Zur Dialektik und Phänomenologie der Natur- und Kulturidyllen - Rolf Friedrich Schuett - E-Book

Zur Dialektik und Phänomenologie der Natur- und Kulturidyllen E-Book

Rolf Friedrich Schuett

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Beschreibung

Chesterton hat daran erinnert : Nur zwei europäische Traditionen haben ganze zweitausend Jahre bis zur Neuzeit überdauert : die katholische Kirche und die Literaturgattung der bukolischen Idylle. Das wird viele Zeitgenossen überraschen, denen die Welt sich viel zu schnell oder gar nicht schnell genug ändert. Und beide „Pastoralen“ weideten ihre Lämmer. Die Idylle ist seit etwa einem Jahrhundert die unpopulärste aller Kunstgattungen und Lebensideale geworden. Spätestens seit der industriellen Revolution und den zwei Weltkriegen wagt man nur noch von „giftigen“ oder „verlogenen“ Idyllen zu sprechen, als wären sie für aufgeklärte Zeitgenossen zu märchenhaft unrealistisch. Aber gerade das unaufgeklärte Zeitalter der Aufklärung hatte das Idyll rehabilitiert und reaktiviert als ästhetisches und sozialutopisches Widerstandspotenzial gegen die Häßlichkeiten neuzeitlicher Hochzivilisationen. Die Aufklärung maß die soziale Realität am idyllischen Ideal – und ließ sie satirisch durchfallen : Zarte Idyllen sind harte Gesellschaftssatiren. Die Hirtenidylle vom Griechen Theokrit und Römer Vergil bis zum Schweizer Geßner und Deutschen Jean Paul ist keine schönfärberische und betrügerische Ideologie, sondern selber kritische Aufklärung, solange die Gesellschaft kein arkadisches Paradies von müßigen Nomaden (der Beine und des Geistes) ist, sondern ein Sklavenhaus sesshafter Besitzbürger, das „stählerne Gehäuse“ (Soziologe Max Weber) ausdifferenzierter Institutionen der „verwalteten Welt“. Denkströmungen zur Jahrtausendwende Spekulatives Denken oder kommunikatives Handeln? Hegel als Idylliker? Kulturrelativismus kontra Naturabsolutismus Die Seele des historischen Materialismus : War der Geschlechterkrieg die Wahrheit des Klassenkampfes? Äußere und menschliche Natur zwischen Dialektik und Phänomenologie Zarte Idyllen, harte Satiren Grundzüge einer Ästhetik der Passionen ohne Interaktionen

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Themen und Thesen :

Weltbild, Wunschbild, Schreckbild, Zerrbild

Zarte Idyllen sind harte Satiren auf die Realität,

und Kritik wird immer pastoraler.

„Die Gesellschaft bezahlt nur die Dienste, die sie sieht.“(Stendhal)

Für meine Familie

INHALT

Denkströmungen zur Jahrtausendwende

Spekulatives Denken oder kommunikatives Handeln?

Hegel als Idylliker?

Kulturrelativismus kontra Naturabsolutismus

Die Seele des historischen Materialismus:

War der Geschlechterkrieg die Wahrheit des Klassenkampfes?

Äußere und menschliche Natur zwischen Dialektik und Phänomenologie

Zarte Idyllen, harte Satiren:

Grundzüge einer Ästhetik der Passionen ohne Interaktionen

Denkströmungen zur Jahrtausendwende

1.

Die analytische Philosophie des logischen Empirismus und die ordinary language philosophy der angelsächsischen Welt zerfasern sich zunehmend pragmatistisch bei Goodman, Putnam und Davidson, eine in immer spezielleren Einzeluntersuchungen ohne nennenswerte Innovationen auslaufende wissenschaftstheoretische Bewegung nach Frege, Russell, Wittgenstein, Carnap und Van Quine. Ihre bundesrepublikanische Übernahme durch den rationalen Rekonstrukteur Wolfgang Stegmüller und den logischen Operationalisten Paul Lorenzen war im weiteren nicht recht inspiriert aufgegriffen worden. Und die postanalytische Philosophie der „kritischen Rationalisten“ Popper bzw. Albert mit ihrem sozialtechnologischen piecemeal-engineering hat seit längerem keine neueren Impulse mehr freigesetzt und scheint fast ausgereizt. Die meist analytischen Wissenschaftstheorien wollten Naturwissenschaftsphilosophie sein und werden doch nur von Geisteswissenschaftlern ernstgenommen, die von Mathematik und Physik zu wenig verstehen.

2.

Die Phänomenologie des Mathematikers E. Husserl radikalisierte sich in der Folge existenzphilosophisch bei Heidegger, Merleau-Ponty und Sartre oder lief bei Hedwig Conrad-Martius in die quasi-objektivistische Abseitsfalle einer Natur-Ontologie. Heute überlebt die Sachlichkeit der „reduktiven Wesensschau“ nur noch zwischen dem affektivistischen Leibessubjektivismus eines Hermann Schmitz und der anti-objektivistischen Selbstaffektion eines Michel Henry.

(Die monotheistischen Phänomenologien von Scheler, Lévinas und Henry dürften dabei Einzelfälle bleiben, obwohl Husserl selber ein tief gläubiger Protestant war – allerdings denkbar wenig in seinem Philosophieren.)

3.

Die sozial- und ideologiekritischen Impulse überlebten kaum den weltweiten Zusammenbruch der sozialistischen und kommunistischen Regime. Die Frankfurter Schule und auch Ernst Blochs Materialutopismus marginalisierten sich spätestens seit 1989. Nur die linksliberale „Diskursphilosophie“ eines J. Habermas genießt noch einen Restrespekt im philosophischen Diskurs, obwohl sie schon etwas ratlos mit dem (deutschen) Papst kommunizieren mußte, weil sie den (von ihr wahrscheinlich mitverursachten) moralischen Verbindlichkeitsschwund der modernen Gesellschaften nicht mehr zu stoppen weiß. (Gadamers Hermeneutik blieb philosophisch singulär oder bei Heidegger zu gut aufgehoben.)

4.

Der evolutionistische Radikalkonstruktivismus von Foerster, Maturana e. a. scheint sich im Niemandsland zwischen selbstreferentieller Hirnphysiologie und selbstexplikativer Transzendentalphilosophie zu verlaufen und kann die erkenntnistheoretischen Fragestellungen nur biologistisch bzw. systemtheoretisch verkürzt rekonstruieren wollen.

5.

Die neokonservativen Kulturphilosophen von Cassirer und Ritter bis zu Lübbe, Spaemann, Marquard und Blumenberg finden als methodische Individualisten kaum weiterführende Nachfolger. Der Transzendentalbelletrist Odo Marquard mag wohl der „geistreichste Philosoph“ (Johannes Gross) sein, aber allein der Metaphorologe Hans Blumenberg reicht noch an die Reflexionssubtilität Theodor W. Adornos heran: Zwei assimilierte Atheisten und Valéry-Bewunderer, die leider nicht miteinander diskutiert haben.

6.

Die dekonstruktivistische Postmoderne beschränkt sich fast ausschließlich auf Frankreich: Deleuze und Derrida, Lacan und Lyotard, Foucault und Baudrillard. Dieser Poststrukturalismus gegen den vermeintlich allgegenwärtigen „Logozentrismus“ steht und fällt wohl mit seinen extravaganten Wortführern und war am Ende eine französische Adaption deutscher Irrationalisten wie Nietzsche und Heidegger, die man besser gleich im Original lesen sollte. Diese pluralistisch angelegten Denkmotive haben sich bereits in den Achtzigerjahren monoman erschöpft. Daran änderte nur sehr wenig der deutsche Reimport einer rundumästhetisierten Pseudo-Rationalität z.B. bei Wolfgang Welsch. Einzeldenker, so wertvolle Beiträge sie auch geliefert und so interessante Akzente sie auch gesetzt haben mögen, bleiben hier unberücksichtigt, wenn sie wenig wirkmächtige Schulbildungen initiiert haben. Kurz: Ist eine philosophische Bewegung bereits mit dem Gesamtwerk ihrer frühen Gründungsväter oder ihrer Hauptvertreter erschöpfend abgeschlossen, oder geht es nach deren Tod erst richtig los mit dem Erschließen neuer Bereiche durch die neuartigen Methoden in eigenständig inspirierten Köpfen? Ist mit dieser inaugurierten Methode noch Relevantes zu tun übrig für intelligente Nachfolger oder nur geistlos mechanische Nutzanwendungen zur Doktorandenproduktion? Die sechs hier aufgezählten Grundrichtungen wenigstens erscheinen wie fast erschöpfte Paradigmen, die allein noch wissenschaftlichen Normalbetrieb erlauben, ohne aussichtsreichere und vielversprechendere neue Konzeptpotentiale sichtbar zu machen. Ihre Schöpfer haben die volle Kapazität der methodischen Innovationen schon zu Lebzeiten so gut wie selber erschöpft in ihren Werken. Bei einigen Richtungen erstaunt aber, wie früh und wie schnell, gemessen an dem damit ursprünglich doch verbundenen Erwartungsüberschwang, die zukunftsträchtigen Entwicklungschancen sich verbraucht zu haben scheinen, wie z. B. bei der logi(sti)schen Analyse philosophischer Gedanken oder etwa bei einer kongenialen Fortführung von Adornos und Blumenbergs Reflexionsniveau, das mit deren Personen unterging, wie auch Hegel das Geheimnis seiner dialektischen Virtuosität mit ins Grab nahm. Niemand hat auf dem Niveau Hegels, Adornos und Blumenbergs weitermachen können, aber abgesehen von Goodman 1951 hat auch niemand Carnaps großen „Logischen Aufbau der Welt“ von 1928 jemals relevant weiterentwickelt.

+ + +

Spekulatives Denken oder kommunikatives Handeln?

Die gleichsam transzendentalen Bedingungen von Kants transzendentalen Bedingungen der Erfahrbarkeit suchte Hegel im objektiven Geist (Sprache, Arbeit, Interaktionen) der Gesellschaft und fand sie erst im „absoluten Geist“ von Kunst, Religion und spekulativer Philosophie. Habermas sieht in dieser Überhöhung der gesellschaftlichen Konsensbildungen durch metaphysische Instanzen einen Rückfall aus der schon erreichten gesellschaftlichen "Intersubjektivität" in die elitäre Subjektivität klassischer Bewußtseinsphilosophie.

Ein Hegel sah das autonom gesprochene Individuum "überfordert" erstens durch Ansprüche, die Kluft zu externen Erkenntnisobjekten zu überwinden, und zweitens durch Kants universalistische Ethik; es könne die Motive, Folgen und Pflichtenkollisionen seiner prinzipiengeleiteten Handlungen ja gar nicht überblicken und bedürfe dazu der vorgängigen Entlastung durch die eingespielte Kultur intersubjektiven Geistes, der seinerseits noch einer kritischen Kontrollinstanz bedürfe, eines philosophisch rekonstruierten Monotheismus der einen Rahmen-Wahrheit — als akkumuliertes Resultat geschichtlicher Lernprozesse.

Man sollte einmal überprüfen, ob die Hegelverständnisse von Jürgen Habermas und Hermann Schmitz letztlich nicht auf Vergleichbares hinauslaufen. Wo Habermas einen Rückfall aus der interaktiven Intersubjektivität des objektiven Geistes in die schon überwundene bloße Bewußtseinssubjektivität des absoluten Geistes beklagt, sieht der Phänomenologe Schmitz den Panlogiker Hegel immer wieder zurückfallen aus einer in der "Phänomenologie" schon erreichten dreipoligen in die zweipolige Dialektik des Satzes, der seinen jeweiligen Gegensatz immer schon in sich hat und auf "sein Anderes" übergreift. Bei der Analyse des Selbstbewußtseins, das jedes fremde Selbstbewußtsein als gleich anerkennen muß, sei ihm die zweipolige Dialektik fraglich geworden: Mein Selbstbewußtsein sei abgesondert von deinem und greife zugleich auf deines über, das seinerseits von meinem ausgeschlossen sei und doch zugleich meines einschließe, also auch mein Dich-einschließen... Wenn ich dich an mir selbst habe, dann auch, daß du mich, also auch mein Dich-an-mir-haben, an dir selbst hast etc. Damit diese Struktur sich nun nicht selbst zerstöre, müsse es zwischen deinem und meinem und auch jedem anderen Selbstbewußtsein (derselben Korporation), wobei jedes einzelne Selbstbewußtsein zugleich die ganze Korporation aller sei, einen uns übergreifenden "Solidarbegriff der Vernunft" geben, aus dem Hegel jedoch später immer wieder zurückgefallen sei in die von ihm viel bevorzugtere Denkfigur, daß jeder seinen reinen „Unterschied an ihm selbst“ habe und selber „sein Anderes“ umgreife, statt daß wir alle noch einmal von einer dritten Vernunft umgriffen würden, die mit jedem von uns zusammenfalle und von der wir zugleich abgesondert existieren. Und vom absoluten Geist hält Schmitz natürlich ebenso wenig wie Habermas oder Adorno, der wie noch Michael Theunissen ("Sein und Schein", Frankfurt/M. 1978) im Verhältnis des Selbstbewußtseins zu "seinem Anderen" ein Herrschaftsverhältnis zu einem Objekt kritisiert statt ein Liebesverhältnis zwischen Ego und Alter-Ego gerühmt hatte. Hegel sah in der Einzelheit (etwa jedes Staates, der andere Staaten ausschließt und seine eigenen Bürger zugleich einschließt) die Einheit von Besonderem und Allgemeinem: Jede (abgesonderte) Besonderheit greife auf die Allgemeinheit aller anderen über und schließe sie zugleich ein und aus. (siehe auch Hermann Schmitz: "Hegels Logik", Bonn 1992)

Hegel hätte sich wohl auch kaum begnügt mit naivem Vertrauen in die demokratische Öffentlichkeitsarbeit von Bürgerinitiativen und Alternativbewegungen, mit deren idealtypisch stilisierten Abstimmungsergebnissen ein Habermas ja durchaus zufrieden scheint. Um dem von Hegel gefürchteten "Tugendterror" von selbsternannten Avantgarden vorzubeugen, genügen auch für Habermas keine vorfindlichen Institutionen und Konventionen, aber doch Prozeduren, durch die ein Konsens diskursdemokratisch zustande gekommen sei. Will oder kann Habermas nicht sehen, daß gesellschaftliche Verhältnisse ungeachtet aller Informationskampagnen und Dauerdiskurse für die abhängig Beschäftigten stets umso opaker geworden sind, je transparenter sie sich gerieren? Mit anderen Worten : Hegel behält gutes Recht gegen Habermas, wenn er das überforderte Individuum nicht dem Richterspruch von öffentlichen "Bedürfnisinterpreten" und ihrer institutionalisierten Institutionenkritik ausliefert, sondern diese noch einmal verbindlich vor den Richterstuhl einer "absoluten" Instanz zitiert, die menschenmöglichste Annäherung an die Idee einer Gottesperspektive, die leider auch ein Habermas wie fast alle Denker heute schon "unwiederbringlich" verloren gibt, wo doch sie allein allen potentiellen Demagogen das gute Geschäft verdürbe. (Jürgen Habermas: "Wahrheit und Rechtfertigung", Frankfurt/Main 1999, siehe Kapitel 4)

Will oder kann Habermas nicht sehen, daß der intersubjektiv objektive Geist gesellschaftlicher Konsensbildungsprozesse gerade in den proletariatsnahen "Lebenswelten" ebenso deformiert und desinformiert werden kann und auch ständig so überkolonisiert wird wie das einsame Bewußtsein des isolierten Individuums? Und daß die Volksbewegungen konditioniert werden, bildet ja nicht die vermeidbare Ausnahme, sondern in aller Regel die schon gar nicht mehr thematisierte Regel. Zutiefst anstößig ist heutigen Ideologen, die sich als Ideologiekritiker aufführen, diese "Überhöhung" intersubjektiver Sozialpragmatik durch den absoluten Geist eines (aus Kunstmythologien hervorgewachsenen und auch rational rekonstruierbaren) Ur-Monotheismus der einen Wahrheit, die doch nur das strukturelle Rahmenwerk für alle Vernunft- und nicht nur interessengruppengeleiteten individuellen und interaktiven Willensbildungen abgeben will. Ein "nachmetaphysisches Denken" ist einfach ein postreligiöses und a(nti)theistisches Denken, das nicht mehr den "überforderten" Einzelnen, jedoch die Regeln sozialer Spielchen zum einen Maß aller Dinge (v)erklärt.

Die vielleicht klarste Kritik an J. Habermas und den anderen schwerfälligen bürgerlichen Reformphilosophen ist ausgerechnet bei einem Proletarier zu lesen: "Das von den Helleren belächelte und bekämpfte Volkswort: "Wir können doch nichts ändern", ist eher weise als dumm. Wer bis zu Ende denkt, kommt zu ähnlichen Resultaten, wie das Volk sie als Erfahrung von Jahrhunderten aufbewahrt hat, ohne noch darüber nachzudenken. Das Volk kann nichts ändern, heute weniger als zu früheren Zeiten, wenn ein kleiner Aufstand mitunter noch sehr praktische Folgen hatte. Heute kann jede Massenbewegung manipuliert werden, und sie wird manipuliert. Wer sich aus allem, was nach Kampagne riecht, heraushält, ... der tut auf seine indirekte, passive Weise mehr in einer Welt, die es darauf angelegt hat, möglichst auch den letzten noch aus seiner privaten Sphäre zu holen ins gesellschaftliche Engagement. Die gelassene Nichtengagiertheit, das ist natürlich ein höchst individuelles Verhalten. In der Tat ist es der reprivatisierte Einzelne, den die etablierten Herrschaftssysteme fürchten und wohl auch zu fürchten haben." (Horst Lummert: "kuckuck — kunst literatur kritik", Vierteljahreshefte l, Berlin 1973, Seite 3)

Wenn aber Hermann Schmitz Recht hat und Hegel aus der dreipoligen Begriffsdialektik in aller rätselhaften Inkonsequenz immer wieder zurückgefallen ist auf die zweipolige Wesensdialektik, dann reduziert sich, gegen Hegels eigenste Vorliebe für die organischen Kollektive, diese Solidarität des vervielfältigten Selbstbewußtseins immer neu auf mein unendlich in sich reflektiertes Selbstbewußtsein, das bei sich selbst ist nur in deinem Selbstbewußtsein, welches bei sich ist nur in meinem Bei-mir-sein-in-dir... Das Band zwischen zwei selbstbewußt einander entgegengesetzten Subjekten ist dann nichts Drittes in ihnen oder über ihnen, sondern jedes Selbstbewußtsein ist reflexiv über ein jedes entgegengesetztes Fremdbewußtsein mit sich selbst verbunden. Wenn aber nicht mehr die Einzelheit des Kollektivs die abgesonderte Besonderheit jedes Individuums mit der sozialen Allgemeinheit vereint, sondern jedes einzelne Individuum selbst etwas ganz Besonderes ist, welches jedes andere von ihm ausgeschlossene Individuum eines Kollektivs zugleich auch in sich einschließt, dann droht gegen Hegels Grundintention der allgemeine Staat über freien Bürgern (als einzelner Staat unterfreien Staaten) wieder zu zerfallen in viele einzelne Individuen, deren jedes die ganze Last der "besonderen Allgemeinheit" zu tragen hat.

(Die "Einzelheit" des organischen "Volksgeistes" unter anderen Volksgeistern verwehrt dabei den Universalismus der praktischen Kant-Vernunft.)

Die „zweipolige“ Wesensdialektik, mit der Assoziation vieler antinomischer Zwiespalte zwischen Besonderem und Allgemeinem, bindet schwächer als eine „dreipolige“ Begriffsdialektik im systematischen Zusammenhang vernünftiger Schlüsse aus Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem. Diese "Reintegration des verdoppelten Selbstbewußtseins" (Hermann Schmitz) vollzieht Hegel gleichsam lieber von jedem Selbstbewußtsein aus, das auf sein anderes übergreift, als von der Einzelheit eines vorgängigen Kollektivs aus, das seine Mitglieder erst aus sich freigeben muß. Letztlich nimmt der staatsfromme Hegel damit die Besonderheit (1. Pol) jedes Einzelnen ernster als die Einzelheit (3. Pol) ihrer Allgem-Einheit. Ich bin das Ganze, und auch du bist das Ganze unserer Welt: Wir beide zusammen bilden ein Ganzes aus zwei entgegensetzbaren Teilen, deren jedes ja schon selber dieses Ganze ist. Das organische Urkollektiv, das sind nicht nur zwei Teile, sondern auch zwei Totalitäten, die einander so begegnen und entgegnen, daß jedes sich nur begreift, indem es das andere umgreift, d. h. jede besondere Ganzheit (Kontinuum) ist eine Einheit potentiell unendlich vieler Ganzheiten von gleicher unendlicher "Mächtigkeit", wie ein Cantor sagen würde. Die individuelle Synthese zwischen freien Individuen ergibt sich aus der Synthese, die jedes schon selber darstellt, damit ihre Vereinigung sich nicht gegen sie verselbständigen kann. Das Individuum ist eine gespannte Einheit von Unvereinbarkeiten und daher begreifbar durch den (aphoristischen) Satz, der seine Gegensätze gar nicht externalisiert hält. Bei aller Präferenz für organische Kollektive hält Hegel jedem individuellen Selbstbewußtsein und seiner ganz antagonistischen Identität die Treue, statt es wie die „Ganzheitsphilosophen“ erst aus dem Einzelkollektiv zu explizieren oder zu deduzieren. Vielleicht ist dieses aphoristisch-nominalistische Motiv verantwortlich für das bei Schmitz noch rätselhaft bleibende ständige "Zurückfallen" aus einer widersprüchlichen kollektiven Einheit, die Hegel systematisch versteht, in die ebenso widersprüchliche individuelle Einheit, auf die er gleichwohl zurückgeht wie auf den Grund. Die Einheit und Ganzheit zwischen mindestens zwei Individuen ist auch für den späteren Hegel nichts Drittes in und über ihnen, sondern identisch mit der besonderen Allgemeinheit, die jedes einzelne Individuum unter Individuen schon selber bildet.

Der spätere Hegel fällt nicht zurück hinter die errungene Intersubjektivität der Gesellschaft in die Subjektivität des Einzelbewußtseins, wie Habermas moniert, sondern begreift diese unhintergehbare Einzelsubjektivität als ihre eigene Intersubjektivität. Bevor das Subjekt auf Objekte trifft, hat es sich immer schon mit anderen Subjekten getroffen und ist von ihnen betroffen.

Der subjektive Geist gegenüber seinen vielen Objekten erweise sich geschichtlich als schon in sich intersubjektiv, doch gegen Adorno, Habermas, Schmitz u. a. ist dieser intersubjektive Geist von Sprache, Arbeit und Interaktion noch nicht objektiv genug, um zur Ruhe wohlbegründeter Einigungen zu kommen.

Erst unter dem Blick des „selbstoffenbarten“ Absoluten, der Idee eines Jenseits intersubjektiver Ideen, kann der menschliche Geist hoffen, die "Wahrheit" von Subjekt-Objekt- und Subjekt-Subjekt-Beziehungen gänzlich zu erfassen.