Zärzliche Träume über den Wolken - Mary J. Forbes - E-Book

Zärzliche Träume über den Wolken E-Book

Mary J. Forbes

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Beschreibung

Ölverschmierte Hände, ein viel zu weiter Overall - trotzdem wirkt Lee, die an ihrer Cessna herumbastelt, unbeschreiblich weiblich. Nur allzu gerne lässt Rogan sich von der sexy Pilotin jeden Tag in seine Kanzlei nach Seattle fliegen. Allmählich verblassen seine Albträume von dem Flugzeugabsturz, der sein Leben für immer veränderte. Wenn er mit Lee hoch oben über den Wolken schwebt, träumt er nur davon, sie zärtlich zu küssen. Endlich fühlt Rogan sich frei für einen Neubeginn - und eine neue Liebe. Noch ahnt er nicht, dass auch Lee den Absturz nicht vergessen kann …

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Seitenzahl: 203

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Mary J. Forbes

Zärtliche Träume über den Wolken

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Redaktion und Verlag: Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: 040/347-25852 Fax: 040/347-25991
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Cheflektorat:Ilse BröhlProduktion:Christel Borges, Bettina SchultGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)Vertrieb:asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon 040/347-27013

© 2008 by Mary J. Forbes Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1730 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Stefanie Rudolph

Fotos: gettyimages

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-300-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

1. KAPITEL

Der Mann beobachtete sie jetzt schon seit fünf Minuten. Wäre er allein gewesen, hätte Lee Tait sich womöglich Sorgen gemacht, zumal es schon langsam dunkel wurde. Immerhin war dies das dritte Mal in drei Tagen. Doch er hatte ein Kind dabei, einen sechs- oder siebenjährigen Jungen, der mit großen, neugierigen Augen zusah, wie sie ihre Cessna wartete.

Das Wasserflugzeug war am Anleger in der kleinen Bucht der Insel angedockt. Der Küstenpfad führte von der Promenade an einigen Ferienhäusern vorbei zurück zum Hafen und zur Inselstadt Burnt Bend – ein hübscher Rundweg von etwa einem Kilometer. Wieso also kam der Mann immer nur bis zum Anleger, beobachtete sie und kehrte dann um?

Im Licht der untergehenden Sonne wirkte er groß und kräftig. Er trug graue Cordhosen, braune Segelschuhe und einen schwarzen Pullover – genau wie das Kind. Wahrscheinlich Vater und Sohn.

Um ihren Blicken zu entgehen, kletterte Lee ins Flugzeug und sah nach, ob ihre letzten Passagiere nichts liegen gelassen hatten. Die Cessna war der einzig positive Aspekt an der schmutzigen Scheidung von ihrem Exmann. Sie hatte sie als Abfindung erhalten, sich damit ihren Traum erfüllt und Sky Dash gegründet, eine Charterflugfirma, mit der sie Passagiere und eilige Post vom Festland zur Insel und zurück beförderte.

Als sie zwischen den Sitzen einen zerknüllten Prospekt entdeckte, bückte sie sich, um ihn aufzuheben. Genau in diesem Moment hörte sie hinter sich eine tiefe angenehme Stimme.

„Hallo.“

Erschrocken richtete sie sich auf und stieß sich den Kopf an der Decke. Sie hatte keine Schritte gehört, aber jetzt standen der Mann und der Junge auf dem Schwimmer vor der Cockpittür. Sie kletterte in den Pilotensitz und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

„Hallo“, erwiderte sie freundlich. Schließlich konnte es sich um zukünftige Passagiere handeln. „Ich bin Lee Tait, Eigentümerin und Pilotin von Sky Dash. Was kann ich für Sie tun?“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte der Mann. „Rogan Matteo.“

Als er ihr die Hand schüttelte, spürte sie zunächst angenehme Wärme, dann schoss ein aufregendes Kribbeln ihren Arm hinauf, und ihr Herz schlug plötzlich schneller.

„Rogan. Ein interessanter Name“, bemerkte sie. Der Klang gefiel ihr. Seinen Nachnamen hatte sie schon einmal irgendwo gehört, doch sie kam nicht drauf, wo.

Er hatte graue Augen und schwarze Haare, dazu markante Gesichtszüge, die auf eigenwillige Weise attraktiv wirkten. Seine etwas vorspringende Nase und hohen Wangenknochen verrieten spanische Vorfahren, sein energisches Kinn zeigte Durchsetzungsvermögen. Es war eine sehr männliche Kombination, die Lee sehr aufregend fand. Da er sie immer noch anschaute und es ihr unter seinem Blick langsam heiß wurde, stand sie auf und kletterte zu ihm hinunter auf den Schwimmer. Dort merkte sie, dass der Mann größer war, als sie gedacht hatte. Wenn sie wollte, konnte sie ihren Kopf an seine Brust legen.

Und wie komme ich jetzt darauf? Lee schüttelte den Kopf, um das überraschend verführerische Bild zu vertreiben, und griff nach ihrer großen Werkzeugkiste.

„Und was kann ich nun für Sie tun?“, wiederholte sie ihre Frage und ging in Richtung Promenade, an der es mehrere kleine Läden und Restaurants gab.

„Wie ich höre, fliegen Sie täglich zum Festland.“

„Ja, ich mache montags bis freitags die Postflüge.“

„Und nehmen Sie dabei Passagiere mit?“

„Manchmal. Es kommt darauf an, wo sie hinwollen und wann. Die Post geht vor und hat feste Zeiten. Aber wenn dann jemand mitfliegen will, ist er willkommen.“

„Fliegen Sie auch zu anderen Tageszeiten nur für Passagiere?“

Sie hatten die Promenade erreicht, und Lee blieb stehen. „Natürlich. Solange sich die Flugzeiten nicht mit den Postflügen überschneiden.“

„Ah.“ Matteo schaute nachdenklich aufs Wasser hinaus, wo die Sonne glutrot unterging, dann auf seinen Sohn hinunter. „In etwa einer Woche bräuchte ich für drei oder vier Tage einen Shuttleservice nach Renton. Mein Sohn geht hier zur Grundschule, deshalb muss ich rechtzeitig zurück sein, um ihn abzuholen.“

„Und warum nehmen Sie nicht die Fähre?“

Der alte Lucien Duvall betrieb ein Wassertaxi, das an die sechzig Passagiere fasste, und hielt sich an einen festen Fahrplan.

„Die Fähre fährt zu früh ab und kehrt zu spät zurück. Außerdem komme ich damit nur nach Seattle, aber Sie fliegen bis Renton, und dort befindet sich meine Kanzlei. Ihre Postflüge um acht und um drei passen meinem Sohn und mir besser.“

Und was war mit der Mutter? Wohnte sie woanders? Den Gedanken, dass Matteo wahrscheinlich verheiratet war, fand Lee überraschend enttäuschend.

„Ich zahle natürlich den vollen Preis“, fügte Matteo hinzu.

Lee blinzelte überrascht. Eine Woche lang täglich von der Insel zum Festland und zurück zu fliegen war nicht gerade billig. Entweder er oder seine Firma musste eine Menge Geld haben. Da er kein Einheimischer war – sie kannte jeden der zweitausend Inselbewohner –, tippte Lee darauf, dass er einer dieser reichen Typen war, die sich auf der Insel ein Stück Land kauften, „um die Natur zu genießen“, und es dann mit einer riesigen Luxusvilla bebauten.

Doch das war nicht der Grund für ihr Zögern. Sie konnte sein Geld gut gebrauchen. Nur bedeutete das, ihn eine Woche lang täglich zu sehen, und das wollte sie lieber vermeiden. Dieser Rogan Matteo war ein Mann, der ihr mit einem einzigen Händedruck Herzklopfen bescherte – aber er hatte ein Kind und sicherlich auch eine Frau dazu. Wozu das Leben unnötig kompliziert machen?

Sie setzte sich wieder in Bewegung und ging auf das Café zu, über dem ihre Wohnung lag. Matteo nahm ihr ungefragt die schwere Werkzeugkiste ab.

„Warten Sie das Flugzeug selbst?“, fragte er.

„Jeden Tag.“ Ob er wohl immer so ein Gentleman war? Ihr Herzklopfen verstärkte sich.

„Dann sind Sie also auch Mechanikerin?“

„Keine geprüfte, aber ich habe über die Jahre einiges über Flugzeugmotoren gelernt. Keine Sorge, zwei Mal im Jahr lasse ich einen Flugzeugmechaniker für die große Inspektion kommen.“

Wieder blieb sie stehen und griff nach ihrer Werkzeugkiste. Seine neugierigen Fragen störten sie plötzlich, und es gefiel ihr auch nicht, wie ihr Körper auf ihn reagierte.

„Ich kann Sie fliegen“, erklärte sie. „Aber ich übernehme keine Verantwortung dafür, dass Sie pünktlich zur Arbeit kommen. Es kann sein, dass irgendwas nicht klappt und ich zu spät hier starte. Und wenn Sie auf dem Festland aufgehalten werden, kann ich nicht auf Sie warten.“

„Verstanden. Aber ich habe mich ein wenig umgehört, und so wie’s aussieht, haben Sie in sieben Monaten keinen einzigen Postflug ausfallen lassen und waren auch nie zu spät. Genau wie bei Ihren anderen Flügen.“ Er lächelte warm. „Ich bin Anwalt. Genaue Recherche gehört zu meinem Job.“

Lee schluckte. Er hatte sie überprüft? Was hatte er dann noch alles herausgefunden? Sie war vor drei Jahren auf die Insel zurückgekehrt, um eine Vergangenheit hinter sich zu lassen, die ihr manchmal immer noch Albträume bescherte.

„Rufen Sie mich an“, bat er und reichte ihr eine Visitenkarte. „Dann machen wir was aus. Sie erreichen mich auch abends, ich gehe nie vor elf ins Bett.“

Auf der Karte stand: Rogan B. Matteo, Rechtsanwaltsbüro Matteo & Matteo und eine Adresse in Renton. Führte er die Kanzlei mit seiner Frau?

„Ich lasse diese Woche noch neue drucken, aber die Handynummer ändert sich nicht“, erklärte er.

„In Ordnung“, erwiderte sie. Um endlich seiner verwirrenden Gegenwart zu entkommen, beschleunigte sie ihre Schritte. Na gut, er schien ein netter Kerl zu sein. Aber das waren Anwälte ja immer – solange man sie auf seiner Seite hatte.

„Danke“, rief er ihr nach. „Ach ja, und falls Sie mich erreichen wollen: Ich wohne in der Country Cabin Frühstückspension, bis unser Haus fertig ist.“

Die gehörte ihrer Schwester Kat. „Warum überrascht mich das nicht?“, murmelte Lee. Kats Pension war die hübscheste und günstigste auf der ganzen Insel.

Da hatte dieser Matteo also nicht nur über sie Informationen eingeholt, sondern sich auch bei Kat eingemietet. Zwei Schwestern mit einer Klappe, sozusagen.

Aber was er konnte, konnte sie schon lange. In ein paar Stunden war sie bei Kat zum Abendessen, und dann würde sie sicherlich mehr über ihn erfahren.

Sein Geld würde sie natürlich nicht verschmähen – das konnte sie gut gebrauchen, um ihre kleine Firma am Laufen zu halten. Aber sie würde auf keinen Fall weiter darüber nachdenken, warum dieser Mann ihre Haut zum Kribbeln brachte oder ihr Herz schneller schlagen ließ.

Rogan deckte seinen Sohn liebevoll zu und gab ihm einen Gutenachtkuss. „Bis morgen, Danny.“

Nach dem Spaziergang zum Anleger hatten sie einen ruhigen Sonntagabend mit Vorlesen verbracht.

„Gute Nacht, Daddy.“

Rogan schaltete die Nachttischlampe aus und war schon fast an der Tür, als Danny rief: „Willst du wirklich im Flugzeug von Miss Tait fliegen?“

Sofort kehrte Rogan ans Bett zurück und setzte sich auf die Kante. „Ja, das hab ich vor. Ich will nicht, dass du nach der Schule so lange auf mich warten musst.“

Er fügte nicht hinzu, dass er es nicht mochte, wenn sein Sohn in der Obhut fremder Leute war – auch wenn es sich in diesem Fall um eine liebe, ältere Dame handelte, die schon seit dreißig Jahren auf Schulkinder aufpasste, wenn die Eltern nach Schulschluss noch arbeiten mussten.

Doch Daniel war nun sein einziges Kind – das Einzige, was ihm geblieben war. Als Darby und seine kleine Sophie noch lebten, hatte er zu viel Zeit bei der Arbeit verbracht, und diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen.

„Aber hast du denn keine Angst?“, fragte Danny.

Rogan nahm die Hand seines Sohnes und drückte sie leicht. „Ganz ehrlich? Schon ein bisschen“, gab er zu. „Aber ich muss zur Arbeit, und ich will dich pünktlich abholen. Und Miss Tait und ihr Flugzeug sparen mir eine Menge Zeit dabei.“

„Ist ihr Flugzeug denn sicher?“

„Oh ja. Sie kontrolliert es jeden Tag und lässt es regelmäßig überprüfen.“

Trotz seiner beruhigenden Worte krampfte sich Rogans Magen nervös zusammen. Jeden Tag dankte er dem Schicksal, dass Danny an jenem Tag Ohrenschmerzen gehabt hatte und nicht mit seiner Mutter und Schwester im Flugzeug gewesen war. Seine Frau Darby und ihre achtjährige Tochter Sophie waren nie an ihrem Ziel angekommen, weil das Flugzeug in den Bergen abgestürzt war. Und er befand sich seit drei Jahren im Rechtsstreit mit der Charterfluggesellschaft, die für den Unglücksflug verantwortlich war.

Er strich Danny übers Haar. „Darüber haben wir doch gesprochen. Ich mache hier eine eigene Kanzlei auf, damit wir beide mehr Zeit füreinander haben. Und ich muss ja auch nur ein paar Mal mit Miss Tait fliegen, bis Onkel Johnny und ich in der Kanzlei in Renton alles organisiert haben.“

„Warum zieht Onkel Johnny nicht auch hierher?“

Rogan seufzte. „Er fühlt sich in einer großen Stadt wohler.“

„Versprich mir, dass du zurückkommst“, verlangte Danny.

„Ich verspreche es dir.“

Nach kurzem Schweigen fuhr Danny nachdenklich fort. „Vielleicht ist Mommy deshalb nicht zurückgekommen. Sie hat es nicht versprochen.“

„Rutsch mal ein Stück, okay?“ Rogan legte sich neben seinen Sohn und nahm ihn in den Arm. „Ein Versprechen bedeutet nicht, dass nichts Schlimmes passieren kann“, erklärte er leise. „Es bedeutet nur, dass du dein Möglichstes tust, es einzuhalten. Aber manchmal kannst du es nicht, ganz gleich, was du tust.“

„Weil da ein Berg ist, wie bei Mommys und Sophies Flug?“

„Ja.“ Der Schmerz war so gewaltig, dass Rogan die Augen schließen musste. „So was in der Art.“

„Sind denn zwischen hier und Renton Berge?“

„Nein, wir fliegen nur über Wasser.“

Schweigen. Schließlich sagte Danny leise: „Na gut.“

„Meinst du, du kannst jetzt schlafen?“

„Ja. Gute Nacht, Dad.“

„Gute Nacht, Tiger.“

Rogan stand leise auf und verließ den Raum. Die Tür ließ er einen Spalt offen stehen, dann ging er ins Wohnzimmer des kleinen Blockhauses, schlüpfte in seine Thermoweste und trat auf die kleine Veranda vor der Eingangstür. Hinter den Bäumen rauschte das Meer, und das Haupthaus war vor lauter Grün kaum zu sehen.

Er mochte dieses kleine Häuschen, das ihm genug Privatsphäre ließ, seinen Gedanken ungestört von den anderen Gästen und der Pensionsbesitzerin nachzuhängen. Obwohl er Kat O’Brian sehr nett fand. Sie hatte ihm auch einen guten Preis gemacht, als er ihr erzählt hatte, dass er die Blockhütte gleich für zwei Wochen mieten wollte. Dann würde das Farmhaus, das er auf der Insel gekauft hatte, renoviert und bezugsfertig sein.

Der Gedanke an das neunzig Jahre alte Gebäude zwei Kilometer südlich der Stadt brachte ihn wieder auf fröhlichere Gedanken. Zum Haus gehörten zwei Hektar Weide, auf der eine Stute mit ihrem Fohlen stand.

Die Pferde hatten den Ausschlag gegeben. „Das Haus nehmen wir“, hatte Danny gejubelt. „Dann kann ich jeden Tag die Pferde streicheln.“

Und nach all der Trauer konnte Rogan seinem Sohn einfach nichts abschlagen. Also hatte er die Farm gekauft, den Inselhandwerker Zeb Jantz engagiert, um sie so weit zu reparieren, dass man drin wohnen konnte, und war von Renton in die Frühstückspension gezogen, damit Danny so schnell wie möglich auf die neue Schule gehen konnte.

Doch in Nächten wie diesen, wenn sein Sohn über das Unglück sprach, wollte Rogan die Zeit am liebsten zurückdrehen – damit er seiner Frau und seiner Tochter noch einmal sagen konnte, wie sehr er sie liebte.

Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen und vor sich hingestarrt hatte, als ein dezenter Handy-Klingelton ihn aus seinen Gedanken riss. Sein jüngerer Bruder hatte eine SMS hinterlassen.

Es gibt Neuigkeiten in unserem Fall. Wir müssen reden. Kannst du morgen um 9 hier sein? J.

Morgen? Das bedeutete, dass er heute noch Lee Tait kontaktieren und in dieses Flugzeug steigen musste, bevor er sich innerlich darauf vorbereitet hatte.

Keine gute Idee.

Ich ruf dich um 9 an, schrieb er zurück. Auf keinen Fall wollte er früher als nötig fliegen.

Nein, kam kurz darauf die Antwort. Sei um 9 HIER!

Missmutig starrte Rogan auf das Display. Was um alles in der Welt konnte so wichtig sein, dass er unbedingt persönlich erscheinen musste?

Seufzend steckte er das Handy weg. Er würde es morgen erfahren. Hoffentlich gab es wenigstens gute Neuigkeiten. „Unser Fall“ bedeutete, dass es um die Klage gegen die Charterfluggesellschaft ging, die seine Familie umgebracht hatte.

Denk jetzt nicht daran, sagte er sich und schaute zum Sternenhimmel hinauf. Sonst kannst du heute Nacht wieder nicht schlafen.

Er zwang sich, an etwas anderes zu denken, und das Erste, was ihm einfiel, war Lee Tait. Es überraschte ihn, wie sehr sie ihm gefiel. Diese langen roten Haare, die ihr in dichten Locken über die Schultern fielen, diese großen grünen Augen … Und diese zauberhaften Sommersprossen. Von Weitem sah sie blass und dünn aus, doch wenn man sie aus der Nähe sah, wirkte sie durch die vielen Sommersprossen braun gebrannt. Und unter ihrem Mechanikeroverall zeichneten sich ihre weiblichen Kurven ab.

Noch immer konnte er nicht ganz fassen, welch heißes Verlangen in ihm aufgestiegen war, als sie mit ihrer rauchigen Stimme seinen Vornamen wiederholt hatte. Und dafür schämte er sich. Wie konnte er überhaupt an eine andere Frau denken? Darby war siebzehn Jahre lang seine große Liebe gewesen. Niemand konnte sie ersetzen.

Er holte tief Luft und ließ dann den Kopf in die Hände sinken. Wann hörte das endlich auf? Diese Einsamkeit, die Trauer, der Schmerz? Warum konnte man die Zeit nicht einfach zurückdrehen? Aber er wusste ja, dass er weitermachen und irgendwann einen Neuanfang wagen musste. Für Danny. Und um seiner selbst willen. Es nützte niemandem etwas, wenn er wie ein Mönch lebte.

Da hatte sein Bruder schon recht: Sich auf einen einsame Insel zurückzuziehen war auch keine Lösung. Doch ganz gleich, was er bisher auch versucht hatte, er wurde die Erinnerungen einfach nicht los. Und nun hatte er endlich eine Entscheidung getroffen und hier ein Haus gekauft. Nächste Woche würde er seine Kanzlei in Burnt Bend eröffnen.

Aber jetzt musste er erst mal die süße Lee fragen, ob sie ihn morgen nach Renton flog. Er schaute zum Haupthaus hinüber. Ihre Telefonnummer wusste er von ihrer Website, aber vor zwei Stunden hatte er sie vor der Pension vorfahren und hineingehen sehen. Hatte sie sich auch hier eingemietet?

Dann konnte er an der Rezeption anrufen und sich mit ihr verbinden lassen. Oder er wartete bis zum nächsten Morgen, sprach sie auf dem Anleger an und bot ihr einfach so viel Geld, dass sie unmöglich Nein sagen konnte.

Zum ersten Mal seit Jahren spürte er, wie sich ein erwartungsvolles Kribbeln in ihm ausbreitete.

Lees Schwester Kat schnitt sich ein Stück Kuchen ab und legte es auf ihren Teller. „Du kannst meinem Apfelkuchen doch sonst nicht widerstehen“, bemerkte sie ungläubig. „Bist du krank oder was?“

Sie hatten gemeinsam zu Abend gegessen und saßen jetzt im Wohnzimmer. Kats Sohn Blake machte in seinem Zimmer Hausaufgaben.

Lee zuckte die Achseln. „Ich habe in letzter Zeit kaum Appetit.“

In den letzten Wochen war ihr hin und wieder sogar übel gewesen. Wahrscheinlich eine Magen-Darm-Geschichte. Oder sie hatte was Falsches gegessen.

Allerdings war sie so gut wie nie krank. Bisher war es nur einmal vorgekommen, dass ihr abends plötzlich schlecht wurde: vor fünf Jahren, als sie von Stuart schwanger gewesen war.

Aber natürlich lag es diesmal nicht daran. Das konnte gar nicht sein. Sie und Oliver hatten schließlich verhütet. Also doch nur ein Virus, den sie sich von einem Passagier oder von Blake eingefangen hatte.

„Hey, alles in Ordnung mit dir?“ Kat schaute sie besorgt an.

„Alles bestens. Ich habe nur gerade an Oliver gedacht.“ Und daran, dass ich vielleicht schwanger bin.

Der Gedanke verstärkte das Flattern in ihrem Magen. Lieber Himmel, was sollte sie nur tun, wenn es stimmte? Nein. Daran durfte sie nicht mal denken. Schließlich hatte sie jahrelang versucht, von Stuart ein Kind zu bekommen, und es hatte nie geklappt.

Und ihre Tage bekam sie sowieso nie regelmäßig.

Kat ließ die Kuchengabel sinken. „Sein Tod macht dir mehr zu schaffen als die Scheidung von Stuart.“

„Ja“, gab Lee zu.

„Na ja, er war ja auch schon in der Grundschule dein bester Freund. Ihr kanntet euch ewig.“

Doch Lee wollte nicht über Oliver sprechen. Oder darüber, dass sie ihn mehr vermisste als ihren Exmann. Sie wollte mehr über Rogan Matteo erfahren.

„Es war wie ein elektrischer Schlag, als er mir die Hand gegeben hat.“ So, jetzt hatte sie es laut ausgesprochen, wie der Mann auf sie wirkte.

„Oliver hat dir die Hand gegeben?“

„Nein … Ach, verdammt.“ Lee lehnte sich auf der Couch zurück. „Rogan Matteo. Dein Pensionsgast. Er hat sich mir heute vorgestellt, als ich beim Flugzeug war. Er will ein paar Wochen lang regelmäßig zum Festland und zurück fliegen.“

Kat lachte. „Aha. Verstehe.“

„Das ist nicht witzig“, gab Lee missmutig zurück.

„Ist es selten, wenn man sich in jemanden verguckt.“

„Ich habe mich nicht in ihn verguckt.“ Wieso musste ihre Schwester immer voreilige Schlüsse ziehen?

„Oh nein, natürlich nicht. Dieses Prachtexemplar schlendert also zum Flugzeug, schaut dich mit seinen traurigen Augen an, während der Wind sein nachtschwarzes Haar zerzaust, dann macht er den Mund auf und spricht mit einem Südstaatenakzent, bei dem jede Frau dahinschmilzt, und als er dir die Hand gibt, fängt dein ganzer Arm an zu kribbeln. Nein, natürlich hast du dich nicht in ihn verguckt.“

Genervt schloss Lee die Augen. „Das ist das Lächerlichste, was ich seit der sechsten Klasse gehört habe.“

„Haha. Aber es ist doch schön, dass du dich für jemanden interessierst. Nach deiner Scheidung von dem Mistkerl und der Tragödie mit dem armen Oliver wäre das doch …“

„… ein möglicher Passagier. Mehr nicht.“

An den armen Oliver wollte Lee gar nicht erst denken, sonst würde sie sich wieder die halbe Nacht die Augen ausheulen. Und sie wollte auch nicht darüber nachdenken, ob sie sich vielleicht dafür schämen musste, dass sie sich acht Wochen nach seinem Tod für einen anderen Mann interessierte. Da wurde ihr ja gleich wieder schlecht. Sie war schließlich nicht wie ihre Mutter. Ganz und gar nicht.

„Na schön, er ist ein möglicher Passagier“, gab Kat nach. „Wirst du ihn denn fliegen?“

„Das weiß ich noch nicht. Es ist ganz schön stressig, jemanden jeden Tag pünktlich zur Arbeit und zurück zu bringen.“

„Ach was“, winkte Kat ab. „Flieg ihn. Wenn es dir nach einer Woche zu viel wird, kannst du ihm immer noch sagen, dass er die Fähre nehmen soll.“

Lee seufzte. Kat hatte ja recht. Sie machte sich zu viele Gedanken um die ganze Sache – und das nur, weil Matteo freundliche Augen hatte.

Wie Oliver.

Oliver. Ihr bester Freund, der vor ein paar Wochen auf einem Heimaturlaub von der Army ihr Geliebter geworden war. Bevor er in den Irak zurückgekehrt und von einem Heckenschützen getötet worden war.

Drei Jahre lang hatte sich Lee nach ihrer Scheidung auf keinen Mann eingelassen. Dann war Oliver zurückgekehrt, und alles war auf einmal wieder schön gewesen. Wenn sie an ihn dachte …

Wie konnte sie auch nur einen Blick an Rogan Matteo verschwenden, wo Oliver gerade mal zwei Monate tot war? Bestimmt nicht, weil er mit diesem schmeichelnden Akzent sprach oder so besorgt um seinen kleinen Jungen war. Nein, ihre Schwester hatte recht – es lag an seinen Augen.

An seinen grauen, warmen Augen, die sie an Oliver erinnerten.

„Na gut“, sagte sie. „Ich werde ihm sagen, dass ich ihn fliege, wenn er morgen zum Anleger kommt.“

„Warum sagst du’s ihm nicht gleich? Du hast doch vorher durchs Küchenfenster gesehen, dass er vor dem Cottage sitzt und den Abend genießt. Geh doch einfach bei ihm vorbei.“

„Bist du verrückt? Es ist mitten in der Nacht!“

Kat hob eine Augenbraue. „Es ist zehn nach neun.“

„Du bist verrückt.“

„Nein, nur nicht blind. Der Mann sieht gut aus, ohne Frage. Wenn man Männer mag, die ein paar Ecken und Kanten haben und nicht so jungenhaft aussehen wie Leonardo DiCaprio. Ich merk dir doch an, dass du ihn heute noch mal treffen willst.“ Sie grinste. „Was soll schon groß passieren?“

„Er wird denken, dass ich ihn verfolge.“

„Jetzt hör aber auf. Willst du ihn als Passagier oder nicht?“

„Na schön.“ Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stellte Lee ihre Teetasse ab, stand auf und ging durch die Terrassentür in den Garten.

Etwas frische Luft würde vielleicht ihren rebellierenden Magen beruhigen.

Als sie draußen war, stellte sie fest, dass sie vielleicht eine Strickjacke hätte anziehen sollen. Die Nacht war ganz schön kühl, und sie bekam sofort eine Gänsehaut. Der Himmel war sternenklar, und normalerweise wäre sie wie immer stehen geblieben, um den Polarstern zu suchen, doch Rogan hatte sie bereits gesehen und fragte sich bestimmt, was sie hier wollte.

Jetzt oder nie.

Als sie durch Kats Garten auf sein Cottage zuging, stand er auf und stellte sich an die Verandastufen. Da er sein Außenlicht nicht eingeschaltet hatte, sah sie nur seinen Umriss.

„Ich bin’s, Lee Tait“, sagte sie. Die Arme hielt sie wegen der Kälte vor der Brust verschränkt. Vielleicht auch, um gegen seine Anziehungskraft gewappnet zu sein.

„Hallo, Lee.“

Lieber Himmel, wie konnte er ihren Namen so verführerisch aussprechen?

„Ich besuche gerade meine Schwester und wollte Ihnen nur sagen, dass ich Sie gern nach Renton fliege. Aber bevor Sie jetzt Freudensprünge machen, muss ich Sie warnen: Wir werden das drei Tage lang testen und schauen, wie es läuft. Danach sehen wir weiter.“

Nach kurzem Schweigen lachte er leise. „Sie reden nicht lang um den heißen Brei herum, was? Das gefällt mir.“

„Sehr schön, dann verstehen wir uns ja.“

„Allerdings.“

„Prima. Dann bis später.“

Bevor sie sich umdrehen konnte, fragte er. „Miss O’Brian ist also Ihre Schwester?“

„Seit vierunddreißig Jahren. Upps – wenn Sie ihr verraten, dass ich das gesagt habe, bringt sie mich um.“

„Ich werde schweigen wie ein Grab.“ In seiner Stimme schwang ein Lächeln mit, als er zum Haupthaus hinüberschaute. Unvermittelt kam Lee ein Gedanke. Vielleicht interessierte er sich ja für Kat?

Und wieso auch nicht?,