Zugvögel - Josef Haslinger - E-Book

Zugvögel E-Book

Josef Haslinger

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwischen Amerika und Ostdeutschland, in den Zügen und Flugzeugen, am Strand oder beim Whisky an der Bar kommt Josef Haslinger zu dem eigentlichen Ziel seiner Reisen: Der Frage, was die Geschichte mit den Menschen gemacht hat und was die Menschen aus ihrer Geschichte machen. Josef Haslinger, berühmt geworden durch seine Romane ›Opernball‹ und ›Das Vaterspiel‹, erzählt von Menschen, die unterwegs sind – und davon, was sie im Reisegepäck ihres Lebens mit sich führen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 235

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Josef Haslinger

Zugvögel

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

ich hatte in frankfurt zu tunfiona und ferdinandzugvögelkatzenmusikdie schlacht um wiender sandleramerika. ein reiseeposcharonnashvillejoe kovacsgutes altes bud. ein rapriverside parkmetropolitangeorge forster, entdecker des wahren amerikaeditorische notiz

ich hatte in frankfurt zu tun

liegt das zimmer an der straßenseite, fragte ich die frau an der rezeption.

nein, sagte sie, es liegt zum hof und ist ganz ruhig. wenn sie das bitte ausfüllen.

ich möchte aber ein straßenseitiges zimmer, sagte ich. und möglichst im dritten oder vierten stock.

sie zog den computer zu rate. aus ihrem kostüm quollen weiße rüschen. da hab ich eins, sagte sie, das ist dann aber schon etwas lauter, das geht zur bockenheimer landstraße hinaus.

großartig, das möchte ich.

sie sah mich an, als habe sie ein sicherheitsrisiko abzuwägen. ich fügte freundlich hinzu: dort habe ich früher gewohnt.

sie drückte ein paar tasten und blickte dabei mit einer ernsthaftigkeit auf den bildschirm, als hätten dort in roter schrift die worte security alert zu blinken begonnen. sie wollte die augen nicht mehr vom bildschirm wenden.

sie sind nicht im computer, sagte sie.

ich habe hier gewohnt, bevor es diesen computer und dieses hotel gab.

sie schien darüber nachzudenken. dann fragte sie, war da vorher auch ein hotel?

nein, ein wohnhaus, sagte ich. es wurde abgerissen.

nun würden erst recht ihre alarmglocken läuten, dachte ich. doch sie war zu jung, um in der hessenschau gesehen zu haben, wie polizisten in kriegsmontur mit kettensägen und äxten in ein haus eindrangen und alle bewohner verhafteten. und ich kam mir plötzlich blöd dabei vor, ihr meine geschichten aufzudrängen. während sie sich hinabbeugte, um eine magnetkarte aus dem fach zu nehmen, kam bewegung in ihr gebüsch aus weißen rüschen.

sie schrieb auf meinen zimmerausweis die nummer 412. das war im vierten stock. damals hatte ich auch im vierten stock gewohnt, in der kleinsten wohnung des hauses. sie bestand aus einem zimmer und einem nebenraum, in dem mein mitbewohner, der biber, ein pissrohr angebracht hatte, das in den abfluss der dusche führte. es funktionierte ganz einfach. man nahm den gummistöpsel vom rohr und versenkte sein ding in die feuchten rückstände der vorbenutzer. die frauen durften in die dusche pissen, oder sie mussten ein halbes stockwerk tiefer auf die toilette gehen. die wurde allerdings von halb frankfurt benutzt und ließ sich nicht abschließen. man musste die tür mit einer schnur zuhalten. dafür wurde man mit vielen sprüchen belohnt. gott ist tot, nietzsche ist tot und mir ist auch schon ganz schlecht.

ein junger mann, dessen gegelte haare an die dachkonstruktion des opernhauses von sydney erinnerten, ließ es sich nicht nehmen, meinen kleinen rollkoffer auf das zimmer zu bringen, auch wenn ich selbst noch in der empfangshalle blieb. ich setzte mich in einen von rosensträuchern umrankten fauteuil. in etwa einer halben stunde sollte der biber kommen. ich hatte ihn mehr als dreißig jahre lang nicht gesehen.

die frau an der rezeption war mit neuen hotelgästen beschäftigt. von der seite betrachtet glichen ihre rüschen einer großen nelke. ich war im hôtel des fleurs. jetzt erst ging mir die bedeutung des namens auf. die lobby war ein gewächshaus. die polstermöbel und glastische waren umschlungen von rosen, tulpen, nelken, orchideen und üppigem grünzeug.

nichts, aber auch schon gar nichts, erinnerte an das haus, in dem ich mit sechzehn jahren gewohnt hatte. der alte, von innen mit balken zugenagelte hauseingang musste etwa dort gewesen sein, wo jetzt die palme stand. dann war da, wo ich jetzt saß, der treppenaufgang, und da vorne beim empfang der eingang zu dimis wohnung. die rüschenfrau stand in der wohnung des fürsten dimitri von tujonov. mindestens im vorzimmer, vielleicht aber auch in dem raum, in dem dimi seine grippemittel, ohrentropfen und abführtabletten gelagert hatte.

seine hoheit dimi, groß und glatzköpfig, war der älteste im haus. er war für die gesundheit zuständig. er hielt sich etwas darauf zugute, der abgefallene spross einer russischen adelsfamilie zu sein. er wolle als arzt nicht dem arbeitszwang dienen, sondern für die revolution leben. seine heilkunst hatte in unserem haus viel gestank verursacht. kack dich aus, war meist sein erster kommentar, ganz gleich was uns fehlte. er hatte in einer klinik einen ganzen karton mit abführtabletten entwendet. im klauen war fürst dimitri von tujonov der beste gewesen.

der biber wiederum war für alles technische zuständig. sein ruf reichte weit über unser haus hinaus. immer wenn irgendwo ein stromzähler zu überbrücken oder auf einem podium eine lautsprecheranlage aufzubauen war, wurde nach dem biber gefragt. er tat alles in ruhe und ließ sich von niemandem hetzen. bei einer kundgebung vor der alten oper musste herbert marcuse mit seiner rede eine halbe stunde warten, weil der biber noch kabel verlegte. stress hatte er nur ein einziges mal. das war beim aufbau der tonanlage für das konzert von deep purple. er kam um sieben uhr in der früh mit der tastatur einer hammondorgel nach hause und schlief dann den ganzen tag. am abend rauchte er mit uns einen shillum. plötzlich stand er auf, nahm die tastatur zur hand und hielt sie wie eine trophäe in die höhe.

das hier ist heilig, sagte er. darauf hat jon lord gespielt.

er drückte das ding wie ein baby an seine brust und tanzte durch den raum. dann gähnte er ein paar mal und ging zu bett. wir legten platten von led zeppelin und black sabbath auf. der biber hielt auch im bett das keyboard umschlungen.

 

ich war zu ferienbeginn per autostopp nach frankfurt gefahren, in die berüchtigte stadt der gammler und revoluzzer. zuerst ging ich in den grüneburgpark, um eine bleibe für die nacht zu suchen. im gras saß ein langhaariger in grüner hose und offenem hemd.

weißt du zufällig, wo ich hier übernachten kann, fragte ich ihn. er saß im yoga-sitz da und schien so mit der beobachtung des flugs einer frisbee-scheibe beschäftigt zu sein, dass ich unsicher war, ob er meine frage überhaupt mitgekriegt hatte. als ich schon weitergehen wollte, um mich von der abfuhr zu erholen und neue courage zu sammeln, warf er mir doch noch einen blick zu.

hast du es schon in einem studentenheim versucht?

würde ich ja gerne machen, sagte ich, aber es ist mein erster tag in der stadt. ich kenn mich nicht aus.

kommst du aus bayern?

im laufe der zeit sollte ich mich an diese frage gewöhnen, aber damals kam sie überraschend für mich. bei uns hätte kein mensch einen österreicher mit einem bayern verwechselt. um der schwierigen erklärung, wo groß gerungs liegt, auszuweichen, sagte ich wien, und das entlockte meinem ersten frankfurter gammler immerhin ein lächeln.

magst du klassische musik, fragte er, und ich sagte ja, obwohl auch das nicht ganz stimmte. dann meinte er, wie nebenbei: wenn du noch ein wenig wartest, kannst du mitkommen.

ich setzte mich zu ihm ins gras. er drehte sich eine dünne zigarette und gab das päckchen an mich weiter. ich bin der biber, sagte er.

joe, sagte ich und tat so, als würde ich schon ewig zigaretten drehen. es lief doch ganz gut. man musste sich nur trauen, jemanden anzusprechen. und schon hatte ich einen schlafplatz. bei meiner zigarette schauten tabakkrümel aus dem kleberand, aber sie ließ sich rauchen. ich lehnte mich auf meinen schlafsack zurück und sah nun ebenfalls den frisbee-spielern zu. sie waren uns näher gekommen. einer in jeans und mit nacktem oberkörper lief knapp an uns vorbei, um die scheibe aufzufangen. sorry, rief er zurück. um seinen hals tanzte eine kette mit einem metallplättchen. es war mein erster gi.

 

ein paar tage, nachdem ich beim biber eingezogen war, bekam ich einen job als lagerarbeiter im barsortiment von libri. einer aus unserem haus hatte mir die adresse genannt. bei libri arbeiteten hauptsächlich studenten. ich war vom personalchef dem lager fünf zugeteilt worden und war damit zuständig für die autoren mit den anfangsbuchstaben l bis p. hardcover. auf einem förderband rollten kartons vorbei, an denen die bestellzettel der buchhändler befestigt waren. ich kletterte den ganzen tag die leitern auf und ab, um bücher aus den regalen zu holen. wenn ich eine liste abgearbeitet hatte, schupste ich den karton über eine rutsche auf das förderband des unteren stockwerks hinab. manche kartons traten ihren weg durch das haus noch ein zweites mal an, weil auf den einzelnen etappen bücher nicht nur hineingelegt, sondern auch herausgenommen wurden. einmal kam ein karton hartnäckig immer wieder zurück. und jedes mal fehlte dasselbe buch. adolf holl: jesus in schlechter gesellschaft. solange, bis vom lager vier das buch als nachbestellt gemeldet wurde.

in der mittagspause ging ich gemeinsam mit anderen arbeitskollegen ein stück die mainzer landstrasse hinauf, zum platz der republik. dort war ein würstelstand, an dem viele aus den umliegenden büros ihr mittagessen einnahmen. vor mir stand ein mädchen in jeans. sie roch nach einem duft, den ich damals noch nicht kannte, der mir aber von da an immer häufiger auffiel. es war moschus. die blonden haare reichten ihr bis zur hüfte. sie bestellte currywurst. und so bestellte auch ich meine erste currywurst. um die bude herum standen viele leute. das mädchen setzte sich auf die gehsteigkante, und ich setzte mich zu ihr. sie hieß martina, sie war eine arbeitskollegin bei libri. lager vier, buchstabe a bis k. lager vier war im selben stock wie lager fünf. martina war in meinem alter. noch auf der gehsteigkante bekam ich heraus, dass sie mit ihren eltern probleme hatte. wir passten also gut zusammen. sie wohnte in kronberg. ihr vater war studienrat.

es gab im lager fünf einen notausgang, der hinter den regalen versteckt war und in ein unbenutztes treppenhaus führte. dort trafen wir uns mehrmals am tag, um zigaretten zu rauchen. und dort küssten wir uns. das küssen gehörte bald zum zigarettenrauchen dazu. sie sagte, dass sie einen freund habe, aber der sei in letzter zeit komisch geworden. ich wusste nicht recht, was sie damit meinte, wagte es aber auch nicht, sie zu fragen. immerhin war er ihr freund, und ich konnte froh sein, dass sie mich küsste. auch wenn das küssen von da an weniger spass machte, weil ich mich selbst dabei beobachtete.

am abend begleitete ich martina zur s-bahn. wir setzten uns am ende des bahnsteigs auf eine bank und verbrachten die zeit mit rauchen und küssen. ich blies ihr den zigarettenrauch in den mund, sie leckte mein auge und steckte ihre zunge in mein ohr. beides war neuland für mich. ich tat das dann auch, konnte mich aber mit dem ohrenschmalz nicht anfreunden. ich fragte sie, ob sie kiffe, und sie sagte, sie habe bislang nur mit ihrem freund gekifft. und dann fragte ich sie, ob sie auch einmal mit mir kiffen würde, und sie sagte, mal sehen. als dann wieder ein zug zur abfahrt bereit stand, gingen wir zur waggontür, blieben aber eng umschlungen. sie sagte, jetzt muss ich endlich heimfahren. der abschiedskuss war auch wichtig, und so versäumte sie erneut die s-bahn. als sie dann wirklich einstieg, stellte ich mich vor das fenster. wir sprachen mit großen mundbewegungen, ohne einander zu verstehen. man benimmt sich komisch, wenn man nicht komisch sein will.

 

während ich in der hotellobby auf den biber wartete, kam eine weitere blumenfrau auf mich zu. ihre rüschen waren rosa und zu einer pfingstrose geformt. sie fragte mich, ob ich etwas trinken wolle. ich bestellte einen makers mark mit ein wenig eis. sie rückte eine vase zurecht und stellte ein geblümtes schälchen mit nüssen auf den glastisch. ich fragte: ist hier auch die bettwäsche geblümt?

oh, lachte sie, das weiß ich gar nicht. ich war hier noch nie in einem zimmer.

als sie mit dem getränk zurückkam, sagte sie: ich habe mich erkundigt. die bettwäsche ist weiß. blumen sind nur auf den bildern. das muss sein.

das muss sein, wiederholte ich. sie zog sich hinter eine hecke zurück, kam aber bald wieder hervor, weil gäste im rosengarten platz nahmen. ich behielt den eingang im auge.

eine woche zuvor hatte mich ein dieter groll aus frankfurt angerufen. er sagte, er sei nun tontechniker beim hessischen rundfunk. er freue sich, mich endlich wieder zu sehen. ob ich nicht schon am abend vor meinen aufnahmen kommen könne. wir könnten ausgehen und über alte zeiten reden.

wie heißt du?

dieter groll, der biber. du kennst mich doch noch.

ja, ich kannte ihn noch. ich hatte bloß vergessen, dass er dieter groll hieß. so hatte ihn damals auch niemand genannt. und dann sagte er noch: ich reserviere dir ein zimmer in unserem haus.

in unserem haus? das wurde doch abgerissen.

fahr einfach heim, sagte er. dann wirst du schon sehen.

der junge mit der opernhaus-frisur hielt einem alten mann die tür auf. der setzte behutsam seinen stock auf den boden, nur ein kleines stück vor die beine, dann machte er einen schritt und zog das andere bein nach. so bewegte er sich langsam auf die nelkenfrau zu. vor der rezeption blieb er stehen und schaute sich um. es war der biber. sein kopf war kahl geworden. die übrig gebliebenen haare waren grau und hingen ihm über die ohren und in den nacken. ein bisschen sah er nun dimi ähnlich. als er mich erblickte, rief er durch die lobby: joe! es klang wie tscho.

ich ging auf ihn zu. mensch, tscho, sagte er noch einmal.

auch am telefon war mir seine stimme fremd vorgekommen. aber wir hatten uns eine ewigkeit nicht gesehen. ich umarmte ihn. er drückte mir seinen stock von hinten auf die schulter.

dass ich dich noch einmal sehe, sagte er. das ist ein ding.

es war, als ob er mühe hätte, die worte richtig auszusprechen. ich drückte meinen kopf an den seinen. was ist mit dir passiert, wollte ich fragen, doch ich scheute im selben moment vor dieser frage zurück. ich löste mich aus der umarmung. sein mund hatte ein verzerrtes lächeln. er nickte dabei ein wenig.

ich erzähls dir gleich, sagte er und deutete mit dem stock zur sitzgruppe.

ich wollte ihm beim gehen behilflich sein, aber das ließ er nicht zu.

du weißt nicht, wie gut das schon geht. vor drei monaten war ich noch im rollstuhl.

er schob sich in seinem langsamen dreischritt vorwärts, prüfte mit dem stock die sitzunterlage eines stuhls und ließ sich dann darauf fallen. den stock wollte er an den tisch lehnen, aber dort rutschte er an der glaskante weg. er ließ ihn auf dem boden liegen.

was willst du trinken, fragte ich.

der biber griff mit der rechten hand nach dem linken, herabhängenden unterarm und legte ihn auf seinen schoss.

was trinkst du, fragte er.

bourbon.

dann trinke ich auch bourbon.

die pfingstrose hatte uns von ihrem platz hinter der hecke beobachtet. ich streckte zwei finger in die höhe und sie schien zu verstehen. der biber schaute sich in der lobby um und lachte plötzlich laut heraus. dabei verzog sich sein gesicht zu einer grimasse. er lachte nur mit einer hälfte. die andere hälfte lachte nicht mit, sondern wurde nur verzogen.

ich habe einen schlaganfall gehabt, sagte er. und dann erzählte er mir, langsam, aber dabei doch flüssig, dass es im studio passiert war. er hatte gerade die mikrophone eingeschaltet, begann die regler hochzuziehen, da merkte er, dass die hände träge wurden. sie wollten nicht mehr richtig mitmachen, sie wurden schwer und sanken auf das mischpult. ein leichter schwindel erfasste ihn. hinter der glasscheibe machten die schauspieler weiter ihre tonproben, passt das jetzt so? und der regisseur sagte: gib ihm ein bisschen hall drauf. aber der biber konnte den grünen knopf nicht mehr drücken und er konnte auch nicht mehr antworten. es dauerte eine weile, bis die im aufnahmeraum begriffen, was los war. da war der biber schon auf seinem drehstuhl zusammengesunken. er wusste, dass er gleich hinunterfallen würde. er konnte nichts dagegen tun. er rutschte einfach weg. dann liefen alle zur tür herein, rissen ihm das hemd auf und redeten durcheinander. am anfang konnte er es noch verstehen, aber dann rückten die anderen immer weiter weg und ihre stimmen wurden gedämpfter, bis er sie nur noch als eine ferne geräuschkulisse wahrnahm.

ich wusste nicht, was es war, sagte er, aber mir war klar, dass ich gleich abtrete. das letzte bild war wie eine dampfsauna. ich sah alles nur noch schemenhaft und spürte schweiß, kalten schweiß, dann war ich weg. für 75 tage.

75 tage?

neben mir stand die pfingstrose und servierte die drinks. sie hatte auch ein neues schälchen mit nüssen gebracht.

hast du 75 tage gesagt, fragte ich.

ja, sagte er, es war verdammt knapp.

er hob das glas und prostete mir zu. er trank vorsichtig einen schluck, dann schaute er sich erneut in der lobby um. er schien, genauso wie ich es getan hatte, darüber nachzudenken, wo der eingang gewesen war, wo die treppe, wo dimis wohnung.

er schaute mich einen moment an und sagte: wir sollten das hôtel des fleurs anzünden.

dann lachte er wieder mit seinem verzerrten gesicht, und ich fragte mich, ob man sich an dieses lachen gewöhnen kann.

wie war das, als du aufgewacht bist, fragte ich.

zuerst hatte ich das gefühl, als würde jemand etwas sagen. ich hab es immer deutlicher gehört. ich mach die augen auf und da ist ein arzt, der auf mich einspricht. er sagt: herr groll, sie wissen, dass sie gelähmt sind. das war der erste satz, den ich mitgekriegt habe. herr groll, sie wissen, dass sie gelähmt sind. ich habe den satz nicht gleich kapiert. aber ich habe trotzdem gewusst, der satz ist wichtig, ich muss ihn behalten. und dann merkte ich langsam, dass ich nichts mehr kann, gar nichts mehr. ich hab nicht einmal gewusst, wie man den kopf bewegt. erst nach einem jahr habe ich wieder zu reden begonnen. also, schau mich an. mir geht es gut.

 

als wir damals vom grüneburgpark ins westend schlenderten, ich hatte den schlafsack und eine ausgefranste tasche um die schultern, der biber trug eine decke unter dem arm, erzählte er mir, dass er in einem besetzten haus wohne. da sei immer irgendwo platz. zur not könne ich auch bei ihm pennen. als ich das besetzte haus dann sah, geriet ich in eine ganz eigene art von erregung, in eine Stimmung, dass ich jetzt etwas großes erlebe. aus den fenstern hingen transparente, und das war nicht nur bei diesem haus so, auch das nachbarhaus war besetzt und ein paar häuser weiter noch eins.

der biber wohnte im haus an der ecke. wir mussten es auf der rückseite durch einen kellereingang betreten. der haupteingang war verbarrikadiert. im feuchten souterrain lag ein haufen aus ziegeln, brettern und eisenstangen. die hausbewohner hatten das zeug von baustellen zusammengetragen, nachdem der gerichtliche räumungsbeschluss zugestellt worden war. eigentlich sei beschlossen worden, sagte der biber, das erdgeschoss und den kellereingang zuzumauern und mit einer leiter über den balkon in den ersten stock einzusteigen. aber letztlich seien mit den ziegeln nur bücherregale gebaut worden, weil der mörtel gefehlt habe.

auch in seiner wohnung stand ein solches bücherregal. zwei ziegel, ein brett, zwei ziegel, ein brett. es waren zwar kaum bücher darin, nur ein paar yoga-bände, dafür aber jede menge räucherstäbchen und sonstiges kleinzeug, das ich nicht kannte. die bücher kamen erst nach und nach dazu. während der zwei monate, in denen ich dort wohnte, mussten wir das regal um zwei bretter aufstocken. wenn ich am abend heimkam, griff ich in den hosenbund, zog ein buch heraus und stellte es ins regal.

vom anblick her war die wohnung ein matratzenlager, das um eine stereoanlage gruppiert war. die boxen waren gut eineinhalb meter hoch. achtzig watt ausgangsleistung.

als mir der biber die anlage vorstellte, kniete er am boden und fuhr, bevor er die platte auflegte, mit einem reinigungstuch langsam und bedächtig die rillen entlang.

du magst doch klassik?

was ist es?

wart ab.

heute noch sehe ich mich auf der matratze sitzen und mit andacht emerson, lake and palmer lauschen, während der biber mir aus einem braunen tonkrug tee nachschenkt. wenn jemand seine anlage bewunderte, war der biber der glücklichste mensch. die ganze zeit über lachte er mich an, drehte den ton noch lauter, und ich dachte mir, wenn das klassische musik ist, dann bin ich fortan ein liebhaber von klassischer musik.

neben der eingangstür stand ein zweites regal aus ziegeln und brettern. darin waren zerlegte verstärker und elektronische bauteile gestapelt. auf dem obersten brett lagen mehrere megaphone, auch lötkolben, zangen und schraubenzieher. der biber hatte in einem kaff am niederrhein eine lehre als elektrotechniker begonnen. irgendwann war er nach frankfurt abgehauen, um hier elektronischen schrott zu sammeln. so kaputt konnte ein gerät gar nicht sein, dass der biber nicht noch irgendeine verwendung dafür hatte.

er ging zu keinem besetzerforum, zu keinem häuserrat, zu keinem teach-in, aber er versäumte nicht viel, weil die leute zu ihm kamen, um musik zu hören. am abend waren die matratzen besetzt. manchmal hatte ich mühe, eine ecke zum schlafen zu finden, weil dimis unerschöpfliche wodka-vorräte und seine großzügig gebauten joints die leute reihenweise wegkippen ließen. für die reinigung, so stellte sich bald heraus, war eigentlich nur ich zuständig. inmitten von flaschen und vollen aschenbechern zu schlafen, störte mich nicht, aber wenn sich der gestank von urin und kotze durch räucherstäbchen nicht mehr überdecken ließ, raffte ich mich auf und holte aus der wohnung unter uns eimer und putzlappen herauf. am abend stritten die studenten darüber, ob ich in gefahr sei, einen faschistoiden charakter zu entwickeln. suse, eine schöne frau mit langen roten haaren, nahm mich damals in schutz. ich hätte sie umarmen mögen, aber sie lebte mit klaus zusammen, einem soziologie-studenten, der in der hausbesetzerszene eine dicke nummer war. er gehörte der vierten internationale an, was ihn mit anderen, die dem kbw angehörten, in einen dauerclinch brachte. die nicht organisierten hielten eher zu klaus. und die waren es auch, die nach den versammlungen zum biber ins zimmer kamen. es wurde viel geredet und geraucht, aber wir saßen auch manchmal nur da und hörten der musik zu. ich habe immer suse angeschaut, aber ich sah sie mit anderen augen, wie eine unerreichbare. ich verehrte damals mehr oder weniger alle studentinnen, aber suse war die göttin unter ihnen. ich brach das gymnasium nur deshalb nicht ab, weil ich endlich ein student unter studentinnen sein wollte.

einmal durfte ich bei einer demonstration auf dem weg zum opernplatz in der vordersten reihe neben klaus gehen und das megaphon tragen. von da an fühlte ich mich zugehörig, auch wenn ich bei den diskussionen über die richtige form des widerstands weiter den mund hielt. der biber übrigens auch. wenn es hitzig herging, servierte er tee.

 

bevor ich martina in kronberg besuchte, hatte ich mir eine dieser grünen hosen gekauft, wie der biber sie trug. martinas eltern waren übers wochenende weggefahren. den weg von der s-bahn-station zu ihrer wohnung hatte sie mir auf der rückseite eines platzhalters aufgezeichnet. sie wollte nicht, dass wir gemeinsam in kronberg gesehen würden. als ich durch den ort ging, blickte ich mich nach den jugendlichen um und überlegte, welcher von ihnen martinas komischer Freund sein könnte.

martina wohnte in einer dreizimmer-wohnung. wobei das wohnzimmer in der mitte durch ein bücherregal getrennt war. auf der einen seite des regals war ein speisezimmer mit dem schreibtisch von martinas vater, einem deutschlehrer, auf der anderen seite war eine fernsehecke mit einer steroanlage. den balkon durfte ich, wegen der nachbarn, erst in der nacht betreten. der schreibtisch von martinas mutter, der religionslehrerin, war im schlafzimmer, wo auch ein bücherregal stand mit alten kirchenschmökern.

in martinas zimmer hingen poster an der wand. wir setzten uns auf ihr bett und küssten uns ein wenig. auf ihrem nachtkästchen lag hermann hesses demian. sie las mir einen abschnitt daraus vor, und ich sagte, dass ich das buch auch gerne hätte.

wir haben hesse auf unserem lager. wenn du willst, kann ich es dir besorgen.

sie würde für mich bücher klauen, das war wunderbar, doch es rettete noch nicht den nachmittag. nachdem wir uns wieder geküsst hatten, fragte sie, wie es nun mit uns weitergehe. ich nahm meinen ganzen mut zusammen und packte ein stanniolpapier aus.

meine angst, nun würde ein ödes gespräch über ihren komischen freund beginnen, war unbegründet. wir stopften uns meinen noch kaum benutzten shillum und öffneten das fenster. danach las sie mir wieder aus demian vor, und ich begann dabei, sie zu streicheln. als ich unter ihre bluse fuhr, unterbrach sie die lektüre und sagte, sie werde musik auflegen. sie ging hinaus. ich hörte, wie sie den schlüssel in die wohnungstür steckte und absperrte. dann machte sie sich im wohnzimmer zu schaffen. procul harum begannen zu spielen, martina blieb immer noch fort. ich ging nachsehen. ich fand sie in keinem zimmer, aber dann hörte ich im badezimmer wasser laufen. ich ging zurück und zog mich aus. sie kam mit zwei gläsern weißwein. sie trug ein weites kleid, vielleicht war es auch ein nachthemd.

wir taten an diesem nachmittag und an diesem abend nichts anderes, als ständig miteinander zu schlafen. sobald wir uns ein wenig erholt und dabei wein getrunken und geraucht hatten, begannen wir einander erneut zu streicheln. später schliefen wir ein und wachten mitten in der nacht auf, um es gleich noch einmal zu treiben. danach hatten wir hunger. martina schlug vor, ein huhn zu grillen, das sie am vormittag gekauft hatte. sie kannte sich jedoch mit dem grillapparat nicht aus. gemeinsam steckten wir das huhn auf den spieß, verklammerten es und schauten ihm eine zeit lang zu, wie es sich drehte. martina zündete eine kerze an und machte das küchenlicht aus. sie holte ein badetuch. nackt wie wir waren, ließen wir uns darauf nieder. ich stopfte erneut den shillum. weil sie beim rauchen husten musste, wickelte ich den feuchten zipfel eines geschirrtuchs über das rohr. das hatte ich beim biber gelernt.

wir saßen nebeneinander auf dem küchenboden, vom wohnzimmer kam die stimme leonard cohens, wir hielten uns an den händen und schauten wieder dem huhn zu. es drehte sich doppelt. einmal in der glühenden hitze, einmal als schatten auf unseren körpern. nach einer weile bemerkte ich, dass martina weinte. während sie auf das grillhuhn starrte, liefen ihr tränen über die wangen. ich hielt sie fester und wusste nicht, was ich sagen sollte. ich dachte, sie habe ein schlechtes gewissen wegen ihres freundes. ich strich ihr mit den fingern durch die haare.

wir können das nicht machen, flüsterte sie.

ich schmiegte mich an ihre schulter. sie riss sich los von mir. und dann sagte sie etwas, was für mich ganz unerwartet kam. sie sagte: mir tut das huhn so leid. ich hätte herauslachen können vor erleichterung, doch martina weinte, und ich musste ihr irgendwie behilflich sein. aber wie? nun kam auch mir vor, dass sich das huhn in einem bejammernswerten zustand befand. wenn sich der flügel von oben herabdrehte, begann er sich zu bewegen und klappte dann nach außen. auch die beine bewegten sich ein wenig. die beine würden bald ruhig werden, aber der flügel war nicht richtig eingeklemmt, er würde bei jeder drehung weiterflattern. martina sagte: ich werde sicher nichts essen können.

und so brachen wir unseren grillabend ab. wir gingen mit der brennenden kerze und dem rauchzeug in ihr zimmer zurück.

 

im hôtel des fleurs kam die nelke auf mich zu und fragte, ob mir das fahrzeug vor dem eingang gehöre. der biber sagte, das ist meins.

könnten sie bitte wegfahren, sie verstellen den hoteleingang.

ich brauche das auto in meiner nähe, sagte der biber.

sind sie hotelgast?

nein.

dann stellen sie bitte das auto weg. um die ecke gibt es eine parkgarage.

der biber wiederholte: ich brauche das auto in meiner nähe.

die nelke stand unschlüssig da. man sah ihr an, dass sie etwas anderes sagen wollte, aber sie sagte nur, wir werden das klären, und ging fort.

soll sie es klären, sagte der biber. sein linker arm war ihm vom schoss gerutscht. er griff danach und zog ihn so weit nach rechts, dass der ellenbogen nun zwischen seinen schenkeln lag. er saß leicht gebückt da, mit roten flecken im gesicht. wir hätten den laden gleich anzünden sollen, sagte er. im knast hab ich mir geschworen, was sie hier auch bauen, ich werde es anzünden.