Zwischenschritte - Nataša Dragnić - E-Book

Zwischenschritte E-Book

Natasa Dragnic

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Beschreibung

Der Roman "Zwischenschritte" erzählt die Geschichte einer schicksalhaften Begegnung. Brigitte Weichmann ist auf der Suche. Seit ihr Sohn Michael ein Jahr zuvor bei einem tragischen Unfall ums Leben kam, bereist sie Frankreich, sein Lieblingsland. Ihr Leben am Starnberger See und ihre Ehe hat sie hinter sich gelassen. In Dijon lernt sie den jungen, passionierten Buchhändler Christian kennen, der mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Es wird stürmisch. Finden sie dennoch zueinander? Kann man ein gemeinsames Leben aufbauen, wenn der Verlust das Einzige ist, das zusammenhält? Und was macht Christian, als seine geschiedene Frau plötzlich wieder auftaucht?

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Seitenzahl: 311

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Nataša Dragnić

ZWISCHEN SCHRITTE

Roman

Über die Autorin:

Nataša Dragnić wurde in Split, Kroatien, geboren. Nach dem Studium der Germanistik und Romanistik in Zagreb schloss sie dort eine Ausbildung als Diplomatin ab. Seit 1994 lebt sie in Erlangen und ist als freiberufliche Fremdsprachen- und Literaturdozentin tätig. Für ihre Werke erhielt sie Preise und Stipendien im In- und Ausland. Ihr Debütroman Jeden Tag, jede Stunde (DVA, 2011) wurde in 28 Sprachen übersetzt. Nach Immer wieder das Meer (DVA, 2013) und Der Wind war es (ars vivendi, 2016) erschien im August 2017 ihr vierter Roman Einatmen, Ausatmen (ars vivendi). Mehrere ihrer Kurzgeschichten erschienen in der Sechs-Sterne-Reihe (ars vivendi), herausgegeben von Rafik Schami.

www.natasa-dragnic.de

Über das Buch:

Nach dem tödlichen Unfall ihres Sohnes Michael ist Brigitte Weichmanns Leben aus den Fugen. Der Schmerz, die Gewissensbisse und ihr Bedürfnis zu verstehen, was geschehen ist, treiben sie fort von ihrem Mann Hans. In Frankreich reist sie von Stadt zu Stadt. Nirgends kommt sie zur Ruhe – bis sie in Dijon beim Besuch einer Selbsthilfegruppe auf Christian trifft. Der begeisterte Buchhändler ist seit sechs Monaten geschieden und leidet schwer unter der Trennung von seiner alkoholkranken Frau Sylvie.

Vorzeitig verlässt das ungleiche Paar das Treffen. Die beiden freunden sich an. Er dreizehn Jahre jünger als sie, gefühlsbetont, eine Leseratte. Sie ein Kopfmensch, zurückhaltend, unnahbar. Kann man ein gemeinsames Leben aufbauen, wenn der Verlust das Einzige ist, das zusammenhält? Und was macht Christian, als Sylvie plötzlich wieder auftaucht?

Zwischenschritte

für Aaaaaaaaaaaandyyyyyyyyy

Inhalt

Cover

Titelblatt

Über die Autorin:

Über das Buch:

Widmung

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Danksagung

Urheberrechte

Zwischenschritte

Cover

Titelblatt

Widmung

Kapitel 1.

Kapitel 19.

Urheberrechte

Zwischenschritte

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1.

Mein Sohn … tot.

Ja. Das könnte sie sagen.

Mon fils … mort.

Das hat sie noch nie gesagt. Nicht dass ihr ausgerechnet heute danach wäre, nach so einem Satz. Schon der Gedanke daran sticht ihr in die Augen, sodass sie blinzeln muss, mehrmals, ganz schnell. Aber weinen – nein, sie weint nicht. Jeder weiß, dass Brigitte Weichmann nie weint. Nicht einmal bei Beerdigungen. Nicht einmal bei der Beerdigung des eigenen Sohnes. Hans wollte ihre Hand halten, sie umarmen. Dieser Narr! Als würde er sie nicht kennen. Als wären sie nicht achtundzwanzig Jahre verheiratet gewesen. Als würden Umarmungen in ihr Leben gehören. Als hätten sie das nötig, sie beide.

Brigitte wird unruhig, sie ist bald an der Reihe. Bald wird sie sagen müssen, wer sie ist und warum sie hier ist, wen oder was sie verloren hat. Auf Französisch. Sie glättet ihren Rock. Noch einmal und noch einmal. Diese Fremdsprache ist ihr schon seit Langem nicht mehr fremd, ganz im Gegenteil. Nach all den Jahren des Lernens ist sie jetzt zu Hause angekommen. So fühlt sie sich an, diese Sprache, die zuerst Michael gehört hatte. Und weil sie ihm gehörte und er sie so sehr liebte, wollte Brigitte sie auch: sie haben, sie leben, durch sie weitermachen, weitermachen können. Irgendeine Verbindung musste doch bestehen bleiben! Aber darüber muss sie nicht sprechen, das ist unwichtig, für diese unbekannten trauernden Menschen ist das unwichtig.

Auch für Michael.

Oder?

Vielleicht könnte sie einfach aufstehen und gehen. Und die Antiquitätenmesse besuchen. Einen Spiegel kaufen. In Clermont hatte eine Frau ihr Spiegelbild verloren, ihre Fähigkeit, sich selbst zu sehen. Sie nannte es ihre ganz persönliche Blindheit. Brigitte hat lange darüber nachgedacht. Und jetzt will sie, muss sie einen Spiegel haben. So tun, als wäre sie deswegen überhaupt hier.

Drei Leute haben sich bis jetzt vorgestellt. Einmal tote Mutter, achtzig Jahre, einmal Beinamputation, einmal Scheinschwangerschaft. Warte mal, bis du das Kind tatsächlich hast, will Brigitte der jungen Frau zurufen. Brigitte darf es nicht sagen, aber sie wollte nie Kinder, man bekommt sie dennoch, wenn man heiratet. Hans. Hans war ihr erster Mann, ihr erster Liebhaber. Wenn man verheiratet ist, muss man Kinder in die Welt setzen, vor allem auf dem Land, vor allem, wenn man so reich ist wie Hans. Das Geschäft braucht eine neue Generation. Also ist Michael gekommen. Der sich nie für Hans’ Möbelfabrik interessiert hat. Der einmal gesagt hat, er braucht Kunst in seinem Leben, keine Massenware.

Michael.

Hans hat es nicht verstanden, Hans liebte sein Geschäft, hat immer gedacht, seine Möbel wären etwas Besonderes.

Aber Michael, nein, er nicht.

Michael.

Sein Gesicht ist das Erste, was ich sehe, bevor ich morgens die Augen aufmache. Son visage est la première chose.

Das ginge auch. Das ist schön. Son visage. Das ist vielleicht zu schön. Wie kommt sie auf solche Sachen? Sie ist keine Dichterin. Das könnte sie womöglich aufschreiben, aber sagen – nein, besser nicht. Lächerlich. Es ist immer besser, bei den Tatsachen zu bleiben. Hans würde ihr zustimmen. Oder doch nicht?

Que je vois.

Hans hat keine Ahnung von dieser Sprache, hat sich über ihre teuren Französischstunden lustig gemacht. Aber Hans hat sich verändert. Er ist weicher geworden. Er hat sogar geweint. Gleich danach hat er ununterbrochen geweint. Ist in Michaels altes Zimmer gegangen, hat sich auf das Bett gelegt, in dem Michael seit Jahren nicht mehr schlief. Quand j’ouvre mes yeux. Lächerlich. Erbärmlich. Sie musste weg, das war ihr sofort klar. Als sie sich von ihm verabschiedet hat, hat er auch geweint. Hat in den wenigen Tagen so viel abgenommen, dass er kaum noch zu erkennen war. Hat sie angefleht, bei ihm zu bleiben. Er machte ihr Angst mit seinem Theater. »Michael hätte das Geschäft sowieso nicht übernommen, du findest schon jemanden«, sagte sie zu ihm und wunderte sich über seinen verständnislosen Blick. Sie zuckte nur mit den Achseln, und weg war sie. Frankreich hatte gerufen! Sie hat ihn nicht einmal umarmt. Diese Augen, sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Es ist ihr bis dahin nie aufgefallen, dass er Michaels Augen hatte. Ja, genau so. Nicht umgekehrt. Was er jetzt wohl macht? Ob er nach einem Jahr immer noch heult? Hans. Ihr Hans? Hat sie ihn je so genannt? So über ihn gedacht?

Oder ist es richtig: que je voie?

Diese Unsicherheit irritiert sie.

Und dieser Raum gefällt ihr nicht. Er ist so hässlich und kahl und unsentimental, dass er ihr eigentlich gefallen müsste. Tut er aber nicht, sie weiß nicht, warum. Eine Fensterwand zum Hinterhof. Zwölf Stühle im Kreis, weitere in einer Ecke gestapelt. Und ein Tisch neben der Tür, für die Erfrischungen. Zwei Bilder ohne Rahmen, die aussehen wie von Kindergartenkindern gemalt. Das war es schon.

Mein Sohn ist tot.

Das könnte es schon gewesen sein.

Mon fils est mort.

Ja, das ist klar und gefühllos und wahr. Das kann man sagen. Das kann sie sagen. Da sticht nichts mehr. Das Verb macht den Unterschied. Vergessen ist son visage und das grammatikalische Dilemma.

Son visage, wie könnte sie es vergessen.

Vielleicht sollte sie tatsächlich einfach aufstehen und gehen. Wie üblich. Und die Antiquitätenmesse besuchen. Ein wenig Schönheit um sich könnte sie jetzt gut gebrauchen, Schönheit und Vergangenheit.

Und nach dem Spiegelbild Ausschau halten.

Sie beobachtet ihre hektische Hand beinahe mit Verachtung. Wenn sie wenigstens einen Fleck auf dem Rock entdecken könnte, dann würde sie es verstehen, dieses Gefühl, diesen Drang. Diese unermüdlichen Bewegungen.

Brigitte hebt den Kopf, den Blick, genau in dem Moment, als die Tür aufgeht und ein Mann hereinkommt – verspätet oder verirrt, das weiß sie nicht, und das ist ihr auch egal.

Er bleibt an der Tür stehen. Etwas stimmt nicht mit ihm.

Er ist jung.

Er ist kein Michael.

Niemand ist Michael.

Man hätte denken können, nach einem Jahr auf der Suche hätte das selbstverständlich sein müssen.

Der junge Mann ist ihr egal.

Denn bei nächster Gelegenheit wird sie aufstehen und gehen. Und sich einen Spiegel aus dem achtzehnten Jahrhundert kaufen. Auf der Messe. Vielleicht. Etwas Goldenes, etwas Altes, etwas Unvergängliches.

Das hilft. Dieser Gedanke hilft ihr.

Etwas finden zu können, das verloren schien, das hilft.

Christian starrt die langen schwarzen Haare an, er ist so erschrocken, dass er mitten im Atemzug stehen bleibt. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er unter den langen schwarzen Haaren auch die breiten Schultern und massigen Oberarme wahrnimmt – und er wieder beruhigt atmen kann.

Ein Augenblick der Angst.

Ein Augenblick der Hoffnung.

Er schleicht sich an den Kreis in der Mitte des Raumes heran wie ein Kind, das denkt, nur weil es sich wünscht, nicht bemerkt zu werden, wird es auch unbemerkt bleiben. Schon von der Tür aus hat er drei freie Stühle wahrgenommen, hat mit der Wahl gekämpft, sich dann auf den gesetzt, leise, sanft, zu dem der Weg am kürzesten war. Dennoch sind jetzt alle Blicke auf ihn gerichtet. Er lächelt. Es fällt ihm ein, was jemand einmal über ihn gesagt hat, und er fragt sich, ob Schatten lächeln können.

Egal. Alles egal – vor allem das.

»Entschuldigung«, flüstert er.

»Wie bitte?«, schreit ein alter Mann ihm gegenüber. Die Frau nebenan neigt den Kopf zu dem des Mannes und schreit ihm ins Ohr. »Entschuldigung. Er hat Ent-schul-di-gung gesagt. Alles gut!« Sie lächelt in die Runde, entschuldigt sich ihrerseits. »Unser Kater hat uns verlassen.« Ihre Augen sind rot und feucht. Sie tätschelt die Hand des Mannes. »Aber zuerst flog uns der Papagei davon, weißt du noch?« »Nein, als Erstes verschwand der Goldfisch, so schön goldig war er …« »Nein, der Papagei war der Erste, dann kam der Fisch, den mochte ich nicht, der hat mich nie angeschaut, nie.« Die Frau sieht den Mann an, als hätte er eine rote Pappnase aufgesetzt. »Unsinn, er hat dich geliebt, er hat dich vermisst, wenn du weg warst, wenn du verreist warst, hat er fast geweint.« Sie tätschelt weiter, immer schneller. Christian denkt, das muss wehtun. Die dünne Haut wird immer röter und hahnenkammähnlicher. Schließlich sieht der Mann sie auch an. »Er hat geweint? Wirklich? Das hast du nie gesagt, warum hast du mir das nicht gesagt? Dann hätte ich ihn auch beweinen können, als er uns davongeschwommen ist …« Er fängt an zu weinen. Christian wünscht sich, unsichtbar zu sein. »Er wusste auch so, dass du ihn lieb hattest, er wusste das …« »Und was war mit dem Hamster? Und mit der Tigerkatze? Haben die mich auch …?« Die Frau lächelt verlegen, aber doch andeutungsweise glücklich in die Runde verstörter Gesichter: »Wir waren schon immer mit unseren kleinen Kindern gesegnet, so ein Glück, so viel Liebe.« Sie schüttelt den Kopf und schließt die Augen. Und die faltige Haut am Handrücken kann sich endlich erholen, zur Blässe zurückkehren.

Christian sieht sich um und trifft auf den Blick der Frau neben sich. Sie hebt die Augenbrauen, ihr Gesicht ist ernst. Christian verzieht den Mund.

»Guuuuuuuuuuut, feiiiiiiiiin.« Der Mann im dunkelblauen Jackett schlägt sich laut auf die Oberschenkel und steht mit Schwung auf. »Jaaaaaaaa, wir machen dann eine kleine Pause, drüben stehen Kaffee, Tee und Croissants. Ja, ein tiefes Durchatmen ist jetzt genau das Richtige!«

Christian braucht weder Kaffee noch Tee noch Croissants, und mit seinem Atem ist jetzt wieder alles in Ordnung, danke sehr. Er ist unentschlossener und unsicherer denn je, was diese Aktion betrifft. Es war die Familie, die ihn dazu überredet hat. Die Mutter hat sogar geweint, hat den verbotenen Namen in sein Ohr geflüstert, vielleicht kommt dann alles wieder in Ordnung, hat sie gesagt, und Christian hat nicht verstanden, was sie damit meint. Was soll denn bitte schön wieder in Ordnung kommen, und wie denn bitte schön? Er hat zugestimmt, um all die mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen zu müssen und in Ruhe gelassen zu werden, wenigstens für einen Augenblick. Sie sind so viele, und er steht allein vor ihnen, da hat er keine Chance. Und alle lächeln ihn breit an und versichern, nur sein Bestes im Sinn zu haben. Wie kann man da Nein sagen? Wobei das Beste für jeden von ihnen etwas anderes bedeutet, das ist ihm klar.

Und jetzt das. Ein Irrenhaus, was ihn nicht im Geringsten überrascht. Er steht auf, geht zum Tisch, bleibt aber plötzlich stehen. Verwirrt ist er.

»Sie sind zum ersten Mal hier.«

Die Frau, die neben ihm saß, reicht ihm eine Tasse Kaffee, schwarz. Er nimmt sie, ohne zu zögern, entgegen und nickt. Die Frau ist älter, das sieht er jetzt, und groß, sehr groß und blond, sehr blond und sehr streng in ihrem Rock und ihrer Bluse – also alles gut, er muss keine Angst haben.

»Ich auch.« Sie lächelt nicht. Sie sieht nicht freundlich oder zuvorkommend oder verlegen aus. Sie hat ein offenes Gesicht, hart, aber offen. »Ich heiße Brigitte.« Sie spricht ihren Namen deutsch aus, überhaupt fällt ihr deutscher Akzent sofort auf, auch wenn sie fließend spricht. Sie gibt ihm nicht die Hand, doch sie ist voller Erwartung: Sie will seinen Namen wissen und sie will, dass er den Kaffee austrinkt – und schon ist er überfordert. »Also gut. Verstehe.« Sie dreht ihm den Rücken zu, geht aber nicht weg.

»Ich heiße Christian. Und ich trinke keinen Kaffee«, sagt Christian schnell, hofft, das klingt so witzig, wie er sich das vorgestellt hat. Vielleicht kann er das auch später in der Runde sagen. Denn die zu erwähnen, deren Name nicht genannt werden darf, das ist ausgeschlossen. Das schafft er nicht. »Ich bin ein notorischer Teetrinker.« Ihr Rücken ist hochgezogen und angespannt. Christian fragt sich, wen sie wohl verloren hat. Ihren Wellensittich? Böse, böse – aber das hilft manchmal. Manchmal muss man gemein sein, daran glaubt Christian. Und solange sie nicht Gedanken lesen kann … Und irgendwie muss er sich vor diesem Rücken schützen, diesem Rücken, der ihm plötzlich deutscher vorkommt als Thomas Mann. Deutscher sogar als Goethe. Auch wenn das alles nicht stimmt, nicht so richtig, da beide Kosmopoliten waren.

Vor so vielem muss er sich schützen.

Langsam dreht sie sich wieder zu ihm, nimmt ihm die Tasse aus der Hand, stellt sie auf den Tisch. Eine Frau, die Entscheidungen nicht scheut, denkt er nicht ganz ohne Neid. Sie schaut ihn ernst an. Vielleicht kann sie doch …

»Ich muss hier weg. Kommen Sie mit?«

Christian lässt sich von ihr durch den Raum, zur Tür, aus dem Gebäude führen, als wären sie durch eine Schnur miteinander verbunden. Als wäre sie die goldene Gans und er die älteste der drei gierigen Schwestern. Er lächelt. Wo wäre er ohne Bücher und Geschichten, und wenn jetzt noch der Plan, sein großer Plan, sein Wunsch in Erfüllung gehen würde, dann hätte das Leben wieder einen Sinn.

Und sie-deren-Name-und-so-weiter wäre vergessen.

Ja genau.

»So. Lassen Sie uns die Sonne genießen«, sagt sie und sieht ihn an, wieder so offen, wieder so hart und ernst.

»Wir könnten Kuchen essen.«

»Ich esse keine Kuchen, aber bitte schön. Ich nehme einen Kaffee, der hier war unzumutlich.«

»Unzumutbar«, sagt er ohne Nachdenken. »Entschuldigung«, fügt er sofort hinzu.

Sie nickt. »Nein, das ist in Ordnung.« Und nach einer kurzen Pause wiederholt sie: »Unzumutbar.«

Er führt sie, er spürt ihr Fremdsein, sie wehrt sich nicht. Schweigend erreichen sie den Park und das Café und setzen sich draußen hin, sie in die Sonne, er in den Schatten. Das Rieseln des Wassers in der Fontäne füllt ihr Schweigen. Lange schwarze Haare gehen vorbei, aber nein, keine Angst, alles andere falsch, völlig falsch.

Nachdem sie die Bestellung aufgegeben haben, lehnt Christian sich in seinem Stuhl zurück und schließt die Augen. Als wäre er allein. Oder mit dem besten Freund beisammen. Er überlegt schon, was er den Eltern und den Geschwistern und all den anderen, die sich berufen fühlen, sich in sein Leben einzumischen, sagen soll. Dankbar ist er ihnen nicht. Er schafft es aber nicht, sie loszuwerden. Als wären sie Fliegen und er ein offener Honigtopf, vergebens ruft er nach einem Deckel, einem dunklen Ort. Vielleicht sollte er doch wegziehen. Wegen allem. Bücher verkaufen kann man überall.

Als er die Augen aufmacht, ist er nicht auf ihr spöttisches Lächeln vorbereitet.

»Was?« Fast war ihm ihr Rücken lieber.

»Zwei Stück Kuchen – nicht schlecht.« Sie trägt keine Sonnenbrille, und sie blinzelt gegen das grelle Licht.

Christian zuckt mit den Schultern.

»Wie alt sind Sie?«

»Warum?«, fragt er zurück.

»Einfach so.«

»Ist doch egal.« Zu schroff, zu schroff. Gemein manchmal, ja, aber auch nur in Gedanken, schroff nicht, nein, weder in Gedanken noch mit Worten.

»Ja. Wahrscheinlich.«

Dann kommen seine Torten und sein Johannisbeersaft und ihr Kaffee mit Milch, und er ist abgelenkt.

»Wie heißt das?« Sie zeigt auf den Saft.

»Jus de cassis.«

Sie schließt kurz die Augen, als hätte sie es wissen müssen. Dann herrscht wieder Schweigen.

»Und? Schmeckt’s?«

Er nickt, sein Mund ist voll.

»Gut. Schön.«

Er isst gierig, als hätte er nicht gefrühstückt.

Die Mandelblättchen im Käsekuchen lässt er sich nicht auf der Zunge zergehen, er schluckt sie einfach hinunter. Wenn seine Mutter das wüsste! Das Wasser plätschert, die Vögel setzen sich mit Nachdruck auseinander. Die Magnolie vor der Konditorei ist dabei, ihre Blüten zu verlieren. Oder lässt sie sie los? Ein großer Unterschied. Das weiß Christian, denn er hat einen Verlust erlitten und lässt nicht los, und beides schmerzt ihn. Die Bemühungen, das Richtige zu tun, immer und immer wieder, schmerzen auch. Hieße wegziehen fliehen? Fliehen kann man, entkommen nicht. Es muss an all den Büchern liegen, dass er so ausgesprochen weise ist. Er grinst mit vollem Mund.

»Also, wie alt?«

»Woher kommen Sie?«

»Aus Deutschland. Und Sie?«

Er sieht sie argwöhnisch an.

»Aus Dijon. Dijon ist meine Stadt. Und die meiner Eltern und Großeltern.« Er wundert sich über seine Worte. Es hört sich so an, als wäre er besonders stolz darauf.

»Schön.«

»Und was machen Sie hier?« Er hört die Feindseligkeit in seiner Stimme, kann es aber nicht mehr ändern.

»Ich bin auf die Durchreise.«

Er nickt, korrigiert sie diesmal nicht. Denn etwas hört sich nicht richtig an in ihrer Aussage, etwas, das nichts mit der Grammatik zu tun hat. Es ist keine Lüge, lediglich eine Ablenkung. Wie eine falsche Fährte in einem Krimi. Er sieht sie mit Interesse an. Keine Ähnlichkeit. Nein, gar keine. Aber sein Interesse wächst.

»Ihre Stadt riecht besonders.«

»Das ist die zweitausendjährige Geschichte.«

Sie sieht ihn unbeteiligt an.

»Und das viele Grün natürlich. Vor allem jetzt im Mai.«

Sie trinkt einen Schluck, ihre linke Hand streicht über den Rock, mehrmals, obwohl da nichts ist. Er starrt ihre Hand an, als erwarte er, hypnotisiert zu werden.

»Also?«

»Also was?«

»Also, wie alt?«

Das ist es nicht wert, der Widerstand, denkt er, die Kraft hat er nicht, er sollte besser haushalten.

»Fünfunddreißig.« Ein tiefes Seufzen, als wäre er von sich selbst enttäuscht.

Sie nickt, den Blick auf die unsichtbaren Vögel gerichtet.

Älter, als sie dachte. Sie hat gehofft, er wäre in Michaels Alter. Das tut sie immer, bei allen jüngeren Männern, immer denkt sie an Michael, auch wenn keine Ähnlichkeit vorhanden ist. Sie hatte ihn lange nicht gesehen – zwei Jahre lang nicht. Und dann kam der Unfall, und dann war es zu spät. Wie ist es dazu gekommen? Wie konnte es dazu kommen? Zwei Jahre! München war gar nicht so weit weg von ihnen. Theoretisch hätte er sie jedes Wochenende besuchen können. Er musste nicht ans Meer fahren, wenn er sich nach Wasser sehnte – sie hatten doch den See vor der Haustür. Den berühmten Starnberger See. Er musste nicht ans Meer fahren, um zu ertrinken. In der Fremde. Wenn es wenigstens ein französisches Meer gewesen wäre, das hätte sie noch verstehen können. Vielleicht. Michael war in Frankreich vernarrt, sie konnte seine Besessenheit nie nachvollziehen.

Und jetzt ist sie hier. Den Sohn verloren, Frankreich gewonnen. Sie könnte schreien – aber Brigitte Weichmann schreit nicht. Und auf Französisch zu schreien, das wäre eine völlig neue Sprache, so kommt ihr das vor. Fast ein Jahr ist sie schon unterwegs. Am Anfang … Nein, das ist vorbei, der Anfang ist vorbei. Beide Anfänge sind vorbei. Wie schnell das manchmal geht. Und manchmal kommt es einem endlos vor. Und dann ist es doch vorbei. Und das ist gut so. Sie glaubt fest daran. Meistens.

Brigitte zwingt sich, den jungen Mann anzusehen. Jus de cassis. Das muss sie sich merken. Sie starrt ihn fast an. Nicht weil sie auf Ablenkungen steht, nein, lediglich weil sie ein ehrlicher Mensch ist. So ehrlich, dass es wehtut, dass es allen wehtut. Aber sie glaubt daran, an die Ehrlichkeit. Und höflich ist sie auch. Und er sitzt ihr hier gegenüber. Jung, aber nicht genug. Fünfunddreißig. Immer noch jung, schon alt genug. Und Michael ist gar nicht ertrunken. Es war ein Unfall. Er hat sich an einem Felsen den Schädel zu Brei zerschlagen, hat sich alle Knochen gebrochen. So hat man ihr berichtet. Sie weiß es nicht. Sie war nicht dabei. Sie war seit beschämend vielen Jahren nicht dabei, bei nichts, was Michael gemacht hat. Das hat sie Hans gesagt. Ein Fremder war er, sie kannten ihn nicht, nicht mehr, überhaupt nicht. Hans meinte, das stimme nicht, aber er wusste es im Grunde auch. Sie hatten ihren Sohn schon Jahre vor dem Unfall verloren. Warum ist sie damals nicht auf die Suche nach ihm gegangen? Warum jetzt erst – wo sie ihn nicht mehr finden kann? Kann man überhaupt etwas finden? Und warum kann sie sich dennoch nicht schämen? Die Zeit war nicht ihre Freundin. Und Michaels auch nicht und Hans’ auch nicht. Vielleicht liegt es in der Familie. Vielleicht liegt es an der Zeit selbst. Vielleicht ist das eine geschlossene Gesellschaft, und vielleicht hilft da kein Geld, und Beziehungen helfen auch nicht. Und vielleicht sind Tränen alles, was bleibt, aber das glaubt sie nicht. Um sicherzugehen, müsste sie Hans fragen.

Der erste Gedanke ist: »Wer ist denn Hans?« Sie denkt ihn auf Französisch. Mais qui est Hans? H spricht sie zwar nicht aus, aber dennoch ist sie keine Französin. Ein Jahr ist eine lange Zeit. Oder auch nicht. Manchmal scheint es, als gäbe es gar keine Zeit, was natürlich Unsinn ist. Keine Zeit! Von wegen. Manchmal ergeben Gedanken, erste oder nicht, keinen Sinn. Manchmal ist das Leben so einfach, wenn auch verstörend.

Und wenn man blind für das eigene Spiegelbild wird, was dann?

»Und Sie?«

Brigitte sieht den Mann ihr gegenüber abwesend an. Sie träumt nicht. Seit Michaels Tod träumt sie nicht mehr. In keinem Zustand. Und sie weiß ganz genau, dass dieser Mann keine Antworten für sie hat. Weder zu Hans noch zum Leben noch zu der Zeit. Von Michael gar nicht zu sprechen.

»Wie bitte?«

»Wie alt sind Sie?«

Doch, seine Stimme ist herausfordernd, amüsiert und herausfordernd. Oder liegt es einfach an der Sprache? Als wäre das wichtig! Und was geht sie das an?

»Achtundvierzig.«

Sie trinkt einen Schluck, der Kaffee ist schon kalt, sie bestellt noch einen.

»Sie sehen jünger aus.«

Nein, er kokettiert nicht, er ist aufrichtig überrascht. Als wäre das von Bedeutung! Sie hat nicht vor, sich zu bedanken. Es ist nicht sein Verdienst. Es ist nicht ihr Verdienst. Sie wünscht sich oft, sie wäre tot. Sehr oft, manchmal mehrmals am Tag. Als wäre der Wunsch nichts Besonderes. Als wäre er ihre Nahrung, ein Mahlzeitersatz. Sie wendet den Blick von ihm, sucht nach den Vögeln, die währenddessen durch andere, größere ersetzt worden sind. Man sagt, jeder ist ersetzbar, niemand ist unersetzlich, sagt man. Wenn er ihr wenigstens die zwei Antworten geben könnte! Zur Zeit, zu den Tränen. So schwierig sollte das nicht sein.

»Ich muss bald gehen. Die Arbeit ruft.«

Er lächelt, und sie hofft, es ist eine schöne Arbeit, etwas, das ihm große Freude macht. Das überrascht sie, denn Freude hat noch nie eine Rolle in ihrem Leben gespielt. Pflicht. Das ja. Pflicht und Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber. Der Familie. Der Tradition. Es Scheiße zu nennen, dazu ist sie noch nicht bereit. Aber merde, das könnte sie sagen, das ist einfach ein Wort, ein Wort, kein Gefühl. Kein Verbot. Keine Erziehungsfrage. Einfach ein beliebiges Wort. Die Sprache ist schon ein Wunder, man fühlt sich anders in einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist: freier, freier und reicher.

Bis man sich erinnert, dass der Sohn tot ist. Mort.

Mort oder tot oder verunglückt oder gestorben. Egal.

Er verlangt die Rechnung. Brigitte lässt ihn machen. Denn sie hat Geld, und in ihrer, einige sagen »verdrehten« Logik, heißt das: Wenn sie kann – muss sie nicht. Ihr Mann ist vermögend, also ist sie es auch. Das hat sie vor vielen, vielen Jahren so beschlossen. Bis dass der Tod uns scheidet. Die Frage ist nur, wessen Tod.

Hans scheint so weit weg zu sein, auch er könnte tot sein.

Hans, dem sie plötzlich sein H gestohlen hat.

Hans. Natürlich erinnert sie sich an ihn. Hans war ihr Mann. Dass er das immer noch ist, das kann sie nicht mit Überzeugung behaupten. Michaels Vater, Vater und Erzeuger, das weiß sie mit absoluter Sicherheit. Es hat immer nur Hans gegeben. So ist das in ihrer Welt. Das Geld hat daran nichts geändert. Und jetzt ist Hans vielleicht auch tot, und sie weiß es nicht, und wer weiß, wann und ob überhaupt sie es erfahren wird. Wie sollte man sie finden können? Keiner weiß, dass sie das Land verlassen hat. Also wie? Über eine Anzeige oder eine Suchmeldung im Radio. Ja, wenn sie nur Zeitungen lesen würde, deutsche oder französische! Und Radio hat sie noch nie gemocht, zu viel Musik, zu viel Ablenkung. Das weiß Hans. Oder hat er alles vergessen? Aber wenn er tot sein sollte, macht das sowieso keinen Unterschied.

Die Gedanken ein Wald.

Ein Wald am See. Am Wasser, am tiefen Wasser.

»Ich habe eine kleine Buchhandlung, hier in der Nähe.«

Sie hätte nie gedacht, dass sie sich so darin verlieren, sich selbst abhandenkommen könnte!

Er ist schon aufgestanden, hat seinen Geldbeutel bereits in die Hosentasche gesteckt. Da ist etwas in seinem Blick, Brigitte kann es nicht deuten, das konnte sie nie, sie behauptet sogar, dass es unmöglich ist, die Blicke anderer Menschen zu verstehen. Sie fragt immer nach, sie will sichergehen, sie ist eine Frau der Klarheit. Als gäbe es so etwas überhaupt! Klarheit, von wegen!

»Kann ich mitkommen?«, fragt sie, als würde man das von ihr erwarten, als würde dieser Mann das von ihr erwarten.

»Lesen Sie gern?«, fragt er zurück mit der Zuversicht, die Antwort zu kennen.

»Nein, ich lese nicht«, gesteht sie ohne Reue, unwillig, ihm etwas vorzumachen.

Er ist verwirrt, das sieht sie. Er macht eine Geste, unterbricht diese aber, gibt auf.

»Kann ich trotzdem mitkommen?«

Als wäre eine Buchhandlung, seine Buchhandlung, ein Ort der Antworten. Andererseits hat sie es noch nie probiert.

»Also, kann ich?«

Vergessen ist die Antiquitätenmesse. Es gibt solche und solche Spiegel. Und dann gibt es Spiegelbilder. Und plötzlich denkt sie, dass diese nichts mit einem Spiegel zu tun haben müssen.

Er zuckt mit den Schultern und verlässt den Tisch, langsam, nicht wütend, sie kann ihn mühelos einholen. Schweigend lässt sie sich von ihm führen, wieder einmal. Und schon sind sie da, es sind nicht viele Schritte – hundertachtundfünfzig, um genau zu sein, sie zählt mit –, sie kennt den Weg, die Gegend, fünf Tage sind eine lange Zeit für eine nicht allzu große Stadt – und ihr Hotel liegt um die Ecke.

Er schließt die Tür auf, dreht das »Geschlossen«-Schild um. Überall Bücher, keine Leerstellen. Ein kleiner Arbeitsbereich mit Computer und Kasse. Am Fenster eine winzige Leseecke.

Brigitte weiß, dass sie etwas sagen sollte, aber ihr fällt nichts ein. Außer Banalitäten. Bücher sind nicht ihr Ding. Bücher sind Michaels Ding. Waren. Ja. Nach einem Jahr, immer noch, dreht sich alles um ihn. Sie schafft es nicht, von ihm in der Vergangenheit zu denken.

»Ich liebe alte Filme, alte Musicals.« Das muss reichen. Ihr Leben ist nicht leer. Ganz im Gegenteil, erst die Musik macht das Leben lebenswert, sagt man.

Und Möbel. Möbel sind die Beständigkeit der Welt, von Brigittes Welt.

Sie setzt sich auf die Bank in die Ecke, die offensichtlich für Kinder gedacht ist. Christian macht den Computer an, tut so, als wäre sie gar nicht da. Ein Stapel Bücher wartet auf dem Tisch darauf, sortiert zu werden. Oder verschickt. Was weiß sie schon vom Buchgeschäft!

Dann entdeckt sie ein Regal mit CDs. Hörbücher, denkt sie und steht auf, geht darauf zu, als würde sie Bücher zwar nicht lesen, aber hören, ja sicher, pausenlos! Dass es dann doch Musik-CDs sind, überrascht sie. Sie sucht Christians Blick, hebt die Augenbrauen.

»Jedes Buch braucht seine Musik«, sagt er ganz selbstverständlich, und Brigitte ist erleichtert, sie ist sich sicher: Seine Arbeit ist sein Leben. Vielleicht nicht ganz so theatralisch, aber beinahe. Das freut sie. Sie wünscht ihm nur das Beste. Er ist nicht Michael und wird es nie sein oder werden, aber sie wünscht ihm ein wunderbares Leben. Und wenn sie eine Heulsuse wäre, dann würde sie jetzt … Aber nein.

Und theatralisch sein zu können, zu dürfen, wenn auch nur manchmal, das tut gut. Das bringt Michael näher. Fast könnte sie ihn … Aber nur fast. Mon fils.

Die Tür geht auf, eine junge Frau tritt ein. Sie hat große Augen, die niemanden außer Christian sehen. Brigitte kann nicht einmal schmunzeln. Sie glättet ihren Rock.

»Ich gehe dann, danke schön.«

An der Tür dreht sie sich um, trifft auf seinen Blick, er lächelt. Brigitte lächelt nicht zurück, das lenkt ab.

Sie verlässt den Laden mit dem Gefühl, ein Geheimnis mit diesem jungen Mann zu teilen. Lächerlich.

Im Hotel wird sie gleich nach der nächsten Stadt suchen.

2.

Das Telefon klingelt ununterbrochen, Christian versucht Ruhe zu bewahren. Er geht nicht ran. Er weiß, wer es ist. Er kümmert sich um seine Bücher. Bücher. Wenn es sie nicht gäbe! Lange, lange Zeit war er überzeugt, es gebe nichts anderes auf der Welt als Bücher, und nichts anderes könne einen glücklich machen, so glücklich machen. Ein Buch, ein Leben, eine Welt. Zwei, drei Jahre lang, als seine Stimme brach, dachte er dann, der Sex sei die Spitze jeder männlichen Existenz, aber das ging vorbei und wurde zu einem angenehmen Zeitvertreib, mal wie ein Glas Wein, manchmal wie Sekt, manchmal sogar wie Champagner – aber immer nur eine Nebensache.

Doch ein Buch!

Vor drei Jahren hat er sich für eine eigene Buchhandlung entschieden, was hitzige Diskussionen in der Familie entfachte. Dabei ging sie das gar nichts an! Sie waren nicht einmal beleidigt, als er ihnen das ins Gesicht sagte, sie haben einfach weitergeredet, sich gestritten, haben gar nicht mitbekommen, dass er gegangen war – und zwar nicht einmal leise. Aber das ist die Familie. Seine Familie. Es gibt auch normale, hat er gehört, aber das Glück hat er nicht.

Von der Straße drängt sich ein schrilles Lachen zu ihm herein, für einen Augenblick denkt er, sie ist es. So viel Angst, so viel Hoffnung. Erbärmlich, einfach erbärmlich.

Doch die Buchhandlung!

Seine Buchhandlung. Die-deren-Name-und-so-weiter hat das verstanden. Sie hatte nicht viel von ihm begriffen, hat ihn nie erfasst, aber das hat sie verstanden und ihn mit einem Lächeln wortlos unterstützt – und nach ihrer Flasche gegriffen.

Seine Buchhandlung. Seine Nabelschnur zum Leben, hat seine Mutter gesagt und ein wenig geweint.

Seine Buchhandlung, seine Regeln: Er verkauft nicht alle Bücher. Die Bücher oder Autoren, die er nicht mag, aus welchem Grund auch immer, werden nicht einmal bestellt. Das sei ja Wahnsinn, hat sein Vater geschrien, so führe man kein Geschäft. Aber Christian weiß es besser. Er will nur das weitergeben, was er selbst liebt, Bestsellerlisten hin oder her, preisgekrönt oder nicht – er entscheidet, und nur er allein. Wenn er dann im Laden steht, ist er ausschließlich von Freunden umgeben, von Liebe, Zuneigung, schönen Worten, Geschichten, die ein Licht in sich tragen, von interessanten Gesichtern, die das Leben lieben. Keine Möchtegerns, keine Pseudointellektuellen, keine Egomanen – die können sich irgendwo anders wichtigmachen, nicht bei ihm, nicht auf seinen Regalen.

Seine Buchhandlung. Und als eines Tages die-deren-Name-und-soweiter ihn fragte, warum er immer Musik beim Lesen höre, war alles vollkommen klar: Jedes Buch habe eine passende Musik, trage sie in sich, man müsse sie nur finden, ihr lauschen, sie erkennen. So sind auch CDs in seinen Laden gekommen, und selten verlässt ein Buchkäufer Christians Buchhandlung ohne die das Buch am einfühlsamsten unterstützende Musik. Daher auch der Name Livres en concert. Am Anfang waren seine Kunden skeptisch, trauten sich nicht; es sei doch kein Bungeesprung, hat Christian gescherzt und CDs verschenkt wie andere Leseproben. Sie sollten einfach mal reinhören, ermutigte er sie, Worte würden stärker und Charaktere tiefer und Emotionen! ja, die Emotionen würden sie durchfluten, versprach er seinen Buchliebhabern. Wie die Fantasien beim Sex, flüsterte er einem älteren Mann ins Ohr, und der grinste über das ganze Gesicht und kaufte noch zwei Bücher – und dazu einmal Tschaikowsky und einmal Miles Davis. »Ich kann beim Lesen keine Musik hören«, hat eine Studentin gesagt. »Die Lieder lenken mich ab, ich fange an, auf den Text zu achten oder mitzusingen, und das war es dann mit dem Lesen!« Christian hat gönnerhaft gelacht. Klar, so gehe es ihm auch, meinte er, und deswegen habe er nur Instrumentalmusik zu bieten, reine Musik, himmlische Musik, die das Buch wachküsst und zum Tanz auffordert, jungfräuliche Noten, die sich als Buchstaben verkleiden, sodass sich nicht nur die Augen sattsehen können, auch die Ohren fühlen sich beglückt und befriedigt. Die Studentin lachte verlegen, wurde sogar rot im Gesicht und verließ den Laden mit zwei Büchern und einem Mozart. Aber dann, vor sechs Monaten. Seitdem verzichtet er auf Musik, auf das, was er seine Musik nennt, hört sie nicht mehr, kann nicht – verkauft sie nur noch.

Seine Buchhandlung. Sein gelebter Traum. Und das Geschäft läuft gut, noch nicht so, wie er sich das wünscht, aber besser, als die Optimisten in seiner Familie es befürchtet haben. Für das Zimmer in seiner neuen, noch gewöhnungsbedürftigen Wohngemeinschaft, für die Nebenkosten und den Laden reicht es. Und hungern wird er auch nie müssen, wenn er jeden Tag der Woche bei einem anderen Familienmitglied isst. Was er seit sechs Monaten tatsächlich tut. Aber nicht aus finanziellen Gründen, nein. Vor sechs Monaten, als … Nein. Da will er nicht hin.

Das Telefon klingelt, wieder einmal, und Christian bedankt sich diesmal beim Schöpfer für die Ablenkung.

Nicht ohne die Hoffnung, dass dies der Anruf ist, auf den er seit Wochen wartet.