Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Komplettausgabe der gewaltigen Space Opera »Der Rat der Planeten«: Kriege zwischen Menschheit und Ikoniern bedrohen das Universum. Der Rat der Planeten beweist erneut, dass es unmöglich ist, Korruption, Machtsucht und Geldgier mit vernünftiger Politik zu vereinbaren. Jene, die mit synusischen Fähigkeiten, vererben die Hoffnung auf ewigen Frieden von Generation zu Generation, ihrer Stärke wegen angegriffen und verurteilt. Der alte Muutaapa, Roboter einer früheren Dynastie hoher künstlicher Intelligenz, wacht über die Synusier, bis zum letzten Tag. In dieser Gesamtausgabe wurden verarbeitet: »Der Rat der Planeten – Erstes Buch. Fünfeinhalb Irre im All«, »Der Rat der Planeten – Zweites Buch. Invasion der Robomutanten«, »Der Rat der Planeten – Drittes Buch. Die Rache der Zwillinge«, »Der Rat der Planeten – Viertes Buch. Das intergalaktische Trauerspiel« und »Der Rat der Planeten – Fünftes Buch. Die Kaiserin des Reiches Altoria«.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1543
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Tino Hemmann
Gesamtausgabe der Space Opera
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Geschehnissen und Personen, die es eines Tages geben könnte, wären also rein zufällig und unbeabsichtigt.
In diesem Buch wurden verarbeitet:
»Der Rat der Planeten - Erstes Buch. Fünfeinhalb Irre im All«, Leipzig 2009,
ISBN 978-3-86901-519-4
»Der Rat der Planeten - Zweites Buch. Invasion der Robomutanten«, Leipzig 2009,
ISBN 978-3-86901-656-6
»Der Rat der Planeten - Drittes Buch. Die Rache der Zwillinge«, Leipzig 2009,
ISBN 978-3-86901-700-6
»Der Rat der Planeten - Viertes Buch. Das intergalaktische Trauerspiel«, Leipzig 2010,
ISBN 978-3-86901-903-1
»Der Rat der Planeten - Fünftes Buch. Die Kaiserin des Reiches Altoria«, Leipzig 2010,
ISBN 978-3-86268-068-9
„Der Rat der Planeten“ ist eine registrierte Marke.
Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
www.engelsdorfer-verlag.de
eISBN: 978-3-86268-850-0
Nicht der ist ein besserer Stratege,
der weiß, dass man den Gegner überrumpeln muss, um zu siegen, sondern der, der weiß, wie man das tut.
Stanisław Lem (1921–2006)
Prolog
Planet Heimat
Kontakt
Feesen
Verrat
Krieg
Der Rat der Planeten
Ein Planet namens Erde
Das Ende der Schonzeit
Rückkehr nach Fees
Die Macht der Zwillinge
Universus
Siege und Niederlagen
Invasionen
Aufrüstung
Die Lebenden und die Toten
Machtkampf und Massaker
Das Ende der Monarchie
Einsamkeit
M.A.M.I.
Muutaapa
Der Pakt mit den Terroristen
Rache
Das Opfer
Zurück auf der Erde
Der Fremde
Erster Aufzug
Zweiter Aufzug
Dritter Aufzug
Vierter Aufzug
Fünfter Aufzug
Letzter Aufzug
Die Kaiserin des Reiches Altoria
Bei den Heiden
Das siebte Jahr
Die Heiden
Front im Hinterland
Kampf im Planquader 33-4-V
Der letzte Rat der Planeten
Epilog
Re und Atum spielten. Die beiden fast durchsichtigen Kinder verbanden eine Aufgabe mit dem Spaß, sich in unbekannte Dimensionen zu begeben. Mit seinen Hirnströmen bediente der kleine Atum das Mikroskop, das in ein Staubkorn blickte. Beide Kinder betrachteten den Wiedergeber. Das Bild des Mikroskops, zentillionenfach vergrößert, zeigte drei voneinander getrennte Räume, in denen sich unzählige Nebel-Galaxien bewegten. Ein weiterer Zoom verdeutlichte, dass diese Galaxien aus unzähligen Partikeln bestanden.
›Du kannst einen Szeh-Impuls aktivieren‹, bemerkte Re.
Atum aktivierte den Impuls.
›Es ist nichts passiert‹, stellte Atum fest.
Im selben Moment änderte der Wiedergeber die Bildanzeige. Ein merkwürdiges Teil war zu sehen.
›Was ist das?‹, fragte Atum.
›Ich weiß es nicht‹, antwortete Re.
»Sein Ich ist ein Technikum«, antwortete das merkwürdige Teil auf dem Bildschirm mittels Schallwellenprojektion.
›Ein Technikum? Woher kommst du?‹, fragte Re erstaunt.
»Sein Ich ist in der Welt, der ihr gerade exorbitanten Schaden zufügtet.«
›Wir?‹, fragte Atum.
›Schaden?‹, fragte Re. ›Wir haben doch gar nichts gemacht. Wie ist dein Name? Was ist das für eine Welt?‹
»Ja, ihr«, antwortete das Technikum. »Ja, Schaden durch den Impuls. Sein Ich wird als Muutaapa bezeichnet. Hiesige Welt besteht aus drei Kammern. Sie beherbergt Milliarden Sonnen und Planeten. Es existieren zwei entwickelte Lebensformen. Das intelligente Leben hiesiger Welt muss vor sich selbst geschützt werden. Das begründet die Existenz Seines Ichs.«
›Lebensformen?‹, fragte Atum.
›Können wir diese Lebensformen finden?‹, fragte Re. ›Es wäre gut für die Ausbildung. Wo finden wir sie?‹
»Wasserorganismen sind es. ›Mensch‹ und ›Ikonier‹ bezeichnen sie sich. Re und Atum können sie nicht finden. Re und Atum müssen sie finden. Rettet sie vor dem Missgeschick. Zumindest einige. Bringt sie in ein Paradies. Fruchten wird euer Synus. Mehr Zeit ist Seinem Ich nicht vergönnt, mit Re und Atum zu kommunizieren. Es ist eine Frage der Energie. Sein Ich wird Re und Atum erneut kontaktieren.« Das Technikum verschwand vom Wiedergeber.
Kurz darauf bewegte sich Re. Er schüttelte ein Gläschen.
›Was hast du da?‹, fragte Atum.
›Es ist Synusgas. Geninfiltration. Das Technikum sagte, dass unser Synus fruchten würde. Wir müssen einen Zugang in das Staubkorn finden. Synus wird aus unseren Nerven gewonnen‹, sagte Re. ›Und nun soll es helfen, deren Welt zu retten? Vielleicht war der Szeh-Impuls zu stark für sie?‹
›Ja, Re. Vielleicht war er zu stark.‹ Atum erhöhte den Zoom weiter.
Adam wälzt sich unruhig hin und her. Prüfungen stehen an. Der Zwölfjährige liegt im Halbschlaf, träumt merkwürdige Dinge von seltsamen goldenen Menschen auf einem ebenso merkwürdigen Doppelplaneten.
Plötzlich nimmt der Junge eine bezaubernde Stimme wahr.
»Adam? Hörst du mich?« Ganz deutlich erscheinen ihm die Worte.
Er erwacht vollends und blickt sich erstaunt im Zimmer des Internats um, das in der grauen Dunkelheit keine fremde Person offenbart.
»Wer ist da?«, haucht der Junge.
»Hör mir zu, Adam. Ich muss dich treffen. Die Zeit ist gekommen«, flüstert die Frauenstimme.
»Welche Zeit? Warum treffen? Wer bist du?«
»Das wirst du bald schon erfahren, Adam. Überwache deinen Halbbruder und folge ihm.«
Adam schluckt. »Halbbruder? Ich habe keinen Halbbruder!«
»Du wirst wissen, wen ich meine. Er führt dich zu mir, nur er kennt die Signale.«
»Signale? Welche verdammten Signale meinst du?«
»Achte auf ihn. Es ist wichtig, Adam. Die Existenz aller Menschen hängt davon ab«, antwortet die Stimme vertrauenerweckend und lieblich. »Nicht nur die deines Planeten.«
»Warum kommst du zu mir?«
»Nur du hast die synusischen Fähigkeiten, Adam.«
»Ich habe die … was?«, fragt der Junge, schließt die Augen und öffnet sie wieder. Die Stimme im Traum hat ihn an die Mutter erinnert. Adam springt auf, öffnet das Nachtschränkchen, nimmt sein Minidatenbuch heraus und schaltet es ein. Dann ortet er den Bruder, der irgendwo weit entfernt studiert.
»Hallo Josef«, flüstert er, als die Verbindung endlich steht.
Josef schaut den kleinen lästigen Bruder müde an. »Was willst du, aufdringlicher Hosenscheißer?«
»Falls du nicht mein Bruder, sondern nur mein Halbbruder bist, habe ich eine wichtige Frage an dich. Unser Leben hängt davon ab! Also belüge mich nicht. Stimmt es, dass du Signale aus dem All gehört hast? – Hallo? Josef?«
Das Schweigen am anderen Ende bejaht die Frage des Kindes.
*
»Ich finde, im Bio-Suit-Anzug kommt mein Knackarsch erst richtig zur Geltung.« Müllermann fuhr sich sanft über den deftigen Hintern.
Komsomolzev wendete sich angewidert ab. »Selbst überschätzen du dich tust. Winzig dein Penis und fett dein Arsch ist, ich erkennen kann«, flüsterte er.
Müllermann nahm die Hand von achtern und betrachtete ausgiebig den vorderen Bereich des hauteng anliegenden elastischen Ganzkörperanzuges, wo sich nur in der Bauchgegend ein schwellender und faltiger Berg abhob. Anschließend wendete er sich Komsomolzevs Genitalbereich zu und schüttelte den Kopf. »Ihr Kandaren denkt auch, dass ihr was Besonderes seid, nur weil die Reaktorunfälle in eurem Land eure Schniepel mutieren ließen?«
»Könnt ihr vielleicht mal aufhören mit der Streiterei?«, fragte Simon, der Älteste in der Gruppe. Er hielt den Helm abmarschbereit unter dem Arm.
»Wer sagt denn, dass wir streiten? Wir kommunizieren auf unterster Ebene.«
Der oststämmige Kandare grinste während der folgenden Worte: »Benachteiligt er sich fühlt. Die Wahrheit nicht verkraften er kann.«
»Rede ordentlich, Kandare!«, mischte sich Tämmler ein.
Die Männer hatten sich nach einem letzten Duschgang im Wohnzimmer der Zweiraumwohnung getroffen, um dort zwischen Sofa und Plasmafernseher beträchtlichen Ausmaßes die Weltraumbekleidung – und zunächst tatsächlich nur diese – anzuziehen. Die Bio-Suit-Anzüge, die seit einigen Jahren von den meisten Raumfahrtunternehmen genutzt wurden, bestanden aus nur einem Teil mit einem speziellen Vakuumverschluss und einer Anbindung zum Helm. In Raumfahrerkreisen nannte man die Bekleidung liebevoll Ersatzhaut. Die Anzüge waren weiß, die eingearbeiteten Schuhe mit zuschaltbarem Magnetfeld wirkten grazil gegenüber den Vorgängermodellen. Die luetische Flagge auf der linken Brustseite zeugte davon, dass Samuel Simon die Anzüge bei einem luetischen Online-Händler ersteigert hatte, was ihre Originalität zwar in Frage stellte, ihre Funktionalität jedoch nicht einschränkte.
Simon legte Komsomolzev die rechte Hand auf die Schulter. »Juri, lass dich von diesen hirnrissigen Idioten nicht ärgern. Die Anzüge sind jedenfalls spitze und das absolut Modernste, was es derzeit auf dem Markt gibt.«
»Gut auch mir erscheinen sie. Doch ob wirklich getestet in der Praxis sie sind, das interessieren mich würde«, sagte der Kandare.
Die Badezimmertür öffnete sich, so blieb Simon weitere Erklärungen schuldig. »Täterätä!« Das Mädchen stand jäh im Flur und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Es trug den Helm auf dem Kopf und den Anzug wie eine zweite Haut. Der Anzug lag so eng an seinem Körper, dass man jede Falte gesehen hätte, wenn da eine gewesen wäre. Zwei üppige Hügel, die zarten Schatten der Rippen, den Bauchnabel, den Po, die schlanken Schenkel, selbst den Venushügel und die schmale Furche darunter – die Männer sahen einfach alles. Und das ausgiebig.
Sonja Esther klappte das Visier hoch und betrachtete die Kerle argwöhnisch. »Könnt ihr euch mal zusammenreißen und nicht mit eurem Speichel herumsabbern?«
Gleichzeitig hielten sich die Männer schützend die Hände vor die Genitalien.
»Medizinisch gesehen ist der Priapismus eine schmerzhafte Angelegenheit, die sofort behandelt werden sollte. Bei manchen Schmerzarten hilft ein Gegenschmerz. Soll ich euch vorsorglich in die Eier treten?« Das Mädchen schien seine Worte ernst zu meinen.
»Die Aktionen der Schwellkörperchen beeinflussen ich nicht kann.« Komsomolzevs Zahn tropfte, er verdrehte die Augen.
»Für eine Diskussion haben wir jetzt keine Zeit«, stellte Simon mit einem Blick auf die Uhr fest. »Ihr benehmt euch wie Kinder! Zieht eure normale Kleidung über den Raumanzügen an. Es ist höchste Zeit. Nun macht schon! Wir müssen los.«
»Haben wir alles?«, fragte Müllermann, um sich selbst abzulenken. »Haben wir wirklich an alles gedacht?«
»Die Koffer sind im Fahrzeug, vergesst die Helme nicht.«
Simon versuchte, aufmunternd zu lächeln. Er wusste von den Gefühlen der Kameraden. Einer nach dem anderen verließ wortlos seine Wohnung. Zuletzt warf der Chef noch einen Blick zurück, schloss die Tür, verriegelte das elektronische Schloss und steckte die Fernbedienung in den Briefschlitz. »Auf nach Sariena«, flüsterte er. »Und dann ans Ende der Welt.« Fast lautlos folgte er den anderen durch das Treppenhaus.
Nun war es endlich so weit!
*
»Beschwören wir nicht die geballte Wut der Menschen herauf, wenn wir einen ihrer Planeten vernichten?« Unterwürfig sabberte Graf Alucard, obwohl sein Gegenüber nur eine holografische Erscheinung war.
Diese Erscheinung lachte speiend auf und bewegte wirsch die Tentakel. »Menschen! Die meisten Menschen ahnen nicht einmal, dass FV1 überhaupt existiert, geschweige denn, dass er bewohnt wäre!« Admiral Alyta schritt an der Front unzähliger Lecoh-Legionäre vorüber. »Vernichtet das Leben auf FV1. Anschließend schicke ich Truppen, die diesen strategisch wichtigen Punkt in unmittelbarer Nähe des Distriktenübergangs besetzen werden. Und außerdem: FV1 ist reich an Bodenschätzen.«
»Der Hass der Menschen wird uns gewiss sein«, wagte Graf Alucard den Befehl des Admirals anzuzweifeln.
»Was schert mich der Hass der Menschen?«, brüllte Admiral Alyta. »Seit wann fürchtest du dich vor dieser Rasse, Alucard? Nimm dir ein Beispiel an deinem holden Weib!« Alytas holografisch erzeugte Tentakel schienen den Körper der Gräfin Allimdul berühren zu wollen. »Dein Weib strotzt vor Entschlossenheit. Ich hätte ihr die Befehlsgewalt über meinen glorreichen Kampfkreuzer überlassen sollen, nicht einem Feigling, der befürchtet, sich die Tentakel zu verbrennen!«
»Entschuldigt, Admiral. Selbstverständlich werde ich Eure Befehle ausführen.« Noch einmal sabberte Alyta lustvoll. »Ich habe nichts anderes erwartet. Gewiss wird dir ein Ehrenhain auf Ikonia geschaffen werden. Zudem habe ich bereits einen großen Landstrich für deinen Ruhesitz auf Lunanova erworben, Graf Alucard. Das sollte deinen Mut wachsen lassen.«
»Gewiss, mein Admiral«, versicherte der Graf, »er könnte nicht größer sein.«
Kurze Zeit darauf bewegte sich der Ikonische Kampfkreuzer IKK 8 mit hoher Geschwindigkeit durch den Dritten Distrikt auf den Übergang zum Ersten Distrikt zu. Dorthin, wo FV1 – in der Sprache seiner Bewohner schlicht »Heimat« genannt – unablässig seine Runden drehte.
*
»Was ist los?« Tämmler blickte Müllermann über die Schulter. Auf dessen Bildschirm war nichts als Wirrwarr zu sehen.
Müllermann hörte ihn nicht, aus seinen Ohrsteckern drang lautes Rauschen. Darum klopfte ihm Tämmler dreimal kräftig auf den Kopf.
Der Kollege schob eine Strähne aus seinem Gesicht. »Das ist unmöglich«, sagte er sehr laut. »Das kann unmöglich wahr sein.«
»Was ist unmöglich?«
Müllermann, Student im siebzehnten Semester, zog die Ohrstecker aus seinen Ohren, kratzte sich im Gesicht und blickte Tämmler, der es bislang lediglich auf zwölf Semester gebracht hatte, genauso an, als wenn er ein Hund mit acht Beinen wäre, der gerade sein Geschäft mitten ins Wohnzimmer gemacht hat. »Ich habe die Übersetzungsfrequenz gefunden. Ich habe endlich den Durchbruch geschafft! Und nun das!« Er griff sich Tämmlers dicke Unterarme. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«
»Wovon redest du, Josef?«
Müllermann reichte dem Kollegen die Ohrhörer und fummelte an der Technik herum. Emmanuel Tämmler wischte das Ohrenschmalz, das sich an den Ohrsteckern befand, an seinem Kittel ab und steckte diese bis zum Anschlag in seine Ohren.
Zunächst hörte er lediglich ein gedämpftes Rauschen. Allmählich aber schien es ihm, als könnte er neben dem Rauschen einen röchelnden Schrei vernehmen. Der technische Assistent fing Tonfetzen auf, die er weder verstehen noch verarbeiten konnte. Irgendwann erstarb der merkwürdige Klang und mit ihm das ewige Rauschen.
Emmanuel Tämmler betrachtete seinen studentischen Kollegen inbrünstig und sah dessen sich bewegende Lippen. Hinweis genug, sich die Ohrstecker wieder aus den Ohren zu fummeln und zu fragen: »Was?«
»Was meinst du mit ›Was?‹?«
Tämmler beugte sich herunter und blickte Müllermann aus nächster Nähe fragend an. »Mit ›Was?‹ meine ich das Folgende: Ich will wissen, was ich da gerade für einen Rülps gehört habe.«
»Der Rülps«, flüsterte Müllermann, »ist ein Ton. Wie soll ich dir das erklären?«
»Du musst es einfach so erklären, dass auch ich es verstehen kann.« Tämmler grinste. »Wie du das bewerkstelligst, ist deine Sache.«
Müllermann nahm Zettel und Stift zur Hand. »In Ordnung, für dich in einfachen Worten: Hier ist unser Heimatplanet.« Er malte einen winzigen Kreis auf den Zettel. »Und hier ist das OSAS-Röntgen-Teleskop Alpha 212 in unmittelbarer Nähe. Es fängt Röntgenstrahlen auf, die von der Atmosphäre unseres Planeten verschluckt werden.« Mit der Spitze des Stiftes machte er einen Punkt in unmittelbarer Nähe des Heimatplaneten. Dann zeichnete er eine ovale Form. »Das ist unsere Galaxis. In diesem Seitenarm, dreißigtausend Lichtjahre vom Zentrum unserer Galaxis entfernt, dreht sich unser Planet. Und hier – gerade mal zwanzig Komma vier Lichtjahre von uns entfernt, befindet sich das Sonnensystem KL 581. In diesem Sonnensystem sind uns mittlerweile fünf Planeten bekannt, die mit den einfallsreichen Namen KL 581 b bis f getauft wurden. Interessant ist lediglich der Planet c, da er sich in einer habitablen Zone befindet. Betrachtet man das Alter des Systems und den Umstand, dass KL 581 c anderthalbmal so dick ist wie unser Planet, könnte es durchaus sein, dass sich dort Leben entwickelt hat – Leben, das jedoch äußerst resistent gegenüber Röntgenstrahlen sein müsste.« Müllermann betrachtete den korpulenten Tämmler abwartend, während er sich erneut die blonde Strähne aus der Stirn wischte. »Kapiert?«
»Du hast also einen Funkspruch der Fremden aufgefangen?«, fragte Tämmler ernst.
»Sagen wir, ich konnte was von ihnen hören. Den Rülps. Ich habe vor Monaten das OSAS-Teleskop angezapft, das zu einem Lauschangriff auf KL 581 ausgerichtet war.«
»Angezapft. Ich verstehe. Und mit welchem Ergebnis?«
»Nun …« Müllermann zögerte. »Fälschlicherweise denken die meisten Leute, im Weltall wäre es still. Das stimmt aber so nicht.«
»Wenn du das sagst.«
»Man sieht den Schall.«
»Also kann man im All mit den Augen hören? Oder mit den Ohren sehen?« Ein breites Grinsen begleitete Tämmlers Bemerkung. »Das ist mir allerdings neu.«
»Entschuldigung, ich vergaß: Du hast ja keine Ahnung davon, denn das ist mein Fachgebiet. Bloß ist es nicht ganz so einfach, einem groben Techniker, wie du es bist, einen so komplizierten wissenschaftlichen Vorgang zu erklären.«
»Versuch es! Helden werden nicht geboren. Man muss sie züchten.«
»In Ordnung. Einen Versuch hast du. Im Sternensystem KL 581 gibt es ziemlich viel Staub, Müll oder Gaswolken, was weiß ich. Töne entstehen aus Schallwellen. Anders gesagt: Schall reist, im Unterschied zum Licht und zu anderen elektromagnetischen Wellen, durch Ausnutzung der Kompression eines Mediums vorwärts. In unserer Atmosphäre werden die Luftmoleküle dort, wo ein Geräusch entsteht, zusammengepresst. Sie breiten sich schließlich als Druckwelle aus. Das gleiche Prinzip funktioniert auch unter Wasser, nur dass die Geräusche dort schlechter vorwärts kommen, da Wasser ein bisschen zäher ist als Luft. Auch feste Materie, wie unser Planet, transportiert Schallwellen, so dass seismische Erdbebenwellen über sehr weite Entfernungen gemessen werden können. Schallwellen sind also nichts weiter als Wellen von Druckunterschieden, die im Weltall durch Gas reisen.«
»Komm zur Sache.«
Müllermann ließ sich nicht stören. »Sind Partikel da – und das ist im All stellenweise der Fall – dann bildet sich nach dem Ursprungsgeräusch eine Schallspitze, die immer weiter wandert, obwohl letztendlich kein Partikel seine aktuelle Position verlässt. Nur durch das Anstoßen der Partikel erfolgt die Übertragung des Geräusches. Während die Tonwelle das Gas durchwandert, stoßen die Atome häufiger zusammen, wobei wiederum Röntgenstrahlung entsteht. Und diese Röntgenstrahlung erscheint in Form von Ringen. Als Teil des elektromagnetischen Strahlungsspektrums kann Röntgenstrahlung genauso wie Licht durch den leeren Raum reisen und von einem guten OSAS-Teleskop wie Alpha 212, dessen Einzelteile immerhin aus unserem Land stammen, gesehen werden. – Verstanden?« Abwartend sah Müllermann Tämmler an.
»Im Großen und Ganzen habe ich dich verstanden. Mir ist nur eines nach wie vor nicht ganz klar. Du sagtest: ›Und nun das!‹«
»Und nun das?« Müllermann, sechsundzwanzig Jahre alt und damit ein Jahr jünger als sein Kollege, dachte einen Moment lang nach. Dann griff er wieder zum Stift. »Und nun das«, wiederholte er. »Unter Zuhilfenahme der durch unsere glorreichen von Spenden finanzierten technischen Universitäts-Einrichtungen konnte ich die Muster der Wellen zurückverfolgen und hörbar machen.« Er zog mit dem Stift eine Linie von KL 58 zum Heimatplaneten. Anschließend zeichnete er auf die Linie zwei winzige Kreuze in unmittelbarer Nähe des kleinen Kreises, der den Planeten KL 581 c darstellen sollte. »Es gibt zwei Punkte – sprich zwei Töne – im Abstand von etwa fünfhunderttausend Kilometern. Der erste hier, der zweite hier. Die Töne erklangen innerhalb von gerade mal dreißig Sekunden, immer vorausgesetzt, dass meine Berechnungen stimmen. Die Richtung ist klar. Das, was du hier als Linie siehst, ist der direkte Weg zu unserem Planeten, wenn das Ziel erreicht werden soll und der Weg nicht irgendwo unterwegs enden wird. Zwischen den beiden Tönen wurde ein Objekt beschleunigt, sagen wir ein Raumschiff – wie ich annehme. Dann kam dieses Raumschiff in den dreißig Sekunden auf eine Geschwindigkeit von etwa sechzig Millionen Kilometer pro Stunde. An Punkt zwei verließ es eine Gaswolke. Es wäre spekulativ, die Geschwindigkeit zu bestimmen, hätte man keinen dritten Ton. Nach wochenlangem Suchen fand ich diesen kleinen, leisen Pups – eine winzige Röntgenwelle im unendlichen All. Beim Abschalten oder Runterfahren des Triebwerkes stieß das Objekt eine Unmenge von Gas aus, das es noch einmal für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar machte. Sichtbar in Form eines Tons! Und dieser dritte Ton liegt genau eins Komma zwei Millionen Kilometer vom zweiten entfernt und wurde in einer Zeit von sage und schreibe vier Sekunden erreicht. Nun kannst selbst du verhältnismäßig schnell ausrechnen, dass dies so ziemlich genau dem magischen Wert von dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde entspricht, denn das ist die …« Müllermann ließ absichtlich eine Pause.
»… Lichtgeschwindigkeit?«
»Richtig! Die Lichtgeschwindigkeit. Geht man davon aus, dass sich das Objekt in einer Beschleunigungsphase befand, dürfte seine Geschwindigkeit aber deutlich darüber liegen. Falls das technisch funktioniert.«
»Du meinst, das Ding ist schneller als das Licht?«, fragte Tämmler erstaunt.
»Ich meine es nicht, ich nehme es nach Auswertung meiner Forschungsergebnisse als gegeben an. Und ich bin mir sicher. Daher wird auch niemand das fremde Raumdings zu sehen bekommen, bis es wieder abbremst.«
»Völlig klar aber auch.« Tämmler streckte sich ruckartig. »Ich flieg jetzt mit Überlichtgeschwindigkeit in die Mensa. Und du solltest besser einen Arzt aufsuchen.«
»Einen Arzt? Warum?« Müllermann schaltete rasch den Bildschirm aus und folgte Tämmler auf dem Fuß. »Denkst du vielleicht, ich bin verrückt?«
»Kann ein Mann in deinem Alter noch so naiv sein? Ich denke es nicht nur, ich weiß, dass du es ganz bestimmt bist.«
»Aber …«, stammelte Müllermann. »Mathematisch gesehen …«
»Lass mich mit deiner Mathematik in Ruhe! Nimm ein einfaches Beispiel: Wenn ich mir zwei Lunchpakete kaufe und beide sofort auffresse, wie viele habe ich dann übrig?«
Sie betraten gleichzeitig den gläsernen Aufzug.
»Keins mehr«, bekam er zur Antwort.
»Mathematisch gesehen ist also zwei gleich null. Und wenn ich die Lunchpakete wieder ausscheiße? Wie viele sind es dann?«
»Ein stinkender Berg. Wahrscheinlich eins …«
»Zwei gleich eins gleich null. So viel zur Mathematik.« Tämmler griff sich an den Kopf. »Logik ist entscheidend. Irgendwer hat irgendwann mathematisch berechnet, dass die Temperatur auf der Onarius vierunddreißig Grad minus beträgt. Und die erste Sonde vor Ort hat was von dreihundertvierzig Grad plus gemessen. Wem vertraust du mehr?«
»Ich habe mit Hilfe einer komplizierten Wahrscheinlichkeitsrechnung herausgefunden, dass unser Objekt unter Berücksichtigung der Beschleunigung und der notwendigen Abbremsung den Weg von KL 581 bis zu uns in gerade mal fünf Monaten zurücklegt.«
Tämmler berührte den Wahlsensor an der Essenausgabe und nahm, nachdem der Küchencomputer sein obligatorisches »Vielen Dank für Ihre Wahl und guten Appetit!« von sich gegeben hatte, eine dampfende Pizza in Empfang. »Unser Objekt?«, fragte er lakonisch, während seine Blicke einen freien Tisch suchten. »Dein Objekt, mein lieber verrückter Herr Professor. Dein Objekt. Zieh mich in einen solchen Scheiß bloß nicht mit rein. Ich habe reichlich eigene Probleme.«
Müllermann bestellte die Kartoffelsuppe. Bereits beim Erklingen der Computerstimme »Vielen Dank für Ihre Wahl und guten Appetit!« schwappte das erste Mal die heiße Suppe über seine Finger. In der Mensa hinterließ er eine Suppenspur auf dem dunkelgrün glänzenden Fußboden. Er setzte sich Tämmler gegenüber und leckte sich die verbrühten Finger. Der ältere Kollege schüttelte den Kopf, grinste und schnitt seine Pizza in gleichmäßige Teile.
»Vielleicht haben wir bald alle Probleme, von denen wir noch nichts ahnen. Denn das eigentliche Problem ist …« Müllermann unterbrach sich.
Ein äußerst attraktives Mädchen näherte sich dem Tisch und zog die Blicke der beiden jungen Männer auf sich. Ihr Körper war delikat geformt, lange dunkle Haare lagen auf ihren Schultern und ein kurzer Rock gab ihrem Popo das anziehende, rundliche Etwas. Die modernen silbernen Stiefel reichten bis zu ihren zarten Knien. Das Gesicht war schmal mit rosa Wangen und dicken Lippen, die Wimpern lang, eine Taille war praktisch nicht zu erkennen. Doch der absolute Blickfang, Eyecatcher ihres Traumkörpers, war ein wohlgeformter Busen, nur zur Hälfte von einem fast durchsichtigen, fliederfarbenen, ärmellosen T-Shirt bedeckt, unter dem die warum auch immer erregten Warzen winzige Hügel bildeten, die beide Kerle magisch verzauberten. Auf der Vorderseite des T-Shirts prangte zudem der provozierende Text: »Ich bin zu haben«, darunter in Klammern: »für zwei Mio. Credits«.
»Los, frag schon, ob hier noch frei ist!«, flehte Tämmler flüsternd und klappte die Beine zusammen, während er von seiner Pizza aß. »Bitte!«
»Hallo!«, erklang ihre Stimme. »Ist bei euch noch ein Platz frei?«
Tämmler nickte, während ihm ein Bissen aus dem Mund fiel. Das Mädchen stellte den Teller ab und setzte sich direkt neben ihn. Für eine Sekunde wanderte Tämmlers Blick über ihren Schoß und blieb an den zarten Oberschenkeln hängen. Müllermann hingegen löffelte leicht erregt, jedoch wortlos seine Suppe.
»Geht’s nicht billiger?«, fragte Tämmler, nachdem sich sein Puls etwas beruhigt hatte.
Sie grinste ihn mitleidig an. »Nö, auf keinen Fall. Bist wohl notgeil oder was?«
»Ich? Ja, immer. Entschuldigung, Emmanuel ist mein Name. Meine Freunde nennen mich Emma. Das da ist Josef. – Du hast auch die Pizza genommen?«
»Sieht jedenfalls aus wie Pizza«, antwortete sie. »Sonja Esther. Und meine Freunde nennen mich Sonja Esther.«
Tämmler sog den Geruch ihres Parfüms ein. Sie roch so frisch, so betörend. »Du riechst gut.«
»Danke. Ich musste gerade eine Leiche zerschneiden, die hat fürchterlich gemuffelt. Darum das Parfüm.«
Das Stück Pizza blieb Tämmler im Hals stecken. Müllermann kleckerte einen Löffel Kartoffelsuppe neben den Teller.
»Du hast … was?«
Sie sah grinsend auf. »Ich bin Biologin im sechsten Semester. Sachgebiet Kryonik.«
»Kryonik?«, fragte Tämmler. »Ist das was zum Essen?«
»Nein. Nicht direkt.«
Nun grinste Müllermann. »Kryonik … Kryoniker? Sind das nicht die Verrückten, die daran glauben, dass Tote nach dem Tod noch eine Weile leben?«
Sie nickte erstaunt. »Du weißt ja mehr als die meisten anderen deiner männlichen Art, Josef.« Zwischenzeitlich schnitt sie winzige Happen von der Pizza ab und leckte sich immer wieder über die aufregenden Lippen. »Heutzutage hat der Begriff jedoch eine völlig andere Bedeutung gewonnen. Wissenschaftlich gesehen gehöre ich zu einem überschaubaren Team, das sich weltweit damit beschäftigt, die Lebensuhr von Menschen anhalten und wieder starten zu können.«
»Lebensuhr?«, fragte Tämmler, machte ein höchst interessiertes Gesicht und schob den leeren Teller von sich weg.
»Künstlicher Tiefschlaf«, warf Müllermann ein. »Für die Raumfahrt von höchster Bedeutung.«
»Das ist ja sehr interessant.« Tämmler himmelte die Studentin an. »Und? Geht das?«
»Sagen wir mal so: Die ersten Versuchsobjekte sind leider verwest.«
»Wie – verwest?«
»Viel darf ich nicht sagen. Grundsätzlich haben wir aber schon einige bedeutungsvolle Erfolge erzielt.«
Müllermann kratzte mit dem Löffel im leeren Suppenteller. Schließlich war die Mahlzeit beendet, doch zum Bleiben gab es einen gutaussehenden Grund. Daher suchte Tämmler das Gespräch mit dem Kollegen. »Und was ist das Problem?«
Für einen Moment sah Müllermann die Studentin an, die sich jedoch voll und ganz ihrer Pizza widmete. »Das Problem? – Das Problem ist, dass bereits vier Monate vergangen sind.«
»Also bekommen wir deiner Meinung nach in etwa vier Wochen Besuch von den Aliens?« Tämmler grinste verächtlich.
Sonja Esther schaute erstaunt auf. »Das interessiert mich jetzt aber auch«, meinte sie, und tupfte mit einer Serviette die roten Lippen ab. »Oder wollt ihr mich verscheißern?«
»Niemals«, beteuerte Tämmler. »Der berühmte, an unserem Tisch sitzende Herr Professor Mümmelmann hat entdeckt, dass wir Besuch von weit, weit her bekommen. Er hat es mit eigenen Ohren gesehen. Und du, liebe Sonja, bist das erste Weibchen unserer Zivilisation, das davon erfährt.«
»Erzähl mal!« Die Studentin lächelte Müllermann mit schneeweißen Zähnen an. »Wie kommst du darauf?«
»Das ist eine lange, geheime Geschichte. Emma hat schon viel zu viel gesagt«, flüsterte Müllermann.
Sonja Esther erhob sich. »Na, wenn das so ist … Ihr könnt mich ja besuchen kommen, wenn die Sache nicht mehr so extrem geheim ist.« Noch einmal lächelte sie mit einem frechen Engelsgesicht, um anschließend mit wackelndem Po zu verschwinden.
Tämmler schlug dem studentischen Kollegen gegen die Schulter. »Blödmann! Du hättest sie ruhig noch halten können. Und sie hätte sagen können, wo wir sie finden.« Er war hin und weg. »Womit allerdings erneut bewiesen wäre, dass der Begriff ›Studentin‹ von ›Stute‹ abgeleitet wird. Ist das nicht ein geiles Gestell?«
»Wenn du meinst …« Müllermann war gedanklich in einer anderen Welt als sein Gegenüber. »Was machen wir jetzt?«
»Was wir machen? Ich gehe mich jetzt produktiv ausruhen. Und du solltest einen Bericht für Samuel schreiben. Der wird schon wissen, ob Handlungsbedarf besteht.«
Samuel Simon war gemeint, Chef des Lehrstuhls »Angewandte Weltraumforschung« der Universität. Vierundfünfzigjährig, erhaben, allwissend und bereits silberhaarig. Müllermann nickte zustimmend. In seinem Kopf formten sich die Worte des Berichts.
Emmanuel Tämmler juckte es achtundzwanzig Zentimeter oberhalb der Kniescheiben. Er stand vor dem Spiegel des Männer-WCs und kämmte sich die Haare. Gedanklich verfluchte er die Korpulenz seines Körpers. Letzten Endes dürfte der Hass nur ihm selbst gelten, denn Fitness fördernde Tätigkeiten gehörten nicht zwingend zu seinen Hauptbeschäftigungen. Noch einmal kühlte er das Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete es oberflächlich an einem Lüfter ab, unter den er sich umständlich beugen musste. Dann schlich er in den Wohnraum zurück. In seinen Gehirnzellen hatte sich ein Abbild eingraviert, das unmöglich entfernt werden konnte: Sonja Esther!
»Computer! Bereitschaft!«, forderte der junge Mann.
Ein Bildschirm hellte sich auf. Tämmler ließ sich in den Sessel fallen, mit dem er sich unablässig hin- und herdrehte.
»Lokalisiere Sonja Esther!«
Die monotone Computerstimme meldete: »Bitte konkretisieren Sie Ihre Angaben. Weltweit vierhundertundzwölf Eintragungen.«
»Mein Gott! Natürlich hier in der Uni, Lehrstuhl Biologie, Sachgebiet Kryonik.«
»Sonja Esther befindet sich in Lehrgebäude drei, Labor 714. Soll ich eine visuelle Kommunikation aufbauen?«
»Nein!«, befahl Tämmler erschrocken. »Computer! Ende!«
Der Bildschirm verdunkelte sich.
Mit einem Ruck erhob sich der Student und verließ das Zimmer. Er lief über einen gläsernen, röhrenartigen Gang, der in beachtlicher Höhe von seinem Unigebäude in das Gebäude Nummer drei führte. Anschließend fuhr er mit einem Aufzug in die siebte Etage, wo er sich neu orientieren musste. Kurz darauf stand er vor dem Laborkomplex und zeigte dem Scanner sein rechtes Auge.
»Emmanuel Tämmler, was kann ich für Sie tun?«
»Einlass!«
»Emmanuel Tämmler, Sie sind nicht befugt, den Laborkomplex zu betreten.«
»Leck mich doch!«
»Fehler. Bitte wiederholen Sie!«
»Informiere Sonja Esther, dass ich hier warte.«
»Information erfolgt. Bitte warten.«
Sekunden später öffnete sich die Tür. Tämmlers Herz klopfte verräterisch. Die Studentin stand ihm lächelnd gegenüber. »Du hier?«, fragte sie erstaunt.
»Ja. Ich hier.«
»Komm rein. Ich habe Wache über die Versuchspersonen.«
Der junge Mann transpirierte bereits. Wortlos folgte er.
»Was willst du?«, fragte sie, während beide einen Raum betraten, in dem auf fünf Doppelstockbetten zehn schlafende Menschen – über unzählige Leitungen mit Maschinen und Computern verbunden – lagen.
»Och, nur so …«, antwortete Tämmler. »Habt ihr diese Typen eingefroren?«
Sonja Esther lächelte ein wenig. »Nein, Emma. Wir sind hier nicht in der Science-Fiction. So einfach ist das wirklich nicht.«
Tämmler ließ die linke Hand über eines der schlafenden Gesichter gleiten. »Was habt ihr dann mit ihnen gemacht?«
Die Studentin machte Anstalten, den Raum zu verlassen. »Komm mit«, flüsterte sie.
Tämmler folgte ihr wie ein braves Hündchen. Im Überwachungsraum setzten sie sich nebeneinander auf ein hochmodernes Sofa, das dem Wachhabenden auch als Schlafplatz dienen konnte. Der technische Student himmelte derweil das Mädchen fragend an.
»Das, was wir versuchen, hat mit dem Alterungsprozess zu tun. Die Überlegung war anfangs, ob man den Alterungsprozess für einige Zeit aussetzen kann, wenn ein lebendes Objekt im Koma liegt und keinerlei Energie verbraucht.«
»Und das geht?« Ganz vorsichtig näherte sich Tämmlers Hand der Rechten des Mädchens. Die zog sie jedoch weiter zurück.
»Alterung ist ein biochemischer Prozess. Die Mitochondrien, die sich in deinen Zellen befinden, wandeln den eingeatmeten Sauerstoff in Energie um. Ein geringer Anteil davon wird aber nicht verbraucht. Das, was übrig bleibt, verlässt den Energieumwandlungsprozess mit jeweils einem ungepaarten Elektron auf der letzten Schale und ist deshalb äußerst reaktionsfreudig. So wie du … Diese Sauerstoffatome bilden die Hauptgruppe sogenannter freier Radikale, wir bezeichnen sie als ROS, Reaktive Sauerstoffspezies. Wenn nun diese kleinen, bösen Teilchen auf eine andere Membran oder auf andere Proteine oder Chromosomen treffen, können sie diese beschädigen oder vollständig zerstören. Hast du bis hierher alles kapiert?«
Tämmler rückte näher an das Mädchen heran und beobachtete ihre Lippen. »Rede ruhig weiter«, flüsterte er.
»Um das zu verhindern, hat unsere Industrie seit Langem sogenannte Antioxidationssysteme entwickelt, die in allen möglichen Formen unseren Körpern zugeführt werden können. Das sind zum Beispiel die Vitamine A, C, E, Harnsäure und diverse Enzyme. Die sollen die freien Radikale einfangen. Trotz allem wird jede menschliche Zelle pro Tag etwa achttausend Mal in ihrer DNA beschädigt. Die meisten Schädigungen repariert der Körper von selbst. Doch die restlichen Zellen sterben und sorgen dafür, dass man alt und grau wird und schließlich stirbt.« Sonja Esther zuckte nicht zurück, als Tämmlers Lippen die ihren berührten. Der erste Kuss dauerte länger als zwei Minuten. Zwei Zungen spielten miteinander. Tämmler kochte, seine Hände fuhren sanft über den Körper des Mädchens.
Als sich die Münder voneinander lösten, hauchte er: »Darum sollte man seine Zeit nutzen, solange es die Radikale noch zulassen.«
»Oder«, flüsterte Sonja Esther, »man isoliert die freien Radikale.« Nun drückte sie ihre Lippen auf die seinen. Dabei verlagerte sie ihr Körpergewicht so, dass sich Tämmler hinlegen musste und sie auf ihm lag. Ihre Körper und Hände waren unablässig in Bewegung. Sie drückte Tämmlers Kopf einen Moment weg und löste sich. »Wir haben ein Enzym entwickelt, das die freien Radikale lokalisiert und hundertprozentig bindet. Gleichzeitig versetzen wir den Menschen in einen Zustand, der dem Koma gleichkommt. Das ist die ganze Lösung. Erwachen unsere Versuchsobjekte, wird das Enzym anderweitig beschäftigt und der Alterungsprozess kommt wieder in Gang. Sind sie im Koma, wird die Alterung zu neunundneunzig Komma fünf Prozent gestoppt. So einfach ist …« Weiter kam sie nicht, denn Tämmler kämpfte sich nach oben und küsste sie nun systematisch an allen sichtbaren Körperstellen. Und alle Stellen, die unsichtbar waren, machte er vorübergehend sichtbar.
Vierunddreißig Minuten später lagen beide nackt und keuchend aufeinander, lediglich durch einen Schweißfilm getrennt. Tämmler war glückselig. »Die zwei Millionen Credits kriegst du später«, flüsterte er.
*
Adam wird von starker Müdigkeit überwältigt. Er will nur kurze Zeit ruhen, um anschließend weiterzuarbeiten, doch der Schlaf holt ihn in eine andere Welt.
Im Traum taucht zunächst eine Maske auf. Sie schwimmt in grünem Wasser.
»Hallo«, sagt die Maske nur mit den Mundwinkeln. Sie hat die Stimme eines kleinen Mädchens.
Dann taucht sie aus der Wasseroberfläche auf. Und mit ihr ein Kopf und ein Kind. Das Mädchen mag acht oder neun Jahre alt sein; es ist schlank und nackt und seine Haut schimmert grün. Der Kopf ist von einer silbernen Maske umgeben, nur der Schutz vor den Augen ist durchsichtig. Zwischen den Lippen bewegen sich feine Membranen. Das Mädchen steigt aus dem seichten Wasser und Adam erkennt, dass es sich um einen Pool im Inneren eines Raumes handeln muss. Das Mädchen zeigt keine Scham vor Adam und stellt sich unter eine Dusche, aus der es zischt. Doch Wasser ist nicht zu sehen. Luft trocknet das Mädchen. Adam glaubt, die Wärme zu spüren. Während das Kind mit der grünlichen Haut in einen weiten Anzug schlüpft, der sich von ganz allein schließt und plötzlich eng an ihrem Körper anliegt, als hätte jemand die Luft herausgelassen, flüstert es: »Fürchte dich nicht, Junge. Du bist bei mir. Nur du allein hast es geschafft.«
Im Traum nähert sich Adam dem Mädchen. »Wer bist du? Wo bist du? Was ist das für eine Maske?«
Das Mädchen kichert und das Lachen hallt nach. Es hat eine lustige Stimme. »Antwort eins: Gladiola. Antwort zwei: Aurus, Dritter Distrikt. Antwort drei: Gefällt sie dir?« Sie hüpft davon.
Adam folgt dem zarten Wesen. »Die dritte Antwort ist keine Antwort!«, ruft er ihr nach. »Hast du kein richtiges Gesicht?«
Adam erreicht Gladiola, die stehen bleibt und Adam ausgiebig betrachtet. »Ich mag dich«, sagt sie. »Du bist der Einzige, der sie durchdringt.«
»Der wen durchdringt?«, fragt Adam erstaunt.
Sie schaut hinauf, Adam sieht die rotgelben Augen unter der Maske glänzen. »Die Maske«, antwortet Gladiola.
»Weinst du etwa?«, fragt der Junge zögernd.
Das Mädchen schüttelt ein wenig den Kopf. »Geh nicht weg, Adam. Bitte bleib!«
»Woher weißt du meinen Namen?«
Nun lächelt sie. »Ich weiß ihn, Adam.«
Merkwürdige Gefühle strömen durch Adams Körper. »Mir ist, als wärst du meine Schwester«, flüstert er.
»Ja!«, haucht sie. »Ein wenig ist es so. Deine Gefühle täuschen dich nicht.« Und sie lacht erneut. »Rette mich aus dieser Maske, Adam«, flüstert Gladiola in ein Ohr des Jungen.
Adam schrak aus dem Traum auf und saß kerzengerade in seinem Bett.
»Was ist? Kommst du endlich?« Sein Freund im Internat stand am Fußende des Bettes und hatte laut gefragt.
»Idiot«, flüsterte Adam. »Du hast den ganzen Traum versaut!«
Der andere Junge grinste. »War’s ein feuchter Traum mit geilen Weibern?«
Adam blieb ernst, erhob sich und legte dem Freund die Hände auf die Schultern. »Wenn du meinst … Es war ein feuchter Traum, denn das Mädchen kam aus dem Wasser. Und sinnlich war es auch. Das Mädchen war grün und hat mich geküsst.«
»Igitt!« Der andere Junge riss sich los und rannte aus dem Zimmer.
Adam sah ihm erstaunt nach.
*
Eine Woche war ins Land gegangen. Im Observatorium der Universität herrschte Dunkelheit. Nur ein paar Sterne und Nebelfelder der holografischen Abbildung des Weltalls verbreiteten düsteres Licht. Vier Männer saßen in einer Gruppe im Zentrum des Raumes dicht beieinander. Jeder von ihnen hielt ein Lesegerät in den Händen und blätterte im Touchscreenfeld herum. Nur Josef Müllermann, der junge, blonde Mathematiker, wartete gespannt auf die Reaktion der anderen.
»Interessant mir in vielen Punkten erscheint dein Bericht. Ob die Zeiten stimmen, mir jedoch nicht klar ist.« Mit diesen beiden Sätzen unterbrach der Navigationsexperte Juri Komsomolzev, Herr des Observatoriums, dreiunddreißig Jahre alt, ein Meter und achtundneunzig Zentimeter lang, mit extrem großen Muskelpaketen und äußerst kurzen schwarzen Haaren ausgestattet, die Stille. Er bezeichnete sich selbst als Ostkandaren und war felsenfest davon überzeugt, dass genau er der Allerletzte seiner Art war, der nach Ostland zurückgefunden hatte, obwohl er dort vorher nie zugegen gewesen war. Die ostische Sprache hatte er sich scheinbar ein wenig falsch beigebracht, jedenfalls machte er niemals Anstalten, anders zu sprechen. Er genoss es, dass ihm jeder genau zuhören musste, um den Sinn seiner Sätze verstehen zu können. »Das exakt ist deine Annahme, durchaus aber sein kann«, setzte er – die erste Aussage relativierend – hinzu.
»Sollten wir die Sache nicht an die große Glocke hängen?«, wollte Tämmler wissen.
Endlich. Simon rührte sich. »Wartet mal noch ein bisschen. Wir wollen uns schließlich nicht blamieren.«
»Ausgerichtet auf die Fremden meinen Satelliten ich habe. Aus den Augen lassen werde ich sie nicht«, beteuerte Komsomolzev.
Tämmler erhob sich.
»Wohin willst du?«, wollte der Professor wissen.
»Ich besorge mir ein Laserschwert. Und dann …« Tämmler fuchtelte wild herum.
Simon schüttelte den Kopf. »Und so einen Idioten habe ich matrikulieren lassen. Schande über mein Haupt!«
»Recht er hat, dein Schüler Müllermann«, flüsterte Komsomolzev, als hätte er Angst, seine Stimme könnte im virtuellen All des Observatoriums zu hören sein.
Simon blicke ihn einige Sekunden lang an, sagte jedoch nichts.
Der Ostkandare redete weiter: »Groß die Gefahr ist, mir scheinen will. Angst wir haben sollten, mir scheint nicht angebracht Geduld.«
»Wie kommst du darauf, Juri? Warum Angst?«, fragte Simon erstaunt.
»Riesig das fremde Schiff ist und gewaltig. Als zulässt unsere Vorstellungskraft, viel größer es ist. Überlegen dem Volumen des Mondes eineinhalbfach es ist.«
»Woher …«
»Samuel, sehen du wirst, erst warten du musst.« Komsomolzev verriegelte den Zugang zum Konservatorium und sagte: »Ist sicher sicher.«
»Das heißt: Sicher ist sicher«, verbesserte Simon.
»Sicher sicher ist. Doch sagen ich.« Komsomolzev berührte einige Tasten an seinem Arbeitsplatz. Sogleich wurde es finster im Raum, dessen reale Umrisse einer Halbkugel glichen. Nach und nach erkannte Simon Sterne, Systeme, Planeten und Monde, die frei im Raum schwebten und sich schnell oder weniger schnell bewegten und drehten.
»Deinen Blick heben du musst. Zwischen Habakusgürtel und Häbtun ein seltsam fremdes Objekt bemerken du wirst.«
Simon lief bedächtig durch das Hologramm des Alls, bis sein Kopf in den Habakusgürtel einzutauchen schien. Lautlos folgte ihm Komsomolzev, der die rechte Hand hob und mit dem Zeigefinger einem winzigen, nur leicht angestrahlten Flugobjekt folgte.
»Sind das die Fremden?«, fragte der Chef der angewandten Weltraumforschung sacht.
»Gewiss es sie sind.« Das Objekt durchflog widersinnig langsam das Sonnensystem und näherte sich bereits der Kreisbahn des Häbtuns. Doch Komsomolzevs Finger bewegte sich dorthin, wo das Objekt herkam. »Mächtig sie sind sehr. Geschaffen eine Schneise sie sich haben.«
Simon glaubte seinen Augen nicht. Quer durch den scheibenförmigen Gürtel schien eine Lichtung geschlagen, eine leere Straße, durch die man die Flugbahn des fremden Objekts zurückverfolgen konnte.
Ein Hauch nur blieb von der Stimme des Kandaren: »Existent Okonos nicht mehr ist.«
»Was sagst du?«
»Verstanden du mich hast bestimmt. Glauben aber du nicht kannst? Okonos nicht mehr im Weltall ist.«
»Okonos? Sie können doch ein transhäbtunisches Objekt mit einem Durchmesser von zweitausendvierhundertfünfunddreißig Kilometern nicht einfach so verschwinden lassen!« Simons Stimme bebte, das Wort »Sie« betonte er vernehmlich.
Komsomolzev bewegte den Kopf gleich einem betagten Mann hin und her. »Können das sie zweifellos, geschehen es längst ist. Okonos größer als Amanio war. Keine Spur er hinterließ von sich. Ein wenig Angst wir sollten haben, nicht angebracht Geduld ist. Meine Meinung das ist, unwichtig das scheint mir nicht. Zu spät uns zu verstecken es bereits ist.«
»Verstecken? Wie meinst du das?«
»Warum sie hier, beobachten wir dann können.«
»Wie soll man sich vor so einem Ding verstecken?«
»Wohin gehen können wir, ich weiß. Deine Angelegenheit sein muss, wie gehen können wir. Zeit wir haben nicht mehr viel.«
*
Unruhig schlich Samuel Simon durch den Flur. Vor einer Tür, die sich kaum von der Wand abhob, blieb er stehen und schaute sich noch einmal um. Es war drei Uhr morgens, nur ein paar Reinigungsmaschinen fuhren im Universitätsgebäude umher. Der Vierundfünfzigjährige drückte den Daumen auf ein Lesegerät und sah anschließend mit weit geöffnetem Auge in den Spiegel.
»Professor Simon, was kann ich für Sie tun?«, fragte eine angenehm klingende Computerstimme.
»Einlass!«, befahl Simon.
»Emmanuel Tämmler erwartet Sie bereits.«
Mit kurzem Zischen öffnete sich die Tür nach oben, Licht flammte auf. Simon trat sofort ein und drehte sich noch einmal um. Die Tür schloss sich automatisch.
Tämmler saß regungslos an seinem Schreibtisch.
»Was ist los?«, fragte Simon.
»So ein Kandare hat mit Josef gesprochen. Und ich war dabei.«
»Der Kandare heißt Juri Komsomolzev. Er ist einer der begnadetsten Wissenschaftler unserer Welt auf dem Gebiet der interstellaren Navigation.«
»Mir ist egal, was er ist. Ich weiß nur, dass er von einer Flucht sprach«, erwiderte Tämmler.
Simon nahm einen Stuhl, stellte ihn neben Tämmler und nahm Platz. »Juri hat Angst. Sein Magen sagt ihm, dass jenes fremde Objekt, das Josef lokalisiert hat, nicht in guter Absicht zu uns kommt.«
»Sein Magen?«
»Ja. Das fremde Objekt hat sich den Weg freigeschossen. Das ist sein einziges Argument, das auf eine gewisse Aggressivität der Kalaner schließen lässt.«
»Kalaner?«
»Wir haben uns auf diesen Begriff geeinigt. Ka und El. Zweifellos wurde das fremde Objekt von einer humanitären Art gebaut. Unsicher sind wir aber in vielen Fragen, die bisher nur hypothetisch beantwortet werden können. Wird das Objekt direkt oder ferngesteuert? Kommt es überhaupt aus dem KL-System oder ist es gerade dort für uns sichtbar geworden. Handelt es sich vielleicht lediglich um eine etwas größere Sonde, die alle Planeten untersucht, die einen habitablen Zustand aufweisen? Handelt es sich um ein automatisches Sicherungssystem, das der Sonde den Weg freischießt?«
Tämmler klopfte unruhig mit den Fingernägeln auf dem Schreibtisch herum. »Du hast gesagt, Komsomolzev sei einer der begnadetsten Wissenschaftler. Und doch vertraust du ihm nicht.«
»Na ja, immerhin hat er kandarisches Blut in sich.« Simon zwang sich ein Lächeln ins Gesicht.
Eine kurze Pause entstand. Tämmler wendete sich an den Chef. »Ich wollte eigentlich …«
»Was?«
»Ich wollte nur sagen, dass ich dabei bin, falls …«
Der Professor erhob sich und klopfte dem Schüler auf die Schulter. »In Ordnung, Emma. Gut, das zu wissen.« Er wandte sich um und wollte gehen. »Aber zu niemandem ein Wort. Verstanden?«
Tämmler nickte und doch errötete sein Gesicht, was Simon selbstverständlich nicht entging.
»Emma! Wer weiß schon davon?«, fragte der sofort.
»Ein Mädchen …, meine Freundin …, sie ist …«
»Sag ihr, wir haben einen Fehler gemacht. Sag ihr, dass nichts von dem wahr ist, was du erzählt hast. In Ordnung?« Ohne weitere Worte zu verlieren, verließ Samuel Simon den Raum.
Simon lief ununterbrochen hin und her. »Die OSAS scheint Wind von der Sache bekommen zu haben. Die Westland-Medien sind dem Alienalarm verfallen. Die WUK hat den turnusmäßigen Start der Fähre bis auf Weiteres ausgesetzt.«
WUK-Fähren starteten im Durchschnitt einmal pro Monat ins All. Der neue Raumhafen südlich von Sariena-Stadt hatte sich längst profiliert. Als Trägerraketen für die Shuttles wurden seit einigen Generationen die Feststoffbooster-Trägerraketen vom Typ Zentane genutzt.
Komsomolzev schaute keinen der Anwesenden an. Es schien, als würde er mit einer Wand reden. »Das Sternstraßenschiff wir uns nicht nehmen können?«
Tämmler, Simon und Müllermann versuchten, mit ihren Blicken Löcher in den Körper des Kandaren zu brennen, der sich allmählich umdrehte.
»Du willst der WUK eine Raumfähre klauen? Noch dazu das SSS? Das Schlachtschiff?«, fragte Simon erschrocken.
»Verstanden du mich fehlerlos hast. Die Zentane C44, gefüllt sie ist.«
»Das … das …«, stotterte Müllermann.
»Halt den Mund!«, befahl Simon.
»Deinen Schüler du reden lassen solltest. Als du viel mehr er weiß, vielleicht«, schimpfte der Kandare.
»Von mir aus, Josef, rede!« Der Professor bat Müllermann mit einer Handbewegung, nun zu sprechen.
»Das ist vielleicht weniger kompliziert, als die meisten denken. Ich war im Programmiererteam, das die Steuersoftware für das Sternstraßenschiff entwickelt hat. Man kann problemlos die Startsequenz aus der Mannschaftskabine senden.«
»Und … wie willst du an die Software rankommen?«
Einen Moment zögerte Müllermann und schob sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Das ist einfach.«
»Einfach?«, fragte Simon erstaunt.
»Ja. Einfach. Weil ich sie zu Hause habe.«
»Du hast … was?«
»Nur ein Update – sicherheitshalber.«
Simon schüttelte den Kopf. »Du stehst mit einem Bein in der Strafkolonie.«
»Wer – bitte schön – tut das nicht?«, wagte Müllermann zu fragen. »Wir benötigen jedoch die Aktivierungscodes.«
»Und wo finden wir die?«
»Natürlich im Speicher des Hauptrechners der Raumbasis. Was denkst du, wo sonst?«
Simon bewegte langsam den Kopf. »Darf ich dich daran erinnern, dass der Hauptrechner in Sariena ein Hochsicherheitsrechner ist?«
»Natürlich darfst du, so denken schließlich die meisten. Weil es so beabsichtigt ist.« Müllermann beschäftigte sich erneut mit seiner Haarsträhne. »Doch viel komplizierter ist es, den Müll in Nachbars Tonne zu entsorgen, als da hineinzukommen.«
Tämmler mischte sich ein: »Nur für den Fall, dass wir darüber nachdenken würden, es tatsächlich zu tun – ich meine damit, eine Raumfähre zu klauen –, braucht man dann nicht so etwas wie Raumanzüge, wenn man einen Ausflug ins All unternimmt? Ich meine ja nur …«
»Die luetischen Anzüge werden online angeboten«, antworteten Simon und Müllermann gleichzeitig.
»Kannst du die gesamte Startsequenz updaten?«
Josef Müllermann schaute seinen Chef argwöhnisch an. »Das müssen wir nicht. Ich brauche nur die Codes. Die befinden sich in einem einzigen winzigen Ordner von zweihundertvierzig Kilobyte – mehr nicht. Ich mache mir größere Sorgen über unser Gewicht.«
»Was denn, sind wir zu fett?« Simon klopfte sich auf den Bauch.
»Normalerweise reisen fünf Astronauten im SSS. Die nehmen noch ein bisschen Forschungszeug mit, was bereits an Bord sein dürfte. Das Gepäck besteht fast ausschließlich aus Nahrungs-, Wasser- und Sauerstoffvorräten für die Orbitalstation. Wir können uns für eine gewisse Zeit selbst versorgen. Juri sagt, es wäre gut, wenn wir uns hinter dem Mond verstecken würden. Keiner weiß, wie lange wir das tun müssen.«
Müllermann hatte längst den Zugang zum Hauptcomputer des Raumflughafens der Weltraum-Untersuchungs-Kommission (WUK) in Sariena gefunden. Er nutzte das private Datenbuch, ein fünf Millimeter starkes ePaper mit aufgebrachtem Touchscreenfeld.
»Ich bin jetzt drin.« Seine Finger zappelten auf dem Bedienfeld, die Anzeige des Datenbuches wechselte unablässig. »Hier! – In Ordnung, die Codes habe ich.«
»Dann schnell wieder raus, bevor jemand Wind von der Sache kriegt.« Dem Professor lag ein flaues Gefühl im Magen.
»Momentchen noch!« Müllermanns Finger zappelten weiter. »Hier! Die Gewichtsangaben wollen wir mal schnell ändern. Die haben bisher vierhundert bis fünfhundert Kilogramm toleriert.« Er gab andere Zahlen ein. »So, jetzt können wir sogar Tämmler mitnehmen.« Eine Sekunde später leuchtete wieder das Desktopbild. »Ich habe die Toleranz deutlich erhöht. Nun kann fast nichts mehr passieren.«
»Bist du dir da so sicher?« Simon lehnte sich zurück. »Wenn du mich fragst, mir gehen Tausende Dinge durch den Kopf.«
»Und die wären?«
»Zum Beispiel frage ich mich, ob wir überhaupt in den Raumhafen kommen. Und wie die Raumfähre gesichert sein wird …«
»Das Reinkommen ist kein Problem. Ich war ja schon drin und habe mir die Signatur gespeichert. Unsere Personenscan-Daten habe ich bereits in das Sicherheitssystem des Überwachungscomputers in Sariena integriert. Die Schleuse der Raumfähre wird zweiseitig gesichert: Von einem Wachmann diesseits der Schleuse, vor dem Start über die Startsequenz, deren Codes ich gerade gespeichert habe und nach dem Start durch den Bordcomputer und einen zusätzlichen mechanischen Schalter.« Müllermann schien auf jede Frage eine Antwort zu haben. »Interessanter erscheint mir die Frage, ob wir alle mit der Schwerelosigkeit und dem hohen Beschleunigungsdruck klarkommen. Die Ausbildungsstunden an der Uni sind in Bezug auf die tatsächlichen Anforderungen verhältnismäßig lasch.«
»Wie funktioniert das Ganze?« Simon zeigte auf das Datenbuch. »Woher soll die Fähre wissen, dass sie auf das Ding da hören muss?«
»Sie wird es tun. Ich simuliere mit meinem Datenbuch den Hauptrechner des Hafens. Ich melde den Hauptrechner ab und mich an seiner Stelle mit der gleichen ID an. Dann bin ich der Hauptrechner. Da der aber überwacht wird, habe ich einen virtuellen Rechner auf meinem Datenbuch geschaffen, der wiederum die auf dem Boden stehende, abflugbereite Raumfähre simuliert. Erst in dem Moment, da wir abheben, wird der Wachmannschaft bewusst werden, dass sie nicht mit der realen Fähre verbunden ist. Damit wir beim Einsteigen unsichtbar bleiben, laufen auf den Bildschirmen im Raumfahrtzentrum Wiederholungen des jetzigen Zustands. Das ist gar kein Problem, weil die Typen die Bilder öffentlich ins Netz gestellt haben. Wir müssen lediglich einsteigen und losfliegen. Mehr nicht. Und das Timing ist so – das hat mir Komsomolzev versichert –, dass unser Start von den Kalanern nicht gesehen werden kann, da sie nicht durch unseren Planeten hindurchblicken können.«
*
»Oh lala«, gab Komsomolzev von sich. »Geblendet meine Augen sind sehr.«
»Spar dir deine sexistischen Kommentare, Kandare!«, zischte Tämmler und umfasste Sonja Esthers Hüfte. »Sie gehört mir!«
»Ich gehöre keinem, mein Freund!«, erwiderte die junge Frau.
Fünf Personen hatten sich zu einer abschließenden Veranstaltung in einem öffentlichen Café verabredet. Tämmler und Esther waren die Letzten, die eintrafen, da sie zuvor in Tämmlers Sanitärtrakt noch etwas Wichtiges hatten erledigen müssen.
»In Ordnung, Jungs und Mädchen«, sagte Simon, der als Einziger noch aufrecht stand. »Das ist Sonja Esther, eine Biologin, die uns begleiten wird. Damit wären wir komplett. Das Paket mit den Anzügen liegt bei mir zu Hause. Josef, wie weit sind die Vorkehrungen getroffen?« Auch der Professor nahm auf einem der urig bequemen Sessel Platz.
»Alles erledigt«, antwortete Müllermann.
»Die Berechnung der Flugbahnen ist abgeschlossen?«
Komsomolzev nickte. »Perfekt alles zu sein scheint. Nur starten wir pünktlich sollten.«
»In Ordnung.« Simon lächelte für einen Moment, was bei ihm eine sehr seltene Mimik war. »Die Flüge nach Sariena habe ich auf Kosten der Uni gebucht. Mittwoch, zwanzig Uhr vierzehn ab Kolograd. Wir werden die Raumanzüge anziehen und zivile Kleidung darüber tragen.«
»Sind die Anzüge nicht dick und aufgeblasen?«, fragte das Mädchen erstaunt.
»Nein. Ich habe die figurbetonende Variante bestellt. Durch die Luetier sind die Bio-Suit-Anzüge bereits frei verkäuflich. Ich habe sie in der Uni testen lassen, sie erfüllen alle Funktionen vorzüglich, was man bei dem stolzen Preis auch verlangen kann. Ich bin jetzt jedenfalls pleite.«
Komsomolzev zögerte, doch dann warf er ein: »Samuel, von der Biologin du wissen wolltest etwas.«
Der Professor wandte sich Sonja Esther zu. »Ich weiß nicht, ob es in der Kürze der Zeit möglich ist, aber …«
Die junge Frau blickte Simon an. »Wahrscheinlich wollen Sie wissen, ob ich etwas von unserem Enzym mitgebracht habe, dazu die Software unseres medizinischen Protokolls und etwas von dem Serum, das Menschen in einen komaartigen Zustand versetzen kann, so dass wir auf unserer Reise in der Lage wären – falls es die Umstände erforderten – uns in einen Tiefschlaf zu versetzen, bei dem wir nicht älter werden. Ist es das, was Sie wissen wollten?« Sie lächelte den grauhaarigen Professor unwiderstehlich an.
»Genau. Genau das wollte ich wissen«, stotterte Simon.
»Ja, es ist möglich gewesen.« Mehr sagte die Studentin nicht.
»Gut. Dann treffen wir uns am Mittwoch gegen siebzehn Uhr in meiner Wohnung. Bringt nur das mit, was wir benötigen.«
»Zu berichten es gibt aktuelle Dinge«, meinte der Ostkandare nach einer kurzen Pause. »Die Fremden begrüßen sie wollen die Westländer.«
»Ja«, bestätigte Simon, »das ist richtig. Die OSAS startet übermorgen früh ein Shuttle mit einem Begrüßungskomitee, das den Fremden den Weg verkürzen soll. Man hat vier Astronauten ausgewählt und mit der SPIRITSTAR losgeschickt.«
»Ihr Leben in großer Gefahr ist, ich denke«, setzte Komsomolzev hinzu.
»Dann können wir nur hoffen, dass die Ostländer nicht auch auf eine so stumpfsinnige Idee kommen und uns das SSS vor der Nase wegnehmen«, sagte Tämmler.
»Denken wir nicht daran. Widmen wir uns diesem schönen Abend, der vielleicht der letzte lustige in unserem Leben sein wird.« Simon erhob sein Glas.
»Auf unsere Reise!«
»Auf unsere Reise!«, antworteten alle und stießen miteinander an.
Von diesem Moment an redeten die fünf Beteiligten kein einziges Wort mehr über die bevorstehende Flucht. Sie widmeten sich den Getränken und Speisen und verabschiedeten sich erst zu später Stunde voneinander.
Tämmler hielt Sonja Esthers Hand, während sie zu seiner Wohnung gingen. »Ich glaube, du kannst doch nicht mitkommen«, sagte er schließlich.
Erschrocken blieb die Studentin stehen. »Was sagst du da?«
»Du machst die anderen Kerle völlig verrückt.«
Sonja Esther lachte laut und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. »Ich finde dich süß, wenn du eifersüchtig bist.«
Dann gingen sie Hand in Hand weiter.
*
»Sie haben Ihr Ziel erreicht. Bitte steigen Sie rechts aus und verlassen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit nicht den Gehweg. Der fällige Betrag von vierundachtzig Credits wird von dem von Ihnen angegebenen Konto auf das Konto meiner Firma transferiert. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Die rechte Flügeltür öffnete sich behäbig.
Als hätten sie nie etwas anderes getan, als wäre der ostländische Raumhafen ihr Zuhause, so liefen die fünf angehenden Astronauten lustig palavernd in einer Reihe zum Haupttor.
Simon zückte als Erster die Personalkarte und zog sie durch das Lesegerät. Dann warf er einen Blick in den Augenscanner.
»Guten Tag, Herr Professor Simon. Sie dürfen passieren. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt«, sprach die Computerstimme. Simon ging durch das kameraüberwachte Drehkreuz und wartete. Müllermann, Esther und Komsomolzev folgten problemlos nach der gleichen Prozedur.
Dann zog Tämmler die Karte durch.
»Ihre Personaldaten sind leider ungültig«, raunte die Computerstimme sofort. »Bitte wenden Sie sich an die zuständige Dienststelle.«
Der Techniker wurde unruhig. Müllermann klappte unauffällig das Datenbuch auf und suchte angespannt nach einem Fehler. »Das kann nicht sein …«, flüsterte er.
Währenddessen putzte Tämmler den Magnetstreifen seiner Karte und zog sie erneut durch das Lesegerät. Er atmete auf. Nach dem Augenscan durfte auch er passieren.
In aller Ruhe liefen sie über den Vorplatz. Selbstverständlich folgten ihre Blicke der Zentane-Spitze, die hinter einer riesigen Mauer zu sehen war. An der Spitze klebte – gleich einem Parasit – die Raumfähre.
»Folgt mir!«, sagte Müllermann. »Je auffälliger, umso besser.«
Zunächst betraten sie das Hauptgebäude. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ungehindert durchquerten sie das riesige Haus. Müllermanns Datenbuch führte sie in die Katakomben. In einem Raum, der für Müllcontainer genutzt wurde, entledigten sich alle ihrer zivilen Kleidung. Sie führten von nun an nur noch ihre Helme und die vorgeschriebenen Dinge mit.
»Jetzt wird es gleich kritisch. Wir bekommen es mit einem Menschen zu tun. Theoretisch haben wir freien Zutritt.«
»Theoretisch?«, fragte Sonja Esther und verzog das Gesicht.
»Theoretisch und praktisch«, verbesserte sich Müllermann.
Ein langer, heller Gang tat sich vor ihnen auf. Ganz am Ende saß ein Wachmann, der sich erhob, als sie in der Mitte des Flurs angekommen waren. Hinter ihm versperrte eine gesicherte Stahltür den Ausgang.
»Stopp! Wohin soll es gehen?«
»Gebt ihm eure Karten«, sagte Müllermann. »Laut Tagesprogramm sind wir die übernächste Besatzung der Raumfähre, die heute Punkt 8:30 Uhr einen Vor-Ort-Termin zur Besichtigung der Fähre hat. Wenigstens habe ich es so eingegeben.«
Simon sah den jungen Kollegen erstaunt an, während er dem Wachmann die Personalkarte reichte. Hatte Müllermann keine Angst, der Mann könnte ihn verstehen? Scheinbar nicht.
Der Wachmann schob nacheinander die Karten in den Schlitz eines Rechners. Auf einem Bildschirm tauchten die Fotos und Daten der Anwesenden auf. Er verglich diese mit den vor ihm stehenden Personen. Dann gab er die Karten in aller erdenklichen Ruhe zurück. Anschließend überprüfte er mit einem mobilen Augenscanner die Echtheit der Crew. Schließlich setzte sich der Wachmann wieder auf seinen Stuhl. Er blickte über die fünf Astronauten hinweg, als wären sie Luft.
Während die Kollegen etwas unruhig wurden, drehte sich Müllermann vorsichtig um. Er sah die digitale Anzeige einer Uhr: 8:27 Uhr. Sie waren ein wenig zu früh.
»In drei Minuten dürfen wir passieren«, sagte der Mathematiker fast beiläufig und nahm den anderen die Spannung.
Als die Anzeige auf 8:30 Uhr kippte, öffnete sich tatsächlich die Sicherheitstür. Der Wachmann lächelte und sprach auf Sarienisch: »Nun könnt ihr passieren!« Nachdem die fünf ebenso lächelnd an dem Wachmann vorbeigegangen waren und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, raunte Tämmler: »Jetzt hätte ich mir fast eingemacht.«
»Sarienische Routine«, erwiderte Müllermann. »Domingo Delgato. Er spricht nur Sarienisch. Ich habe mich mit dem Personal tiefgründig beschäftigt. Kommt jetzt, die Zeit drängt!« Damit war die Sache für ihn erledigt.
Kurz darauf verließen sie die Katakomben über ein Tor, das sich bei Annäherung automatisch öffnete. Sie folgten einem Umweg, den Müllermann wählte, weil hier keine Kameras installiert waren. Der Mathematiker ließ sie in einem Versteck anhalten und tippte etwas in sein Datenbuch ein.
»Von nun an sind wir unsichtbar. Auf den Überwachungsmonitoren laufen jetzt Schleifen von vorgestern.«
Versteckt standen die fünf angehenden Astronauten in einer Reihe hinter einer zehn Meter dicken Sicherheitswand. Müllermann hielt das Datenbuch in der Hand, Sonja Esther trug einen kleinen und Tämmler einen größeren Koffer. Komsomolzev beugte sich nach vorn und warf einen Blick um die Ecke. Die Raumfähre wirkte winzig an der riesigen mit Brennstoff gefüllten Zentane-Rakete.
»An unserer Fähre jemand beschäftigt ist«, raunte der Kandare schließlich.
Auch Simon schaute um die Ecke. »Tatsächlich. Da fummelt jemand an unserem Taxi rum.«
Müllermanns Finger bewegten sich auf dem Datenbuch. »Momentchen«, flüsterte er. »Hier: Einsatzplan. Der Techniker heißt Pablo Garcias. Er hat die Aufgabe, eine optische Kontrolle des Hitzeschildes durchzuführen, mehr nicht. Personal … Personal …« Seine Finger wirbelten auf dem Touchscreen. »Pablo Garcias Sánches ist verheiratet, hat einen zweijährigen Sohn namens Alejandro, wohnt in Sariena-Stadt … Das reicht schon.« Erneut tippte Müllermann mit hoher Geschwindigkeit etwas ein. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Der müsste gleich verschwinden.«
Simon blickte um die Ecke. Der Techniker kam über eine Brücke heruntergerannt, bestieg ein Elektrofahrzeug und sauste davon.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Simon erstaunt.
Müllermann grinste. »Ich habe ihm über den Absender seiner Frau eine elektronische Nachricht geschickt, dass sie am Eingangstor wartet.«
»Und warum hatte er es so eilig?«
»Weil sie geschrieben hat, dass Alejandro ein Schwesterchen bekommt.«
Tämmler grinste, Esther schimpfte und Simon mahnte zur Eile. Geduckt liefen sie die Rampe hinauf und betraten einen Aufzug, den Müllermann über sein Datenbuch steuerte. Ein kräftiger, frischer Wind wehte ihnen schon bald um die Nasen. Sie standen auf einer Plattform direkt vor der Einstiegschleuse der Raumfähre.
Müllermanns Finger hantierten erneut auf dem Datenbuch, das er kurz darauf zusammenklappte. »Gleich geht sie auf«, beteuerte er.
Tämmler sah mit bleichem Gesicht hinunter in die Tiefe. »Habe ich schon meine schreckliche Höhenangst erwähnt?«, flüsterte er leicht vornübergebeugt. Zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Schleuse. Alle fünf eilten hinein und Müllermann schlug gegen ein Ventil, so dass die Luke sich sofort wieder schloss.
»Herzlich willkommen in unserem neuen Zuhause!«, rief der blonde Mathematiker. »Für einen Rundgang haben wir leider keine Zeit. Folgen Sie mir bitte in die Steuerkanzel.«
Wortlos erklommen die fünf Astronauten eine Leiter, die durch die senkrecht stehende Raumfähre bis hinauf in die Spitze führte. Nach einer kurzen akrobatischen Leistung saß bald darauf jeder auf seinem Platz. Noch einmal nickten sich alle zu. Sie schlossen die Anzüge an den Computer an, der die Körper von nun an überwachen würde, und setzten die Helme auf.
Müllermann hielt das Datenbuch in der Hand, und nun war die Verständigung über die Helme möglich.
»Wir liegen gut in der Zeit«, sagte Josef Müllermann, während sich seine Finger bewegten. »Ich verriegle … jetzt … das Schiff. Die Startsequenz ist eingeleitet. Wir haben noch hundertvierzig Sekunden. Macht es euch so bequem wie möglich, es wird gleich ziemlich wacklig werden.«
Ringsherum flackerten Tausende bunte Dioden. Nur in den Monitoren, vorn an der Spitze, war ein Teil des Nachthimmels zu sehen.
»Nichts anfassen!«, flüsterte Müllermann. »Gleich gibt es einen Ruck.«
Tatsächlich ging eine Erschütterung durch die Fähre.
»Das waren die Klammern. – Noch achtzig Sekunden. Die Vorzündung erfolgt … jetzt!«
Ein dumpfes Grollen wälzte sich durch die Fähre.
»In Ordnung, nun wissen sie, dass wir ihre Fähre klauen. Sie können aber nichts dagegen tun. – Sechzig Sekunden. Die Fähre führt jetzt eine Selbstkontrolle durch. Unsere Flugbahnparameter wurden bestätigt, Juri hat sich nicht verrechnet. – Dreißig Sekunden! Die Feststoffbooster werden gezündet.«
Allmählich wurde es ungemütlich. Auf den Monitoren war nur noch Qualm zu sehen. Müllermann steckte das Datenbuch seitlich in eine Halterung des Sitzes, während er rückwärts zählte. Als er bei Eins angekommen war, wurde das Rütteln unerträglich.
»Es geht los!«, rief er in den ohrenbetäubenden Lärm.
Der Druck stieg durch die allmählich zunehmende Beschleunigung.
»Die Hauptstufe zündet! Die Feststoffbooster müssten jetzt abgeworfen werden!«
Gleißendes Licht blendete die Astronauten. Der Druck wurde unerträglich. Zehn lange Minuten vergingen. Dann wurde es deutlich leiser.
»Die Hauptstufe wurde abgetrennt«, würgte Müllermann mit trockener Kehle heraus. Aus allen Helmen war Röcheln zu hören. Ein Piepton von einem der Kontrollinstrumente wurde lauter. Dann gab es erneut einen heftigen Ruck. Die Fähre hatte sich von der Trägerrakete verabschiedet. Auf den Bildschirmen war das All zu sehen. Der Mond tauchte auf, gigantisch groß!
Sonja Esthers kleiner Koffer schwebte in der Kabine umher. Fast geräuschlos bewegte sich das Sternstraßenschiff durch das All.
Müllermann löste als Erster die Arretierung des Helmes und hob die Arme. »Wir haben es geschafft!«, rief er. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber wir haben es tatsächlich geschafft!«
Allmählich kam Bewegung in die Kabine. Gleichzeitig erklang ein rhythmisches Heulen. Komsomolzev setzte den Helm ab und machte sich an seinem neuen Arbeitsplatz nützlich. »Sichern wir uns nicht mehr müssen. Den Zustand von Tämmler kontrollieren wir sollten«, rief er schließlich.