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Kommissar Hinrich von der Leipziger Kripo tappt völlig im Dunklen. Innerhalb von vierzig Stunden werden im Großraum Leipzig vier Jungen entführt, alle tragen den Namen Erik und sind neunjährig. Es findet sich ein Dokument, fast 500 Jahre alt, das berichtet über Erik von Burgund, der einst Jungen aus dem Umland in eine Scheune sperrte und damit drohte, diese anzuzünden, würde die Stadt nicht vor den Katholiken kapitulieren. Dem Dokument nach hat der Niederländer seine Drohung wahr gemacht. Was aber hat der Schmalkaldener Krieg mit den jüngsten Ereignissen zu tun? Die Spuren führen ins Leipziger Rathaus, später ins Schwulen-Milieu der Stadt. Bis sich letztendlich die Ereignisse überschlagen. Hemmanns erster, spannender Krimi über die Kollegen der Leipziger Kripo.
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Seitenzahl: 244
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Inhalt
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Tino Hemmann
Leipzig in Angst
Kriminalroman
Impressum eBook:
Copyright (2008) Tino Hemmann
eISBN: 978-3-86703-960-4
Impressum Printausgabe:
Bibliografische Information durch
Die Deutsche Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Printausgabe:
Copyright (2005) Tino Hemmann
Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte bei Tino Hemmann
Die Menschen der mitteldeutschen Stadt Leipzig blieben an diesem Montagabend lieber zu Hause. Das Tiefdruckgebiet, das Mitteleuropa seit zwei Wochen fest im Griff hatte, sorgte für Regen und Sturm. Waren die Leute erst in ihren Wohnungen, dann störte sie dieser Umstand kaum. Mussten sie jedoch den heimischen Herd verlassen, dann forderte dies einige Überwindung.
Jutta Krahmann – attraktiv, schlank, sportlich und von einem gerade zu Ende gehenden Kindergeburtstag gezeichnet – wühlte sich durch einen Berg von Krepp- und Bonbonpapier. Auf dem Fußboden lagen Girlanden- und Luftballonfetzen. Für die alleinstehende Mutter bedeutete der vorangeschrittene Abend, dass sie hinaus und die Geburtstagsgäste bei ihren Familien verteilen musste.
„Jungs! Hallo! Hört mich jemand? Hallo!“
Sechs geschaffte Kinder ignorierten die arme Frau, indem sie ihrer jeweiligen Beschäftigung nachgingen. Drei der neunjährigen Jungen schauten gespannt in eine Flimmerkiste und beobachteten die irren phantastischen Zeichentrickabenteuer von SpongeBob Schwammkopf, für Erwachsene so unverständlich, dass Mutter Krahmann nur den Kopf schütteln konnte. Zudem war der Ton sehr laut gedreht. Außerdem machten drei weitere Kinder, bei der aufwendigen Montage einer gigantischen Playmobil-Piratenburg, nicht weniger Krach, so dass die Stimme der völlig überforderten Frau untergehen musste.
Was folgte, war die harte Lösung, auch wenn Kinderblicke töten konnten. Jutta Krahmann tätschelte nach der Fernbedienung, drückte derb auf den roten Knopf ... Es folgte eine Stille, nur noch kurz unterbrochen von einem abschließenden Knistern der Mattscheibe! Gewöhnlich war dies die Ruhe vor dem Proteststurm.
„Ooch, bitte Mama!“ Das Geburtstagskind, Florian Krahmann, zwischen unzähligen Playmobilteilen kniend, sah das Ende einer durchaus erfolgreichen Geburtstagsparty gekommen. „Nur noch ein bisschen ...“
Die Mutter blieb unnachgiebig, holte tief Luft und klatschte zweimal in die Hände. „Los Jungs, ich bring euch jetzt alle heim!“
Widerwillig erhoben sich die jungen Besucher. Ihre Wangen waren rot und sie sahen recht müde aus.
„Es ist schon dreiviertel Neun. – Und vergesst eure Preise nicht.“ Frau Krahmann hob einen zerplatzten Luftballon vom Boden auf, an dem ein zu drei Vierteln abgelutschtes Bonbon klebte und ließ den kleinen Batzen resignierend wieder fallen. Sie nahm ihren blonden Florian, kuschelte seinen Kopf. „Du weißt doch: Morgen ist wieder Schule. – Und, hat’s dir gefallen, mein großer Junge?“
Florian nickte und gähnte dabei. „Kann ich mitkommen, wenn du sie nach Hause bringst?“
„Dann müsst ihr zu viert hinten sitzen, wenn die Polizei ...“
Ein erneutes „Ooch, bitte Mama“ reichte aus, die Gefahr einer Polizeikontrolle in die tiefste Unbedeutsamkeit rücken zu lassen.
„He, Erik, du hast Flohs Jacke an!“, rief Frau Krahmann lachend, denn sie überwachte mit einem Auge die nun beginnende Anzieh-Orgie im viel zu engen Flur des Zweipersonenhaushalts.
Erik, wie all die anderen Jungen Jahrgang 1996, grinste verlegen. „Upps ... Die sieht aber fast aus wie meine.“ Der beste Freund von Florian, in der Schule auch dessen Banknachbar, wirkte sehr groß, war schlank und dunkelblond. Schaute man Erik ins Gesicht, so konnte man sich des Gefühls nicht verwehren, ihm würde der Schelm aus den blauen Augen blitzen. Zudem zierte beim Lachen ein tiefes Grübchen seine linke Wange.
Florian nahm Erik Schwarz die Jacke aus der Hand. „Mann, Erik, deine ist blau, und meine ist grün. Bist du vom Kindersekt besoffen?“ Lachte, und schubste den Freund ein wenig.
Erik ließ für einen Moment seine von einem Lutscher grüngefärbte Zunge sehen und grinste weiter, während er umständlich die eigene Jacke überzog. Dann schlüpfte er in die Turnschuhe – fertig. „Ich hab meine Preise vergessen!“ Eilig lief Erik zurück ins Wohnzimmer und fand sein Tütchen mit den gewonnenen Spielsachen. Pfennigartikel, ein Überraschungsei, Lutscher ... „Bin fertig!“, rief er.
Jutta Krahmann schlüpfte in die eigene Jacke, griff nach dem Autoschlüssel. „Na dann mal los!“
Im Treppenhaus des sanierten Fünfgeschossers im Leipziger Süden wurde es deutlich lauter. Eine Etage tiefer wurde Thomas abgegeben, der im gleichen Haus wohnte und den kürzesten Weg zu Krahmanns hatte. Die Freundschaft zu Thomas Schmidt sollte Florian pflegen, denn Mutter Krahmann musste ihren Sohn häufig bei den Schmidts unterbringen, wenn sie selbst zur Spätschicht in den Konsum-Supermarkt musste.
„Und, Jutta, waren sie wenigstens lieb, die Kleinen?“, fragte Frau Schmidt mitleidvoll an der Tür; prachtvolle, bunte Lockenwickler im Haar.
Jutta Krahmann rief im Vorbeigehen: „Aber klar doch! Sind sie ja immer.“
In Frau Schmidts Ohren kam es an, als hätte Florians Mutter gemeint: „Gott sei Dank, es passiert ja nur einmal pro Jahr.“ Die Frauen lachten sich gegenseitig an.
Minuten später umkreisten die fünf Jungen Frau Krahmanns blauen Opel Astra. Philipp Baumeister, der kleinste, dafür aber frechste der Jungen, stellte fest, dass dieses Fahrzeug keine Fernbedienung besaß, sagte aber nichts. Erik Schwarz setzte sich vorn neben die junge Frau und schnallte sich an. Hinten drängten sich Felix Rühle und Tobias Zoller in die Mitte, außen quetschten sich Erik und Philipp auf die Rückbank. Endlich waren die Türen zu. Die Fahrerin atmete tief durch, dann gab sie ein „Jetzt mal bitte etwas leiser!“ in die Runde und begegnete Eriks blauen Augen, der wie immer grinste. Sie fuhr ihm mit der rechten Hand über den Kopf und lächelte selbst. Auf der Rückbank wurde es nicht wesentlich ruhiger, Tobias kam zudem auf die schrille Idee, ein paar hässliche Töne aus einer winzigen Spielzeugmundharmonika herauszuholen.
Das Fahrzeug fuhr an, nachdem sich Jutta Krahmann im Seitenspiegel vergewissert hatte, dass kein anderes Auto kam. Sie hoffte nur, dass man ihr den Parkplatz in der Nähe der Wohnung lassen würde.
Zwei Straßen weiter brachte die Gesellschaft zunächst den schwarzhaarigen Felix Rühle nach Hause, dessen Eltern ein Weilchen zum Türöffnen benötigten, als hätten sie die Abwesenheit des einzigen Sohnes schamlos ausgenutzt. Die Haare der beiden wirkten sehr zerzaust.
Ganz unten im Haus daneben wohnte Tobias Zoller, ein etwas kräftiger, urgemütlicher Junge, mit vielen blonden Locken auf dem Kopf, der außerdem Klassenbester war und selbst mit den Mädchen mithalten konnte, wenn es um gute Noten ging. Mutter Zoller schaute bereits aus dem Fenster. Unübersehbar, dass Tobias ihr Sohn war.
„Na, Frau Krahmann, wieder mal geschafft?“, rief sie und lachte.
Jutta Krahmann winkte ab und lächelte. „Ging schon, sind doch liebe Rabauken.“
Tobias schloss die große Haustür mit dem eigenen Schlüssel auf, winkte noch einmal und verschwand im Hausflur.
„Na tschüssi, bis zum nächsten Mal, dann sind wir ja schon wieder dran ...“ Frau Zoller schloss sacht das Fenster.
„Nun denn, auf zur letzten Tour.“ Der Opel wirkte nun viel größer. Philipp Baumeister und Florian machten es sich hinten bequem. Erik nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz, ihm gefiel es, neben Florians Mutter zu sitzen.
Der Astra setzte sich erneut in Bewegung und steuerte die Einfamilienhaussiedlung am Rand der Leipziger Südvorstadt an. Die Wohngegend war traumhaft, direkt am Wald gelegen, die Häuser wunderschön. Jutta Krahmanns 45-Quadratmeterwohnung erfüllte ihren Zweck. Sie reichte aus, dass am Monatsende trotzdem kein Geld mehr über war.
Der Opel tuckerte an den majestätischen Villen vorbei. Kein Mensch war auf den Straßen zu sehen, fast überall schützten moderne Jalousien die Bewohner vor fremden Blicken. Das Fahrzeug stoppte vor dem Haus, in dem Philipp Baumeister mit seinen zwei Geschwistern lebte.
Die Straße machte fünfzig Meter weiter einen Bogen. Folgte man ihr, so wohnte im zweiten Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hinter dieser Biegung, Erik Schwarz. Aus Philipps Haus war die laute, aufgebrachte Stimme von dessen Vater zu hören.
„O, o, ich glaube die Luft brennt ...“, stellte Philipp in dem von ihm oft gehörten altklugen Tonfall fest und ging langsam auf das schmiedeeiserne Tor zu, das wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als Jutta Krahmanns Opel. „Bye, bye!“, rief der kleingewachsene Junge.
„Tschüssi, Frau Krahmann“, meinte nun auch Erik Schwarz zur Mutter seines Freundes. „Und vielen Dank auch, für die schöne Feier ...“ Er drückte Jutta Krahmann, lächelte, und sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Machs gut, Erik.“ Florians Mutter bemerkte durchaus, dass Erik der einzige dieser Jungenrunde war, der sich bei ihr persönlich bedankte.
Erik drückte auch Florian die Hand. „Bis morgen früh.“ Dann rannte Erik Schwarz los und verschwand kurz darauf hinter der Biegung der gleichen Straße in der Dunkelheit.
„Na, da bist du ja endlich!“, rief in diesem Moment eine laute Männerstimme, die Vater Baumeister gehörte. „Hat sich der Junge benommen?“ Die Frage war an Jutta Krahmann gerichtet, die in Gedanken versunken Erik nachgeblickt hatte.
„Ja, ja, Herr Baumeister. – Komm, jetzt Floh, es wird Zeit ...“
Florian stieg in den Opel ein, setzte sich nun selbst auf den Beifahrersitz. Er schaute kurz nach hinten. „Philipp hat seine Preise liegen lassen.“
Mutter Krahmann wendete das Fahrzeug und machte sich auf den Weg nach Hause. „Du kannst sie ihm ja morgen mit in die Schule nehmen, ich fahr jetzt jedenfalls nicht noch mal zurück.“
Unterwegs, auf gerader Strecke, hielt Florian die rechte Hand der Mutter. Die Hand war kalt und zitterte ein wenig.
„Danke, Mama, das war ein schöner Tag. – Und in einem Jahr werde ich zehn ...“
„Erinnere mich nicht daran ...“
Der freie Parkplatz vor dem Haus war natürlich weg und Florian schlief bereits auf dem Beifahrersitz.
Eriks Schritte wurden etwas langsamer, noch einmal drehte er sich um, doch Frau Krahmann, zu der er Jutta sagen durfte, war hinter der Kurve nicht mehr zu sehen. Er nahm das Kinderüberraschungsei aus seiner Preise-Tüte, schüttelte es und hielt es dabei dicht an das Ohr.
Der Junge war nur acht Meter vom Gartentor entfernt, als aus dem Schutz einer Hecke ein Schatten sprang. Eine Hand schob sich vor sein Gesicht, ein beißender Geruch verschlug dem Kind den Atem. Erik Schwarz versuchte sich für einen Moment zu wehren. Doch bevor der Junge auch nur einen einzigen Laut von sich geben konnte, spürte er die unglaubliche Schwere seiner Gliedmaßen, eine Lähmung, gegen die er nichts tun konnte. Dann fiel er ohnmächtig in die kräftigen Arme eines Mannes. Der zog den Jungen über den Kiesweg, dabei glitt Erik Schwarz das Überraschungsei aus der Hand.
Während die fremde Person den Jungen auf den schmutzigen Boden eines Transporters warf und grob ein paar alte Lappen über dem reglosen Körper verteilte, fiel die Plastiktüte mit den restlichen Preisen und Süßigkeiten unter das Fahrzeug. Seelenruhig verriegelte der Fremde die Hecktüren, stieg ein, fuhr mit angelehnter Fahrertür ruckartig los und schmiss die Tür erst in der nächsten Kurve zu.
Niemand hatte ihn gesehen. Die Anonymität der Einfamilienhäuser hatte dafür gesorgt.
Kriminaloberkommissar Holger Hinrich studierte unaufmerksam die gerade eingegangenen Emails. Seit er auf Zigaretten verzichten musste, weil man das Rauchen im Gebäude untersagt hatte, kaute Hinrich stets und ständig auf Kaugummis und Bonbons herum, musste sich ununterbrochen selbst mit Süßigkeiten versorgen.
Das Kommissariat 1, auch liebevoll K 1 genannt, war in Westsachsen zuständig für die Aufklärung von Morden, Entführungen, schweren Sexualdelikten und Großbränden. Von letzteren gab es wegen der vielen leerstehenden Abrisshäuser in Leipzig mehr als genug.
Seit dem frühen Nachmittag schob Hinrich seinen Dienst, unterstützt vom Kriminalassistenten Toni Engler, einem „noch mit Eierschalen hinter den Ohren behafteten Neuling“, wie Hinrich den Zweiunddreißigjährigen gern titulierte.
Der Kommissar schlürfte seinen heißen Kaffee. „Eins muss man dir lassen“, stellte er schließlich fest, während er die Zettel durchblätterte, die sein Drucker gerade ausspuckte, „Kaffee kannst du jetzt endlich kochen.“
Engler sagte lieber nichts. Intellektuelle Diskussionen mit seinem Oberkommissar brachten nichts ein, das wusste der Assistent. Hinrich war ihm erfahrungsmäßig weit überlegen.
Der achtundfünfzigjährige Kriminaloberkommissar sortierte einige Blätter zur Seite. „So ein Blödsinn“, meinte er dann im schönsten Sächsisch, „fünfzehn Blätter mit Text und dazwischen elf Seiten, auf denen nur das Datum steht. Das nennen die nun wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Ein Scheiß ist das. Und dafür müssen Bäume sterben ...“
„Dafür sterben keine Bäume“, stellte der Assistent fest und biss sich sogleich auf die Zunge. Nun hatte er eine dieser schier endlosen Diskussionen angeleiert.
„Ach so? Und was ist das hier?“ Hinrich hielt die fast leeren Blätter hoch.
„Das ist Recyclingpapier. Dafür sterben keine Bäume. Das wird aus Altpapier gemacht. Außerdem kann man die als Notizblätter verwenden oder einfach wieder in den Drucker legen.“
Erstaunlicher Weise gab sich Hinrich diesmal schon geschlagen. Er las wieder in den Mails. „Schau mal“, er zitierte, ohne dass Engler wusste woraus, „hier schreiben sie was von sexuell motivierten, seriellen Tötungsdelikten. Da sind wesentlich mehr Fremdwörter drin, als ich kenne. Wann begreifen diese Klugscheißer endlich, dass sie mit uns Kriminalisten Deutsch reden können? Wer soll denn diesen Mist verstehen? Hier zum Beispiel: ‚Im Allgemeinen ermöglichen die Phantasien des Täters ein introspektives Erleben. Sie nutzen ihre Taten als Surrogat ihrer unerfüllbaren Leidenschaften. Durch die Obsessionen wird das Bewusstsein des Täters überlagert. Durch Quälen, Foltern und Verstümmeln der Opfer, suggeriert der Täter die Aufgabe der Selbständigkeit des Opfers, das heißt, die prädeliktischen Tötungsphantasien fokussieren eine Pönalisierung.’ – Tut mir leid, das will ich nicht verstehen.“ Hinrich nippte wieder an der Kaffeetasse.
Kriminalassistent Engler zupfte seinem Chef vorsichtig das Blatt aus der Hand. „Serienmörder, die aus sexuellem Antrieb agieren, stellen sich zunächst so etwas wie ein Drehbuch vor, das in ihrem Kopf abläuft.“
Hinrich sah erstaunt zu seinem jungen Kollegen. „Was denn, du verstehst das?“
„Aber sicher“, setzte der Assistent fort. „Diese Vorstellungen sind ihre Spielwiese, das Surrogat, verstehen Sie das auch, Herr Kommissar?“ Engler war der einzige Mensch in der Hierarchie nach unten, der sich das Kriminalober vor dem Kommissar sparen durfte. „Wenn die Obsessionen, die gewaltbesetzten Visionen in die Verwirklichung drängen, dann ist der Täter machtlos gegen sich selbst. Sein Bewusstsein wird wie ausgeknipst. Er überschreitet die Stelle, an der bei ‚normalen’ Menschen sofort eine rote Ampel erscheint. Der Täter wünscht sich nichts mehr, als das Opfer wimmern zu hören, machtlos zu sehen, es zu entmenschlichen, es zu besitzen. Er bewegt sich dann in einer pathologischen Vorstellungswelt, er beginnt sein Opfer zu töten, oft ganz langsam, mit scharfen Messern, Skalpellen oder Rasierklingen, vernichtet die Eigenständigkeit des Opfers, liebt es, das Wimmern, Flehen, Betteln und schmerzerfüllte Schreien des bewegungsunfähigen, malträtierten Opfers zu hören ...“
„Toni!“, weckte Hinrich seinen Assistenten aus der nicht enden wollenden Erklärung. „Das macht einem ja Angst, wie du das sagst! Als hättest du das selbst erlebt.“
„Nicht erlebt, gelernt, Herr Kommissar. – Aber Sie haben es jetzt verstanden, oder?“
„Musste ich ja, das klang schließlich so, als hätten Sie so was schon selbst durchgemacht. – Kripo Leipzig, K1, Kriminaloberkommissar Hinrich am Apparat!“ Das Telefon hatte geklingelt und Hinrich schnappte sich sogleich den Hörer. Dass er dabei die halbvolle Tasse Kaffee über die Tastatur kippte, führte dazu, dass der Kommissar reflexartig und rasch mit dem Drehstuhl zurückrollte, so dass der heiße Kaffee nicht auf seine frischgebügelte Anzughose tropfen konnte. Dabei riss er allerdings die Computermaus vom Tisch, die nun kaffeetropfend an ihrer Schnur baumelte.
Toni Engler holte blitzschnell eine Rolle Wischundweg aus seinem Schreibtischcontainer und riss mindestens zwanzig Streifen des blaugemusterten Papiers ab. Während er die auf dem Schreibtisch des Kriminaloberkommissars verteilte, sprach der in sicherer Entfernung mit einem Streifenpolizisten, den Hörer in der einen und die Maus zwischen den Fingerspitzen in der anderen Hand.
„Jetzt mal ganz ruhig, junger Mann. Nun noch mal von vorne. Eine Kindesentführung? Heute, zum Montag?“
„Ja, Herr Kriminalkommissar ...“
„Ober!“
„Schuldigung, Kriminaloberkommissar. Ein neunjähriger Junge, Tulpenweg siebzehn, Südvorstadt. Schwarz.“
„Was denn, ein schwarzer Junge?“
„Nein, die Leute heißen Schwarz.“
„Ach so ..., na bleiben Sie mal da, nehmen Sie ihr Protokoll auf, wir sind auf dem Weg. – Und Sie sind sich ganz sicher, dass der nicht auf dem Hauptbahnhof spazieren geht?“
„Nein, nein, gute Verhältnisse ...“
Engler tupfte gerade vorsichtig die Tastatur ab.
„Ein Unglück kommt selten allein, Toni.“ Hinrich legte den Hörer auf. „Nichts mit einer ruhigen Nacht. Plaudern und so ... Lass das mal sein, das trocknet irgendwann und versickert selbständig.“
„Was denn, eine Kindesentführung?“ Engler warf die nun braunen Zellstoffläppchen in den Papierkorb.
„Abwarten. – Tulpenweg ... da hatten wir mal einen versuchten Selbstmord. Wenn mich nicht alles täuscht ...“ Hinrich sprach nicht weiter.
Kurze Zeit später fuhr der schwarze BMW mit leichtem Schwung aus der Tiefgarage und anschließend mit exakt fünfzig Stundenkilometern durch die verhältnismäßig menschenleere Stadt Leipzig. Am Steuer saß Kriminaloberkommissar Holger Hinrich, glücklich verheiratet, zwei Kinder – längst ausgezogen, drei Enkelkinder.
Hin und wieder spritzten Regentropfen gegen die Frontscheibe, dass der automatische Wischer kurzzeitig seine Funktion aufnahm und alles verschmierte.
„Wann bringen Sie meinen Erik?“
Jutta Krahmann schluckte. „Wie bitte?“ Das Telefon hatte bereits geklingelt, als die junge Frau ihren schläfrigen Sohn erst in die Wohnung und ins Bad schob.
„Mama, ich finde meinen Schlafanzug nicht.“ Florian schaute aus dem Bad, nackt und mit fast geschlossenen Augen.
„Hängt am Haken! – Was ist mit Erik?“, fragte Frau Krahmann mit heißerer Stimme in den Hörer.
„Ich möchte nur wissen, wann Sie ihn bringen.“ Am anderen Ende der Leitung redete Christine Schwarz, die Mutter von Erik.
Jutta Krahmanns Herz stockte, ihr wurde noch schlechter, Krepppapier fiel aus ihrer Hand. „Aber, Frau Schwarz ..., aber ... Wir waren doch ...“
„Frau Krahmann ... es ist jetzt nach Zehn, die Kinder müssen morgen in die Schule ... Sonst wäre es mir ja egal.“
Ganz langsam setzte sich die junge Frau Krahmann auf den kleinen harten Hocker, der im Flur neben dem Telefontischchen stand. „Hören Sie bitte, Frau Schwarz, Erik ist bei den Baumeisters mit ausgestiegen, hat sich verabschiedet und ist dann um die Ecke nach Hause gelaufen ...“
„Wie bitte? Aber Frau Krahmann! Er ist nicht hier! Und bei den Baumeisters auch nicht.“
„Aber, aber ... das ...“
Während sich der Hals von Jutta Krahmann zuschnürte, entstand eine kurze Stille am anderen Ende. „Oh mein Gott! Nicht, dass mein Mann ...“
„Soll ich rüber kommen, ich bring schnell Floh ins Bett, dann komme ich gleich rüber ...“
„Nein, nein ... Das ist wirklich nicht notwendig.“
Doch Jutta Krahmann hatte bereits den Hörer aufgelegt. In diesem Moment kam Florian aus dem Bad. „Nacht, Mama ...“ Er schien bereits im Stehen zu schlafen.
Frau Krahmann schnappte ihren Sohn, trug ihn in das winzige Kinderzimmer, in dem es noch chaotisch aussah. Dabei trat sie in Strümpfen auf ein spitzes Plastikteil, das dabei zerbrach. Nachdem sie den Jungen ins Bett gelegt, ihm ein paar Mal über den Kopf gestreichelt und ihm dann einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, hielt sie sich den schmerzenden Fuß. „Mäuschen, ich muss noch mal schnell weg, ich bin gleich zurück ...“ Doch Florian erfasste die Worte seiner Mutter nicht mehr. Er schlief bereits fest und träumte wahrscheinlich von den Geburtstagsgeschenken.
Als Jutta Krahmann im Tulpenweg ankam und vorsichtig ihren Opel zum Stehen brachte, bemerkte sie, dass vor ihr ein grünweißes Polizeiauto stand. Im Haus der Familie Schwarz brannte viel Licht.
Ihr zitternder Finger berührte die Klingel, es läutete drinnen schrill.
Kurze Zeit darauf öffnete sich die weiße Haustür, an der ein Trockenblumengebinde hing und ein pubertäres Mädchen schaute heraus. „Ach, Frau Krahmann. Die Polizei ist auch schon da.“
„Melanie ... Darf ich rein kommen?“
Die Vierzehnjährige, die einen Morgenmantel trug, lächelte etwas. „Aber klar, Frau Krahmann.“
Im kristallleuchtererhellten Flur stand ein Polizist, der kurz den viel zu großen Hut lüftete. „Gehen Sie mal rein zu meinem Kollegen.“
Etwas schüchtern betrat Jutta Krahmann das schmucke Wohnzimmer. Der Boden war mit einem glänzenden, hellen Laminat ausgelegt. Christine Schwarz saß mit dem zweiten Polizisten an einem riesigen dunkelbraunen Holzesstisch, auf dem ein Bogen Papier lag. Der Polizist notierte etwas.
„Soll ich die Schuhe ...“
„Aber nicht doch, Frau Krahmann, kommen Sie her.“
„Guten Tag ...“ Noch immer unglaublich schüchtern reichte Jutta Krahmann erst Frau Schwarz und dann dem Polizisten die Hand. Frau Schwarz grüßte trotz der Umstände herzlich, wenngleich etwas genervt, der Polizist war mit dem Ausfüllen des Vordrucks beschäftigt. „Ich kann es nicht fassen. Es tut mir so leid, Frau Schwarz, ich mache mir solche Vorwürfe ...“
Christine Schwarz griff Jutta Krahmann sanft auf die Schulter. „Nein, nein, Sie müssen sich keine Vorwürfe machen ... Wenn Frank den Jungen gekidnappt hat, dann hätte er es auch zu jeder anderen Zeit tun können.“
„Frank?“, fragte Florians Mutter, in ihren Augen hatten sich Tränen gebildet.
„Eriks Vater. Wir sind geschieden, ich habe das Sorgerecht für beide Kinder erhalten. Er ist arbeitslos, ich habe eine gutbezahlte Stellung.“
„Und Sie denken, dass er ...“
Frau Schwarz nickte. „Er hat sich nicht an die Auflagen gehalten, hat versucht, mit seiner eigenen Tochter anzubändeln, dann wurde ihm verboten, die Kinder zu sehen ...“
„Er ... er ...“ Die Krahmann schüttelte ihren Kopf. Das war für den Moment zu viel.
„Und Sie haben den Jungen hergebracht?“, fragte nun der Polizist, steril und steif. Er blickte Jutta Krahmann fragend an.
„Fast ... Fast hergebracht, mein ich.“
„Wann war das?“
„Halb zehn. Kurz nach halb zehn.“
Der Polizist schrieb etwas auf sein Blatt Papier. „Haben Sie etwas Auffälliges bemerkt?“
Jutta Krahmann schüttelte heftig den Kopf. „Er lief ziemlich schnell, es waren ja nur wenige Meter, um die Kurve, dann sind wir wieder heimgefahren, mein Sohn Florian ... Aber nicht hier am Haus vorbei, das war mein Fehler.“
„Gut, gut.“ Der Mann biss kurz auf das Ende des Kugelschreibers, denn er überlegte, wie er diese Aussage in wenige Worte fassen konnte. Dann schrieb er wieder.
Draußen röchelte ein Funkgerät, der zweite Beamte sagte etwas, wieder ein Knirschen.
„Gut, Frau Krahmann, schreiben Sie mal hier bitte Ihre Adresse und die Telefonnummer hin, falls die Kollegen noch Fragen haben.“ Der junge Polizist gab den angekauten Kugelschreiber und den Zettel an die noch immer zitternde Frau weiter. „Hier, bei Zeuge EINS ausfüllen. Bitte alles, dann können Sie gehen ...“
Hastig trug Jutta Krahmann ihre Adresse ein, verschrieb sich bei der Telefonnummer, strich sie durch und schrieb erneut auf das Papier. „Ist das richtig so?“, fragte sie und erhob sich.
„Ja, ja“, meinte der Beamte, ohne einen Blick auf das Blatt zu werfen. „Sie können jetzt gehen.“
„Wenn Sie etwas wissen“, meinte Florians Mutter an Christine Schwarz gewandt, die sich gerade eine Zigarette anzünden wollte, „bitte rufen Sie mich an. Egal, wann.“
Frau Schwarz nickte und blies Qualm zwischen ihren dunkelrot verzierten Lippen ins Freie. „Machen Sie sich mal keine Sorgen, Frau Krahmann, das ist eine Familienangelegenheit und die Gerichte sind auf meiner Seite. Erik wird bald wieder hier sein.“
„Bitte rufen Sie mich an ... Trotzdem. – Ich geh dann jetzt ...“ Draußen nickte sie Melanie und dem zweiten, jungen Beamten zu, die miteinander flirteten, dann verließ Jutta Krahmann das Haus der Familie Schwarz.
Gerade wollte sie die Tür schließen, als ein älterer und ein jüngerer Mann durch den Vorgarten schritten.
„Guten Abend. Kriminaloberkommissar Hinrich, mein Assistent Toni Engler ...“ Der Mann hielt etwas in der Hand und steckte es wieder in die Manteltasche.
Die Knie von Jutta Krahmann zitterten. Mit der Kripo hatte sie es noch nie zu tun gehabt. „Guten Abend, ähm, Herr Kommissar. – Frau Schwarz und die Polizisten sind drinnen. Ich muss, ich will ... Ich mein’, mein Junge ist allein ... zu Haus.“
„Sie zittern ja so“, stellte der ältere Kommissar fest. „Beruhigen Sie sich erst mal, bevor Sie sich ans Steuer setzten. Haben Sie Frau Schwarz Beistand geleistet?“
Wieder schüttelte Florians Mutter heftig den Kopf. „Ich ... der Kindergeburtstag ...“
Engler hatte ein winziges Aufzeichnungsgerät aus der Tasche geholt und ließ es laufen, so dass Jutta Krahmann dies sehen konnte.
„Ganz langsam“, meinte Hinrich. „Gib mal das Ding her und geh du rein zu den Kollegen.“ Er nahm Engler das Diktiergerät aus der Hand und ließ es in seiner großen Manteltasche verschwinden. „Kommen Sie doch, junge Frau, laufen wir ein paar Meter. Verraten Sie mir ihren Namen?“ Der Kommissar zog Jutta Krahmann einfach mit sich.
„Krahmann, ähm Jutta ...“
Engler verschwand wortlos im Haus der Familie Schwarz.
„Sie sehen ziemlich fertig aus. Wer hatte denn Geburtstag?“
„Floh ... mein Sohn. Florian.“
„Na, das kenn’ ich zur Genüge. Und wie viele Kinder waren es?“
„Sechs.“
„Alles Jungen? – Und wie alt sind sie?“
Florians Mutter nickte. „Alle sind neun Jahre. Die gehen zusammen in eine Klasse.“
Der Kommissar holte sich in kurzen Abständen Schaumzuckerfiguren aus der Manteltasche und ließ sie im Mund verschwinden. Nun zog er die ganze Tüte heraus und hielt sie Jutta Krahmann hin. „Und angeblich verschwunden ist Erik Schwarz? Wann haben Sie den Jungen zuletzt gesehen?“
„Wir haben Philipp Baumeister vor seinem Haus abgesetzt, da vorn ..., dort ist auch Erik ausgestiegen, hat sich verabschiedet und ist nach Hause gelaufen.“
„Wo war das genau?“
Frau Krahmann kaute ebenfalls auf einer Schaumzuckerfigur herum. Ein grünes Känguru, wie sie vorher im Schein der Straßenlaterne erkennen konnte. Es leuchtete nur jede zweite in dieser Siedlung.
„Kommen Sie, Herr Kommissar.“ Nicht nur die Hand, auch ihre Stimme zitterte. Sie liefen die wenigen Schritte um die Ecke, bis vor das Haus der Baumeisters. „Ja. Hier war es. Genau hier.“ Wieder traten Tränen in die Augen der jungen Frau. „Erik hat sich von mir verabschiedet, er ist ziemlich groß für sein Alter, schlank ... Er hat mich gedrückt und geküsst. Das macht er oft, wenn er sich von mir verabschiedet. Und dann lief er ganz schnell los. Er blieb kurz stehen und winkte noch einmal ...“ Für einen Moment hatte Jutta Krahmann gelächelt.
Hinrich streckte sich, um das Haus der Familie Schwarz zu sehen. „Nö, das kann man wirklich nicht erkennen von hier.“
„Frau Krahmann, sind Sie das etwa?“, fragte plötzlich eine laute Männerstimme aus dem Vorgarten der Baumeisters.
„Huch, Herr Baumeister ...“ Jutta Krahmann war sichtlich erschrocken.
Auch der Kommissar drehte sich sofort um. „Guten Abend.“
„Meine Frau kann es nicht leiden, wenn ich drinnen rauche ... Ist denn was passiert?“
„Nein, nein“, antwortete Kommissar Hinrich und kaute auf seinem Schaumzuckertier, den Zigarettenrauch von Baumeister genießend inhalierend. „Die Frau Krahmann und ich, wir kennen uns von früher und schwatzen nur ein wenig ... Gute Nacht, Herr Baumeister ...“
„Ach so ... Na dann, gute Nacht, geh mal wieder rein, wird frisch heut Abend. Gibt bestimmt viel Regen.“
Langsam liefen der Kommissar und die junge Frau zurück zum Haus der Familie Schwarz. Der Fußweg bestand aus rotem Kies.
Plötzlich bückte sich Hinrich. Dann zeigte er Jutta Krahmann ein eingepacktes Kinderüberraschungsei.
Im gleichen Moment schossen der jungen Frau Tränen in die Augen.
„Ein Preis vom Geburtstag?“
Sie nickte.
„Sie können Erik Schwarz gut leiden?“
Wieder ein Nicken.
„Er Sie auch?“
„Ich hatte immer das Gefühl, dass er sich bei uns unheimlich wohlfühlt. Er ist der beste Freund meines Sohnes Florian, er ist auch ziemlich oft bei uns. Sie gehen zusammen zum Fußball.“
„Und ... Hat er mal von Zuhause erzählt?“
Noch ein Nicken. „Christine Schwarz, seine Mutter, arbeitet in einem großen Bauunternehmen, sie ist oft am Abend nicht da, ich habe immer das Gefühl ...“ Jutta Krahmanns Worte stockten. Sie standen neben ihrem alten Opel. Direkt an der Bordsteinkante lag eine Tüte.
Der Kommissar hatte diese nun auch entdeckt, bückte sich erneut. Zuvor holte er ein Taschentuch aus dem Mantel und fasste die Tüte an einer kleinen Ecke an. Vorsichtig lüftete er die Öffnung. „Da sind die restlichen Preise. Jemand ist über die Tüte gefahren. – Was wollten Sie sagen? Sie haben immer das Gefühl ...“
Tränen liefen über Jutta Krahmanns Wangen. Sie wischte sie mit dem Ärmel ab. „... dass Erik vernachlässigt wird. Er ist nicht schlampig angezogen, im Gegenteil, er sieht immer todschick aus, er ist sehr ordentlich, aber ... ihm fehlten die Eltern. Erik ist ein liebebedürftiges Kind, sehr auf Körpernähe aus, was mir bei meinem Jungen manchmal fehlt. Erik ist unglaublich anständig und fair. Und ... denken Sie bitte nichts Falsches, und er ist ein sehr hübscher Junge.“
„Nee, Frau Krahmann, ich denke nichts Falsches. Ich habe auch Kinder und Enkel. Und manchmal muss man die lieb haben. – Verraten Sie mir, wann Sie geboren sind?“ Gemächlich wechselten beide auf die andere Straßenseite. Dort stand der große schwarze BMW, auf Knopfdruck öffnete sich der Kofferraum und Hinrich legte die Tüte und das Überraschungsei in einen silbernen Aluminiumkoffer. Dann drückte er sanft den Kofferraum zu und verriegelte das große Fahrzeug.
„Zehnter März, Neunzehnhundertneunundsiebzig.“
Hinrich dachte eine Sekunde lang nach. „Dann haben Sie Ihren Sohn mit siebzehn Jahren geboren? – Sie sind alleinstehend?“ Der Kommissar schob die letzte Frage schnell nach, um die junge Frau nicht zu verunsichern. „Sie sind jetzt sechsundzwanzig, wie meine kleine Tochter, die ist ihr Jahrgang ...“
„Ich hab’s bisher allein geschafft, ohne dass ich mir große Sprünge leisten konnte. Verstehen Sie?“
„Und der Vater Ihres Sohnes ...?“
„Ein Ausbilder aus dem Westen, der mit einem Lehrling gevögelt hat. Jetzt angeblich Sozialhilfeempfänger. Ich hab’s längst aufgegeben, um Alimente zu betteln. Wenigstens bin ich so ein freier Mensch. Schließlich war ich damals selbst Schuld dran. Und Florian ist kein Kuckucksei. – Wenn solche Tage, wie heute nicht wären, dann geht das schon irgendwie ...“
Hinrich nickte. „Sie haben eine gute Einstellung zum Leben.“
„Ich muss aber jetzt los, wenn Floh munter wird und ich nicht da bin ... Das ist er nicht gewöhnt ...“
„Verraten Sie mir Ihre Telefonnummer, Frau Krahmann?“
Die junge Frau sagte ihm die Nummer, der Kommissar schrieb sie jedoch nicht auf.
„Ich habe ein gutes Zahlengedächtnis. – Fahren Sie vorsichtig, Ihr Sohn braucht Sie, Frau Krahmann. Auf Wiedersehen und gute Nacht.“ Hinrich hielt ihr die Hand hin und spürte die Kälte, die in Jutta Krahmanns Hand steckte. „Und ... Das wird alles wieder ... Ich verspreche Ihnen, wir finden Erik.“