Beitrag
32. Pflege-Bahr - die geförderte Zusatzversicherung
Sonstige Regelungen, Ausblick und Übungen
33. Die Patientenverfügung
34. Die Vorsorgevollmacht
35. Demenz - eine hinterhältige Krankheit
36. Hospizarbeit am Ende des Lebens
37. Vision1 - Pflege als Herausforderung an das bürgerschaftliche Engagement
38. Vision 2 - technische Entwicklung
39. Es ist ja noch so viel Zeit - zwei Übungen
40. Statt Nachwort: Weil Sie es sich wert sind
Die Autoren
Wir lesen es täglich. Alle werden älter. Das ist eine schöne Entwicklung. Sie bringt aber auch Schatten. Die längere Lebenszeit gibt den mit dem Alter häufiger werdenden Krankheiten mehr Raum und befördert die Lebensumstände, in denen Menschen einer Hilfe bedürfen. Das sind ganz persönliche Schicksale.
Über diese Schicksale nähern sich die Autoren Schuhmacher/Bruns dem Thema der Pflege und der Pflegeversicherung, indem sie einen Erfahrungsbericht voranstellen. Dieser stimmt ein und verdeutlicht aus der Praxis die Notwendigkeit, die erforderlichen Hilfen zu stellen. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage nach der Finanzierung dieser Hilfen.
Die Autoren würdigen Norbert Blüm als Geburtshelfer einer sozialpolitischen Entscheidung, die Pflege als regelungsbedürftig ansehen zu müssen. Der folgende geschichtliche Abriss beschreibt die Entwicklungen des Abfederns der aus der Pflege erwachsenden Probleme und führt noch einmal die politischen Diskussionen der letzten Jahre zu diesem Thema vor Augen. Diskussionen, für die viele Leser Zeitzeugen sind.
Mit ihrer tiefen Kenntnis zu den Voraussetzungen und Entwicklungen der Pflegeversicherung beschreiben die Autoren die einzelnen Parameter für eine solche Versicherung. Dabei unterteilen sie die staatlichen Regelungen und die privatrechtlichen Regelungen. Auch beschreiben sie die langsam an Aufmerksamkeit gewinnenden Vorsorgevollmachten oder Patientenverfügungen.
Das Buch „Wundgelegen“ erscheint jetzt in der zweiten Auflage. Die Autoren haben den Inhalt aktualisiert und bereits das Pflegestärkungsgesetz 3 mit aufgenommen. Dass eine zweite Auflage erscheint zeigt das Interesse, das dem Thema entgegengebracht wird. Ich bin mir sicher, dass sich der Erfolg mit der jetzigen Auflage fortsetzt, denn für die Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt es einen großen Nachholbedarf. Es ist der Verdienst der Autoren, den interessierten Käufern ein Vademekum zu diesem Thema an die Hand zu geben.
Professor Dr. Hans-Wilhelm Zeidler
Berlin, 4. Dezember 2017
Ich wollte es wissen. Was ist los in den Haushalten, in denen gepflegt wird? Wie ist es bestellt um Anspruch und Wirklichkeit? Gibt es tatsächlich die vielen Defizite, von denen die Rede ist?
Also fragte ich einen Pflegeunternehmer aus Wuppertal, Michael Wessel, ob ich bei einer seiner mobilen Kräfte mal mitfahren dürfe. Gesagt, getan: An einem kalten Februarmorgen war ich um 7:45Uhr vor dem Büro des ambulanten Pflegedienstes. Alle Patienten wurden vorher informiert, dass heute einer mehr kommt und sie waren einverstanden.
Tanja erwartet mich bereits. Eine Frau Mitte Dreißig, schätze ich. Sie ist etwas kleiner als ich und macht einen zupackenden Eindruck. Eine zierliche Gestalt wäre wahrscheinlich auch fehl am Platz in diesem Job. Tanja hat mal Arzthelferin gelernt, hat schon im OP assistiert, beim Zahnarzt am Empfang gesessen. In schlechten Zeiten war sie sich auch nicht zu schade, Treppenhäuser zu wischen. „Das hier ist mein Ding. Ich wollte immer was mit Menschen zu tun haben. Im Krankenhaus oder der Arztpraxis sind die Kontakte zu flüchtig.“ Sie arbeitet in Teilzeit. Ab Mittag ist sie für ihre Tochter da. Sie erhält einen Einsatzplan und einen Autoschlüssel. Eine kurze Begrüßung. Ich bedanke mich artig, dass ich mitfahren darf. Das alles schon im Gehen auf dem Weg zum Parkplatz, denn die Zeit läuft bereits. Wir müssen pünktlich bei der ersten Patientin sein.
Eine krebskranke Frau. Tanja muss darauf achten, dass sie ihre Medikamente nimmt. Dafür sind sieben Minuten vorgesehen. Auf dem Weg zur Haustür drückt sie mir eine kleine Flasche in die Hand. „Hände desinfizieren. Vor jedem Besuch und nach jedem Besuch.“ OK, denke ich, willkommen in der Realität. Frau Romanowa macht auf. Sie ist wach und angezogen. Tanja beginnt sofort ein Gespräch, beginnend mit einem fröhlichem „Guten Morgen“. Es klingt sehr vertraut, wobei, wenn man genau hinhört, bewahrt sie immer auch die Distanz. Später werde ich sie im Auto fragen, ob sie auch Nähe zulässt, mal eine Geburtstagseinladung erhält oder so was. Sie wird antworten, dass sie die einzelnen Schicksale nicht zu sehr an sich herankommen lässt und dass sie das berufliche bei Schichtende hinter sich lässt. Zuviel Vertrautheit würde dazu führen, sie in Konflikte zu bringen. „Sie würden dann erwarten, dass ich ein bisschen mehr mache, ein bisschen länger bleibe oder so was und das geht nicht.“
Frau Romanowa hat Angst. Sie muss nächste Woche wieder ins Krankenhaus. Eine Chemotherapie steht an. Ihr ganzer Körper erzählt davon, obwohl sie das Wort Angst nicht ausspricht. Für tröstende Worte bleibt jedoch keine Zeit. Ein Leistungskomplex „Trösten“ ist nicht vorgesehen. Tanja redet unentwegt mit der Patientin. „Viel reden macht den Eindruck, als sei ich länger da gewesen“ sagt Tanja. „Das ist bei denen, die alleine sind besonders wichtig.“
Von den sieben Minuten gehen alleine sechs Minuten für die Eintragungen in die Pflegemappe drauf. Eine lückenlose Dokumentation der Tätigkeit aller an der Pflege beteiligten Personen. „Mit einem Bein stehst Du als Pflegerin immer im Knast.“ sagt Tanja und notiert alles, was zu notieren ist. Auch die Angst der Patientin. „Bis Morgen.“ sagt Tanja.
Im Treppenhaus putzen wir wieder unsere Hände. „Manche halten mich für besonders pingelig. Denen sage ich dann immer: ich bin nur vorsichtig.“ Das erinnert mich an einen Zeitungsartikel, in dem ich gelesen habe, das Klobrillen auf öffentlichen Toiletten beispielsweise gar nicht so voller Bakterien sind, wie viele denken. Jedoch die Türgriffe und Wasserhähne haben es in sich. Und wir werden heute viele Türgriffe anfassen.
Wieder im Auto wird auf dem Einsatzplan die genaue Zeit notiert und der Kilometerstand. Tanja muss noch mal zurück nach oben rennen. Sie hat ihren Notfallbeutel vergessen. Was darin ist habe ich gar nicht gefragt, fällt mir jetzt ein. „Ich weiß gar nicht, ob der was helfen würde, aber ich muss ihn immer dabeihaben.“ sagt Tanja. Für alle Fälle. Ich beschließe, den Beutel ab sofort zu bewachen und immer „am Mann“ zu tragen. So habe ich was zu tun. Und die Zeiten und Kilometerstände trage ich auch ein. Für heute bin ich Tanjas Privatsekretär. Meine naive Vorstellung war ja, dass ich auch mal was helfen könne. Jedoch es stellt sich heraus, dass der Zeitplan uns ständig im Nacken sitzt. Bis Tanja mir erklärt hätte, wo eine Waschschüssel ist, geht zu viel Zeit verloren. Da macht sie es besser selber. Ich bleibe der Beobachter mit leichten Assistenzaufgaben.
Auf der Fahrt zum nächsten Patienten schaue ich auf dem Einsatzplan nach Pausenzeiten. „Pause ist nicht vorgesehen“ sagt Tanja. Es wird, weil es heute wirklich gut läuft, zu zwei Zigarettenpause reichen. Frühstück? „Auf der Schicht bin ich immer nüchtern.“ Ich ahne warum. Im Scherz fügt Tanja an: „Wenn mir was passiert, können sie wenigstens sofort operieren.“ Wir lachen.
Wir kommen zu Frau Kohlmann. Sie ist 75 Jahre alt und leidet an einer schweren Lungenkrankheit. Das Sauerstoffgerät brummt vor sich hin, als wir die Wohnung betreten. Sie hat ein helles Gemüt, rheinischer Art mitten im Bergischen Land. Tanja ist für sie „meine Freundin“. Sie lässt es geschehen. Heute komplette Morgentoilette, ohne Verlassen des Bettes: also waschen, Windeln wechseln, anziehen. Die ganzen Handgriffe sind natürlich präzise und mit der typischen deutschen Gründlichkeit in sogenannten Leistungskomplexen definiert. Es ist exakt vorgegeben, was bei jedem Besuch zu tun ist. Jeder Handgriff kostet Geld. Der Pflegedienst hat mit der Familie exakt besprochen, was gemacht werden soll. Jede Mehrleistung muss gesondert bezahlt werden. Die Pflegepflichtversicherung gibt nur einen Zuschuss. Den Rest müssen die Familien selbst beisteuern. Da reicht es offenbar nur für das Nötigste.
Die Tochter ist auch anwesend. Sie ist in dasselbe Haus gezogen und hat ihren Job aufgegeben um ihre Mutter zu betreuen. „Die Pflege kommt nur morgens. Sonst mache ich das.“ Ein Heim kommt nicht in Frage. „Das bringe ich nicht.“ sagt sie. Ob sie sich denn schon mal eine Einrichtung angesehen hätte, frage ich. Sie verneint. „Heim hat was von Abschieben“, sagt sie. Es gibt offenbar eine Hemmschwelle, die sie eine Entscheidung treffen lässt, ohne auch nur eine Information eingeholt zu haben. Lieber selbst bis zum Äußersten gehen.
Heute ist Altweiberfastnacht. Und auf meine Frage, ob sie denn heute noch tanzen und feiern geht antwortet sie: „Ich war schon lange nicht mehr aus. Ich gehe einkaufen oder mal zum Arzt. Dann bin ich aber wieder hier.“
Was für ein Radius, denke ich.
Die kleine zwei Zimmerwohnung hat ein nicht unerhebliches Arsenal an Hilfsmitteln aufzuweisen: ein Pflegebett, einen Patientenlift (mit dem kann man einen Menschen aus dem Bett heben, auch wenn er nicht mithelfen kann, ohne dass einem alle Bandscheiben herausfliegen), ein Sauerstoffgerät, einen Badehocker in der offenen Dusche ohne Wanne. Da habe die AOK 2000 EUR für den Umbau beigesteuert. Mutter wollte unbedingt Fliesen auf dem Boden statt PVC und die 500 EUR hätten sie dann selber aufgebracht. Nun gut. Die Tochter kocht Kaffee, von dem wir nichts mehr abbekommen werden. Für einen Klönschnack bei Kaffee oder so was ist überhaupt keine Zeit.