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Deutsche und japanische Wissenschaftler implantieren heimlich sogenannte „Human internal media processoren“ in die Gehirne von Waisenkindern. Ziel ist die komplette mediale Kommunikation der Probanden über das eigene Gehirn und ohne weitere technische Hilfsmittel. Das Experiment entpuppt sich jedoch als Fehlschlag. Bis eines Tages die Cyber-Adler im Netz unterwegs sind ...
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Seitenzahl: 332
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Tino Hemmann
CYBER-ADLER
Rache ist online
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2023
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Handlungen und Personen sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig und ungewollt.
Copyright (2023) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Umschlaggestaltung Tino Hemmann
unter Mithilfe der Bilder
vorn © Anja K [Adobe Stock]
hinten © agsandrew [Adobe Stock]
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
EPISODEN-ÜBERSICHT
Prologus in somnio
Omne initium difficile est
Nihil fit sine causa
Requiescat in pace
Exercitatio artem parat
Prudentia potentia est
Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris
Dum spiro, spero
Manus Spiritus
Melius est prevenire quam preveniri
Dies diem docet
Vivere est militare
Amor omnia potest
Alea iacta est
Epilogus: Contra vim mortis non est medicamen in hortis
Alles ist wie ein verschwommener Nebelschleier. Die Augenlider kleben. Worte schweben durch den Raum.
„Für das Protokoll“, sagt eine monotone Stimme. „Proband Nummer drei. Vier Hochdruckbohrungen mit Null-Komma-zwei-Millimeter-Laser erfolgten. Keine Ausblutung …“
Das rechte Auge öffnet sich ein Quäntchen. Zunächst nur gleißende Helligkeit. Große schattige Gestalten in mintfarbenen Kitteln schälen sich aus dem leuchtenden Nebel. Ein wehender Vorhang wird zur Seite geschoben. Die Gestalten haben keine Gesichter. Nur Masken. Vieles wird erkennbar.
„Vorgang eins. Roboter ausgerichtet, Anpeilung korrekt. Erster HIMP7 wird eingeführt. Platzierung zentral im Metencephalon. Ausrichtung erfolgt. Intraoperative Bildgebung meldet okay …“
Ein stuhlartiges Gestell, daran festgeschnallt ein Junge. Sein Oberkörper ist fast senkrecht aufgerichtet. Ist das Philipp? Das ist Philipp! Was geschieht nur mit ihm? Sein geschorener Kopf ist oben geöffnet. Überall sind Maschinen. Vor Bildschirmen sitzen zwei Kittelträger. Ein weiterer steht an einem Tisch. Ein Roboterarm wühlt sich in Philipps Gehirn.
„Vorgang zwei. Roboter ausgerichtet, Anpeilung korrekt. Zweiter HIMP7 wird eingeführt. Platzierung linksseitig im Diencephalon. Ausrichtung. Intraoperative Bildgebung meldet okay …“
Der vermeintlich sinnlose Versuch startet, die eigenen Lippen zu bewegen. Nur Atem strömt heraus, kein einziges Wort.
„Vorgang drei. Roboter ausgerichtet, Anpeilung korrekt. Dritter HIMP7 wird eingeführt. Platzierung zentral am Okzipitallappen. Ausrichtung. Intraoperative Bildgebung meldet Versatz. Wir haben hier einen Versatz beim dritten Chip.“
„Proband Nummer drei. Achtung! HZV stark abnehmend! Druck im Schädelinnenraum plus 110 Prozent. Körpertemperatur sinkend bei 32 Grad. Achtung, Arrhythmie! Frequenz bei 35 pro Minute. 32 …“, sagt eine andere erregte Stimme und stellt fest: „Dritter HIMP7 leicht versetzt am Rand des Okzipitallappens. Lassen wir das so?“
„Ich denke, ja. Fahren Sie fort.“
„Wo …?“ Immerhin ein Wort, das aus dem Mund dringt.
„Was ist mit Proband Nummer zwei los? Er ist doch nicht tatsächlich munter?“ Diese Stimme ist sehr laut. Ein Kittelträger steht plötzlich bei Daniel, dem Erwachten. „Hier stimmt was mit der Spritzenpumpe nicht. Moment. Okay, Propofol bei Nummer zwei läuft wieder.“ Der Kittelträger verschwindet im Nichts.
„Vorgang vier. Roboter ausgerichtet, Anpeilung korrekt. Vierter HIMP7 wird eingeführt. Platzierung linksseitig im Hypothalamus. Ausrichtung. Intraoperative Bildgebung meldet okay. Schließung der vier Bohrungen wird vorbereitet. Test an Proband Nummer drei abge…“ Die Stimme wird von einer anderen unterbrochen. „Proband Nummer drei: Kein Herzrhythmus, Herzzeitvolumen null, wir verlieren ihn …“
„Es gibt Blaubären, aber kein Bärenblau. Es gibt Glühwürmchen, aber keine Wurmglüher. Es gibt Schallwellen, aber keinen Wellenschall. Es gibt …“
„Philipp, bitte! Du faselst mit dir selbst.“ Moritz betrachtete den knapp achtzehnjährigen Freund mitleidig. „Ist es mal wieder so extrem schlimm?“, flüsterte er.
„Schlimm ist das falsche Wort. In meinem Kopf platzt eine Neutronenbombe nach der anderen.“ Philipp fuhr sich mit den Fingern durch die dunkle Mähne. Seine Kopfhaut schwitzte so sehr, dass die Haare stellenweise nass waren. Die Augen glänzten, als würden die extremen inneren Schmerzen ihn weinen lassen. Er lenkte sich weiter ab. „… eine Kellertreppe, aber keinen Treppenkeller.“ Die Psychologin, deren Praxis er nach Anweisung der Hausärztin des Heims zwei Mal aufsuchen musste, hatte ihm das Wortspiel empfohlen. Er sollte es immer dann anwenden, wenn die fremden Stimmen das Geschehen in seinem Kopf zu lenken versuchten. Bisher war es nur selten aufgetreten, doch in letzter Zeit vereinnahmten die Stimmen seine komplette Psyche. „Es gibt einen Schuhputzer, aber keine Putzschuhe …“
„Verdammt, jetzt rede gefälligst mit mir, Philipp!“ Kurzerhand fuhr Moritz seinen Laptop herunter und schaltete ihn aus.
Immer wieder kniff sich Philipp in die Lippe, betrachtete den Laptop und schließlich den Freund. Nervös wippten seine Beine, die in engen Jeans steckten. „Weg.“ Er lächelte und heulte gleichzeitig, während er sprach. „Sie sind weg. – Herzlichen Glückwunsch, Susi, bleib gesund und vergiss mich nicht. – Ein Like für das Bild mit den blühenden Rosen. Sie sind schön rot. Und welken nicht. – König Faisal ist jetzt Freund 437. – Was zum Kuckuck macht dieser ganze verdammte Scheißmüll in meinem Kopf, Moritz?“ Philipp blickte den Freund mit verrückt stierenden Augen an. „Du triffst dich mit Daniel. 19:00 Uhr, Bahnhof, am Dönerstand gegenüber von Bahnsteig acht. Bring die Bilder mit, schreibt Daniel. Welche Bilder meint er? Und warum, verdammt noch mal, weiß ich das alles?“
Moritz antwortete nicht. Stattdessen lief er in die Küche, suchte nach der richtigen Tablettenpackung, löste eine der Tabletten in einem Glas Wasser auf und brachte es zu Philipp. „Trink das. Dann geht es dir bald wieder besser.“
Philipp trank ohne Widerspruch. Anschließend fragte er: „Hallo Herr Wohland! Du kannst es mir ruhig erklären. Was, verdammt, ist los mit mir?“
Einen Moment zögerte Moritz die Antwort heraus. „Ich kann dir unmöglich alles erklären. Ich weiß nur … Wir waren irgendwann alle in diesem Zustand. Er wird dich ziemlich fertigmachen. In ungefähr vier Wochen lässt es nach. Wenigstens hat es bei mir nach vier Wochen nachgelassen. Du darfst nicht dagegen ankämpfen. Du musst versuchen, die neuen Dinge in deinem Kopf zu kontrollieren, zu ordnen und zu koordinieren“, sagte er schließlich. „Es gab einen Moment, da stand ich oben auf der Eisenbahnbrücke, du kennst sie, es ist die, die über den Wellerfluss führt. Es geht dort siebenundvierzig Meter in die Tiefe. Zwei Stunden stand ich zitternd am Geländer und sah mich mit zerschmettertem Kopf da unten liegen – irgendwo zwischen Brennnesseln und Felsbrocken. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Ich wusste genau, dass ich verrückt geworden war. Ständig die Stimmen, ständig die Bilder, die Zeichen, die Schrift, die unerklärlichen Dinge in meinem Kopf. Da war ich zehn. Als sich dann ein Zug näherte, rannte ich weg.“
„Aber was …“
Moritz legte einen Arm auf Philipps Schultern, drückte seine Wange an die des Freundes und flüsterte in dessen Ohr: „He, Alter! Vertrau mir. Wir werden uns gegenseitig vertrauen müssen. In deinem Kopf ist all das angekommen, was ich eben bei Facebook erledigt habe. Ich habe Susi – du weißt schon, der mit den riesigen Möpsen – zum Geburtstag gratuliert und meinen Beitrag mit einem Rosenfoto verlinkt. Ich habe die Freundschaft mit König Faisal bestätigt, das ist der neue FB-Account von Daniel. Ja, er ist mein vierhundertsiebenunddreißigster Freund bei Facebook. Und: Ich werde ihn heute Abend vom Bahnhof abholen. Wenn du willst, dann komm doch bitte mit. – Dein Kopf hat alle Informationen aufgenommen, die ich in meinen Laptop eingegeben habe. Nun ist dieser irre Zustand definitiv bei allen Adlern eingetreten.“
„Bei allen?“ Noch immer tränten Philipps Augen. „Wie meinst du das?“
Moritz griff an Philipps Kinn und drehte dessen Kopf ein wenig zu sich herum. „So, wie ich es sage. Bei allen fünf. Bei Tim, Jan, Daniel, bei mir und jetzt auch bei dir. Unsere ganze Adler-Bande hat’s erwischt.“
Sekundenlang blickte Philipp dem Freund in die Augen. „Wie, erwischt …?“
„Ich habe keine Ahnung. Wir arbeiten daran, herauszukriegen, was mit uns los ist. Daniel scheint am weitesten zu sein. Ganz bestimmt erfahren wir heute Abend mehr. Wir werden uns alle fünf treffen. So wie früher. Und niemand sonst sollte davon wissen.“
Philipp setzte sich auf das Sofa, beugte sich weit nach vorn und brüllte: „Ich halte das aber nicht mehr aus!“ Er schlug sich mit den Fäusten gegen den Schädel und heulte.
Sogleich war Moritz wieder bei ihm. „Das wollte ich wirklich nicht, Philipp!“ Er kniete sich über den Schoß des Freundes, richtete dessen Kopf mit den Händen auf und hielt ihn fest. Dann gab er Philipp einen sanften Kuss auf die Lippen. „Soll ich dich ein bisschen ablenken? Ich habe ziemlich viel Fantasie, was das Ablenken angeht.“
Philipp hob den Blick, schaute Moritz in die Augen und nickte scheu.
Der Freund stupste seine Nase an die von Philipp. „Du siehst so süß aus, wenn du weinst.“ Er lächelte beim Anblick der langen, tränenverklebten Wimpern. „Ich liebe dich, wenn du so aussiehst.“ Und nach einer kurzen Pause flüsterte er: „Ich liebe dich eigentlich immer.“
Dann lag er plötzlich auf Philipp und tröstete ihn mit unzähligen Küssen. Bis beide in Ekstase gerieten und irgendwann befriedigt und aneinandergekuschelt unter einer gemeinsamen Decke einschliefen.
Sie waren jung, achtzehn und neunzehn, wohnten in einem Doppelzimmer der Außenstelle des Kinder- und Jugendheims Sperlingshort. Mit drei anderen Jugendlichen teilten sie sich die Wohnung in einem zweistöckigen Mietshaus.
Heiner Rohrbach lebte mit seiner Frau und den beiden eigenen Kindern unten im gleichen Haus. Er war der beauftragte Pädagoge aus dem Kinderheim, angestellt in einer gemeinnützigen Firma, die das Kinderheim im beschaulichen Städtchen Bellitzschlucht seit einundzwanzig Jahren betrieb. Selten kümmerte sich Heiner um die Zöglinge, meist nur dann, wenn die Kacke richtig am Dampfen war. Er trug dafür Sorge, dass die jungen Menschen aus der Obhut des Kinderheims selbstständig und auf einem halbwegs ebenen Weg in die Gesellschaft finden würden. Er selbst nannte es „Auswilderung“ und verglich seine Zöglinge oft mit aufgepäppelten Jungtieren, die in der Wildnis ihre Eltern verloren hatten. Dass Moritz und Philipp nicht nur in einer Wohnung, sondern meist auch in einem Bett schliefen, tolerierte der Fünfunddreißigjährige ohne gehässige Bemerkungen. Er beobachtete deren Zuneigung seit einigen Jahren.
„Wenigstens könnt ihr euch nicht gegenseitig einen Braten in die Röhre schieben!“, hatte er gemeint.
Die tatsächlichen Probleme einiger der Teenager kannte Heiner Rohrbach jedoch nicht. Die Jugendlichen hingegen wussten, dass Heiner mehrmals am Tag einen Joint rauchte.
*
Daniel Fleischhauer trug ein blau-weißes Basecup, doch schien es ihm egal zu sein, ob sein Gesicht von einer Überwachungskamera eingefangen werden konnte. Lange blonde Haare schauten unter dem Basecup hervor, Schweißtropfen krochen über die unzähligen Sommersprossen auf seiner Nase. Der Neunzehnjährige konzentrierte sich. Er stand in unmittelbarer Nähe der beiden Geldautomaten des einzig noch existierenden Geldinstituts in der winzigen Fußgängerzone der Kleinstadt Bellitzschlucht. Die modernen Automaten passten nicht so recht ins Antlitz der sanierten mittelalterlich wirkenden Innenstadt.
Es war Sonntagmittag, es war regnerisch und kühl, es herrschte gähnende Leere im kulturellen Zentrum der Stadt. Rechts vom Rathaus standen zwei Taxis, deren Fahrer im geöffneten Café bei einer wahrscheinlich längst kalt gewordenen Tasse Kaffee vergeblich auf Fahrgäste warteten. Eine nasse Katze mit wuscheligem Fell, das sie fett erscheinen ließ, schlich über den Gehweg, beobachtete Daniel und näherte sich schnurrend und zögernd seinen Beinen. Der Junge schnalzte mit der Zunge.
Sein Gehirn arbeitete währenddessen schwer. Es tauchte in eine virtuelle Welt ein, fand in einen abnormen Raum, hüpfte über Firewalls, durchquerte Datenspeicher, las Informationen und suchte den besten Weg durch das IT-System der Sparkasse. Die Kameras abzuschalten war kein Problem. Etwas länger dauerte es, dem System zu suggerieren, dass die Überwachungskameras nach wie vor funktionierten, denn sonst könnte ein stiller Notfallalarm für unliebsamen Besuch sorgen. Beide Geldautomaten waren mit dem Server verbunden.
Die Katze maunzte und kuschelte sich immer wieder an Daniels weite Hosenbeine. Daniel ging in die Hocke und berührte das Tier. Diese Katze war sein Alibi – für den Fall der Fälle.
Normalerweise würde ein Kunde zunächst eine Bankkarte in den Geldautomaten stecken, die daraufhin von der Software des Automaten ausgelesen werden würde, um schließlich nach der Geheimnummer zu fragen. Anschließend würde die Maschine Kontakt zu einem Bankzentralrechner aufnehmen und die persönliche Identifikationsnummer – kurz: PIN – sowie den angeforderten Betrag überprüfen. Erst wenn die Prüfung abgeschlossen wäre, würde der Geldautomat auf die Bargeldkassetten zugreifen, die er in seinem Inneren verbarg, um die entsprechende Stückzahl an Scheinen zu ziehen und diese über spezielle Transportbänder in das Ausgabefach des Automaten zu befördern. Dabei kontrollierten Sensoren die Anzahl der Scheine. Daniel jedoch ging den umgekehrten Weg direkt über den Bankzentralrechner, suchte sich ein ausreichend gedecktes Konto mit passender PIN und initiierte anschließend die Geldausgabe über den Automaten. Um die Zeit gebührend zu nutzen, bediente er gleichzeitig beide Geldautomaten, erhob sich, als das Geräusch der Geldausgabe zu vernehmen war, stolperte fast noch über die Katze, entnahm nacheinander zwei Packen mit großen Scheinen, ließ sie im präparierten Innenfutter seiner Jacke verschwinden und löschte im selben Moment alle Spuren des Vorgangs im Netz. Wer wusste schon, ob der Kontoinhaber ohne jede ersichtliche Buchung den Verlust von viertausend Euro bemerken würde?
Die Katze jedenfalls war verschwunden. Ihr Fehler, denn jetzt hätte Daniel das Tier liebevoll gestreichelt, um herunterzufahren und Stress abzubauen. Stattdessen schlenderte er betont ruhig zum Bahnhof zurück, durchquerte die Unterführung, in der es streng nach Urin roch, erklomm die Treppe zu Bahnsteig 8 und lief, die Hände in den Taschen, zum Dönerstand, der seit zwei Jahren geschlossen hatte. Dort traf er auf die beiden Freunde Philipp und Moritz.
„Hast du die Fotos mit?“, fragte er Moritz.
Moritz nickte und wollte die Bilder aus einem Umschlag nehmen.
„Nicht hier!“, flüsterte Daniel. „Gehen wir in die Boofe zu Tim und Jan. Dort sind wir ungestört.“
Schweigend liefen sie bis zum Ende des Bahnsteigs, blickten sich kurz um und überquerten rasch die Gleise. Am äußeren Gleis führte ein Trampelpfad an zugewucherten Gartenzäunen vorbei und endete nach zweihundert Metern abrupt. Daniel hob ein in die Jahre gekommenes Tor etwas an und öffnete es. Kurz darauf betraten die Freunde ein uraltes Gartenhäuschen, in dem Tim und Jan bereits auf sie warteten.
*
Die fünf- bis siebenjährigen Jungen hüpften und trällerten dazu das Lied von Christian Adolf Overbeck mit der bekannten Melodie von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie hatten es im Unterricht gelernt und stockten, als sie es vor der Klasse singen mussten. Wie seltsam wäre es der Musiklehrerin vorgekommen, hätte sie in diesem Moment gehört und gesehen, mit welcher Leichtigkeit ihre fünf Rabauken dieses Liedchen sangen, während sie in einer Reihe neben dem Bahndamm entlangliefen.
„Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün. Und lass uns an dem Bache die kleinen Veilchen blüh’n. Wie möchten wir so gerne ein Veilchen wieder seh’n. Ach lieber Mai wie gerne einmal spazieren geh’n …“
Jemand hatte die Pacht gekündigt – angeblich sollte hier ein modernes Wohnviertel entstehen –, doch seit drei Jahren verwilderten die Schrebergärten und ein Baufahrzeug gab es hier nicht. Einer der Gärten war zum Domizil der fünf Heimkinder geworden, die sich hier in jeder freien Minute trafen. Das Gartenhäuschen, das sie zur Ritterburg ihrer Bande erkoren hatten, hielten sie halbwegs in Schuss, sodass es nicht hineinregnen konnte.
Daniel, dessen weißblonde Haare ungewöhnlich lang waren, stand in der Mitte des Raumes, während Tim, Jan, Philipp und Moritz dicht nebeneinander auf einer alten, quietschenden Hollywoodschaukel lümmelten, die sie in einem der anderen Gärten gefunden hatten. Auf den Federn der Schaukel lag eine ausrangierte Matratze.
„Heute ist ein besonderer Tag!“, verkündete Daniel laut und geheimnisvoll, als wäre er ein Zirkusdirektor. „Heute könnt ihr der Adler-Bande beitreten! Wenn ihr das wollt, müsst ihr irgendein Kunststück vollbringen. Ich fange gleich an!“ Er kniete sich auf den Boden und machte einen Kopfstand. Daniel konnte sich zwei Sekunden halten, dann fiel er rückwärts um und traf mit der Sohle seiner Turnschuhe das Gesicht von Philipp, der dabei einen Zahn verlor.
Philipp weinte nicht. Er schob den Milchzahn mit der Zunge aus dem Mund und hielt ihn zwischen zwei Fingern hoch, während er lachte und die Zahnlücke deutlich zu sehen war.
Zunächst erschrocken, war Daniel aufgestanden. Als er Philipps Reaktion bemerkte, wischte er sich das Haar aus der Stirn und lachte nun ebenfalls, wenngleich etwas leiser. „Okay, der Zahn zählt als Philipps Kunststück. Philipp wird damit auch in unsere Bande aufgenommen. – Wer will als Nächster?“
Tim mit seinem dunklen, struppigen Haar, leicht korpulent und der Kleinste in der Gruppe, holte eine Mundharmonika aus seiner Hosentasche, erhob sich, spielte eine nicht erkennbare Melodie und tanzte wie ein Indianer, der einen Kriegstanz vollführte.
„Okay, das reicht, Tim!“, rief Daniel. „Du bist aufgenommen!“
Tim jubelte.
Jan, blond wie Daniel, allerdings ein wenig dunkler und bereits etwas muskulös, erhob sich, machte einen Handstand, bei dem er sehr viel Geschick bewies, lief einige Schritte auf den Händen und sprang schließlich in die Hocke zurück.
Die Jungs zollten ihm reichlich Beifall, wenngleich sie seine turnerische Begabung längst kannten.
Daniel nickte zustimmend. „Jan ist auch aufgenommen! Moritz, jetzt musst du noch ein Kunststück zeigen.“
Moritz war der ruhigste Junge im Kinderheim. Er hatte wüste, lockige und rote Haare, unglaublich viele Sommersprossen, ein schmales Gesicht, war dünn und blass und benahm sich meist etwas mädchenhaft. Es würde ihn mit Stolz erfüllen, wenn er zu dieser Bande gehören durfte. Also überlegte er kurz, wie er das an stellen sollte, dann nahm er das Gesicht des erstaunten Philipp zwischen seine Hände, betrachtete kurz dessen Zahnlücke und gab seinem Gegenüber einen Sekundenkuss auf den Mund. „Ich kann schon richtig knutschen. Ist das okay?“, fragte er.
„Blödmann!“, raunte Philipp.
„Nicht sauer sein, Philipp. Das wollte ich wirklich nicht“, flüsterte Moritz seinen Lieblingsspruch.
Die anderen kicherten.
„Es ist okay“, erklärte Daniel. „Damit ist unsere Adler-Bande komplett. Und nun sprecht mir nach!“ Alle wiederholten die Sätze, die Daniel bedeutungsvoll zelebrierte: „Wir schwören, immer zusammenzuhalten! – Unser ganzes Leben lang! Wir sind die Adler-Bande! – Wenn einer von uns in Gefahr ist, helfen ihm alle anderen! – Einer für alle! – Alle für einen!“
Grenzenloser Jubel und das abwechselnde Rauchen einer Zigarette, die Daniel geklaut hatte, beendete die Gründungsfeier der Adler-Bande.
„Was ist ein Adler?“, fragte Moritz.
Daniel breitete die Arme aus und griff Moritz an den Hals. „Adler sind riesige Greifvögel. Die können dich schnappen und dich durch die Luft tragen!“, rief er. „Und Krallen haben die. So lang!“ Er ließ Moritz los und deutete mit den Händen eine Länge von etwa einem halben Meter an. Eine weitere Erklärung folgte: „Unser Versteck nennen wir ‚Boofe‘. Bestimmt wisst ihr, woher der Name kommt?“
„Ist ‚boofen‘ nicht ‚schlafen‘?“, erkundigte sich Jan. „Der olle Heiner fragt doch jeden Abend, ob wir schon boofen.“
„Genau.“ Doch Daniel erklärte es wissenschaftlich: „Mit Schlafen hat es zu tun. Mario, einer aus der achten Klasse, hat mir erzählt, dass er mit ein paar Kumpels in der Sächsischen Schweiz beim Klettern war. Sie haben in der Nacht in einer Boofe geschlafen. Das ist eine Höhle im Sandstein, in der das Übernachten erlaubt ist.“ In einer beschwörenden Geste streckte er die Arme aus. „Das Versteck der berühmt-berüchtigten Adler-Bande wird also auf ‚Boofe‘ getauft! Damit kann kein Schwein was anfangen, falls jemand aus Versehen davon redet.“
Alle klatschten Beifall. An den Schwur hielten sich jedoch nicht immer alle Beteiligten.
*
Auf dem Weg hatte Philipp ununterbrochen geflüstert. Sein Kopf schien zu zerplatzen. „Es gibt Gewitterwolken, aber kein Wolkengewitter … es gibt Goldfische, aber kein Fischgold … es gibt Taucherbrillen, aber keinen Brillentaucher …“ Er hörte erst damit auf, als er sich im Schuppen des verlassenen Gartens auf die alte Couch fallen ließ. Tränen standen in seinen Augen.
„Du also auch?“, flüsterte Jan neben ihm.
Ununterbrochen lief Daniel hin und her, während die anderen saßen und zu ihm aufblickten. Vor Moritz blieb er stehen. „Los, zeig mir die Bilder!“, forderte er.
Vorsichtig zog Moritz einen Briefumschlag aus der Innentasche seiner Jacke. „Ich habe nur die hier gefunden. Heiner hat sie mir besorgt. Sie waren im Archiv vom Sperlingshort. Auf Doktors Rechner.“
Dr. Manfred Sielbach, von den Heiminsassen schlicht und einfach „Doktor“ genannt, war der uneingeschränkt diktatorische Herrscher im Kinder- und Jugendheim Sperlingshort. In aller Öffentlichkeit hatte er vor wenigen Monaten sein dreißigjähriges Jubiläum als Heimleiter gefeiert, und das, obwohl ihn die meisten Zöglinge hassten.
Daniel betrachtete die Bilder im kargen Licht, das ein verdrecktes Fenster in den Schuppen ließ, und lächelte. „Unter diesem Bild steht: ‚Die Adler-Bande‘“, stellte er fest. „Dabei hatten wir doch geschworen, niemandem etwas davon zu erzählen!“ Die vier Jungen vernahmen den Vorwurf in Daniels Worten und sahen einander anklagend an.
„Das ist doch eine Ewigkeit her“, flüsterte Moritz schließlich. „Das wollte ich wirklich nicht.“
Daniel lächelte erneut. „Ja. Ist es. Viele Jahre. Das Foto wurde am Kindertag gemacht. Da waren wir alle noch richtige Hosenscheißer. Ein paar Wochen nach dem Fest passierte der Unfall.“ Jetzt lächelte Daniel nicht mehr. Er beobachtete die Freunde, die schweigsam nach Erinnerungen suchten.
Die fünf- bis sechsjährigen Jungs aus Gruppe 6 standen regungslos in einer halbwegs ausgerichteten Linie vor dem Heimleiter.
„Wollen wir doch mal sehen, wer mit zum Fußballturnier fahren darf.“ Dr. Sielbach klappte ein einzelnes Blatt Papier auseinander und schwieg ein Weilchen, um die Spannung zu erhöhen. „Da stehen ja die Namen“, sagte er schließlich. „Jan, Philipp, Daniel und Tim.“
Die vier Genannten regten sich nicht. Moritz, der Schmächtigste in der Linie, begann augenblicklich zu weinen.
Sein Kumpel Philipp versuchte zu helfen: „Herr Doktor Sielbach, warum darf denn der Moritz nicht?“
Sielbach blickte in die Augen des kleinen Kerls, der sein Gesicht zu einer einzigen Bitte verzog.
„Weil auf meinem Zettel kein Moritz steht. Und – ehrlich gesagt – wird wahrscheinlich jeder Stein auf diesem Weg hier besser Fußball spielen können als Moritz.“
„Wir brauchen ihn aber fürs Tor!“, forderte Philipp nachdrücklich.
„Diese dürre Gräte wollt ihr ins Tor stellen?“ Sielbach lachte auf und wendete sich ab, um zu gehen. Er hielt inne, als Philipp nicht nachgab.
„Wenn Moritz nicht darf, will ich nicht mitkommen!“
Auch Tim, der es sonst nie wagen würde, eine Entscheidung des Doktors infrage zu stellen, rief: „Und ich auch nicht!“
Daniel, der Junge mit den langen blonden Haaren, äußerte sich: „Und ich erst recht nicht!“
Fast gleichzeitig meldete sich Jan zu Wort: „Ich auf keinen Fall!“
Überrumpelt blickte der Heimleiter zurück. „Na, ihr seid mir vielleicht eine Bande! Aber gut, dann kommt Moritz eben auch mit.“ Jetzt jubelten alle fünf ausgelassen. „Abfahrt ist in einer Stunde. Vergesst euer Turnzeug nicht. Und dass mir keine Klagen kommen!“
Minuten später standen die Jungs mit ihren Turnbeuteln am Haupteingang. Sie diskutierten über die anstehenden Fußballspiele.
Irgendwann tauchte Heiner Rohrbach auf. Der junge Gruppenleiter sollte die fünf Auserwählten zum Sportplatz am anderen Ende von Bellitzschlucht bringen. Noch ahnte keines der Kinder, was während der kurzen Fahrt mit dem alten, roten Ford Fiesta geschehen würde.
Jan durfte auf dem Beifahrersitz neben Heiner Platz nehmen. Stolz schnallte er sich an. Tim, Philipp, Daniel und Moritz kletterten auf die Rückbank. Der Gruppenleiter verlangte, dass sie sich jeweils zu zweit anschnallten.
Und los ging die Fahrt! Heiner fuhr vorsichtig, obwohl Bellitzschlucht wie ausgekehrt wirkte. So richtig viel war hier eigentlich nie los. Es war ein sonniger Tag. Der Juni neigte sich dem Ende zu und der Hochsommer würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sämtliche Anwohner schienen in ihren Gärten zu werkeln.
Es ging quer durch das Städtchen, am Bahnhof vorbei, über den Bahnübergang und am anderen Ende von Bellitzschlucht eine schmale, asphaltierte Straße den Berg hinauf.
*
Tim hielt das Foto vom Kindertag in der Hand. „Sie waren schon da“, flüsterte er.
„Wer war da?“, wollte Daniel wissen, der unmittelbar vor Tim stand.
„Ich habe im Auto ganz links gesessen. Als wir am Bahnhof vorbeifuhren, habe ich sie entdeckt. Ihr konntet sie wahrscheinlich nicht sehen.“
„Wen oder was genau hast du gesehen?“, fragte Moritz schroff.
„Die beiden Krankenwagen. Sie standen in der Mühlgasse. Das ist die Einbahnstraße, die vom Bahnhof zum Marktplatz …“
„Wir wissen, wo die Mühlgasse ist!“, unterbrach ihn Daniel. „Bist du dir ganz sicher? Denkst du wirklich, die Krankenwagen haben auf den Unfall gewartet?“
„So ziemlich. Mir ist es erst später eingefallen. Sehr viel später“, erklärte Tim.
Sekundenlang schwiegen die Jugendlichen. Dieser Fakt war neu.
*
„Wir sind gleich da!“, verkündete Jan.
Kaum hatte er das ausgesprochen, quietschte, schrie und krachte es fürchterlich.
Tim brüllte am lautesten, weil sein Bein eingeklemmt war.
Wie versteinert saß Heiner Rohrbach mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen Lenkrad und Sitz. Das Lenkrad hielt er mit verkrampften Händen fest.
In einer engen Kurve war ihm der Laster entgegengekommen, hatte den Fiesta frontal gerammt und ihn in den Graben gestoßen, in dem er einen Moment lang hochkant gestanden und sich kurz darauf überschlagen hatte. Schließlich war der Wagen auf dem Dach liegen geblieben.
Alles war extrem schnell gegangen. Moritz weinte bitterlich, während alle anderen schwiegen. Das Autodach unter Moritz hatte etwas nachgegeben.
Ein paar Männer öffneten mit Gewalt die Beifahrertür und zogen erst Jan heraus, der aus seinem Gurt gerutscht und mit dem Kopf gegen den Autohimmel geknallt war. Anschließend stemmten sie den Beifahrersitz aus der Halterung und zogen als Nächsten Philipp, dann Daniel und Moritz und zuletzt Tim aus dem Wrack. Die Kinder wurden auf zwei Krankenwagen verteilt und weggebracht.
*
„Wir wurden geimpft. Ich habe gesagt, dass mir nichts passiert ist. Trotzdem wurden wir geimpft“, raunte Philipp.
„Und dann?“, fragte Daniel. „Erinnert sich einer von euch daran, was dann geschehen ist?“
Ratlos blickten die Freunde einander an. Einer nach dem anderen schüttelte den Kopf.
„Ich bin in einem Zimmer im Krankenhaus aufgewacht“, flüsterte Philipp. „Sie sagten, ich hätte mir bei dem Unfall den Kopf gestoßen. Ich hatte einen großen Kopfverband und hing an einem Tropf.“
„Das Gleiche war bei mir“, sagte Jan.
„Bei mir auch.“
„Und bei mir.“
„Ich hatte auch so einen Kopfverband.“
Daniel dachte nach. „Wie lange mussten wir in den Einzelzimmern bleiben?“
„Ich glaube, dass es mindestens sechs Wochen waren“, antwortete Tim.
„Weit gefehlt.“ Daniel zog ein Schriftstück aus seiner Hosentasche, das ziemlich mitgenommen wirkte, und faltete es auseinander. „Das hier ist die Kopie eines Reports aus dem Heimarchiv. Sie ist der einzige Hinweis auf unseren Unfall, den ich finden konnte. Alle anderen Beweise scheinen penibel entsorgt worden zu sein. Als ich heimlich gesucht habe, kam es mir vor, als hätte man es darauf angelegt, den Unfall ungeschehen zu machen. Als hätte es ihn nie gegeben.“ Er las von dem Zettel ab: „27. Oktober, 10:40 Uhr: Fünf Kinder werden nach langem Krankenhausaufenthalt in die Obhut des Heimes zurückübergeben.“ Daniel fuhr fort: „In Klammern stehen unsere Namen: Jan, Philipp, Daniel, Moritz und Tim.“ Er schwieg für einen Moment. „Wir waren mehr als vier Monate im Krankenhaus“, erklärte er schließlich. „Vier lange Monate!“
„Und Heiner? Hat der mal irgendwas dazu gesagt?“
Daniel faltete den Zettel zusammen und schob ihn zurück in die Gesäßtasche seiner Hose. „Gesagt hat er nichts, aber …“
„Was meinst du mit ‚aber‘?“
*
„Traust du dir das zu?“, fragte Heiner Rohrbach.
Daniel sollte an diesem Abend für drei Stunden auf Heiners Kinder aufpassen: einen pflegeleichten, dreijährigen Jungen und ein vorlautes fünfjähriges Mädchen. Daniel war jetzt siebzehneinhalb. „Klar doch!“
„Okay. Wir beeilen uns. Wenn sie Alarm machen, ruf mich an. Aber nur, wenn sie richtig Alarm machen!“
„Klar doch“, wiederholte Daniel.
„Alarm machen“ gehörte zu Heiners Lieblingsvokabular, das er bei jeder Gelegenheit nutzte.
Kaum hatten er und seine Frau die Wohnung verlassen, schaltete Daniel den Fernseher ein und wandte sich an die Kleinen: „Wenn ihr noch ein bisschen fernsehen wollt, dann seid ruhig. Ich mach was zu essen.“
„Mami hat die Schnitten doch schon geschmiert!“, warf das Mädchen ein.
„Willst du fernsehen oder nicht?“
Bockig setzte sich das Mädchen neben seinen Bruder aufs Sofa und schwieg. Möglichst unauffällig schnappte sich Daniel Heiners Laptop, ging damit in die Küche und lehnte die Tür an. Dann fuhr er das Gerät hoch, das schließlich nach einem Passwort fragte.
Konzentriert saß Daniel auf einem der Küchenstühle und starrte auf den Bildschirm. Das Passwort umging er und fand sich schon bald in den „Eigenen Dateien“ des „Benutzers Heiner“ wieder. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, denn die Datenmenge, die er durchzusehen hatte, war gewaltig. Gefühlt betrachtete er Millionen Bilder, die ihm nicht weiterhalfen, und dann die Textdateien, die er regelrecht in sich aufsaugte. Bingo! Eine Datei, deren Name aus fünf Unterstrichen bestand, war kennwortgeschützt. Sinnvollerweise lautete das Kennwort „YXCVB“, die fünf Buchstaben der unteren Buchstabenleiste einer deutschen Tastatur. – Daniel hatte Heiners Tagebucheinträge gefunden! Und die lieferten einen beinahe lückenlosen Rückblick auf die vergangenen zwölf Jahre.
Heiners Umzug nach Bellitzschlucht, der Beginn als Erzieher im Kinderheim Sperlingshort und während der ersten Zeit sehr oft die Bemerkung: „Heute hat Doktor S. wieder mächtig Alarm gemacht.“
„Was machst du denn da?“
Zu Tode erschrocken blickte Daniel auf. Das Mädchen war in die Küche gekommen. „Nichts“, sagte er ausweichend.
„Das ist Papas Komper!“
„Komper? Du meinst Computer? Nein, das ist meiner. Der sieht nur genauso aus wie der von deinem Papa. Die sehen doch alle gleich aus.“ Daniel erhob sich, öffnete den Kühlschrank und nahm den großen Teller mit den Schnittchen heraus, den Heiners Frau vorbereitet hatte. Den Teller auf der linken Handfläche balancierend, nahm er das Mädchen an die rechte Hand und steuerte auf das Wohnzimmer zu. „Esst jetzt!“, sagte er. „Wenn ihr fertig seid, geht’s ins Bett. Und wenn ihr mich bis dahin noch einmal stört, geht es direkt ins Bett.“
„Ich habe aber Durst!“, flüsterte der Junge, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.
„Ich bring euch was“, versprach Daniel.
Kurz darauf saß er wieder vor dem Laptop, der noch immer, scheinbar unberührt, nach dem Benutzerpasswort für Windows fragte. Daniel blies sich die langen Strähnen aus der Stirn.
„21. Juni. Heute ist mir etwas ganz Dämliches passiert. Ich habe fünf Jungs zum Sportplatz gebracht und ein Laster von WMTB hat mich frontal gerammt. Er hätte vor der Kurve anhalten müssen. Die Jungs mussten alle ins Krankenhaus. Dr. S. sprach von schweren Kopfverletzungen. Ich habe mir die Rippen geprellt und verspüre starke Schmerzen.“
Daniel arbeitete sich weiter vor.
„15. August. Dr. S. macht erstaunlich wenig Alarm wegen des Unfalls. … 22. August. Meinen Rippen geht es besser, ich bin wieder auf Arbeit. Die Jungs liegen immer noch im Krankenhaus. Ich frage mich, warum. So schlimm sahen sie nicht aus. … 14. September. Die Versicherung von
WMTB hat endlich gezahlt. 6.000 Euro für den Fiesta und Schmerzensgeld. … 16. September. Ich habe mir einen Golf gekauft und kann endlich wieder fahren. … 17. September. Ich war im Krankenhaus in Bergstadt, wollte die Jungs besuchen. Es heißt, sie wären in einer Spezialklinik im Westen. Also: 80 Kilometer umsonst gefahren. …“
Aufgeregt fuhr sich Daniel mit der Hand durch die Mähne. Keine weiteren Einträge. Auch im Oktober nicht. Dabei hätte sich Heiner doch freuen müssen, als die Opfer seines Unfalls aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Noch dazu alle fünf gleichzeitig.
*
„Gleichzeitig“, sagte Daniel. „Ist das nicht merkwürdig?“
Tim kratzte sich am Kinn, als wollte er auf die paar Härchen aufmerksam machen, die sich dort einen Weg in die Freiheit bahnten. „Irgendwann kam abends eine Schwester rein. Ich erinnere mich genau, weil die Spritze, die sie mir gab, so wehgetan hat. Sie sagte, das wäre gegen die Infektion. Und am nächsten Morgen bin ich in einem ganz anderen Bett aufgewacht.“
Die vier Jungen nickten Tim zu.
„Wir haben wahrscheinlich alle das Gleiche erlebt. Sie haben uns unter Narkose gesetzt. Und … sie haben mit uns gemacht, was auch immer sie wollten. Speziell mit unseren Köpfen.“
„Aber wer?“, fragte Philipp. „Wer soll das gewesen sein?“
„So weit sind wir noch nicht.“ Daniel verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich gehe davon aus, dass man uns irgendwas eingepflanzt hat, das unsere Gehirne beeinflusst. Ich habe mit einer Schwester aus dem Krankenhaus in Bergstadt gepennt. Ein hübsches Luder, das könnt ihr mir glauben. Sie hat für mich das Archiv durchforstet. Und ich sage euch: Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass wir uns jemals dort aufgehalten haben.“
Moritz dachte nach. „WMTB? Kann es sein, dass die da mit drinstecken?“
„Gut möglich. Der Laster, der uns gerammt hat, gehört zur Werner Mohr Transport GmbH Bellitzschlucht. Der Fahrer, ein gewisser Frank-Uwe Hermann, kam vier Monate nach dem Unfall bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Sehr tragisch. Ein Kran hat einen mit Abbruch gefüllten Container abgestellt und Frank-Uwe Hermann darunter platt gequetscht. Total platt. So stand es in der Zeitung. Zufälle gibt es …“ Daniel zwang sich ein bitterböses Lächeln ins Gesicht.
„Sie wollten nur vier“, flüsterte Moritz. „Mich dürre Gräte wollten die nicht. Hättet ihr nicht gefordert, dass ich mitkomme, dann hätte es mich …“
„Hätte, hätte, Fahrradkette!“ Daniel verpasste Moritz eine Kopfnuss. „Haben wir etwa gewusst, was passieren würde?“
„Das war kein Vorwurf! Das wollte ich wirklich nicht.“
„Glaube ich dir doch“, beschwichtigte Daniel. „Wir könnten Heiner Rohrbach in die Mangel nehmen. Vielleicht weiß er mehr, als sein Tagebuch preisgibt. Wir sollten ihn bestechen. Wegen seiner Hanfsucht ist er doch dauernd klamm. Und dann sehen wir weiter.“
Moritz nickte. „Ich kann das übernehmen. Philipp hat momentan so seine Probleme.“
„Es gibt ein Indianerzelt, aber keinen Zeltindianer …“, flüsterte Philipp. Dabei wippte sein Oberkörper vor und zurück.
*
„Hallo!“ Daniel betrat den Bürocontainer und nickte dem einzig anwesenden Mädchen zu. „Ich hab da mal eine Frage.“
Das junge Fräulein erhob sich und zog die Bluse glatt. „Sag mal, bist du nicht Daniel? Der aus dem Kinderheim? Wir sind mal zusammen in eine Klasse …“
„Klar doch! In der Mittelschule. – Katrin?“
Beide erröteten. Sie nickte und strich ihr rotes Haar nach hinten.
Daniel setzte sich auf die Schreibtischkante. „Seit wann arbeitest du in der Transportbude?“
„Eine Ewigkeit schon. Die Werner Mohr Transport GmbH war mein Lehrbetrieb.“ Sie himmelte Daniel an, das spürte er. „Und du? Was suchst du hier?“
Lächelnd antwortete Daniel: „Ich brauche deine Hilfe. Und niemand sollte davon erfahren.“
„Hm.“ Sie näherte sich ihm. „Womit sollte gerade ich dir helfen können?“
Daniel stotterte: „Ich … du …“
„Was, ich, du?“
Verunsichert fragte er: „Ist wirklich außer dir niemand hier?“
„Nein. Die sind alle auf Tour. Ich erledige den Schreibkram und bewache das Telefon. Das ist nicht sehr aufregend. Nun sag schon: Was willst du wirklich?“
„Gibt es eine Akte von einem gewissen Frank-Uwe Hermann? Er hat vor vielen Jahren einen Unfall gebaut. Dabei wurden fünf Jungs vom Sperlingshort verletzt, darunter auch ich. Nicht lange danach wurde er selbst getötet. Ich muss mehr über den ersten Unfall wissen.“
Sie musterte ihn stumm.
„Bitte, Katrin“, flüsterte Daniel. Diese Katrin! Das Miststück hatte früher immer zwischen den schmalbrüstigen Städtern gestanden und gegen die Heimkinder gewettert. Trotzdem hatte sie auch Daniel angemacht, während der Pubertät, wie wahrscheinlich fast alle Jungs aus der Klasse. Immerhin, sie hatte sich inzwischen ganz schön rausgemacht. Keine Frage, sie passte in Daniels Beuteschema.
„Wenn ich dir helfe, küsst du mich. Okay?“
Daniel schluckte überrascht. „Ich soll …“
Katrin grinste. „Ich wollte dich schon immer mal küssen. Aber du hast nie gemerkt, dass ich was von dir wollte.“
„Ach, wolltest du wirklich? Hast du uns Heimkinder nicht immer runtergemacht?“
„Sorry, das gehörte zum guten Ton. – Was ist denn nun? Deal?“
Eine Sekunde verging. Dann flüsterte Daniel: „Okay, Deal.“
Katrin trat ans Fenster und warf einen Blick hinaus auf den Platz, dann ging sie zu einem Regal und ließ ihren Blick über die Ordnerrücken schweifen. Kurz darauf zog sie einen Ordner heraus, legte ihn auf den Schreibtisch und schlug ihn auf. „Du weißt schon, dass mich das meinen Arbeitsplatz kosten kann. Von wegen Datenschutz und so.“
„Was andere nicht wissen, macht sie nicht heiß.“ Daniel stöberte bereits in dem Ordner, in dem er einige Registerblätter mit Namen entdeckte. Unter „Frank-Uwe Hermann“ war ein ganzer Packen Papier abgeheftet. Vom Arbeitsvertrag bis hin zum Unfallhergang, bei dem Hermann ums Leben gekommen war. Ohne innezuhalten, überflog Daniel einige der Blätter. Eine Abmahnung ließ ihn aufmerken. Neugierig begann er zu lesen:
„Frank-Uwe Hermann wird hiermit abgemahnt. Begründung: Unerlaubte Nutzung eines Firmenfahrzeuges für ein privates Geschäft und Herbeiführung eines Verkehrsunfalls. Zudem wird Frank-Uwe Hermann die widerrechtliche Nutzung des Fahrzeuges (RE42897) in Rechnung gestellt.“
Daniel nahm das Blatt heraus. „Davon brauche ich eine Kopie. Und dann müssen wir diese Rechnung Nummer 42897 finden.“
Katrin legte das Blatt in den Kopierer. Während dieser noch vorwärmte, saß sie bereits hinter ihrem Monitor und forschte mittels graziler Tastaturbedienung nach der gesuchten Rechnung. Kurz darauf hielt Daniel beide Blätter in der Hand.
„Rechnung 42897: … berechnen wir 8,4 Kilometer Transportstrecke von sechs Kubikmetern Kies vom Kieswerk zu Dr. M. Sielbach.“
„Der Doktor steckt also dahinter!“, murmelte Daniel. In seinem Kopf arbeitete es. Lächelnd sah er Katrin an. „Ich bin dir sehr dankbar“, sagte er.
„War das etwa alles?“, protestierte sie. „Und was ist mit unserem Deal. Die Fahrer kommen nicht vor 15 Uhr zurück.“ Sie blickte Daniel tief in die Augen. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen. Daniel spitzte die Lippen, woraufhin sie lachte. „Los, komm, ich bring dir das Küssen bei.“
„Und wenn wir zu einem Arzt gehen? Wenn wir mal unsere Köpfe untersuchen lassen?“ Philipp sah Moritz fragend an.
„Das habe ich Daniel auch vorgeschlagen“, antwortete Moritz. Beide saßen auf dem Sofa, der Fernseher lief, es kam Werbung.
„Und?“
„Daniel ist strikt dagegen. Er meint, dass wir nur mit unseren von Fremden unerkannten Fähigkeiten in der Lage sein werden, herauszufinden, wer uns das angetan hat. Und vor allem, warum uns das angetan wurde!“
„Ich werde bald wahnsinnig. Immerzu sehe ich irgendwelche Bilder, ständig höre ich fremde Stimmen. Zahlen und Algorithmen stürmen auf mich ein. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!“ Philipp heulte wie ein Schlosshund. Sein Kopf ruhte an Moritz’ Schulter.
„Du wirst es überstehen. Okay? Wir alle haben es irgendwie überstanden. Eines Tages wirst du diese Fähigkeiten kontrollieren und nutzen können. So wie Daniel.“
„Daniel!“, entfuhr es Philipp. „Immer wieder Daniel! Warum hat er das Recht, über uns zu bestimmen? Mir gehen allmählich die Worte aus. Kapierst du das? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!“ Er konnte sich kaum beruhigen.
„He“, Moritz küsste Philipp auf die Stirn, „ganz ruhig, Kleiner. Daniel hat am meisten Ahnung von uns allen und kann die neuen Fähigkeiten besser nutzen als jeder andere. Schau her!“ Er zog ein Bündel Euroscheine aus der Hosentasche. „Die hat er besorgt.“
„Er hat das Geld geklaut. Daniel klaut doch schon immer.“ Mit dem Handrücken wischte sich Philipp die Tränen aus dem Gesicht.
Moritz verschwand in der Küche und kam mit zwei Tabletten in der einen und einem Glas Wasser in der anderen Hand zurück. „Nimm diese Pillen! Und dann schlaf dich aus. Ich gehe runter zu Heiner und frage ihn aus. Okay?“
Philipp steckte sich die Tabletten in den Mund und nahm einen Schluck aus dem Glas.
„Okay?“, hakte Moritz nach.
Sein Freund nickte und machte es sich auf dem Sofa bequem.
An der Tür angekommen, lauschte Moritz für einen kurzen Augenblick. Dann lief er die Treppe hinunter und klopfte an die Wohnungstür von Familie Rohrbach.
*
„Heiner ist sich ganz sicher, dass wir in der Nähe von Bonn waren.“ Moritz drückte sich das Smartphone ans Ohr und sprach, so leise es ihm möglich war.
„Bonn?“ Daniel am anderen Ende schien nachzudenken, denn er schwieg ein Weilchen. „Hat Heiner eventuell einen Ort namens Dernheide erwähnt?“
„Dern… was? Nein, wieso?“
„Erkläre ich dir später. Mach’s gut jetzt. Und … danke!“
Kaum hatte Daniel das Gespräch beendet, rief Moritz Google auf und sagte: „Google, erkläre mir Dernheide!“ Er schloss die Augen. Bevor Google antworten konnte, sah er bereits die Seite im Netz.
Dernheide, eine Ortschaft in der Nähe von Bonn. 8.791 Einwohner. Ländliche Enklave. Hauptarbeitgeber: Landwirtschaftliche Betriebe und das Deutsche Implantatinstitut.
Mit seinem Gehirn steuerte Moritz die Suchmaschine.
Deutsches Implantatinstitut; Abkürzung DEIMIN, Institut in Dernheide, 18 Kilometer von Bonn entfernt. Zirka 800 Mitarbeiter. Institutschef: Prof. Jan Mottel. Das DEIMIN beschäftigt sich mit der Erforschung, Entwicklung und dem Einsatz von Implantaten in menschlichen Körpern. Es ist dem Gesundheitsministerium unterstellt und wird ausschließlich vom Bund finanziert.
Innerhalb weniger Sekunden lud sich Moritz extreme Mengen von Informationen hoch, sodass sein Kopf zu schmerzen begann.
Dann erst ging er wieder ins Haus und in die Wohnung. „Philipp? – He, wo bist du?“, rief er, nachdem er in allen Räumen nachgesehen hatte, denn auf dem Sofa lag sein Freund nicht.
Philipp war verschwunden!