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Die Freundin schmeißt ihn raus und der Chef schickt ihn in die westlichen Hochebenen Chinas. Dabei ist Tom Kramer lediglich ein Handelsvertreter für Cornflakes. In der Volksrepublik wird er Opfer einer Intrige, an deren Ende das Todesurteil durch die chinesische Justiz wartet. Alles, was Kramer jemals liebgewonnen hat, wird ihm mit einem Schlag genommen. Ein Buch über Intrigen, Traditionen, Macht, Hass, Liebe, Verzweiflung, Tod und eine fremde Welt. Spannungsgeladen und hochexplosiv.
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Seitenzahl: 285
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Titelseite
Impressum
Der Fluch von Shinkh
Ich, der Delinquent
Epilog
Bibliografie von Tino Hemmann
Tino Hemmann
Thriller
eBook
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder mit Personen, die einst gelebt haben, sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte beim Autor
www.tino-hemmann.de
Wenn der Kampf um die Macht und den Vorteil
seine Blüten treibt,
bleibt der ohne Makel,
der damit nicht in Berührung kommt.
Erhaben ist aber der,
der damit in Berührung kommt,
ohne sich anstecken zu lassen!
Wenn Listen, Strategien und Tricks gefragt sind,
scheint jener unbedarft,
der sich damit nicht auskennt.
Ehrwürdig aber ist der,
der alle Listen, Strategien und Tricks kennt,
ohne sie jemals anzuwenden!
Ich fuhr ein letztes Mal zu ihrer viel zu großen Terrassenwohnung.
Nach meinem zehnten Klingeln öffnete sie mit herzlichen Worten die Tür: »Du bist und bleibst ein Arschloch. Warum lebst du noch und was willst du hier?«
Wortlos folgte ich ihr in die Küche, zum ersten Mal behielt ich meine Straßenschuhe in ihrer Wohnung an. Selbstverständlich bemerkte sie das. Warum nur wollte sie mich so schnell wieder loswerden?
»Okay, vielleicht bin ich ein Arschloch. Aber wenn ein Arschloch, dann ein liebes, gutes und schönes Arschloch«, entgegnete ich selbstbewusst.
»Ich sag es ja. Du bist und bleibst ein Vertreterarschloch.« Sie zog lässig einen Teebeutel aus ihrer mit heißem Wasser gefüllten Tasse.
Urin, der nach Kamille riecht, dachte ich. »Weißt du, was ein Vertreter wirklich ist?« Ich blickte sie fordernd an.
»Sicher.« Sie ließ den Teebeutel zwischen ihren Fingernagelenden baumeln. Tropf, tropf auf meine glänzenden, schwarzen Vertreterlackschuhe. »Ein Vertreter ist ein Arschloch, das nie zu Hause ist, das ständig mit anderen Frauen rumfickt und das nur die Firma und das große Geld im Kopf hat, das dieses Arschloch aber mit Sicherheit nie bekommen wird. Das ist ein Vertreter! Und du bist das beste Beispiel dafür!«
Ich nahm eines ihrer gebügelten und nie genutzten Geschirrhandtücher vom Haken, stellte – was sie nicht leiden konnte – einen Fuß auf ihren Küchenstuhl und wischte behutsam die hässlichen Tropfen ab, die von ihrem Teebeutel stammten, den sie in der Zwischenzeit aus den Fingerspitzen heraus in einen Mülleimer fallen gelassen hatte, als entsorgte sie ein zwei Wochen lang benutztes Tampon.
Ich holte tief Luft, denn ich wollte eine lange Rede artikulieren. »Genau da liegt dein Problem. Du denkst! Aber das war nie deine Stärke. Ich gebe dir Recht, Vertreter sind Arschlöcher, die ständig für die Firma da sind, die immer in durchgewichsten Hotelbetten schlafen müssen und von denen alle Welt denkt, dass sie jeden Tag und jede Nacht mit einer anderen Frau bumsen, obwohl sie das nicht tun. Dem hingegen werden sie ständig von überlagerten, um Sex bettelnden, nuttigen Hausfrauen angemacht!«
»Ein Mann, der nicht lügt, ist eine Frau«, gab sie von sich. Mittlerweile bemühte sie sich, aus einem Spender drei Süßstofftabletten in ihren Kamillentee zu bringen, ohne sich dabei die langen, blauen Fingernägel abzubrechen.
»Pass auf, dass du dir deine spitzen Lippen nicht am Kamillentee verbrennst.« Ich hängte das Geschirrhandtuch wieder an seinen gewohnten Platz. »Vergiss nicht, du musst es desinfizieren, waschen und bügeln!« Ich lächelte sie herzlich an.
Sie schlürfte einen halben Schluck Kamillentee aus ihrer Tasse, goss den Rest mit Schwung in die Spüle, brachte die Tasse im Geschirrspüler unter und warf die Spülklappe krachend zu. Dann nahm sie einen Kristallschwan vom Küchenbord, baute sich vor mir auf, hielt ihn vor meine Nase und ließ ihn fallen. Er zersprang auf den Fliesen in tausend Scherben.
»Er war so hässlich, dass ich ihn dir schenken musste. Da wartet viel Arbeit auf dich.« Ich zeigte auf den Boden. Auf dem Moskauer Flughafen wollte ein russischer Zollmensch, dass ich Ausfuhrzoll für den Schwan bezahlen sollte. Ich hatte ihm in Russisch geantwortet, dann möge er das Ding doch seiner Frau schenken, worauf er mir zu verstehen gab, dass er dies nicht machen könnte, weil seine Babuschka sonst annehmen würde, dass er etwas gutmachen wollte. Ich durfte das Geschenk dann doch mitnehmen, ohne Zoll.
Ich ging zum Fenster. Unter meinen schwarzen Lackschuhen knirschte es gewaltig. »Gut. Ich such nur meine Sachen zusammen. Dann verlasse ich dein Spukschloss.«
Sie aber versuchte sich mir in den Weg zu stellen. »Ich schicke dir deine Sachen.«
»Ich habe keine Adresse, Süße«, hauchte ich sie aus nächster Nähe an. Sie roch aphroditisch gut, wie immer sinnlich betörend.
»Sag nicht Süße zu mir! Deine dämliche Gefühlsplänkelei kannst du dir sparen.« Sie baute sich vor dem Schlafzimmer auf, zu dem ich keine besonders gute Beziehung hatte. Wir hatten es meistens in der Küche oder am Abend auf der Terrasse miteinander getrieben.
Ich schob sie zur Seite und öffnete die Schlafzimmertür, da sich in ihrem riesigen Schwebetürenschrank noch zwei Markenanzüge von mir versteckt hielten. Auf dem Bett lag eine ältere Dame, mit schwarzen Strapsen bekleidet, mehr nicht, und betrachtete mich, als wäre ich ein Alien.
»Dass du lesbisch bist, ist völlig okay«, meinte ich leicht betroffen zu ihr. »Aber die da könnte deine Mutter sein!« Ich nickte der Dame trotzdem freundlich zu, zeigte gequält lächelnd meine strahlenden Zähne, und ging ich zum Kleiderschrank, um meine Anzüge herauszusuchen.
»Macho! Ihr Männer bringt es ja nicht.« Es schwang gewiss etwas Zynismus in ihren Worten mit. »Und die Kleiderbügel gehören mir!« Trotzdem war ihr die Situation sehr peinlich. Ihr Gesicht war tomatenrot.
Ich ging zu ihr, sie wich ein wenig zurück, hielt dann aber inne. Ganz leise säuselte ich ihr zu: »Süße, wenn mich nicht alles täuscht, waren deine Schreiorgasmen nicht alle nur gespielt, und ich erinnere mich deiner Worte: Keiner macht es so gut wie du. – Wenn ihr hier fertig seid, Süße, denk an die Schweinerei in der Küche. Nicht dass ihr zwei Turteltäubchen euch die Füßchen aufschneidet. Mich jedenfalls siehst du heute zum letzten Mal hier.«
Welch ein Abgang! Zehn Jahre hatte ich mehr oder weniger in der Nähe dieser Frau gelebt. Und dann so viele schockierende Dinge auf einmal: Sie trinkt heißen Urin, besifft meine Lackschuhe, ist bisexuell und treibt es neben mir mit einer Frau, die ihre Mutter sein könnte.
So endete schlagartig meine Beziehung zu Ulla.
Später musste ich hin und wieder an sie denken. Immerhin hatten wir auch sehr schöne gemeinsame Stunden.
Doch leider hasste sie drei Dinge. Männer, Familie und Kinder. Das machte Ulla mir ständig klar. Sie blieb in meiner Erinnerung als eine Abart der Edelhuren erhalten, war letztendlich ein Teil meines Lebens, das in dieser Phase gerade in einen neuen Abschnitt überging.
Ich stand unten auf der Straße, hatte nie eine Familie, besaß nur noch meine Tasche im Hotel, die zwei Anzüge und meinen Opel Kadett.
Ich wusste in diesem Moment nicht, dass nun eine Odyssee beginnen würde, die mich vereinnahmte, dass ich in einen reißenden Fluss fallen würde, der mich über Stromschnellen warf, gegen Steine drückte, mich ertränkte, und dass ich am Ende dieses seltsame Rauschen hören würde, das näher und näher kam, und immer lauter wurde, und dass sich schließlich als gigantischer, tödlicher Wasserfall herausstellte, auf den ich zutrieb, ohne Chance auf Rettung. Die winzigen Zweige, die von den Bäumen herab dicht über der Wasseroberfläche im sanften Wind hin und her schaukelten, rissen bei jedem Versuch, daran Halt zu finden.
Manchmal sind die Dinge eben anders, als sie scheinen.
»Shinkh?« Ich blickte von den Reisepapieren auf. Mein Chef grinste und sein Oberlippenbart wackelte. »Wo liegt denn das?«
»Asien, China, Mongolei, was weiß denn ich …« Das saubere Abklopfen seiner Zigarrenasche in einen riesigen Aschenbecher mit Elefantenköpfen auf dem Rand war ihm wichtiger als eine vernünftige Antwort.
»Was soll ich in diesem Shinkh?«
Er saugte wieder an seiner Havanna. Beim Reden blies er mir dicken Qualm ins Gesicht. »Was hält dich hier noch? Ich dachte, es wäre das Beste für dich, wenn du mal weit wegfliegen würdest, sind ja nur vier Wochen oder so.«
»Acht. Es sind immerhin acht Wochen. Was soll ich in Shinkh?«, fragte ich erneut.
»Wir eröffnen da ein Büro.«
»Wir?«
»Der Konzern. Die Amis glauben, wir Deutsche sind alles Kommunisten, deshalb wollen sie einen Deutschen in China haben.«
»Ich kann kein Wort Chinesisch«, entgegnete ich.
»Die Weiber dort stöhnen auch nicht anders als hier.« Er schüttelte sich vor Lachen.
»Soll ich einen Puff eröffnen?«
Er wurde wieder ein wenig ernst. »Ein Vertriebsbüro. Der chinesische Markt ist unerschöpflich. Eine Milliarde Chinesen warten auf unsere Cornflakes.«
Ich ging ein paar Schritte im Zimmer umher, schaltete die Klimaanlage auf Höchstbetrieb, in der Hoffnung, dass der Qualm abziehen würde. »Okay, fassen wir zusammen! Weil ich Ulla verlassen habe, schickst du mich ein Leben lang nach China, in eine Stadt namens Shinkh, obwohl ich kein Wort Chinesisch kann, dort soll ich aus dem Nichts ein Vertriebsbüro eröffnen und das Ganze in gerade mal acht Wochen.«
»Ist doch egal, ob du in Deutschland oder in China eine neue Matratze suchst«, war seine hausgemachte Antwort. »Hast du schon mal was von SARS und AIDS gehört? – Ich hörte davon.«
»China ist ein hoch entwickeltes Land und es verlangt keiner von dir, dass du alles einatmest und dein Ding in jedes Loch steckst.«
»Und wovon soll ich leben? Da unten gibt’s doch bestimmt keine Sparkasse.«
»Die haben Banken, mein Freund, da findest du dich nicht wieder. Und außerdem gibt’s eine Kreditkarte von der Firma. Freie Verfügung, verstehst du? Dein Gehalt läuft hier weiter, je länger du dort bleibst, umso reicher bist du, wenn du zurückkehrst.«
»Und wann soll ich los?« Meine Blicke schwebten über dem Dienstauftrag, den er mir gegeben hatte. »Morgen?!«
»Morgen. Und heute Abend gehen wir noch mal richtig absacken.« Absacken war die Lieblingsbeschäftigung meines dicken Chefs.
»Muss das sein?«, fragte ich.
Er blies seine Backen höllisch auf. »Wad mud, dad mud!”
Wo verdammt noch mal befand sich dieses Shinkh?
Am Rand der City gab es eine Kneipe. Ich fand mich, wie es ausgemacht war, gegen neun Uhr dort ein. Im Hotel hatte ich ausgecheckt, weil ich wusste, dass ich nach dieser Nacht, sollte ich sie überstehen, nicht mehr zurückkehren, sondern auf direktem Weg mich zum Airport bewegen würde. Wie auch immer.
Wir nahmen die obligatorischen Speisen zu uns und mein dicker Chef begann sofort mit der Abfüllung meines Körpers. Die Nachspeise war kaum noch zuzuordnen, und ehe ich sie kosten konnte, entledigte ich mich bereits der Vorspeise. Sicherlich war es auch ein bisschen Aufregung. Stressfaktor zehn, wie Ulla zu sagen pflegte.
»Warst du kotzen?«, fragte mein Chef, als ich zurückkam, und reichte mir eine Papierserviette.
»Ich hab nur Shinkh gesagt, da kam es raus«, antwortete ich ihm und lachte lauthals auf. »Shinkh!« Mir ging es jetzt deutlich besser.
Er schaute zur Tür. Drei Mädchen und ein Dunkelhäutiger kamen rein. Meinem Chef hing die Zunge zum Hals raus. An unserem Tisch waren noch fünf Plätze frei. Vier hätten es auch getan.
»Darf ich die Herrschaften hier platzieren?«, fragte der Kellner.
»Die Herren nicht, aber die Damen!«, polterte der Dicke und klopfte sich vor Lachen auf den feisten Bauch. Sofort entfernte er seine Krawatte. Der Kellner lächelte kurz, als hätte er nicht verstanden.
Die Damen nickten mir grüßend zu, der große Schwarze reichte uns sofort die Hand.
Aus der anfangs recht prüden Gesellschaft wurde, nachdem mein Chef die Getränkerechnung übernehmen wollte – »Sonst mach ich Harakiri!«, sagte er –, eine recht stimmungsvolle Truppe.
Gegen ein Uhr waren alle sternhagelvoll. Nur eines der Mädchen trank praktisch nichts. Eine Weile war es mir peinlich, später egal.
Ich war total zugedröhnt. Ich stellte den Ellenbogen auf den Tisch, legte meinen schweren Kopf auf die Hand und betrachtete aufdringlich dieses leider noch nüchterne Mädchen. Ich erinnere mich nur an ihre wunderschönen grünen Augen. Ihr war das peinlich, deshalb schüttete sie mir ein halbes Bierglas über die Hose und bedauerte es.
»Ein Kuhus als Entschuldigung ist das mindeste«, lallte ich ihr zu.
Wieder irritierte sie mich, nahm meinen Kopf in beide Hände, zog mich an sich und küsste so ausdauernd meinen nassen Mund, dass mir die Luft wegblieb. Dabei biss sie mir ordentlich auf die Lippe. Zum Glück war ich so voll, dass ich erst viel später die Schmerzen spürte.
Der Dunkelhäutige forderte, dass ich meine Hose zum Trocknen ausziehen sollte. Da ich mir nicht mehr sicher war, wo ich mich befand, tat ich es. Zum Glück waren kaum noch Gäste im Lokal, die Uhr ging Richtung Zwei, der Wirt hatte bereits die Tür verriegelt.
Ich setzte mich auf die Tischkante, verlor kurz das Gleichgewicht und beförderte einen Teller mit Chips in die Luft. Irgendwo im Weltall hörte ich meinen Chef lachend keuchen, so dass er fast die Zigarre verschluckte. Der Wirt drehte die Musik auf und die Mädchen klatschten im Takt.
»Los tanz! Tanz!«, schrien sie und ich wusste nicht, was ich tat. Alles kreiselte um mich herum, Teller, Flaschen, Frauen, mein Chef. Ich quälte mich auf den Tisch und erhielt dabei von allen Seiten Unterstützung.
Da oben, wo man doch glaubt, dass der Überblick am besten wäre, verlor ich völlig die Orientierung.
Die jungen Frauen riefen: »Auszieh’n! Auszieh’n!« Ich wollte auffallen, wegen des Mädchens mit den schönen Augen, das keinen Alkohol getrunken hatte. Ich schwenkte meinen Hintern und entledigte mich zu allem Übel meiner Unterhose. Irgendwie trat ich bei meinen urinstinktiven Tanzbewegungen neben die Tischkante und krachte auf den holzgetäfelten Boden. Dann kam die langersehnte Nacht über mich.
»Hallo, junger Mann!« Jemand griff an mein Knie. »Junger Mann, wir sind am Flughafen!«
Meine Augen öffneten sich – zum Glück. Es ist im Menschen drin, wenn sie im Taxi aufwachen, zu erwidern: »Junger Mann, das hat schon lang niemand mehr zu mir gesagt. Was schulde ich Ihnen?«
»Ihr lustiger Chef hat schon gezahlt. Wenn Sie draußen sind, bring ich ihre Tasche.«
»Dann dürfen Sie den Rest behalten.« Schon Minuten später hatte ich das Taxi verlassen. Meinen Kopf spürte ich zum Glück noch nicht. »Wie spät ist es?«
»Ihr Flieger geht in zwei Stunden«, meinte der Taxifahrer.
»Wie sehe ich aus?«
»Ehrlich?«
»Ja, bitte.«
»Scheiße.«
»Danke.«
Ich konnte fast geradeaus laufen. So zog ich denn meine Reisetasche hinter mir her, die Aktentasche unter die Achsel geklemmt, und eroberte den mir bereits hinlänglich bekannten Flughafen. Als Erstes besorgte ich mir eine Kofferkarre, mit deren Hilfe ich meinen Gleichgewichtssinn wiederentdeckte, nur dass ich Fahren und Bremsen ständig verwechselte.
Ich bemerkte, dass die Leute einen großen Abstand zu mir hielten. Also suchte ich eines der vornehmen Flughafenklos auf, wo ich meine Waschtasche rauskramte. Ich lutschte etwas Zahncreme, ließ fünf Minuten lang eiskaltes Wasser über mein Gesicht laufen und sprühte mir das unter die Achseln, was Ulla mir zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Dann checkte ich ein und gab mein Gepäck ab. Sollte ich mein Hab und Gut jemals wiedersehen?
Jetzt startete ich den Versuch, den Sicherheitsbereich des Flughafens zu erreichen. Es sollte ein harter Kampf werden.
Immerhin hielten die Leute nicht mehr einen so riesigen Abstand zu mir. Ich war schon häufig geflogen und nahm sonst immer alle Metallgegenstände zeitig genug aus meinen Taschen. Diesmal brummte der Detektor so eindringlich, dass die Sicherheitsleute sofort bei Fuß standen.
»Packen Sie mal alles raus!«
Mein Chef, der kleine Witzbold, hatte mir eine fünfziger Packung Kondome mit Erdbeergeschmack in die Jackentasche geschmuggelt. Als ich sie herausnahm, zerriss die Tüte. Dass ich gut fünf Minuten damit beschäftigt war, Kondome mit Erdbeergeschmack unter dem Laufband hervorzuholen, über das der Koffer zum Durchleuchten gelangte, hatte ich schnell verkraftet. Aber dass ich mich mit meinem ohnehin dicken Kopf am Laufband stieß, weil ich beim Hochkommen Gleichgewichtsprobleme hatte, nahm ich ihm übel.
Das aufdringliche Piepsen des Metalldetektors hatte der Schlüsselbund für Ullas Wohnung verursacht. Ulla würde ihn sicherlich schmerzlich vermissen.
»Ziehen Sie Ihre Schuhe aus!«, meinte einer der Sicherheitsleute und zeigte auf einen Sessel. Ich setzte mich hin und bekam auch irgendwie die Schuhe von den Füßen. Da erst fiel mir auf, dass ich in den Lackschuhen keine Strümpfe trug. Ich hätte mich besser kontrollieren sollen. Mein Pech war, dass der Koffer längst auf dem Weg zum Flieger war.
Die Zeit, die der Bedienstete benötigte, um meine Schuhe auf das Band zum Durchleuchten zu legen, reichte, um in einen kurzen Schlaf zu fallen.
Als er mich weckte und mir klar machte, dass ich die Schuhe wieder anziehen durfte, erklärte ich ihm, dass ich eine Flugkrankheit hätte. Auf Flughäfen würde ich sofort müde werden.
»Nein. Sie sind besoffen«, sagte er nur.
Im Freeshop besorgte ich mir ein Zehnerpack Socken und Pfefferminzbonbons. Es lief immer besser. Dass ich im Warteraum einschlief und mich eine junge Flugbegleiterin weckte, weil man mich schon zweimal aufgerufen hatte, schockte mich längst nicht mehr. So bestieg ich diesen Flieger, der mich von der deutschen Heimat weg nach Hongkong bringen sollte, das bekanntlich bereits zu China gehörte.
Die Gymnastikbewegungen der Stewardessen während der Sicherheitshinweise verpasste ich ebenso wie die Ansprache des Kapitäns. Selbst den Start verkrafteten wir – mein Magen und ich – vorbildlich. Es ging aufwärts, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch der nächste Tiefschlag sollte schon kurz darauf folgen. Ich saß außen am Gang und neben mir ein siebzigjähriges Fräulein, wahrscheinlich aus England. Sie nahm Tabletten und schlief noch länger als ich. Wenigstens musste sie da nicht so häufig pinkeln.
Endlich kam die erste Bedienungsrunde, und als ich Kaffee roch, wachte ich von ganz allein auf.
Die Bedienung in unserem Bereich bestand aus drei jungen Stewardessen und einem Steward. Ich fand es fast normal, dass der Steward eine dunkle Hautfarbe hatte. Als die Flugbegleiterin, ein bildschönes Mädchen, mich fragte, ob ich einen Kaffee wolle, und wie, kam sie mir ein wenig bekannt vor. Und da Flugbegleiterinnen immer grinsen, fiel mir nicht auf, dass sie besonders und bis hinter die Ohren grinste.
»Was haben Sie denn mit ihrer Lippe gemacht?« Ich griff mit dem Finger an meine Lippe. Sie war geschwollen. Langsam versank ich in meinem Stuhl.
»Da muss jemand höllisch draufgebissen haben. Ich will lieber nicht wissen, was ich noch gemacht habe«, flüsterte ich. – SIE war es.
»Das ist doch auch egal. Bestimmt war es sehr, sehr lustig.« Sie beugte sich zu mir runter, während sie mir den Kaffee hinstellte, und hauchte mich an. »Du hast einen süßen Knackarsch.«
»Sie sollten vorsichtig mit dem Kaffee sein, wenn man den über die Hose bekommt, das kann das Ende allen Spaßes sein. Der ist heiß. Nicht kalt wie Bier.«
Grinsend verschwand sie mit ihrem überdimensionalen Servierwagen in den Reihen hinter uns.
Allmählich kamen mir bestimmte Abschnitte des vergangenen Abends in den Sinn. Sie hatte mir das Bier über die Hose geschüttet, so dass ich im Genitalbereich noch immer nach Kölsch roch. Und irgendwann hatte sie mir in die Lippe gebissen. Auch wenn es mir ein wenig unangenehm war, sie wiederzusehen, so freute ich mich doch innerlich darüber. Ich nahm an, ich hätte mich ein wenig in sie verkuckt.
Erschütternd war nicht ihre Anwesenheit. Schockierend war für mich, dass sowohl der Dunkle als auch die beiden anderen Stewardessen ununterbrochen grienten, wenn sie in meiner Nähe waren und mich ständig fragten, ob mir etwas fehlte und wie es mir ginge …
Ich dachte über den Spruch nach: Die Zeit vergeht wie im Flug. Da war nichts dran. Mir kam der Flug unendlich lang vor. Nach einigen Stunden musste ich mir dringend die Beine vertreten. Ich lief nach Backbord, wo ich die Lippenbeißerin in einem Sitz wiederfand. Ich setzte mich neben sie, wobei sie mich wieder angriente. Und ihr Grienen war so schön.
»War es sehr schlimm?«, fragte ich.
Sie lächelte nun noch mehr. »Ich habe keine schlimmeren Exzesse erlebt. – Nein, ich konnte nur nichts trinken, das war das Problem. Du hast schön getanzt.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Zählt das noch?«
»Was zählt noch?«
»Das DU, das du mir gestern angeboten hast.«
»Haben wir drauf getrunken?«
»Ich mit Apfelsaft.«
»Dann zählt’s. Verrätst du mir deinen Namen noch mal?«
»Moni. Und du bist Tom. Falls du es vergessen hast.«
»Tom? Heiß ich wirklich Tom?«
»Wo fliegst du hin?«
»Das glaubst du nicht. Nach Shinkh.«
»Was ist denn das?«
»Eine kleine Stadt in China. Auf unseren Landkarten habe ich sie allerdings nicht gefunden.«
»Shinkh. Das klingt so indisch. Was machst du dort?«
»Cornflakes verkaufen.«
»Was machst du dort?«
»Cornflakes verkaufen!«
Sie räkelte sich amüsiert in ihrem Sitz. »Du fliegst nach Hongkong, von dort nach Peking, fährst in die tiefste chinesische Provinz, um Cornflakes zu verkaufen?«
»So ist es.«
»Gib mir einen Kuss!«
»Wie bitte?« Ich war etwas erstaunt.
»Heute Morgen habe ich dir einen gegeben. Jetzt gibdu mir einen!«
Ich beugte mich zu ihr rüber und küsste sie. Ganz leicht biss ich ihr in die Lippe.
»Du bist ein Mistkerl«, sagte sie und küsste mich noch einmal lang und ausdauernd. Dann wackelte der Vorhang und ihr dunkler Steward kam herein.
»Hey!« Er lachte und zeigte die großen weißen Zähne. »Stör ich?«
»Nein«, sagte Moni. »Wir wollten gerade hemmungslosen Sex machen, aber du störst wirklich nicht.«
Der Steward setzte sich auf die andere Seite von Moni und umarmte ihre Schultern. »Das war ein Spaß gestern. Nicht wahr, Moni? – Sie konnte nur noch an dich denken. Ja, das stimmt. Sie hat von deinem Tanzstil geschwärmt. Und für den Abgang hat sie dir Bestnoten gegeben. Sie hat dich auch wieder angezogen.«
Ich sah Moni mit großen Augen an. »Du hast die Strümpfe vergessen!«
»Tut mir Leid. Aber der Taxifahrer hatte schon gedrängelt.«
Der Steward erhob sich. »Komm, Moni, wir sind leider auch zum Arbeiten hier!«
»Leider.«
Der schwarze Steward verschwand hinter dem Vorhang.
»Wann geht dein Flieger nach Peking?«, fragte Moni.
»Ich muss mich eine Nacht in Hongkong vergnügen.«
»Wir haben drei Tage Aufenthalt. Treffen wir uns?« Ihre Augen leuchteten.
»Okay. Treffen wir uns.«
Ich kämpfte mich zurück zu meinem schlafenden Fräulein. Irgendwann dachte ich, die alte Dame hätte es aufgegeben. Ich gab ihr einen Ellenbogenkick und sagte: »Sorry, Mam.« Sie erwachte kurz, lallte etwas und schlief weiter. Jedenfalls lebte sie noch. Es wäre mir sonst unangenehm gewesen.
Später konnte ich auch wieder ein Bier zu mir nehmen. »Aber nicht wild rumtanzen!«, mahnte die hinlänglich bekannte Stewardess zu mir. Ich kniff ihr aus Rache in den Allerwertesten, ihr eiserner Servierwagen bekam einen Drall, wodurch wiederum vier Leute geweckt wurden und ein Päckchen Tomatensaft vom Wagen fiel, jedoch nur eine kleine Sauerei anrichtete. Sie warf mir noch einen ernsten Blick zu.
Wir durchflogen eine Schlechtwetterfront, einige mussten sich lautstark übergeben, dann folgte ein Film, den ich verschlief, und irgendwann setzte der Flieger zur Landung an. Obwohl ich mir den Kopf verrenkte, konnte ich nur Wolken und Meer durch eines der winzigen Fenster erkennen. Von Hongkongs berühmter Skyline sah ich herzlich wenig.
Der internationale Airport von Xianggang, wie die neuen chinesischen Inhaber die Stadt Hongkong nannten, war ein paar Meilen über Land und Wasser von Downtown Hongkong entfernt. Und weil kein Platz mehr war, hatte man die Startbahnen ein bisschen in das Südchinesische Meer hineingebaut.
Wir gehörten zu einem der vielen Flieger, die bei der Landung nicht ins Meer stürzten.
Moni raunte mir noch den genauen Treffpunkt im Airport zu, bevor sie einem bestialischen Stress verfiel. Ich beobachtete sie, solange ich konnte und verließ als einer der letzten Passagiere das Flugzeug, nachdem ich mich ordentlich vom großen Steward und von den beiden weiblichen Stewardessen verabschiedet hatte, die mir versicherten, dass sie mich nicht vergessen würden. Wäre ja auch ein Wunder gewesen.
Ich musste meine Reisetasche suchen und fand sie, erstaunlicherweise, auf dem Gepäckwagen eines Chinesen. Nach einer kurzen deutsch-hinesischen Auseinandersetzung und dem zögerlichen Einmischen eines Sicherheitsbeamten konnte ich in den Besitz meines Koffers gelangen.
Überall chinesische Schriftzeichen, an die ich mich nie gewöhnen sollte. In Hongkong selbst waren meistens die englischen Namen mit angegeben, auf dem chinesischen Festland würde dies kaum noch der Fall sein. Ich suchte den Schalter meiner Reiseagentur und erhielt die Karten für den Inlandflug. Ich hatte Bedenken, dass man mich mit einem steinalten Zweisitzer nach Peking transportieren würde, was sich aber als völlig falsch erwies. Auch in China flog man mit Boeing. Die Formalitäten waren geklärt. Am Ausgang sollte ich auf Moni warten. Der Flughafen war gigantisch. Ein kleiner Junge wollte mir meinen Koffer wegnehmen. Ich protestierte, doch er gab nicht nach. So ließ ich ihn das Gepäckstück tragen. Am Ausgang sorgte ich dafür, dass er mir die Tasche wiedergab, die viel zu schwer für ihn war. Er streckte die Hand aus und murmelte ein sehr langes: »Money!?«
Ich griff in die Tasche und hielt ein paar Kondome zwischen den Fingern. Von denen hatte ich schließlich genug. Der chinesische Junge schaute mich fragend an.
»Die sind lecker«, machte ich ihm klar. »Mit Erdbeergeschmack.« Er sah ein, dass er die Dinger irgendwann gebrauchen würde und verschwand. Zum Glück hatte niemand die Aktion bemerkt. Erst später fiel mir ein, was man hätte darüber denken können. Mein Chef hatte mir wie immer einen weisen Rat mit auf die Reise gegeben: »Hüte dich vor der chinesischen Justiz!«
So stand ich da, an diesem Airportausgang, um mich herum ein durchwachsenes Stimmengewirr.
Dann sah ich sie. Mein Blick lag sehr lange auf ihr, denn sie fuhr eine riesige Rolltreppe herab. Moni sah gut aus, schlank, spitzbübisch und wohl proportioniert. Sie war sehr klein.
»Hey«, meinte sie, als sie neben mir stand, und gab mir einen flüchtigen Kuss – so von unten nach oben, als würden wir uns schon Jahre kennen. »Komm mit!«
Ich trottelte hinter ihr her. Sie spazierte über eine dicht befahrene Straße, als würde sie einen ruhigen Park durchqueren. Dann stoppte sie ein Taxi. Wir warfen uns hinein, während uns der Fahrer eine chinesische Geschichte erzählte.
»Du musst immer lächeln und nicken«, sagte Moni.
»In acht Wochen kann ich nicht mehr ernst kucken.«
»Das ist egal«, meinte sie zu mir und sagte zum Fahrer gewandt: »Ma Wan Chung, Jianguo!«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass ich ihn sehr, sehr lieben würde, wenn er uns schnell von hier fort, an einen ruhigen Ort bringen könnte.«
»Das hast du ihm gesagt?«
»Nein.«
»Was dann? – Los sag es mir!«
»Ma Wan Chung ist eine Stadt auf Lantau, ein einziges Inselchen vom Airport entfernt. Wenn ich in der Nähe des Airports mit dir in einem Hotel verschwinde, dann würde morgen in allen Lufthansaflügen bekannt gegeben, dass Moni ständig mit ihren Passagieren bumst.«
»Tust du das?«
»Du bist der erste Mann in meinem Leben!«
»Verarschst du mich?«
»Ja.«
»Bumst du mit jedem?«
»Woher willst du wissen, dass ich mit dir bumsen will?«
»Du hast selbst gesagt, dass …«
Der Fahrer drehte sich um. »Ah, jah, buhmsen, jah.«
»Versteht der uns?«, fragte ich.
»Er ist nur freundlich und geht auf seine Fahrgäste ein. Du hast mich nicht gefragt, was Jiangou heißt.«
»Der Fahrer ist ein mächtiges Arschloch«, sagte ich laut. Moni kicherte.
»Jah, Alschloh …«, kam es aus der Fahrerkabine.
»Er versteht uns nicht. Du hast Recht. Wie hieß das?«
»Jiangou. Das ist ein Hotel.«
»Du willst mit mir in ein Hotel?«
»Mist, ich hatte vergessen, dass du auf der Straße schlafen wolltest.«
»Was machen wir da?«
»Essen.«
»Und?«
»Trinken.«
»Und?«
»Wenn ich viel esse und trinke, dann werde ich müde und will schlafen.«
»Könnten wir vielleicht zwischendurch ein bisschen nackt auf dem Tisch tanzen?«
»Vielleicht.«
»Bumst du mit jedem?«
»Ich bin verheiratet.«
»Wie bitte?«
»Ich bin verheiratet. Meinen Mann seh’ ich vier-, fünf Mal im Jahr.«
»Wo ist der?«
»New York? Havanna? Nordpol? Ich weiß es nicht.«
»Er fliegt auch?«
»Muss er, als Kapitän.«
»Das ist mir peinlich.« Sie war verheiratet! »Du hast keinen Ehering um«, stellte ich fest.
»Muss ich es denn jedem auf die Nase binden? Ich will NUR mit dir Essen gehen. Mehr nicht.« Wieder gab sie mir einen Kuss auf die Wange, bei dem sie ihre Augen schloss.
»Nur Essen. Mehr nicht. Okay«, beruhigte ich mein Gewissen.
Es war ein ordentliches Hotel. Wir nahmen ein Zimmer mit zwei Betten. Obwohl sie die erhabene Frau herauskehrte, war sie sehr konfus. Wir beschlossen, etwas zu essen, durch die sieben Stunden Zeitverschiebung war längst Abend in Hongkong. Wir wollten uns erst später frisch machen. Sicherlich dachten wir beide das Gleiche. Wenn wir jetzt duschen würden, käme es nicht mehr zum Abendessen. Eine so erotisch prickelnde Atmosphäre hatte ich bis dahin noch nie gespürt.
Das Essen war sehr lecker und die Kreditkarte meiner Firma sehr praktisch. Man musste nicht so auf die Zahlen schauen. Die Bedienung sprach englisch. Wir tranken Wein, bis sie plötzlich aufstand.
»Ich geh mich jetzt frisch machen.« Dabei blitzten ihre Augen. Ich sprach kurz mit der Bedienung und ließ eine Flasche Sekt auf unser Zimmer bringen, die eher im achten Stock war als wir. Ein Page, den ich nicht mit Kondomen abspeisen konnte, stand bereits geduldig vor der Tür und bedankte sich grinsend.
Sie ging ins Bad, und als ich ihr hinterher schleichen wollte, schob sie mich langsam wieder raus, wobei sie mir noch einen dieser Küsse gab, diesmal länger und intensiver. Dann schloss sie die Tür. Ich lief vor der Badtür auf und ab, zog mein Jackett aus und öffnete einpaar Knöpfe vom Hemd. Dann hörte ich die Toilettenspülung. Sekunden später ging die Tür wieder auf, sie schnappte mich am Hemd, zog mich ins Bad und begann mir die Kleider vom Leib zu reißen.
Wir duschten gemeinsam, es war der bis dahin erotischste Moment meines Lebens. Später tranken wir Sekt, auf dem Tisch stehend, bei leiser Musik tanzend, dicht an dicht, bevor wir das traumhafte Bett testeten.
Es fehlten jetzt acht Kondome mit Erdbeergeschmack. Fünf hatte ich dem Jungen gegeben, der meine Tasche auf dem Flughafen getragen hatte.
Abschied. Ich hatte sie unheimlich lieb gewonnen, sie wäre die Frau meines Lebens gewesen, dessen war ich mir sicher.
»Grüß deinen Mann von mir«, sagte ich, als wir uns trennten. »Diesen Glückspilz.«
Sie gab mir ein Zettelchen. Eine Adresse in Berlin und eine Handynummer. »Das geht nur, wenn ich auf dem Boden bin. Aber versuchen kostet nichts.«
Wir drückten uns heftig. Ich bildete mir ein, eine Träne über ihren Pupillen gesehen zu haben. »Leb wohl.« Ich riss mich los und betrat eine dieser riesigen Rolltreppen auf dem International Airport Hongkong. Langsam fuhr ich hinauf und entfernte mich von ihr.
Plötzlich rannte sie auf die Rolltreppe zu, blieb aber davor stehen. Ein paar Menschen befanden sich zwischen uns. Mit lauter, schluchzender Stimme rief sie mir zu: »Ich bin nicht verheiratet! Das war ein Spaß!«
Auf der Treppe vor mir stand ein Chinese mit Aktenkoffer, der mich angrinste. »Haben Sie das gehört?«, fragte ich ihn. »Sie hat mich irregeführt! Sie ist nicht verheiratet!« Ich drängte mich zwischen einpaar Leuten hindurch, entgegen der Fahrtrichtung, dann rief ich ihr zu: »Ich liebe dich, Moni! Ich finde dich! Wenn ich hier fertig bin, finde ich dich!« Dann verlor ich sie aus den Augen, aber nie mehr aus dem Sinn.
Obwohl ich mich nun auf einer innerchinesischen Route befand, war der Sicherheits-Check deutlich kritischer, als alle, die ich bisher durchlaufen hatte. Ich musste meine Jacke abgeben. Die chinesischen Sicherheitsorgane betrachteten mich, als wäre ich ein Schwerverbrecher. Mein Ausweis wurde zwanzig Minuten lang untersucht. Immer wieder stellte man mir Fragen, die ich nicht verstand, bis einer der Beamten in englischer Sprache mit mir redete.
»Was machen Sie in der Volksrepublik China?«
»Ich helfe«, fasste ich mich kurz.
»Viele imperialistische Verbrecher behaupten, dass sie uns helfen wollen.« Er blickte mir in die Augen, durch eine Sonnenbrille hindurch. »Sie können sich sicher sein, dass wir jeden Ihrer Schritte überwachen. Sie dürfen jetzt weitergehen, Mister Tom Kramer.«
Er drückte mir meine Jacke zusammenknüllt in die Hand. Irgendwie glaubte ich ihm.
Auf dem Flug nach Beijing studierte ich die Dokumente, die mir mein Chef mitgegeben hatte. Allerdings verstand ich nicht alles. Sie waren von Amerikanern verfasst.
Scheinbar bestand meine Aufgabe in Shinkh darin, aus einer bereits funktionierenden Cornflakesproduktion heraus, den Vertrieb in andere Länder zu organisieren. In Beijing würde mich ein gewisser Li Ting in Empfang nehmen, der die Reise nach Shinkh organisieren sollte.
In der Maschine saßen außer mir keine Ausländer. Ein chinesisches Gemurmel erfüllte den Gastraum, der Flugzeugtyp schien sehr alt.
»Sie kommen aus Deutschland?«, flüsterte ein älterer Chinese neben mir und starrte dabei unaufhörlich aus seinem Bullauge, als hätte er nie etwas zu mir gesagt. Er sprach ein äußerst ordentliches Englisch.
»Ja.« Auch ich flüsterte.
»Es erstaunt mich«, fuhr er fort. »Eine Revolution ohne Blutvergießen, als sie das geteilte Land zusammen führten. Kommen Sie aus dem kapitalistischen Teil?«
»Geboren bin ich im Kommunismus.« Mich hatte lange Zeit niemand danach gefragt.
»Sie sind noch sehr jung. Auch wir wollten einst, dass sich China mehr der Welt öffnet. Es endete blutig und zugunsten der alten Kommunisten. Es ist eine Eigenart der Chinesen, sich am Alten festzuhalten. Sie zelebrieren eine Volksrepublik. In Wirklichkeit halten sich nur die Politiker des Zentralkomitees an ihren Stühlen fest, die mit ihren Familien daran verdienen. Mächtig sind sie nur durch die Masse ihres Volkes. Wissen Sie, wie viele sozialistische Länder es noch gibt?«
»Drei?« Er hatte mich noch immer nicht angesehen.
»Richtig. Kuba, Nordkorea und China. Monarchien, die sich auf den marxistischen Lehren ausruhen. In Wirklichkeit werden diese drei Länder willkürlich von einer Parteiorganisation beherrscht, die alles in den Händen hält. Korruption, politischen Terror und die Staatsmacht. Irgendwann werden auch diese Staatsformen vernichtet. Irgendwann wird sich das Volk erheben oder die Staaten werden wegen ihrer Machthaber von Außen zermürbt.«
»In Kuba ist ein Großteil der Menschen sehr zufrieden mit Castro und seiner Politik. Ich war oft dort. Die Menschen leben auf einem niedrigen, aber offensichtlich besseren Niveau als viele westliche Nationen.«
»Hier in China ist das ebenso. Der Staat investiert dort, wo die Masse lebt, und wird kontrolliert von unglaublich cleveren Banden, deren Chefs höchste Regierungspositionen innehaben. Es gibt Millionen zufriedener Chinesen. Und es gibt Millionen Chinesen, die täglich ums Überleben kämpfen und deshalb keine Zeit zum Nachdenken haben, warum ihr Leben verkorkst ist. Es gibt in der Volksrepublik China Politiker, die sind unbeschreiblich reich. Wissen Sie, dass es sinnlos ist, reich zu sein, dass es völlig ausreicht, dass man das hat, was man zum Leben braucht? Eine chinesische Weisheit besagt, dass derjenige, der zehntausend Reisfelder besitzt, trotzdem nur ein Maß Reis am Tag essen kann, wenn dein Haus auch tausend Zimmer hat, benötigst du nur acht Fuß eines Raums, um in der Nacht schlafen zu können. Aber unsere Wünsche sind wie kleine Kinder. Je mehr man ihnen nachgibt, umso anspruchsvoller werden sie. Wie heißen Sie, junger Mann?«
»Tom Kramer.«
»Sagen Sie Li zu mir!«