2136 - Tino Hemmann - E-Book

2136 E-Book

Tino Hemmann

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2136. Seit einhundertzwanzig Jahren tobt auf der Erde der Dritte Weltkrieg. Krieg und entsetzliche Umweltkatastrophen dezimieren die Weltbevölkerung auf wenige Überlebende. Kontinente sind unbewohnbar, Waffenressourcen erschöpft. Dennoch stellen Die Zehn – so bezeichnen sich die Regenten der Europäisch Demokratischen Republik – eine Kinderarmee gegen das Großkalifat Islamisches Morgenland auf. Die jungen Krieger werden von der Regierung auf Schiereiland auf zwei Arten rekrutiert: Sie züchtet die makellosen »Educares« und lässt die kleinen »Räudiger« in den Enklaven der Abtrünnigen einfangen. Gemeinsam und zum Hassen erzogen werden die acht- bis zwölfjährigen Jungen in gewaltigen Rotten für den Bodenkampf gedrillt. Mit zwölf Jahren wird man sie an der Demarkationslinie stationieren und mit vierzehn in den Krieg schicken. Es kommt jedoch der Moment, da vier der Kinder aus ihrer Rotte flüchten, um einen Krieg zu beenden, der in Wahrheit ein Moor aus Lügen ist.

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TINO HEMMANN

2136

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Auszüge aus »Против беды, против войны« von

Lev Ivanovich Oshanin

Umschlagfotografien:

(vorn) Soldiers © Luis Louro – Fotolia

(hinten) Hope © Luis Louro – Fotolia

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Lektorat: Birgit Rentz

www.fehlerjägerin.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Alle Rechte bei Tino Hemmann

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Spund Simo

Juli, ein Educares?

Neumoskau: Angriff der Spunde

Freund Räudiger Paul

Der Educares Mark

Neumoskau: Paulchen gejagt

Die Mutterschlange

Der Todesfluss

Paul und die Abtrünnigen

Absonderlicher Chauvinistenzwerg

Tramper

Morgenlanderwachen

Wenn Tränenwasser versiegt

Die Kollegialen

Rückkehr zur Rotte

Der Kriegsrat

Im Noviregnum in Neuberlin

Schiereiland

Neumoskau: Jonathans Suche

Praescius’ letzte Befehle

Krieg

Jonathan auf Schiereiland

Die Schlacht um Neuberlin

Das Ende des Dritten Weltkrieges

21. August 2137 – Erstes Nachwort

7. November 2016 – Zweites Nachwort

Über den Autor

Spund Simo

Charta der Europäisch Demokratischen Republik:

Passus 1

Privilegierten Beamten und Staatseigenen der EDR sind Kirchtum, Glauben, Sektentum und nichteuropäische Vermehrung unter Androhung der Glättung untersagt.

Das alles hier geschieht im Jahr 2136 der Zeitrechnung. Es herrscht Sommer in Europa.

Die Python stand breitbeinig auf dem erhöhten Podest vor der Jungrotte, betrachtete skeptisch die weit über fünfhundert Jungen. Diese knieten in einheitlichen Abständen auf dem harten, kühlen Beton unter ihr, mit identisch verschränkten Armen, die vielfach ängstlichen Blicke auf die Rottenführerin gerichtet. Das derb wirkende Gesicht der Frau glich dem einer altertümlichen, grob in Stein gemeißelten Sphinx, die strähnigen Haare trug sie kurz, als wollte die Python einen männlichen Führer darstellen.

Gefühlsleere und eisige Kälte drang durch die bröselnden Betonplatten des Exerziertunnels. Die Rottenführerin trug eine eng anliegende, schwarz-weiß gestreifte Uniform. Dadurch wirkte ihr Körper fast wie ein Skelett. Die Uniform bestand aus einem stellenweise durchschusssicheren Lederimitat, der Helm hing in ihrem Nacken und würde im Notfall in Sekundenschnelle ihren Kopf umschließen können.

Die geschundenen Körper der acht- bis zwölfjährigen Jungen hingegen wurden durch sogenannte »Shortshirts« bedeckt, graue Latzhosen aus einfachstem, dünnem Stoff mit eingearbeiteten Schulterträgern und Fußhüllen. Lediglich die Spundgruppenführer, die jeweils ganz vorn links in den Gruppen zu knien hatten, trugen zusätzlich eine graue Schirmmütze – fast unnütz und nur dazu gedacht, sie von den untergebenen Spunden zu unterscheiden.

»Python endlos faseln«, hauchte Simo, der in seiner Gruppe in der dritten Reihe an fünfter Stelle kniete, ohne dass sich Mund oder Augen bewegten und ohne dass es jemand hören sollte.

In der Rotte hieß Simo »17-Spund-Simo«. Er war blond und dürr – jede einzelne seiner Rippen war auch unter den Shortshirts deutlich zu erkennen – und viel zu kurz geraten. Wahrscheinlich war der Kleine neun Jahre alt – niemand wusste das genau. Jedenfalls war Simo ein Räudiger, gefangen in den nördlichen Wäldern zwischen dem großen Bodden und der Ostsee. Er wirkte ganz anders als die Educares, wie 16-Spund-Levi links oder 18-Spund-Flor rechts neben ihm im dritten Zweig der Elia-Gruppe. Educares waren die gezüchteten Spunde der Europäisch Demokratischen Republik (EDR). Deren Körper waren meist kräftig gewachsen und sie wirkten größer. In der »Spundzucht« ließen die Demokraten im Nordwesten der EDR auf der Halbinsel Schiereiland die Educares züchten, die im Alter von acht Jahren auf die Rotten aufgeteilt wurden.

Räudiger hingegen waren einst Wilde gewesen. Sie wuchsen mit oder ohne Angehörige und unüberwacht in der Kargheit jenseits der geschützten Städte auf und gehörten zur Brut der Abtrünnigen. Wurden sie während einer Treibjagd gefangen, brachte man die kleinen männlichen Exemplare zunächst zum Chippen in die »Beutemast« auf Schiereiland und erst später, so auch sie das achte Lebensjahr erreicht hatten, zur Abrichtung in die südlichen Rottenquartiere der EDR. Fast alle anderen Abtrünnigen, die nicht in das Schema der Rotten passten, wurden während der Treibjagden umgebracht.

Die Rottenführer schienen allesamt Weiber zu sein. Sie gaben ihrer jeweiligen Rotte den Namen. Oder wurden die Weiber nach der Rotte benannt? Simo wusste von einer Boa- und einer Viperrotte. Ihn aber hatte man in die Pythonrotte gesteckt. Er hasste die Rottenführerin Python. Er verachtete auch 01-Spundgruppenführer-Elia. Er hasste alle Educares, verabscheute die Rottenausbildung und das ganze System. Elia, die Nummer 01 seiner Gruppe, war selbstverständlich auch ein Educares. Alle Gruppenführer waren Educares! Die Gene, die Elia erschaffen hatten, waren kontrolliert rein und ausgezeichnet, sein Körper schien extrem kräftig, widerstandsfähig, mit angeblich stählernen Knochen und voller Muskeln, sein Haar leuchtete hell und rötlich schimmernd. Obwohl Elia etwas jünger war als der schmächtige Simo, überragte er diesen um eine deutliche Kopflänge. Der Gruppenführer trug die Schirmmütze und das GMG-40, ein Gehirn-Manipulations-Gerät. Simo hatte Elias Finger genau beobachtet.

Das GMG war ein flaches Gerät, das an einer Leitung an Elias Gürtel baumelte. Im oberen Bereich besaß es drei Sensortasten, mit denen die Strafeffektivität eingestellt wurde. Darunter waren sieben Reihen mit je sechs Tasten, durchnummeriert von 02 bis 43. Taste 17 gehörte zu Simo und eine Taste 01 gab es nicht. Warum auch sollte sich Elia selbst bestrafen? Hatte Elia etwas an Simos Verhalten auszusetzen, stellte er oben die Art der Bestrafung ein und drückte die Taste 17. Wie auch immer es Elia gefiel, drückte er entweder kurz oder aber lang darauf. Der Chip in Simos Rückenmark sorgte für einen quälenden Schmerz in seinem ausgemergelten Körper. Nasenbluten oder eine Ohnmacht konnten folgen. Eine bestimmte Einstellung des GMG-40 würde sogar zum Tod des zu bestrafenden Spundes führen.

Die Python besaß ebenfalls ein GMG, aber ein ganz anderes, ein größeres, mit viel mehr Tasten. Sie konnte auch die Spundgruppenführer bestrafen, ebenso wie eine ganze Gruppe, oder gar die komplette Rotte gleichzeitig ausschalten.

34-Spund-Paul, einer aus Simos Gruppe, hatte einst berichtet, er hätte mit eigenen Augen gesehen, dass eine Spundgruppe tot umgefallen sei, nachdem es eine verbale Auseinandersetzung mit der Python gegeben hätte. Es sei vor Simos Zeit in der Rotte gewesen. »Paul das nicht erdichten«, hatte der elfjährige Räudiger versichert. »Python g’glättet 48 Spunds, glaubt’s, in erbärmlichem Augenblick.«

Mädchen gab es in der Rotte jedenfalls keine. Wenn überhaupt, dann gab es hier nur das eine erwachsene Weib, die Python. Einen richtigen Mann hatte Simo nie wieder zu Gesicht bekommen, seit Jahren nicht. Der letzte, den er gesehen hatte, war jener Mann gewesen, den er »Papa« genannt hatte, dessen Gesicht in Simos Träumen jedoch mehr und mehr verblasste.

Mit dem Begriff »Glätten« synonymisierten die Demokraten das Neutralisieren, das Töten, das Vernichten auf dem Territorium der EDR. Redeten sie aber vom Feind, dann nannten sie es »Schlachten«. Die aufgezwungene Sprache Der Zehn verharmloste viele böse Dinge. Statt »Kindsoldat« sagten sie »Spund«, statt »töten« »glätten«, statt »quälen« und »erniedrigen« sagten sie »befähigen«.

Die Räudiger und die Educares sprachen in sehr unterschiedlichen Dialekten. Das hatte seinen Grund. Educares erfuhren eine Ausbildung, die Räudiger nicht. Die künstlich erschaffenen Educares wurden im ersten Lebensjahr als »Spundbrut« und anschließend als »Klitzespund« bezeichnet. Während ihrer Kindheit und in den Rotten wurde ihnen ein Grundlagenwissen beigebracht, das mit den Lehren und Anschauungen der Regenten der Europäisch Demokratischen Republik durchsetzt war. Die Räudiger hingegen lernten nur die wortkarge Sprache der Abtrünnigen. Selbst die jüngsten gefangenen Räudiger wurden nicht unterrichtet. Einzige Ausnahme war die militärische Grundausbildung. Allseits galten die Spunde der Abtrünnigen als minderwertige Menschen und man ließ es sie deutlich spüren. Räudiger besaßen keine Rechte und jede Führungsposition in den Rotten wurde stets aus den Reihen der Educares besetzt.

Innerhalb der Rotten existierten zwei unterschiedliche Ausbildungslinien, die großen Einfluss auf die Außenausbildung ausübten. So entstanden Spundschützen, die mit ihren kleinen Gewehren umzugehen lernten, oder Spundspione, die dazu befähigt wurden, sich in der fast menschenleeren Umgebung Europas und des Morgenlandes zurechtzufinden und die Spundschützen zu ihren Zielen zu führen.

Erst mit zwölf Jahren wurden die Jungen als »Jungspunde« bezeichnet und verließen die Rotten. Dann kamen sie in militärische Ausbildungslager, die an der südlichen Grenze gelegen waren. So hieß es zumindest. In der Rotte wurde viel über die Zeit »danach« gefachsimpelt und die Ansprachen der Python schürten all die Vorstellungen und Träume der kleinen Krieger, von denen sich einige immens darauf freuten und es kaum abwarten konnten, die Armeen des Morgenlandes schlachten zu können.

Die Educares wurden bereits gechippt, wenn die Zucht den Eingriff in die Brut zuließ. So konnten die Scanner sie von Beginn an unterscheiden. Viele der Educares sahen sich recht ähnlich, denn die künstliche Aufzucht erfolgte oft in genetisch identischen Gruppen.

Die Räudiger, von den Fängern als »Beute« bezeichnet, chippte man meist unmittelbar nach dem Fang. Da sie meist schon einige Jahre alt waren und das Chippen, das durch einen Med-Roboter durchgeführt wurde, ohne Betäubung erfolgen musste, da sonst die Gefahr bestand, dass das Rückenmark den Fremdkörper abstieß, war es für die Räudiger ein unglaublich schmerzlicher Vorgang. Simo erinnerte sich nur sehr ungern daran, denn es waren üble Sturzbäche von Tränenwasser gewesen, die tagelang aus seinen Augen geflossen waren, bis der Kopf völlig geleert schien.

Die Beutemast auf Schiereiland bestand aus Ställen, in denen jeweils zwanzig Räudiger untergebracht werden konnten. Die Aufsicht führten einige Frauen, sogenannte »Instrukteurinnen«.

Ernährt wurden die kleinen Räudiger mit der Pampe, einem merkwürdigen Brei in einer klebrigen Substanz, die Simo sehr oft den Mageninhalt ungewollt entleeren ließ. Diese wurde auch den Spunden in den Rotten verabreicht.

Die Chips überwachten ihren Spund zu jeder Zeit – alles, was die Jungen taten, wurde ausgewertet, ebenso wie Kraft und Ausdauer, der Zustand ihrer Organe sowie die Zuverlässigkeit des Gehirns. Durch die Bewegungsenergie des jeweiligen Trägers wurden die Chips energetisch versorgt. Über das GMG der Rottenführerin schickten sie sämtliche Daten zu einem System namens Praescius, dem Datenverarbeitungssystem und Hauptspeicher der Europäisch Demokratischen Republik, wo sie gesammelt und ausgewertet werden konnten. Direkt im Chip verblieben lediglich die unmittelbaren Daten zum Spund selbst. Starb ein Spund bei einem Unfall, an einer Krankheit oder durch eine Verletzung oder wurde er geglättet, so löschten sich seine Praescius-Daten automatisch, ebenso wenn ein Chip zur Wiederverwendung entfernt wurde oder wenn seine Energie erschöpft war. Praescius übermittelte sein Feedback an das GMG der Führerin und an den Chip des Trägers. Allerdings wandelte Praescius alle Informationen in ein leicht verständliches Prozentsystem um, welches die Demokraten »Güte« nannten. So war Güte 100 die höchste erreichbare Stufe. Bei 0 Prozent war der Träger tot, unter Güte 10 unbrauchbar, wobei auch hier Unterschiede zwischen Räudigern und Educares gemacht wurden. Erkrankte ein Räudiger schwer und sank dadurch seine Güte unter einen Wert von 10, dann wurde er fast immer geglättet, damit medizinische Versorgungskosten gespart wurden. Die Educares weinten ihm meist keine Träne nach. Geschah selbiges mit einem erkrankten Educares, so wurde er zunächst in die kleine Medizinische Überwachungsstation (MÜS) im Zentrum des Rottenkomplexes gebracht, in der es einen medizinischen Apparat gab. Educares ließ man seltener sterben.

Simo sagte eines Tages zu Paul: »Erschwingliche Energiezellen der Demokraten wir sind.«

Und Paul flüsterte zustimmend: »Yäh. Wenn leer, dann sich vom Hals schaffen sie uns.«

Einen Moment lang überlegte Simo. »Weißt, 34, auseinanderstromern müssen Chip und Spund«, sagte er schließlich.

Die Spunde redeten sich innerhalb der Rotte meist mit der laufenden Nummer der Gruppe und nur selten mit dem Vierletter an. Nummer, Rang und Vierletter waren die Bestandteile der Namen in der EDR, hinzu kam ein genetischer Code, den der Chip automatisch er- und mit jeder Information übermittelte, sodass Verwechslungen ausgeschlossen waren. Die Vierletter waren einst aus vor dem Dritten Weltkrieg tatsächlich genutzten Vornamen gebildet worden. Da sie allzeit aus vier Buchstaben bestanden, passten sie gut in das schlichte System. Räudiger konnten mitunter einen Teil ihres alten Namens behalten, so er bekannt war, die Educares erhielten ihren Vierletter über ein Zufallsprinzip.

»Meinst ernst auseinanderstromern?« Paul, dessen Haut deutlich dunkler war als die aller anderen und der wie ein Morgenländer ausschaute, schüttelte heftig den Kopf. »Geht nur im Tod, 17. Nur im Tod. Yäh. Verdrusseln du wohl 31? Zutrauen mir. Auseinanderstromern Chip und Spund nur im Tod. Ist Nötigung von denen der EDR.«

Pauls Name war erhalten geblieben. Paul erklärte Simo, er heiße seit seiner Geburt Paul, schon damals, in der Abtrünnigen-Stadt, deren Namen er vergessen habe, weit im Osten des Kontinents. Der dunkle Junge kannte sogar noch den Namen seines Vaters, nur den der Mutter hatte er vergessen. Pauls Vater hieß Jonathan. Und manchmal erzählte Paul, dass Jonathan lebte und nach Paul suchte.

Simo wünschte sich, er würde seines Vaters Namen noch wissen.

*

Der Kleine erinnerte sich an Vergangenes. Zwar hatte Simo längst den Vierletter der einstigen Nummer 31 der Elia-Gruppe vergessen, doch 31, ein Räudiger wie er, war an die zwölf Jahre alt geworden und hätte es fast geschafft, die Pythonrotte endlich verlassen zu können. Dann aber hatte 31 das Skalpell ertauscht und einen Räudigerfreund gebeten, ihm den Rücken aufzuschneiden, um den Chip zu finden und zu entfernen. Der tat ihm den Gefallen, denn wäre die Operation gelungen, wäre 31 unsichtbar gewesen und hätte problemlos fliehen können – Zäune oder Fallen gab es nirgends. Über Montgolfière erfolgte jedoch ohne Zeitverzug die Meldung an Praescius, ein Chip verlasse den Sektor der Pythonrotte.

Es kam schlimm – sehr schlimm! –, denn Nummer 31 war durch den unautorisierten Eingriff ins Rückenmark ganz plötzlich komplett gelähmt, der Chip zudem mit ihm verwachsen. 01-Spundgruppenführer-Elia erhielt Botschaft von Praescius, dass die Güte von 31 unter 5 gesunken sei und dass er 31 somit glätten dürfe. Also ging Elia zu dem auf dem Boden Liegenden, der mit schmerzerfüllten Augen zum Gruppenführer aufsah und flehte: »Bring um! Hilf, Elia, sei einz’ges Mal gnädig!«

Der Spundgruppenführer hielt das GMG in der Hand, stellte die Strafe ein, den Daumen auf Knopf 31, verzog dabei spitzbübisch den Mund und zeigte schließlich ein breites Grinsen. »Ich hätte wahrhaft nie gedacht, dass ich mal einem verpissten Räudiger einen Gefallen tun werde. Nie hätte ich das gedacht. Ich glaub fast, ich lass mir Zeit für dich, viel Zeit. Was ist, 31, wolltest wohl abhauen und deine liebe Rotte verlassen? Wolltest der EDR Gemeines tun oder was?« Er änderte die Einstellung am linken oberen Knopf auf »starke Schmerzen« und drückte Knopf 31. »Yäh! Nimm das hier! Tut’s gut, 31?«, fragte Elia mit bösartig ernstem Gesicht.

Andere Spunde waren hinzugekommen, starrten Elia an, doch kein einziger wagte einen Spruch.

Nur Simo flehte unter Tränen: »Lass bitte sein, 01!« Elia hörte Simos Worte nicht. Oder er wollte sie nicht hören.

Elia war wohlgewachsen, muskulös, reinlich und schön, wurde von der Rottenführerin geliebt, schien ein loyaler Verbündeter der Demokraten zu sein, war bösartig und die Räudiger bezeichneten ihn als »Ungut« – das ärgste Schimpfwort und die absolute Steigerung von »Bosheit«.

Immer wieder drückte Elia den Knopf. Doch 31 ließ nur die splitternden Zähne im blassen Gesicht sehen, das nicht schmerzverzerrter hätte sein können. Blut kroch ihm aus Mund und Nase, als würde sich sein Innerstes nach außen kehren. Der Eingriff ins Rückenmark hatte jegliches Kommunikationsvermögen des Jungen zerstört, nicht aber sein Schmerzempfinden. Er litt unter der Starre, der Lähmung seines gesamten Körpers, litt unter der völligen Wehrlosigkeit. 31 hasste den Spundgruppenführer so sehr! Mehr noch als die anderen Räudiger ihn hassten.

Dass 31 sich nicht beschweren konnte, das passte Elia aber so gar nicht. Mit zuckenden Mundwinkeln drückte er oben den mittleren Knopf und dann Knopf 31. Er schaute ganz genau hin, als wollte er es genießen, dass schon durch eine leichte Berührung des Knopfes das Leben von 31 gelöscht wurde. Zu Elias Enttäuschung änderte sich die Mimik von 31 jedoch nicht.

Aber Simo, dem verhasstes Tränenwasser über die Wangen floss, hatte längst erkannt, dass der Glanz in den Augen des Geglätteten zunächst matter wurde und dann völlig verschwand, dass sein Lebenslicht erlosch und die Pupillen bald regungslos waren.

»17! Yäh, du Heulkotz! Peinlicher Rattenschiss. Bring mir seinen Chip!«, brüllte der Spundgruppenführer eilig, als käme ihm die aufkeimende Stille unheimlich vor. Elias befehlende blaue Augen funkelten Simo an.

Simo starrte den blutigen, aufgeschlitzten Rücken von 31 an. Wie angewurzelt stand der Kleine da, zu keiner einzigen Bewegung fähig. Zwar hätte sich Simo in diesem Augenblick gern geregt, denn nichts wünschte er sich mehr, als dem 01 an den Hals zu springen und ihm die Gurgel zu zerquetschen, ihm jeden Knochen einzeln zu brechen, ihm mit den Fingern die Augenhöhlen zu entkernen und mit dem Skalpell, das neben 31 lag, seinen Stummel von einem Pisspimmel rauszuschneiden! Um diese Gedanken jedoch in die Tat umzusetzen, war Simo zu klein, zu schmächtig.

»Yäh! 17-Spund-Simo! Rattenschiss verfurzter, bring mir den Chip, sonst glätte ich dich auch noch, du peinlicher Räudiger!«, rief Elia in diesem Moment.

34-Spund-Paul stand unmittelbar hinter Simo und schien dessen hassende Gedanken zu hören. »Lass den Ungut«, hauchte er leise, sodass es nur Simos Ohren hören konnten. Er kniete sich neben 31, griff mit der bloßen Hand in dessen offenen Rücken und riss Chip, Fleisch und Gewebe heraus, als wüsste er, dass es 31 nicht mehr wehtun konnte. Rasch erhob sich Paul und drückte dem Spundgruppenführer überraschend heftig eine Handvoll blutigen Fleisches des Geglätteten gegen die Brust, sodass dieser einen Schritt rückwärts taumelte. »Geb dir Chip von 31, Runzelloser!«, fluchte Paul so laut, dass es alle mit anhören mussten. »Hast begehrt danach? So nimm’s g’fälligst! Bist eben mein g’feierter Führer, drum spend ich dir gern.«

Alle erkannten den abgrundtief hassenden Hohn in Pauls Worten.

Simos rechte Wange zuckte. Es war kein Lachen. Simo lachte nie. Das Shortshirt seines Gruppenführers war vom Blut nun völlig versaut und sah aus wie die Haut eines zerrissenen Tieres.

Regungslos stand Elia da. Das Gehirn-Manipulations-Gerät baumelte an seinem Gürtel, mit beiden Händen hielt er die Schlachtplatte, die Paul ihm überreicht hatte.

Simo entdeckte Angst in Elias zitternder Unterlippe. Der Hochmütige war blass im Gesicht – ebenso blass wie vor einigen Wochen, als Simo den Gruppenführer bei einer Außenübung beobachtet hatte. Damals hatte Elia Befehle von einem Hochstand im Wald erteilen müssen. Zitternd hatte er dort oben gestanden und sich mit weißen Händen besonders gut festgehalten, während Simo viel höher geklettert war, über dünne Zweige und Äste, um ein freies Schussfeld zu erreichen. Simo hatte das Klettern bis hinauf in höchste Baumwipfel vom Vater gelernt, denn so hatten sie sich früher oft vor den Treibern versteckt.

Mit seiner linken Sohle stand Simo auf dem Skalpell. Durch die Fußhülle spürte er einen brennenden Schnitt im Ballen des linken Fußes. Während Elia den Chip aus dem Fleischbatzen pulte und alle Eingeweide von 31 angewidert abzuschütteln versuchte, rief er: »34! Rattenschiss verfurzter, peinlicher Räudiger. Du bist der nächste Heischer für den mittleren Knopf. – Jetzt bring gefälligst dieses Stück Scheiße in den Todesschacht!«

Vor Paul, der Nummer 34, schien Elia Angst zu haben, denn Paul war über elf und ein unberechenbarer Räudiger, den Elia nur allzu gern geglättet hätte. Das aber tat der Gruppenführer nicht, denn er befürchtete die Rache anderer Räudiger. In den Nächten war Elia wehrlos, und das wusste er nur allzu gut.

Elia drehte ab und brachte den Chip zur Obrigkeit im zehnten Abschnitt, zu dem Spunde vom Gruppenführer aufwärts Zutritt hatten, vorausgesetzt, sie brachten einen besonderen Grund vor. Tote wurden in einem Schacht entsorgt, der angeblich weit über eintausend Meter in die Tiefe führte.

*

»Schließ dein Maul, Schwanzlutscher, verpisster«, flüsterte 16-Spund-Levi, ein Educares, der unmittelbar neben Simo kniete.

Der kleine Simo staunte. Hatte also doch einer sein »Python endlos faseln« vernommen. Levi war in Simos Alter, ein wohltuender Diener für 01-Spundgruppenführer-Elia, ein unberechenbarer Typ, der Simo so oft es ging verbal wehzutun versuchte.

Simo konterte mit gleicher Waffe: »Yäh, Retortenschiss! Schließ selbst ’s Maul!« »Retortenschiss« war sein absolutes Lieblingspseudonym für die Educares, steigerungsfähig mit dem Zusatz »schwanzloser« oder »runzelloser«.

Der Kleine hatte fast etwas zu laut gesprochen und blickte nun furchtsam zur Rottenführerin auf. Die Massenansammlung der gesamten Rotte gestattete ihm, eine große Klappe zu riskieren. Von 16 drohte im Moment keine Gefahr. Sie durften sich nicht bewegen, also fühlte der Kleine eine gewisse Sicherheit.

Die Python hatte zum Glück nichts gehört, stand noch immer breitbeinig auf ihrem Podest, hatte die Arme zu einer Siegerpose erhoben und schwatzte mit elektronisch verstärkter Stimme wie so oft heroische Worte. »… Der Dritte Weltkrieg, der nun seit einhundertzwanzig Jahren unser Tun und Sein beherrscht, wird schon bald zu unseren Gunsten entschieden sein!« Sie ließ die Arme fallen und forderte damit einen Applaus.

Im gleichen Augenblick schlugen sich die knienden Spunde mit den Handflächen im Takt auf die Oberschenkel. Simo kam das entgegen, denn so erwärmte sich sein frierender Körper ein wenig. Er lenkte sich ab, indem er die schroffen Felswände betrachtete. War die Höhle von Menschenhand geschaffen worden?

Noch einmal erhob die Rottenführerin die Hände. Sogleich herrschte Stille und alle Arme waren wieder verschränkt.

»Zwölf Spundgruppen gelang durch die Befähigung und im direkten Auftrag unserer populären Rottenmarschallin Domina Hero«, sie ließ erneut die Hände fallen, der Applaus erklang und verklang auf ihr Zeichen, »an den Ufern des Mittelmeeres ein heroischer Sieg über unseren Widersacher! Nachdem unsere Spundspione die gegnerischen Stellungen aufgeklärt hatten, konnten unsere Spundschützen weit über vierhundert garstige Büttel der Morgenlandarmee schlachten!«

Wieder folgte das Beifall-Ritual.

Wie an jedem Morgen fand die Python kein Ende, während sie von den heroischen und tapferen Taten europäischer Jungspunde berichtete.

Oft redeten Simo und Paul im Versteck über das Gefasel der Rottenführerin. Pauls leiblicher Vater Jonathan hatte dem Sohn vor langer Zeit von all den Lügen der EDR-Regenten berichtet, denn dessen Großvater hatte vor ewigen Zeiten den Beginn des Dritten Weltkrieges miterlebt und alles Mögliche dazu geschrieben und gespeichert. In den Weiten der russischen Ebenen, so meinte Paul, hielten sich viele Tausend ungechippte Menschen versteckt. Eines Tages würden sie die EDR-Sklavenhalter und -Mörder auslöschen. Paul hatte sein gesamtes Wissen an Simo weitergegeben, denn einem anderen vertraute er nicht. Nicht mal 06-Spund-Mich, einem Räudiger, der gerade erst acht geworden war und seitdem unter dem Schutz von Paul und Simo stand, weil die Educares Levi und Flor den Winzling zugrunde richten wollten.

*

Alles hatte damit begonnen, dass amerikanische, chinesische, englische, französische, australische und deutsche Truppen nach zahlreichen islamisch motivierten Anschlägen in deren Ländern zu einem gemeinsamen Schlag gegen die morgenländischen Märtyrer ausholten. Flächenbombardements auf dicht besiedelte islamische Städte sollten den Kampfeswillen der Andersgläubigen brechen. Die versprengten morgenländischen Armeen griffen nicht sofort an, sondern wurden im Nahen Osten zu einem gewaltigen Heer zusammengezogen. Gleichzeitig ließen unzählige Untergrundattentate die Kontinente Australien, Nordamerika und Europa brennen. Islamische Führer aus Pakistan, Afghanistan und anderen Ländern suchten den Ausweg nach Osten, andere wollten die Waffenbestände des kleinen israelischen Staates übernehmen. Es kam zu zahlreichen regionalen Kriegen und mehreren Ultimaten, die sich diverse Regierungen gegenseitig setzten, bestimmte Aggressionen sofort zu beenden. Kein Ultimatum wurde je eingehalten! Fast gleichzeitig detonierten pakistanische und israelische Atomsprengköpfe. Die einen in Millionenmetropolen Indiens und Chinas, die anderen in dicht besiedelten Regionen Nordafrikas und im Nahen Osten. Das schwer erschütterte China holte zu einem gewaltigen atomaren Gegenschlag aus.

Ein bedeutendes Land in Europa und Asien war Russland. Dessen Führung hielt lange still, wurde jedoch durch den Niedergang Chinas unter Druck gebracht und setzte atomar bewaffnete Truppen in südlicher Richtung in Bewegung. Das empfanden die Amerikaner als Bedrohung und sie stellten den Russen ein Ultimatum. Währenddessen brodelte es bereits zwischen Japan und Nordamerika. Die rechtsradikale japanische Regierung schlug überraschend hart zu, rächte sich am amerikanischen Volk für die atomare Schmach im Zweiten Weltkrieg. Das Abwehrsystem der Amerikaner versagte komplett, der größte Teil war ohnehin in Westeuropa installiert, um die Russen in Schach zu halten. Fast jede größere amerikanische Stadt wurde mit Atomsprengköpfen beschossen. Den Amerikanern reichte die verbleibende Zeit nur dazu, die eigenen Atomwaffen auf den tödlichen Weg zu bringen.

Weite Teile der Erde wurden unbewohnbar, doch keineswegs sorgte dies für ein Ende des Krieges, obwohl sich das gemeine Volk aller Länder ein Aufatmen wünschte.

Die islamischen Führer erbeuteten Atomwaffen in Israel und in den Mittelmeeranrainerstaaten und setzten Wochen später Australien ein Ultimatum, da die Australier noch immer vehement den Islam zu vernichten versuchten. Die Russische Armee hatte in der Zwischenzeit große Stücke Asiens gesichert, Russland, Japan und die westlichen europäischen Staaten schlossen einen Nichtangriffspakt. Quer durch Europa und Asien verlief eine beidseitig gesicherte Frontlinie. Im Süden schlossen sich zahlreiche Regierungen und Stammesfürsten zusammen. Sie gründeten das Großkalifat Islamisches Morgenland (IML).

Im sogenannten Känguru-Krieg, der nur vier Wochen andauerte, überfiel die Morgenlandarmee Australien und tötete dort mehr als 23 Millionen Menschen. Nur ein Prozent der Australier konnte sich retten.

In den darauf folgenden Monaten einer spannungsgeladenen Ruhe wurde vor allem die Rüstungsproduktion der gesamten Welt angekurbelt.

Dann erfolgte der Versuch eines weiteren Großangriffs der Europäer per Luftschlag auf das Gebiet der IML, der jedoch in einem unbeschreiblichen Fiasko endete, denn die Geschosse der Flug- und Raketenabwehrstellungen der neuen Morgenlandarmee (MLA) ließen kaum noch Platz zum Fliegen. Nach der Zerstörung vieler ihrer Bomber kam es zu einem atomaren Raketenangriff der Europäer und einem sofortigen gemeinsamen Gegenschlag aus dem Großkalifat IML und durch die Russen, die den Nichtangriffspakt mit dem westlichen Europa brachen. Mehrere europäische Großstädte wie Wien, Budapest, Bern, Berlin, Warschau, München oder Prag versanken in Schutt und Asche, ganze Landstriche wurden verseucht.

Rund um das Mittelmeer entfachte ein Bodenkampf, der im Laufe der Jahre mehr als zwei Milliarden Menschen das Leben kostete und die breite Todeszone entlang der Frontlinie nördlich des Mittelmeeres entstehen ließ.

Erneut folgte ein nie vereinbarter Waffenstillstand, der immerhin zwei Jahre andauerte. Während dieser Zeit wurden praktisch nur noch Handfeuerwaffen und leicht gepanzerte Transportfahrzeuge produziert.

Die bisherigen weltweiten Nebenwirkungen des Dritten Weltkrieges waren erheblich. Rasch sank die Geburtenrate. Die Ressourcenverteilung erwies sich als äußerst ungünstig, denn im Norden gab es industrielle Anlagen, doch es fehlte an Rohstoffen, und im Süden gab es Rohstoffe, jedoch kaum Industrie. Krankheiten unbekannten Ausmaßes griffen um sich, unter anderem der »Superkrebs«, Männer wurden knapp. Auf der internationalen Raumstation verhungerten die letzten sieben Astronauten. Unablässig heulten in Europa die Sirenen. Nicht wegen der ausbleibenden Luftangriffe der MLA, sondern stets dann, wenn die Wetterlage radioaktiv verseuchte Luftschichten und den dazugehörigen Regen brachte. Hunger und Armut sorgten vielerorts für Aufstände gegen die verbliebenen Regierungen. Die schwersten Unruhen fanden in Russland und den angrenzenden Staaten statt. Die russische Armee drängte die Aufständischen in die Wälder am Ural zurück, sodass entlang des Flusses und des gleichnamigen Gebirges eine weitere Frontlinie entstand.

Ausgerechnet während des ohnehin brisanten Zustandes kam es zu einer weiteren Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Ursache waren extrem starke Bewegungen der tektonischen Platten in der Lithosphäre, die in der Umgebung von Japan aufeinandertrafen. Die stärksten Erdbeben seit Menschengedenken ließen fast alle japanischen Inseln im Meer verschwinden. Tsunami und steigende Wasserstände überschwemmten große Teile Asiens und Nordamerikas und veränderten das Weltklima nachhaltig, denn die Temperaturen sanken überraschend schnell. Opferzahlen konnten nicht genannt werden. Ein paar verbliebene Wissenschaftler verzeichneten jedoch insgesamt eine leichte Erholung der Erde. Häufigkeit und Stärke von Unwetterkatastrophen nahmen ab, das Poleis wieder zu, was an den rückgängigen Bevölkerungszahlen und dem Niedergang der Industrie gelegen haben durfte.

Dieser Fakt hielt die Regierungen der verbliebenen Völker jedoch keineswegs davon ab, den Dritten Weltkrieg nach einer durch die Natur aufgezwungenen Erholungspause fortzusetzen.

Ein perfider Plan des Großkalifen ließ mehrere Tausend zivile Flugzeuge gleichzeitig gen Norden starten – vollgepackt mit einer Fracht aus Bomben, Granaten und chemischen Kampfmitteln. Die Selbstmordbesatzungen leisteten ganze Arbeit, mehr als 70 Prozent von ihnen durchdrangen die löchrige Luftabwehrlinie des Nordens. Erstaunlicherweise hatte es die Morgenlandarmee diesmal auf zivile und industrielle Einrichtungen abgesehen. Mit perfider Genauigkeit wurden Kraftwerke – darunter auch Atomkraftwerke – sowie große industrielle und militärische Anlagen vernichtet. Kurz darauf übernahm die Morgenlandarmee den kompletten südamerikanischen Kontinent. Die meisten dortigen Regenten ergaben sich der Übermacht. Es waren kaum Kampfhandlungen zu verzeichnen, und doch starben von den 400 Millionen Menschen fast 80 Prozent in Vernichtungsfabriken des Großkalifats.

Da große Truppenteile der MLA nicht zugegen waren, erfolgte die taktisch klug getimte »Operation Sturmfeuer« der Europäer, in der das Wort »schlachten« Einzug hielt und schon bald gesellschaftsfähig wurde. Sturmfeuer fegte über Russland, Nordafrika und den Nahen Osten hinweg, schlachtete unzählige Zivilisten ab und geriet schließlich in den Kessel von Ar Riyad, wo die europäischen Truppen durch die eintreffenden Truppen der MLA praktisch komplett aufgerieben wurden. Nach Anweisung des Großkalifen durften keine Gefangenen gemacht werden. Nicht ein einziger europäischer Soldat kam zurück. Die meisten russischen Städte galten als zerstört und unbewohnbar.

Die Demografen prognostizierten, dass zur Jahrhundertwende auf der Erde nur noch 1,1 Milliarden Menschen leben würden, und deren Zahl sank stetig. Zu Beginn des Krieges waren es noch 8,2 Milliarden gewesen. Der Superkrebs, hervorgerufen durch nukleare und chemische Verseuchung, hatte ganze Volksgruppen dahingerafft. Da ein Satellit nach dem anderen zu Weltraumschrott wurde oder in der Atmosphäre verglühte, versagten auch die elektronischen Medien. Das Internet brach komplett zusammen, ebenso verschwanden die mobilen Verbindungsgeräte und mangels Treibstoff auch die meisten Flugzeuge, Pkws und Lkws. Sie verrotteten und verrosteten oder ihre Substanzen wurden zu Handfeuerwaffen verarbeitet. Die meisten Städte wurden unbewohnbar.

Eine geheime Konferenz in Europa folgte, bei der sich fast alle anwesenden Vertreter für die Gründung der Europäisch Demokratischen Republik aussprachen. Klare Grenzen wurden festgelegt und man entwarf Pläne zur Befestigung und Verteidigung. Zudem sollten wissenschaftliche Ressourcen in die Erbforschung und in die körperexterne künstliche Befruchtung umgelenkt werden. Standorte für neue Großstädte wurden festgelegt, die durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden werden sollten. Die neuen Städte wurden durch gigantische Kuppeln aus meterdickem Panzerglas geschützt und konnten jeweils eine Millionen Menschen aufnehmen. Viele Jahre später existierten zwölf solcher Städte. In der Kuppelstadt mit dem Namen »Neuberlin« entstand das neue Machtzentrum »Noviregnum«, der Sitz Der Zehn, einer neuen Regierung der Europäischen Demokraten.

Jahre später waren die Armeen auf beiden Seiten auf wenige Frauen und Kinder geschrumpft und man begann damit, immer jüngere Fußsoldaten an die Fronten zu schicken.

Jenseits der Städte lebten die Abtrünnigen. Zur klaren Unterscheidung entwickelte man das Chipsystem, das zunächst zur Überwachung der Retortenkinder genutzt wurde, wobei ausschließlich männliche Kinder erzeugt wurden, die man »Educares« nannte und für Kriegshandlungen einzusetzen gedachte.

Der Krieg spielte sich nun, da es fast keine großen Waffensysteme mehr gab und diese auch offiziell nach den Gesetzen Der Zehn nicht mehr produziert werden durften, entlang der Demarkationslinie zwischen EDR und IML ab. Hin und wieder kam es zu kleineren Schlachten, sodass der Krieg ganz offiziell noch weitergeführt wurde. Die meisten Kuppelmenschen lebten im Raum zwischen dem ehemaligen Moskau und dem ehemaligen Warschau, in dem die europäischen Kuppelstädte kreisförmig angeordnet waren. Alle alten Städte Europas wurden aufgegeben und zu Sperrgebieten erklärt. In Nordamerika, Australien und weiten Teilen Asiens existierte kein menschliches Leben mehr.

Entlang der großen Gebirge wurden die wichtigsten Stellungen gebaut und das Rottensystem eingeführt, dem die meisten Educares zugeführt wurden. Diese Kindersoldaten nannte man »Spunde«, die Befehlsgewalt oblag einer Rottenmarschallin, die zu Den Zehn gehörte. Die Rottenquartiere mit bis zu jeweils zweitausend Spunden nahmen zahlenmäßig rasch zu und wurden entlang der Pyrenäen, Alpen, Apenninen, dem Balkan und dem Uralgebirge in alten und neuen Höhlensystemen aufgebaut.

Geheime Pläne der Parlamentarier bereiteten bereits einen Großangriff auf die natürlichen Ressourcen der Morgenländler vor, der erst in dem Moment gestartet werden sollte, wenn die Vielzahl der Spunde ein kampffähiges Alter erreicht haben würde.

Auch auf natürlichem Wege kamen sowohl in den Kuppelstädten als auch bei den Abtrünnigen Kinder zur Welt, wobei dort die Anzahl der Mädchen deutlich überwog.

Ältere Spunde wurden an die Brennpunkte der Demarkationslinie verlegt oder zum Schutz der Kuppelstädte vor den Abtrünnigen eingesetzt. Andere Spunde übernahmen die Treibjagden auf Abtrünnige. Anfänglich waren viele der erwachsenen Abtrünnigen, die aufgegriffen wurden, durch die Strahlung verseucht und die meisten Kinder verkrüppelt. All jene wurden sofort geglättet.

Später gab es die Anweisung, dass aufgegriffene Jungen unter acht Jahren – man bezeichnete diese als Räudiger –, die nachweislich gesund und kampffähig waren, gechippt und der Spundausbildung in den Rotten zugeführt werden sollten, wobei die Parlamentarier stets dafür Sorge trugen, dass die Räudiger ihrer Herkunft nach wie Sklaven zu behandeln waren. Daraus entwickelte sich ein allgemeines Gefühl von Hass zwischen Educares und Räudigern.

Auf einer großen, unverseuchten Halbinsel im Norden Europas, die den Namen »Schiereiland« erhielt und durch die Japankatastrophe entstanden war, schuf man die bedeutsamen Produktionszentren der EDR, darunter auch die Educares-Kultur – die Zuchtstation für Spunde – und die Beutemast, in der gefangene Räudiger aufgezogen wurden.

Im Jahr 2136 befand sich die Menschheit bereits im hundertzwanzigsten Kriegsjahr des Dritten Weltkrieges.

Juli, ein Educares?

Passus 2

Das ausschließliche Bestimmungsrecht über alle Belange der EDR liegt bei Den Zehn – den Demokraten –, wobei jeder Der Zehn für sich selbst einen Nachämter festsetzt.

Im Gleichschritt marschierten sie fast lautlos zum Terminal. Der dünne Stoff unter ihren Füßen war keineswegs mit einer festen Ledersohle zu vergleichen. Jedes Steinchen bohrte sich in die geschundenen Füße der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia lief links vorn neben der ersten Linie, das Kinn leicht angehoben, die rechte Hand schwingend, die linke am GMG. Er schnalzte im Takt der Schritte und alle richteten sich danach.

Sie marschierten in Linien zu je sechs Spunden. Eine solche Linie wurde militärisch mit »Zweig« bezeichnet. Elia gehörte keinem Zweig direkt an. Der Führer eines Zweiges, der immer links in der Linie zu laufen hatte, bekleidete den Dienstgrad »Spundzweigboss«. In der Hierarchie war also die Rottenführerin ganz oben, gefolgt vom Spundgruppenführer, Spundzweigboss bis hinunter zum Spund. Wobei die Spundzweigbosse ebenfalls immer Educares waren, allerdings wenig zu sagen hatten.

Zu Beginn des Ausbildungsjahres waren es zweiundvierzig Jungen gewesen, nur sechsunddreißig hatten bis zu diesem Tag überlebt. Die fünf Geglätteten waren ausnahmslos Räudiger gewesen, während ein Educares nach einem Sturz aus dem Bett gestorben war.

Die sechs Jungen eines Zweiges verbrachten die Nächte in einem sechsstöckigen Bett. Die Betten waren aus Kunststoff und einschließlich der Liegefläche aus einem Stück gefertigt. Jeder Spund nutzte seine raue Decke aus dem gleichen dünnen, grauen Stoff, aus dem auch die Shortshirts bestanden. Die Etagen der Betten waren über eine Leiter erreichbar, der Spundzweigboss schlief immer unten. In einem Schlafraum standen vierzehn solcher Betten mit insgesamt vierundachtzig Kojen dicht beieinander, wobei jeweils am Ende der Gruppe einige nicht mehr belegt waren. Hinzu kamen die beiden Einzelbetten der Gruppenführer. Somit schliefen zwei Gruppen mit anfänglich bis zu sieben Zweigen in einem Raum. Innerhalb der Rotte existierten dreißig solcher Schlafräume. Die Nummerierungen der Namen entsprachen nie genau der Reihenfolge der Spunde in der Gruppe, denn die leer gewordenen Kojen wurden durch sogenannte »Nachrücker« aufgefüllt, meist vom Ende der Gruppe, in anderen Fällen auch von Neuankömmlingen oder durch Festlegung der Rottenführerin. Beispielsweise war 42-Spund-Jona, ein Educares, vor etlichen Monaten an die sechste Stelle des ersten Zweiges gekommen, woraufhin 07-Spund-Davi Spundzweigboss im zweiten Zweig wurde.

Die tagsüber getragenen Shortshirts wurden am Abend im Sanitärtrakt in die Klappe geworfen. Am Morgen lagen sie gereinigt im Sanitärfach des jeweiligen Spundes.

Ein Spund besaß nichts. Simo aber hütete einen kleinen Schatz. Er hielt das zusammengeklappte Skalpell in einer engen Felsspalte im Spionage-Ausbildungsgelände versteckt.

*

Simo marschierte an fünfter Stelle in der dritten Linie, verbrachte alle Nächte in der fünften Etage des dritten Bettes, wusch sich stets am fünften Wasserhahn des dritten Beckens, nutzte das fünfte Sanitärfach in der dritten Reihe und saß beim Essen auf dem fünften Hocker am dritten Tisch. 13-Spundzweigboss-Linu, natürlich ein Educares, führte Simos Zweig an, in dem es nur einen einzigen weiteren Räudiger gab: 15-Spund-Seba. 15 war unterwürfig, diskutierte nicht und benutzte niemals ein Schimpfwort. Stellte Simo ihm eine Frage, dann konnte er ewig auf eine Antwort warten und bekam sie wahrscheinlich nie. Trotzdem lag Sebas Güte fast gleichbleibend bei 80 Prozent, während die von Simo erheblich zwischen 30 und 70 Prozent schwankte. 15 lag im dritten Bett. Eine Etage tiefer schlief 14-Spund-Thom, den Simo häufiger als alle anderen mit dem Schimpfwort »Weibsbürzel« titulierte und damit auf dessen praktisch nicht vorhandenes Geschlechtsorgan anspielte.

Als »Bürzel« bezeichneten die Räudiger die verkümmerten Geschlechtsorgane der Educares. Zwar waren die Räudiger oftmals körperlich schwächer und schmächtiger gebaut als ihre künstlich erzeugten Konkurrenten, doch waren deren Penisse und Hoden normal gebildet. Nichtsdestoweniger war »normal« in den Augen der Educares etwas ganz anderes, denn die hielten ihre verkümmerten Stummel für korrekt und die deutlich größeren und zudem funktionstüchtigen Geschlechtsteile der Abtrünnigen für naturwidrig. Das gegenseitige Bombardieren mit Schimpfworten unterhalb der Gürtellinie gehörte zum üblichen Sprachgebrauch der Spunde. Geschätzt wurde stets der, der ein neues, außergewöhnliches Schimpfwort erfand. Die Kreationen kannten dabei kaum Grenzen und zielten meist auf das ab, was sich unter den Shortshirts versteckte.

Zwischen Seba und Simo marschierte 16-Spund-Levi, ein außerordentlich arroganter Educares, dem Simo nur allzu gern die Kehle durchgeschnitten hätte. An sechster Stelle und somit ganz oben im Bett befand sich 18-Spund-Flor, der Simo rein äußerlich ähnlich war und von den anderen Educares regelmäßig darauf hingewiesen werden musste, dass er ein Educares sei, auch wenn er sich den Räudigern gegenüber nicht immer wie ein solcher verhielt.

Selbstverständlich gab es in den Nächten bei vielen Gelegenheiten auch Kontakte mit den Spunden der anderen Zweige und Gruppen. Die Betten standen schließlich unmittelbar nebeneinander, sodass die Jungen jeweils Kopf an Fuß lagen. Wenn Simo in seiner Koje in der fünften Etage lag, dann schliefen die beiden Educares Luka aus dem zweiten Zweig und Feli aus dem vierten Zweig unmittelbar neben ihm. Simos bester Kamerad, 34-Spund-Paul, lag im fünften Etagenbett ganz oben. In dessen Zweig gab es drei Räudiger, im vierten Zweig hingegen nur einen einzigen, nämlich 21-Spund-Samu.

Simo war so klein, dass es nur einen einzigen Spund in der Gruppe gab, der ihn nicht überragte. Dabei handelte es sich um den Räudiger 06-Spund-Mich, der im ersten Bett in der fünften Etage liegen musste und der an jedem Abend vor dem Erklimmen der Leiter in den Sanitärtrakt eilte. Morgens drohte er in seiner Eile fast von der Leiter abzustürzen, denn gleichzeitig die Leiter zu benutzen und die Beine zusammenzukneifen, das funktionierte einfach nicht.

*

Vor dem Einschlafen kam es im düsteren Schlafsektor der Spunde oft zu kindisch-vulgären Gesprächen, die schnell ausarten konnten:

»Yäh, 17, peinlicher Räudiger, schwankt das ganze Bett, weil du deinen Tierschwanz schrubbst?«, fragte Luka laut, der den kleinen Simo beleidigen wollte, und die Educares lachten höhnisch.

»Yäh, 11, Weibsbürzel, stößt dich meins Rohr – erschlägst dich. Trifft ’s dich meins Saft – ersäuft’s dich. Ich hör wohl dein Neid!«

Nun lachten all die Räudiger und stimmten Simo zu.

»Neid? Dass ich nicht lach. Wer will schon so einen spritzenden Hundeschwanz mit sich rumschleppen?«

»Yäh, 11, ich, der Simo, werd ein’s Tag’s Kinder tun. Weiber und Jungs. G’werkeln werd ich immerzu. Bestehen werd ich in Zukunft. Euerseits wird’s all ausg’löscht sein!«

»Yäh!«, rief Paul von oben und stöhnte übertrieben laut, wie bei einem Höhepunkt der Lust, obwohl er noch nie einen gehabt hatte: »Da komms! Da komms! Machs Futterluke auf, 11, du runzelloser Retortenschiss, kannst schlucken mein lecker Saft und spülen mit mein goldigen Harn runter das G’schleimte, Schwanzlutscher, verpisster!«

»Kein Weib wird dich nehmen, 17, Heulkotz du. Kannst den Arsch von 34 ficken, Spritzpimmel, auf dass dein Tierschwanz Ruhe gibt!«, warf 14-Spund-Thom, ein Educares, von unten ein.

Paul verteidigte Simo sofort: »Yäh, 14, nehm dein Schlitz zum Einspritzen, hast doch ’n Schlitz? Bist doch ’n Weib? Hab nie an dir ’n Bürzel entdeckt! Oder hat’s Python dir’s Stummelchen und ’s Keimdrüsen auffressen, du femininer Pseudognom?«

Jetzt lachten alle lauthals auf, selbst die Educares, denn »femininer Pseudognom« war ein völlig neues Schimpfwort, das Paul für den Educares Thom nutzte. Simo hatte keine Ahnung, wo Paul das herhatte, vielleicht von einem anderen Spund aufgeschnappt.

Jedenfalls machte das Lachen der anderen auch Simo Mut. »Yäh, 14-Spund-Thom, eil dich zu mir, gleich spritzt’s. Mein Schleim tut deiner ebenen Weiberschwarte wohl, sei mein versklavter Schwanzlutscher, du femininer Pseudogeist. Kriegst ganz umsonst mein Heilsamstes! Oder fürchtest, könnt’s dir ’s Antlitz wegätzen?«

Mit »ebener Weiberschwarte« war die glatte Haut der Educares gemeint, die pubertäre körperliche Veränderungen nicht kannten und sich ihrerseits über die gelegentlich bereits auftretenden Pickelchen bei einigen Räudigern lustig machten.

Der Raum war so dunkel, dass Simo nicht sehen konnte, dass 14, dem die Koje drei Etagen unter ihm zugeordnet war, mittlerweile die Leiter erklomm. Kurz darauf fühlte Simo dessen Atem, doch er konnte keinen Laut mehr von sich geben. Die Kojen boten nur wenige Zentimeter Platz nach oben, 14-Spund-Thom hatte sich auf Simo geworfen, drückte ihm augenblicklich mit beiden Händen die Kehle zu und ein Knie derb in dessen Weichteile. Dabei brüllte er: »Dafür mach ich dich glatt, 17, du peinlicher Rattenschiss!«

Simo rang nach Luft. Die Schmerzen in seinem Unterleib waren unerträglich. Zudem war Thom nicht gewillt, den Griff an Simos Hals zu lockern. Simos rechte Hand suchte das schnaufende Gesicht des Angreifers, um dessen Ohr zu ergreifen und daran zu reißen, denn die bei allen Spunden stets kurz geschorenen Haare versprachen keinen Halt. Mit einem Finger der anderen Hand stach er Thom ins linke Auge. Eine Sekunde lang konnte Simo tief Luft holen, bis Thom losbrüllte und sein Knie erneut mit brachialer Gewalt zwischen Simos Beine stieß.

Der Lärm ließ die anderen Spunde aufhorchen.

»14, Schwanzlutscher, verpisster, stromer’ aus seim Lager! Sonst glätt ich dich!«, brüllte Paul.

Erneut drückten Thoms Hände Simos Hals zu, noch derber als zuvor. Simo krümmte sich und zuckte am ganzen Körper. Fast schloss er mit dem Leben ab, denn 14 ließ ihm keine Chance zu atmen.

Dann tauchte überraschend ein Spund auf, riss Thoms Hände von Simos Hals, schlug dem Educares mehrmals mit voller Wucht in die Seite und zerrte ihn von Simo herunter. Thom stürzte dreieinhalb Meter in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Betonboden auf, während Simo regungslos in der Koje verharrte.

»Mach endlich das Licht an, 01!«, rief einer der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia, der auf der gegenüberliegenden Seite in einem einzelnen Bett lag, schlug auf den Lichtbutton. Es knirschte unter der Zimmerdecke, dann erhellte gleißendes Licht den Schlafraum der beiden Gruppen. Elia erhob sich und lief zu dem Körper, der mit zerschmettertem Kopf auf dem blutrot gefärbten Beton lag.

»Wer hat das mit 14 getan?«, schrie er mit hoher Stimme. »Wer?« Er schaute hinauf, sah einen Spund auf der Leiter, der einen anderen Spund zu küssen schien. »12-Spund-Juli, dreckiger Schwanzlutscher, was tust du da?«

Als Simo zu sich kam, spürte er, dass ihm jemand Luft in die Lungen pumpte. Er röchelte und hustete.

»Zum Glück lebst du, 17«, flüsterte der Spund in Simos Ohr. »Die Python hätte mir das nicht verziehen.«

Einen Moment lang sah Simo in die Augen seines Retters. »12?«, fragte er. »Warum?«

12-Spund-Juli legte einen Finger auf Simos Lippen, dann kletterte er rasch die Leiter hinunter.

Unten betrachtete er den nackten Körper von 14-Spund-Thom. Die Blutlache breitete sich weiter aus. Alle anderen Jungen schauten missmutig aus ihren Kojen, beobachteten erwartungsvoll den Spundgruppenführer, Nummer 12 und die Leiche von Nummer 14.

»Der Schwanzlose wollte 17 glätten«, erklärte Juli dem Gruppenführer. Beide standen sich nackt gegenüber.

»Na und? 17 ist ein peinlicher Räudiger.«

Juli, fast zwölf, um einiges größer als der Gruppenführer und zudem muskulöser als die meisten in der Rotte, blickte Elia stur in die Augen. »Hast du vergessen, was die Python dir aufgetragen hat?«, flüsterte er. Und laut, sodass es alle hören konnten: »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.« Mehr sagte Juli nicht. Er ging zu der gerade leer gewordenen Koje, zog die Zudecke heraus und legte sie über die Leiche von 14-Spund-Thom. Dann lief er zurück zu Elia. »Was ist los, 01? Du musst den Nachrücker bestimmen.«

»Frag mich, was mit dir los ist, 12. Warum ist das da?« Elia zeigte auf das für einen zwölfjährigen Educares ziemlich große Geschlechtsteil und Julis Schambehaarung. »Warum belebst du den Räudiger und glättest den Educares? Warum hast du das da und wir nicht?«

Überraschend schnell ergriff Juli das Kinn des Spundgruppenführers und drückte die Finger so derb in Elias Wangen, dass sich dessen Mund von ganz allein öffnete. »Weil ich keins von beiden bin, 01«, flüsterte Juli. »Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Junge. Du solltest das auch sein als unser Gruppenführer, Elia, ob du nun einen Schwanz hast oder nicht. Und nun verpetz mich bei unserer Python! Sie wird dir die Leviten lesen, weil du dem Kleinen nicht geholfen hast!«

Elia stand da und atmete tief ein und aus. Er wollte auf keinen Fall wie ein Verlierer wirken. »Verpiss dich in deine Koje, verfurzter Rattenschiss!«, rief er eilig.

12-Spund-Juli führte den Befehl sofort aus. Während er die Leiter am zweiten Bett hinauf bis in die sechste Koje stieg, warf er Simo, der mit bleichem Gesicht in seiner Koje lag, einen lächelnden Blick zu.

»Morgen früh entsorgst du 14 im Totenschacht und beseitigst die Schweinerei in unserem Schlafsektor! Vergiss nicht den Chip!«, rief Elia Juli nach. »41-Spund-Manu, hinkender Heulkotz! Du rückst auf! In den dritten Zweig an die zweite Stelle! Der sechste Zweig schrumpft somit auf fünf Spunde. 41, du bist ab sofort ein Spion! Verstanden, du krebskranker Kotfresser? Jetzt sofort!«

41-Spund