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Holger Hinrich, Chef der Leipziger Mordkommission, sucht Ruhe und Erholung im winzigen Ort Zellerau in Mecklenburg-Vorpommern. Die Idylle wird jäh zerstört. Von den gerade sieben noch im Dorf lebenden Kindern, verschwinden innerhalb weniger Stunden zwei. Eine fünfundzwanzigköpfige Sonderkommission der Polizeidirektion Schwerin beginnt die Suche nach den beiden Jungen Kevin und Matti. Hinrich hält sich nicht zurück und ermittelt auf eigene Faust. Der Leipziger findet heraus, dass die Opfer einen mutmaßlichen Mörder beobachtet haben. Als dieser Mörder und dessen Schwester tot aufgefunden werden, von den Jungs aber weiterhin jede Spur fehlt, bleibt Hinrich nichts übrig, als sich Einsatzleiter Feldmüller zu offenbaren. Gemeinsam kommen die äußerst gegensätzlichen Kripobeamten einer furchteinflößenden Macht auf die Spur, bis sie selbst zu Opfern und Mitwissern werden. Hemmanns dritter Kriminalroman handelt in einem Geschwür aus Korruption und Hoffnungslosigkeit, Kapitalsucht und Macht der Arzneimittelindustrie.
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Seitenzahl: 228
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Tino Hemmann
VOGELGRIPPE
Der Krimi
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
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Epilog
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Ein schwülwarmer Sonntagmorgen. Verlassen und brach lag das Dorf Zellerau in Mecklenburg. Wie ausgestorben wirkte der Ort, keine Regung, nur ein böiger Windhauch trieb Müll-Fetzen durch die Straße. Die Sonne trat den erfolgversprechenden Versuch an, über den nebligen Horizont zu steigen und verkündigte drückende Tagestemperaturen. Wolken gab es nicht am Himmel.
Es war fünf Uhr morgens. Kevin schlich dahin, in der Hand zusammengerollt die gelbe Einkaufstüte, in der sich die vom Vortag noch etwas klamme Badehose befand, schaute sich immer wieder um, als hätte er Angst, jemand könnte ihn verfolgen. Wer aber mochte um diese Zeit munter sein? Der Junge trug lediglich T-Shirt und Bermudas. Seine Schultern litten unter einem leichten Sonnenbrand. Barfüßig, manchmal hüpfend, lief er am Straßenrand entlang und wich unbewusst Hundehäufchen aus.
»Mama wird mich schlagen«, flüsterte der blondgelockte, dürre Zwölfjährige zu sich selbst. »Wenn sie nicht schon die Polizei gerufen hat.«
Er hat sich am Vortag abgemeldet.
Mama hielt das neue Baby in den Armen, weil es nicht schlafen wollte. »Wohin gehst du?«, fragte sie. »Du sollst doch deinem Vater helfen!«
Alles – nur das nicht! Kevin kannte die Launen des Vaters gut. In Wirklichkeit war Papa nicht sein richtiger Vater. Er war der richtige Papa von Kevins vier Geschwistern, aber nicht der von Kevin.
»Ich bin gleich zurück«, sagte Kevin. »Matti wartet, wir wollen zum See, Mama. Nur mal ganz kurz.«
»Das ist typisch. Der Herr Faulenzer geht baden und dein Vater schuftet. Das ist typisch.«
»Ich habe Ferien, Mama«, rechtfertigte sich der Junge. »In einer Stunde bin ich zurück. Versprochen.«
»Dass du mir bloß keinen toten Vogel anfasst!«
Kevin verleierte die Augen. »Mama, am See liegen keine toten Vögel rum.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein, wer weiß, was mit der Vogelgrippe noch auf uns zukommt. – Wenn da einer liegt, dann wird er nicht berührt, hast du verstanden, Kevin?« Die Mutter gab ihrem Sohn einen sanften Kuss auf die Stirn.
»Ja, Mama. Aber da sind bestimmt keine.« Kevin wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Am See kamen Kevin und sein Freund Matti nicht an. »Bleibst du zum Abendessen, Kevin? – Wir wollen grillen«, hatte Matti gefragt.
»Ich weiß nicht … – Gehen wir nicht zum See?«
»Keine Lust«, murrte Matti. »Wir können im Pool baden, wenn du willst.«
Baden im Pool war cool. Es gab ein Sprungbrett und immer etwas zum Trinken. Am See war mehr Platz für Fußball, aber notfalls ging das auch in Mattis Garten.
»Okay, wenn du meinst … – Ja, ich bleibe.«
Nach dem Abendessen zeigte Matti dem Freund das neue Zelt. Es stand am Waldrand, weitab vom Haus seiner Eltern.
»He, willst du mit hier schlafen? Los, Kevin, wir haben Ferien!«, rief der dunkelblonde, kurzhaarige und zehnjährige Junge.
Kevin überlegte einen Moment. »Okay, Matti. Schlimmer kann’s nicht werden. Mama ist so oder so stinksauer auf mich.«
Sie rauften im Spaß miteinander und irrten verschwitzt durch den dunklen Wald. Sie genossen ihre Freiheit.
Irgendwann erwachte Kevin im Zelt, ein Bein von Matti lag über ihm.
Leise kroch er hinaus und machte sich aus dem Staub.
Kevin lief am Rand der breiten Straße. Sie zog sich durch den gesamten Ort. Die meisten Autos, die diese Bundesstraße nutzten, nahmen die vierunddreißig Häuser nicht wirklich wahr. Sie bremsten nur, wenn ein Blitzer am Straßenrand stand, denn der sprach sich schnell herum.
Jockey, der Hund vom alten Kramer, kam schwanzwedelnd angelaufen. Eine erbärmliche Kreatur, klein, schwarz, verlaust und selten bei seinem Herrn.
»Hey, Jockey, was machst du so früh hier draußen?« Kevin kniete sich auf den Boden und kraulte dem Hund das Fell. Jockey ließ sich sofort auf den Rücken fallen. »Na, du Schmusemaus.« Der Junge lachte und streichelte den Bauch des Hundes.
Kevin sah erschrocken auf. Ein bekanntes Geräusch näherte sich. Ein roter Kombi fuhr in den Ort, zog eine Staubwolke hinter sich her. ›Wahrscheinlich ein Frühaufsteher, der am Wochenende zur Schicht muss‹, dachte Kevin. Im gleichen Moment bekam es Jockey mit der Angst zu tun. Er rappelte sich auf und lief zur Straßenmitte, wo er wie angewurzelt stehen blieb und in die Richtung sah, aus der das Fahrzeug rasch näher kam.
»Jockey!«, schrie Kevin. »Komm her, du blöder Hund!« Der rote Kombi wuchs rasch. »Jockey, verdammt!«, Kevins Stimme überschlug sich. »Los, komm endlich her!« Wütend stampfte der Junge auf den Boden. Der Hund rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Bedrohlich wuchsen die Dimensionen des Autos. »Jockey!«, brüllte der Junge erneut, ließ die gelbe Plastiktüte fallen und rannte los.
Im gleichen Moment lief der Hund von der Straße. Kevin stolperte, strauchelte und fiel auf den Asphalt. Hektisch atmend lag er auf dem Boden und hörte das Quietschen der Bremsen. Eine Tür öffnete sich, ein Schatten tauchte über Kevin auf, da war noch ein Stechen in seinem Kopf …
Finsternis umgab ihn.
»Hallo?« Kevin bewegte einen Arm. Die Augen hatte der Junge geöffnet. »Hallo?« Flüsternd die Frage. Es war dunkel, als wäre wieder Nacht. Kevin fühlte mit der flachen Hand um sich. Er lag in einem Bett. Es war schmal und das Kopfende ragte nach oben. ›Das Auto!‹, durchfuhr es den Jungen, ›Ich bin in einem Krankenhaus!‹– »Ich wurde überfahren!« Kevins Hand glitt über die eigene Haut. Da waren keine Wunden. Er setzte sich auf das Bett, die Füße berührten einen kalten Boden. »Hallo!«, rief er lauter. »Mir tut nichts weh! – Hallo!?« Kevin kratzte sich den Kopf, drehte mit einem Finger neue Locken in die Haare. Dann stand er auf.
Dieses verdammte Zimmer hatte kein Fenster. Und der Boden war eisig. Der Junge streckte die Arme aus und setzte einen Fuß vor den anderen. Wie blind bewegte er sich. Drei Schritte, dann berührte seine Hand eine glatte, kalte Wand. Vorsichtig ließ Kevin die Handfläche über die Wand gleiten, bis er die Zimmerecke erreicht hatte. Wieder folgte die Hand einer Wand, sieben Schritte, bis zur nächsten Ecke. Kevin fror und zitterte erbärmlich. Erneut lief er sieben Schritte und fühlte die dritte Zimmerecke. Nacheinander rieb er die Fußsohlen an der Wade des jeweils anderen Beines. Noch immer berührte seine Handfläche jene Zimmerwand. Und noch einmal ging Kevin sieben Schritte.
»Das waren jetzt vier Ecken«, flüsterte er und zupfte nervös an den dünnen Bermudas. Die Arme vor sich nach unten gestreckt, suchte er das Bett, fühlte ein eisernes Rohr und kroch auf die Matratze. Das Bett stand mitten im Raum. Auf dem Bett lag die dünne Decke, in der ein wenig von Kevins Körperwärme steckte. Eilig kroch der Junge unter diese Decke, krümmte sich zusammen, die Arme eng am Körper. Er zitterte.
Keine Tür – kein Fenster.
Kevin rieb sich die Oberarme. Das war kein Krankenhaus.
Als der Junge erneut die Augen öffnete, blendete ihn Licht. Diesen Geruch glaubte Kevin zu kennen! Öl. Brennendes Öl. Und wieder diese Kälte. Minuten vergingen. Noch immer lag Kevin zusammengekrümmt unter der Decke, blickte durch einen schmalen Spalt in den Raum. Er beobachtete die winzige Flamme, die ihn geblendet hatte.
»Wo bin ich?«, flüsterte er, kaum dass seine Stimme zu hören war. »Wo bin ich hier?« Kevin erwartete keine Antwort. Etwas mehr lüftete er die Decke und schob den schmerzenden Kopf hervor. Die Ölfunzel stand auf dem Boden. Nur die Funzel. Wo war er nur? Mit einem Ruck drehte sich Kevin auf den Rücken und schrie auf. Er zog die Decke wieder über den Kopf. Trotzdem nahmen seine Sinne das Bild wahr: Ein runzliges, altes Gesicht, zerzauste Haare, eine Warze auf der Nase.
Kevins Zittern nahm zu, doch für den Moment spürte er die Kälte nicht. Zögernd zog der Junge die Decke von den Augen. Er spürte einen unfeinen Atem.
»Das fragst du?«, meinte das runzlige Gesicht mit der Stimme einer alten Frau. Die Lippen bewegten sich mit ihren Worten.
Kevin setzte sich mit einem Ruck ins Bett. »Wo bin ich?«, fragte er wieder. »Wer sind Sie?«
Die Alte trug ein hässliches Kleid und saß auf einem hölzernen Schemel. Der Junge erkannte, dass der Raum tatsächlich keine Tür hatte. Er glaubte, den Schatten einer Treppe zu erkennen.
»Wie ist dein Name, Junge?«, fragte die alte Frau barsch und näherte sich mit ihrem hässlichen Gesicht dem Kopf des Kindes.
Kevin wich zurück und spürte die eisigen Stahlrohre des Bettes im Rücken. »Kevin.«
»Kevin, also …« Die Alte kam immer näher. Sie verströmte einen ekelhaften Geruch. »Woran kannst du dich erinnern, Balg?« Sie flüsterte und ihre Zähne knirschten.
Der Junge sah schwarze Zahnstumpen. »Ich erinnere mich …, ich …« Kevin konnte sich gut erinnern. »Da kam ein Auto und … und Jockey war auf der Straße … Und … und …«
Die grauen Lippen der Alten berührten Kevins Wange.
»Wer ist Jockey?«
»Der Hund vom Herrn Kramer.«
»Was meinst du, was ist dann passiert?«
Wieder sah der Junge den bedrohlichen Schatten, hörte das erbärmliche Kreischen der Bremsen. »Ich … ich weiß es nicht!«, entfuhr es ihm laut. Sie sollte weggehen!
»Was denkst du, was ist geschehen?« Nun berührte sie sein Ohr.
Den Jungen fröstelte. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Tränen traten in die Augen. »Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht? – Soll ich dir verraten, was dann passiert ist? – Soll ich es dir verraten?« Ihre Warzennase schnüffelte an Kevins Ohr. »Was hast du auf der Straße gemacht? – So früh am Morgen? Was hast du getan?«
Kevin schloss die Augen, um die Alte nicht zu sehen. Er schwieg. Doch er fühlte, dass sie an ihm roch, spürte angeekelt ihre Berührungen. Er sah ihr schreckliches Gesicht, ohne die eigenen Augen zu öffnen. Er roch ihre Ausdünstungen. »Es ist so kalt«, flüsterte Kevin flehend.
»Komm her, dann wärm ich dich!«
Kevin riss die Augen auf. Sie hatte derb an seine Schultern gegriffen – mit ihren alten, harten Fingern! Er riss sich aus ihrem Halt, sprang vom Bett und flüchtete in die dunkle Zimmerecke, in der er die Treppe vermutete, stürzte über einen Balken und wälzte sich auf dem Boden.
Die Alte erhob sich eilig, ging um das Bett herum, stand sofort zwischen Kevin und der Treppe. Sie hob die Funzel hoch und hielt sie vor das eigene Gesicht.
Kevin lag auf dem Lehmboden, spürte die Kälte im Rücken. »Geh weg! Verschwinde!«
»Du musst nicht mit mir reden. Du musst dich nicht von mir wärmen lassen. Du musst nicht essen, was ich dir bringe. Du musst nicht trinken, was ich dir gebe.« Sie drehte an einem Rädchen der Öllampe, der Raum versank in der Dunkelheit. »Du wirst schon sehen, was du davon hast!« Ihre Stimme kam aus dem Nichts.
Kevin glitt auf dem Boden rückwärts, hockte in der Ecke, die kalte Wand im Rücken, zitterte und weinte. Seine Füße schienen zu erfrieren.
Ein Knirschen war zu hören. Ein Krachen folgte.
Minuten waren vergangen. Der Junge wusste, dass die Alte verschwunden war. Auf allen Vieren kroch er zum Bett, stieß mit dem Kopf an den Hocker, auf dem die Alte gesessen hatte. Er hörte ein blechernes Geräusch. Während die eine Hand den Kopf rieb, fühlte die andere nach dem Hocker. Die Sitzfläche ließ sich hochklappen. Kevin kniete vor dem Hocker, hatte ihn aufgeklappt und fühlte unter der Sitzfläche eine Schüssel. Sie war leer. Der Junge kroch zurück in das Bett und tastete nach der Decke. Die Decke war verschwunden! Gemeinheit! Warum nur war die Frau so gemein?
Das Zittern nahm zu. Kevin rieb an Armen und Beinen, bis er dazu keine Kraft mehr hatte. Wärmer wurde ihm nicht. Erneut krümmte er sich zusammen. Das Bett bestand aus Eisengestell und Matratze.
»Ich bin nicht tot!«, schrie Kevin plötzlich. »Ich bin nicht tot!«
Dann weinte er bitterlich, bis er in einen Halbschlaf fiel. Kraftlos und frierend.
Glücklich lief Kevin die Straße entlang. Die Sonne hatte bereits den Horizont überwunden, wärmte den Rücken des Kindes. Er hatte Jockey gerettet! – Die meisten im Dorf würden sich nicht bei Kevin bedanken. Im Gegenteil. Jockey war nirgendwo gern gesehen. Ständig heulte er in den Nächten den Mond an oder kläffte am Tag Autos und Leuten hinterher.
Leise schlich der Junge ins Haus. Kein Vergleich zu Mattis riesiger Hütte. Kevins Eltern konnten sich solch ein Haus nicht leisten.
Wenn Kevin lautlos in das Kinderzimmer gelangen würde, das er sich mit drei Geschwistern teilen musste, dann könnte er so tun, als hätte er die ganze Nacht in seinem Bett gelegen. Barfüßig stahl er sich an der Küchentür vorbei.
»Kevin?«
Nichts da mit unauffällig. Mama saß mit dem Baby am Küchentisch.
»Guten Morgen, Mama«, flüsterte Kevin furchtsam und schob sich durch die Tür.
»Komm her, du Teufel!« Jetzt würde es eine schreckliche Moralpredigt setzen. Das Baby, in Mamas Armen, schlief. Sie zog Kevin an sich heran, griff nach seinem Hals und küsste ihm auf die Wange. »Alter Halunke.«
Dem Jungen fiel ein Stein vom Herzen. »Du bist mir nicht böse, Mama?«
»Ich habe gestern Abend mit Mattis Mutter telefoniert. Du hättest mir verraten können, dass ihr zelten wollt. Und ich freue mich, dass du gleich zurückgekommen bist, obwohl es noch so früh am Morgen ist. – Was ist, deckst du den Tisch?«
Kevin umarmte die Mutter, darauf bedacht, das Baby nicht zu wecken.
Mama. Kevin fühlte ihre Wärme. Sie hielt ihren Jungen fest an sich gedrückt, rieb dessen kalte Schultern.
Was war das nur für ein schrecklicher Traum? Und woher kam der beißende Geruch? Die braunen Augen des Kindes öffneten sich ein wenig.
Die Alte saß auf dem Bett und hielt Kevin fest umschlungen, Wange an Wange!
Kevin war nicht in der Lage, sich zu rühren. Er spürte die großen, weichen Brüste der Frau unter ihrem groben Kleid an seinem Körper, fühlte ihre Last. Sie stank so widerlich! »Lassen Sie mich sofort los!«, forderte der Junge. Seine Stimme klang heiser.
»Ich wusste, dass du zu mir kommst, wenn dir nur kalt genug ist.« Ihr fester Griff hielt den Jungen. »Du hast mich geküsst.« Ein hässliches Lachen ertönte.
Kevin durchfuhr ein Schaudern. »Ich dachte …«
»Was dachtest du?« Sie lachte noch immer. Sie wagte es zu lachen!
»Ich dachte … es wäre meine Mutti.«
Ganz plötzlich stieß die Alte Kevin von sich. »Undankbar bist du, Rotzbengel!«
Der Junge fiel rücklings auf das Bett, wäre auf der anderen Seite fast abgestürzt, konnte sich aber gerade noch halten.
»Ich habe dir meine Wärme gegeben. Und das ist nun der Dank! – Was hast du auf der Straße gemacht? – So früh am Morgen?«, wiederholte sie die Frage, die sie schon einmal gestellt hatte.
Kevin sah sich um. Vier Wände, der Boden, die Ölfunzel. Wo war der dunkle Schatten, der hinaufführte? Seine Beine waren weich, sie hielt ihn fest. »Wo bin ich? Warum machen Sie das mit mir? Warum sind Sie so gemein zu mir?«
»Wenn dir eine Frage gestellt wird, stell gefälligst keine Gegenfrage«, raunte die Alte.
»Wo bin ich? – Ich habe Ihnen nichts getan!«, flüsterte Kevin. Dann schrie er: »Hilfe! – Hilfe!« Doch er hörte nichts, als das krächzende Lachen der alten Frau.
Die ergriff Kevins T-Shirt und zog den Jungen mit einem Ruck an sich heran. »Antworte, los, sofort!« Gestank drang aus ihrem Mund.
»Ich wollte nach Hause, ich war bei Matti, wir haben im Garten gezeltet …«
»Warum so früh am Morgen?« Ihre hässlichen Augen wollten Kevin töten. »Kinder in deinem Alter schlafen lange.«
»Ich wollte nach Hause.« Wieder zitterte Kevin. »Wo bin ich?«
»Warum wolltest du so früh nach Hause?« Sie zog den Jungen an sich heran, er konnte ihren Blicken nicht ausweichen. »Warum so früh? – Sag die Wahrheit!« »Weil Mama …«
»Weil – was?«
»Ich durfte nicht über Nacht wegbleiben.«
»Aha! – Du warst allein auf der Straße, nicht wahr? – Weil alle anderen geschlafen haben. Deshalb bist du niemandem begegnet.«
Kevin liefen wieder Tränen über die Wangen. »Ja! Es war ganz früh am Morgen! – Wo bin ich?«
»Bist du jemandem begegnet?«, fragte sie fordernd.
Kevin sah der Alten in die Augen. Das, was bei anderen weiß war, hatte sich bei dieser Frau rotbraun gefärbt.
»Wenn Ihnen eine Frage gestellt wird, dürfen Sie keine Gegenfrage stellen«, entfuhr es Kevin. »Ich bin niemandem begegnet.«
Die Alte drehte das T-Shirt auf Kevins Brust mit ihrer Faust zusammen, dass dem Jungen die Luft wegblieb. Dann schlug sie Kevin mehrmals ins Gesicht. »So hast du dir den Himmel nicht vorgestellt. Nicht wahr, Junge?« Wieder stieß sie Kevin unsanft von sich. Dieses Mal konnte er sich nicht mehr halten, fiel auf der anderen Seite des Bettes herunter und schlug mit dem Kopf gegen den Schemel. Kevin lag weinend auf dem glatten, eisigen Boden. Es wurde dunkel.
Die Alte war verschwunden. Sein Kopf schmerzte. Die linke Wange glühte. Kevin griff sich ins Genick und spürte etwas Warmes. Blut!
»Tote bluten nicht«, flüsterten seine Lippen.
Den Himmel?
Bilder rasten durch Kevins Gehirn. Das rote Auto, der Schatten eines Mannes – ja, eines Mannes!, die kreischenden Bremsen. Räder? Waren es Räder, die ihn zerquetschten?
Er zog sich am Stuhl nach oben, fühlte mit der Hand nach dem Bett. – Da war sie wieder! Eine Decke! Es war eine Wolldecke, unter die Kevin kroch. Die Decke roch nach Zigaretten und nach der Alten. – Egal, nur die Wärme zählte. Im Himmel sind Engel, Wolken und Flugzeuge! Das hier war nicht der Himmel, unmöglich.
»Aber wenn …« Kevin schaute Löcher in die Dunkelheit. »Aber wenn sich alle geirrt haben? – Was, wenn die Toten in solche kalten Zimmer gesperrt werden?« Sein Kopf brummte schmerzvoll. »Die Hölle?« – Kevin hatte davon gehört. »Hölle und Feuer gehörten zueinander. In der Hölle ist Feuer. In der Hölle ist Feuer.« Der Junge kratzte sich am Bein. »Ich muss mal.«
Zeit verging.
»Ich muss mal«, flüsterte er wieder. »Ganz dringend.«
Noch mehr Zeit strich dahin. Kevin kletterte vom Bett, klappte den Stuhl auf, setzte sich auf die Schüssel und erleichterte sich. Ein blechernes Geräusch erklang, als der Strahl gegen die Emaille schlug. Der Junge erhob sich, klappte eilig den Stuhl zu und legte sich zurück auf das Bett. Ein paar Minuten später erhob er sich erneut, erfühlte die Umrisse des Stuhles, trug ihn in eine entfernte Ecke des schwarzen Raumes und kletterte wieder ins Bett. Er verschwand unter der Decke. »Es kann nicht sein«, flüsterte Kevin nach langer Zeit, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.
»Wach auf!« Der Schreck fuhr dem Jungen durch die Glieder. Die Alte stand neben dem Bett. Sie gönnte dem Jungen kein Licht, in der Ölfunzel auf dem Boden zuckte nur eine winzige Flamme. Sie hielt einen Becher in der Hand. Kevins Zunge fuhr über die trockenen Lippen. Er hatte Durst und Hunger und streckte flehend seinen Arm aus.
»Sag bitte, wenn du etwas willst!«, forderte die Alte barsch.
»Bitte«, flüsterte der Junge mit sterbender Stimme.
»Es geht doch. – Trink es aus, ich nehme den Becher wieder mit.«
Kevin griff nach dem Plastikbecher und trank hastig. Das Zeug war geschmacklich undefinierbar, es war kalt und schmeckte bitter. Im Unterbewusstsein nahm er wahr, dass die Alte Gummihandschuhe trug. »Warum haben Sie mich eingesperrt?«
»Gib den Becher her und leg dich wieder hin!«
Kevin war kraftlos, ließ sich auf das Bett fallen, während die Alte das kleine Flämmchen löschte und verschwand. Der Junge hörte ein leises Schaben, als wenn Holz an Beton reiben würde. Immerhin hatte sie ihn dieses Mal nicht berührt. »Sie würde niemals einem Toten dieses Zeug geben …« Kevin flüsterte die Worte. Müdigkeit übermannte ihn.
Kevin träumte. Ein Weltraumfahrer kam die Treppe hinab, kniete sich neben sein Bett. Hinter dem Visier des Helms waren keine Augen zu sehen. Ein Lichtstrahl, der aus dem Helm drang, blendete den Jungen. Eine Hand, die in einem weißen Handschuh steckte, hielt Kevin fest. Der Kosmonaut öffnete einen silbernen Koffer. Kevin spürte unerträgliche Schmerzen. Das Licht und der Weltraumfahrer verschwanden wieder. Es wurde dunkel.
Kevin lag wie in Trance. Sein linker Oberarm brannte, als hätte jemand hineingestochen.
Gedanken schwirrten durch den Kopf.
Eine Spritze?
Momente lang versuchte er sich wach zu halten. Alles drehte sich. Die Augen fielen von allein zu. Die Düsterkeit war nicht zu durchdringen. Kein Lichtschein, kein Sonnenstrahl, nur Kälte und Schwärze umgaben den Jungen. Ermattung. Schwindelgefühle. Und die Schmerzen im Arm.
Stunden waren vergangen, ein Zeitgefühl besaß Kevin nicht mehr. Er befand sich im Halbschlaf, bis ihm ein Klirren in den Ohren lag, das seine Sinne weckte.
War die Alte wieder zurück? Kevin lag zusammengekrümmt im Bett. Es dauerte Minuten, bis ihm die Gedanken sagten, dass es die eigenen Zähne waren, die das Geräusch verursachten. Er fror und zitterte am ganzen Leib. Schmerzen breiteten sich in seinem Körper aus. Instinktiv suchte der Junge nach der Decke. Kevin schob sich selbst vom Bett, die Füße berührten den Fußboden, er wollte sich erheben, doch die Beine knickten weg. Der Junge verlor das Gleichgewicht und fiel. Auf dem Boden spürte er die schreckliche Kälte heftiger, nahm im Unterbewusstsein wahr, dass er inzwischen unbekleidet war.
Kevin streckte einen Arm aus, ergriff das Stahlrohr des Bettes, wollte sich hinaufziehen, doch die Kräfte verließen ihn. Er jammerte. Ein leises Schluchzen erklang. Es drehte sich ihm stärker, bis er die Sinne verlor und ohnmächtig neben dem Bett lag.
»Weg da! Jetzt spring ich!«, rief Matti.
Kevin sah zu seinem Freund hinauf, der auf dem Sprungbrett stand und sich die Nase zuhielt. Hinter Matti leuchtete die tief stehende Sonne. Wasser spritzte, Matti wirbelte im Bassin herum, direkt neben Kevin, beide mit rot unterlaufenen Augen.
»Wollt ihr das Grillen übernehmen?« Mattis Vater stand am Beckenrand. »Dann kommt raus und trocknet euch ab!«
Eilig stiegen die beiden Jungen die kleine Leiter hinauf und rannten zum Grill. Die folgende halbe Stunde gehörte den Bratwürsten und Steaks, heimlich tranken beide aus der Bierflasche, die Mattis Vater zum Löschen bereitgestellt hatte und kicherten.
Kevin lief durch den Duft der gegrillten Würste das Wasser im Mund zusammen. Matti bemerkte dies. Der Freund nahm eine Bratwurst vom Grill. »Hu, ist die heiß!«, rief er und brach die Wurst in zwei Hälften. Eine davon gab er Kevin, der sie von einer Hand in die andere gleiten ließ und die Finger anpustete.
Nach dem Abendessen zeigte Matti dem Freund das neue Zelt. Es stand am Waldrand, weitab vom Haus, aber noch auf dem Grundstück der Eltern.
Kevin war begeistert. »He, willst du hier schlafen? Los, Kevin, es sind Ferien!«, forderte Matti.
Kevin überlegte einen Moment. »Okay, Matti. Schlimmer kann’s nicht werden. Mama ist so oder so stinksauer auf mich!« Obwohl ihm nicht wohl bei der Sache war.
Währenddessen telefonierte Mattis Mutter mit der von Kevin. Beide kamen überein, dass Kevin bei seinem Freund übernachten durfte. »Ich bin froh, dass Kevin endlich einen Freund gefunden hat. Viele Kinder gibt es hier ja nicht«, sagte Kevins Mutter.
Ihr Sohn schlich mit seinem Freund durch den angrenzenden Wald. Es war dunkel und die Geräusche, die der Wald von sich gab, machten die Nachtwanderung zu einem besonderen Erlebnis. Kevin ging vorweg durch das dichte Unterholz. Er drehte sich um, wollte auf seinen Gefährten warten.
»Matti?« Kevin lauschte. »Matti? – Wo bist du?« Keine Spur von Matti. Bestimmt wollte der Kevin erschrecken!
»Matti! – Ich seh’ dich!«, rief Kevin, obwohl er Matti nicht sah. Ganz in der Nähe, war ein lautes Knacksen zu hören.
»Matti, bist du das?« Kevin zitterte. Er bekam keine Antwort. Wieder ein Knirschen.
»Matti? – Sag was!« Kevin drehte sich einmal um die eigene Achse, Dornen stachen in seine Wade.
Plötzlich ein Schatten über ihm. Der Weltraumfahrer!
Ein Schlag traf den Kopf des Jungen, er stürzte bewusstlos ins Unterholz.
Erschrocken rappelte sich Kevin auf. Er saß im Keller auf dem Lehmboden. Er fror und doch war er nass geschwitzt. Er schlug mit den Armen um sich und wollte die Dunkelheit vertreiben.
Doch die war stärker und blieb.
»Guten Morgen. Ich will Kevin abholen.«
»Guten Morgen, Herr Franke. Die Jungs schlafen noch im Zelt. – Wie spät ist es denn?«
»Zehn durch. – Wo steht das Zelt? Ich weck die beiden Rabauken.« Kevins Vater warf einen Blick auf das große Grundstück und entdeckte das Zweimannzelt am Waldrand.
»Er kann mit bei uns Frühstücken!«, rief Mattis Mutter dem hochgewachsenen Mann hinterher. »Oder?«
»Ja, ja, Frau Semmer, dann müssen wir aber los, ich will ihn mit nach Stadtklaven nehmen, ich habe heut ein Fußballspiel. Wenn Matti Lust hat, kann er auch mitkommen.«
»Bei der Hitze?« Mattis Mutter warf einen kontrollierenden Blick auf den Terrassentisch. Kurz darauf brachte sie ein weiteres Gedeck. Währenddessen lief Kevins Vater um den Pool herum, trat zögernd auf die braune Wiese und ging zu dem kleinen Zelt, in dem tatsächlich noch Ruhe herrschte. Das Zelt stand mitten in der Sonne. Es musste erbärmlich warm und stickig darin sein. Thomas Franke zog vorsichtig den Reißverschluss auf. Warme Luft kam ihm entgegen.
Matti öffnete gähnend die Augen. »Muss ich schon aufstehen?«
»Ja, Matti. Guten Morgen. – Wo ist denn Kevin?«
Der Junge sah sich im Zelt um. Dann zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht Pinkeln?«
Franke schaute zum Waldrand. »Kevin?«, rief er einmal, dann ein weiteres Mal. »Kevin!« Vergeblich wartete er auf eine Antwort. »Wann hast du Kevin das letzte Mal gesehen?«
Matti kroch vorsichtig aus dem Zelt und streckte sich. Er trug nur die Badehose. »Wir haben uns hingelegt und Gruselgeschichten erzählt. – Dann bin ich eingeschlafen. Und heute Nacht, als ich Pinkeln war, hat Kevin hier gelegen. Für quer.«
»Das gibt’s doch nicht …« Ein paar Schritte ging Franke zum Wald. Dann legte er die Hände als Trichter vor den Mund und rief erneut: »Kevin! – Komm bitte, wir haben keine Zeit zum Verstecken spielen!«
Ein paar Vögel flatterten davon.
Mattis Mutter kam näher, rieb ihrem Sohn die Schultern. »Guten Morgen. – Was ist denn los?«
Matti sah zu seiner Mutter hinauf. »Ich glaube, Kevin ist weg.«
»Weg?«
»Vielleicht ist der sture Kerl nach Hause gegangen.« Franke holte sein Handy aus der Hosentasche, Kurzwahl. »Hallo, Miriam? – Ist Kevin bei dir? – Nein, es ist nichts, wer weiß, wo er steckt. Vielleicht am See, ein Morgenbad nehmen.«
Minuten später suchten Frau Semmer und ihr Mann mit Matti im Wald, während Franke zum See fuhr und dort nach Kevin Ausschau hielt.
Gegen Mittag wusste der ganze Ort vom Verschwinden des blondgelockten Kindes. Nach und nach entlud sich die Angst. Die Erwachsenen machten sich keine gegenseitigen Vorwürfe, um die Situation nicht anzuheizen. Doch jedem kamen Zeitungsberichte in den Sinn, nach denen Kinder verschwunden waren und ermordet wiedergefunden wurden.
Vierzehn Uhr zwanzig kam ein Streifenwagen in den Ort, zwei Beamte nahmen alle relevanten Daten auf und befuhren anschließend jeden befahrbaren Weg der Umgebung.
Am späten Nachmittag versuchte eine Hundestaffel der Polizei die Spuren aufzunehmen, die an der Hauptstraße endeten. An eben dieser Stelle hatte Jockey jaulend gesessen, bis ihn die Angst vor den Polizeihunden vertrieb. Er hatte gejault, viele Stunden lang.