Und weil die Stunde kommt - Tino Hemmann - E-Book

Und weil die Stunde kommt E-Book

Tino Hemmann

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Beschreibung

In einem geheimen Camp, im unzugänglichen Norden Pakistans, trifft der deutsche Journalist Paul, der in muslimischen Kreisen unter dem Namen »Safiy al Din« bekannt ist, auf den zwölfjährigen Jungen Haydar. Der wird vermeintlich zu einem Mudschahidin, in Wirklichkeit aber zu einem Söldner ausgebildet. Zaim, Chef des Camps, fand Haydar als dreijährigen Jungen, nachdem dessen Familie von sowjetischen Soldaten im Afghanistankrieg ausgelöscht wurden war. Paul erhält Zaims Erlaubnis, mehr über den Jungen erfahren zu dürfen. Zu diesem Zweck bleibt der Deutsche im Camp und nimmt an der Ausbildung teil, bis er in die Kreise jener eindringt, die von der westlichen Welt als »Al-Qaida« bezeichnet werden und selbst in höchste Gefahr gerät. Haydar rettet Pauls Leben, beiden flüchten aus dem Lager.Autor Tino Hemmann beweist mit diesem Buch einmal mehr, dass die pauschale Verurteilung anders Denkender falsch ist. Er versetzt den Leser in die islamische Menschenwelt, berichtet ohne Tabu von Kriegen, die nicht nur die Menschen dieser arabischen Welt bedrohen.

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Seitenzahl: 329

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Gewidmet

Zwei Prologe

Ein Zeitungsartikel dieser Tage

Die Hand

Der Schatten

Antworten

Das Kind im Brunnen

Drehende Winde

Elias’ Rückkehr

Zwischen Himmel und Hölle

Finale

Epilog

Bibliografie von Tino Hemmann

Die in diesem Buch vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit ehemals lebenden oder lebenden Personen ist rein zufällig. Die Rahmenhandlung lehnt sich an die Wirklichkeit der Geschichte unserer Gegenwart an. Die übersetzten Texte sind Zitate aus dem Koran – den ich in seiner Form als Grundlage des islamischen Glaubens respektiere.

Weitere Quellen, Erklärungen und Hilfen finden Sie in den entsprechenden Fußnoten.

Die in der Widmung angegebenen Zahlen besagen, dass es sich bei jeweils rund 40 Prozent der Zahlenangaben der getöteten Zivilisten um Kinder handelt. Dies ergibt in der Summe der drei Kriege rund 900.000 getötete Kinder. Unzählige weitere wurden verstümmelt, erkrankten psychisch, verloren Eltern und Angehörige und letztendlich ihre Kindheit durch Verarmung, Angst, Hass und Demütigung.

Der Autor

Tino Hemmann

Und weil die Stunde kommt

Engelsdorfer Verlag

Impressum Printausgabe:

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über

http://dnb.d-nb.de

abrufbar.

eISBN: 978-3-86703-963-5

Copyright (2007) Engelsdorfer Verlag

Herausgeber: Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.tino-hemmann.de

Gewidmet

den

1.250.0001

getöteten zivilen Männern, Frauen und Kindern während der Besetzung Afghanistans (seit 24.12.1979) durch die Armeen der ehemaligen Sowjetunion und durch deren Gegner (Stand aller statistischen Angaben: Mai 2007)

55.0002

getöteten zivilen Männern, Frauen und Kindern während der Besetzung des Irak

(seit 30.03.2003) durch die Armeen der USA und ihrer Verbündeten

30.0003

getöteten zivilen Männern, Frauen und Kindern während der Besetzung Afghanistans

(seit 7.10.2006) durch die Armeen der USA und ihrer Verbündeten

1Mittelwert der offiziellen Verlautbarungen Afghanistans

2 Schnitt aus Iraqbodycount, Johns Hopkins University, Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien und US-Präsident Bush

3 Jonathan Steele, veröffentlicht im “The Guardian” (Mittelwert)

Zwei Prologe

Und weil die Stunde kommt – daran ist kein Zweifel – und weil Allah alle erwecken wird, die in den Gräbern sind.

Und unter den Menschen ist manch einer, der über Allah streitet ohne Wissen oder Führung oder ein erleuchtendes Buch, sich hochmütig abwendend, dass er wegführe von Allahs Pfad. Ihm ist Schande bestimmt hienieden; und am Tage der Auferstehung werden Wir ihn die Strafe des Verbrennens kosten lassen:

„Das geschieht um dessentwillen, was deine Hände vorausgeschickt haben; denn Allah ist nicht ungerecht gegen die Diener.“1

1 Koran, Sure 22, Verse 7 bis 10

Ein Zeitungsartikel dieser Tage

Bomben-Attentat

auf Lufthansa-Maschine vereitelt!

Berlin/Delhi/Islamabad (eig.) Das Szenario: Über der Münchener Metropole explodiert ein Flugzeug der Lufthansa-Flotte. Die Boeing 737 befindet sich gerade im Landeanflug am Terminal 2 „Franz Josef Strauß“. Es ist 13.50 Uhr. Brennende Wrackteile stürzen auf dicht bewohnte Gebiete.

Zum Glück kommt alles ganz anders: Die Lufthansa-Maschine, die 9:15 Uhr Ortszeit vom internationalen Airport Indira Gandhi in Neu Delhi starten soll, hat ohnehin bereits Verspätung. Gegen 9 Uhr meldet ein unbekannter Anrufer den indischen Behörden, dass auf ein deutsches Flugzeug ein Attentat geplant ist. Die indischen Flughafenbehörden stoppen die Abfertigung aller Maschinen und beginnen die Suche nach brisanten Gepäckstücken. Auch die Boeing 737, die für den Flug LH763 vorgesehen war, wird evakuiert und akribisch durchsucht. Unter einem Sitz in der ersten Reihe findet man die außergewöhnliche Bombe. Genaue Angaben zu deren Beschaffenheit wurden von den indischen Behörden nicht gemacht. Ein Sprecher äußerte sich, dass diese Bombe „scharf und mit einem Zeitzünder versehen“ war. Die Auswirkungen wären katastrophal gewesen.

Noch hat sich niemand zu diesem Anschlag auf die zivile Luftfahrt bekannt. Spuren fand man bisher nicht, niemand hatte beobachtet, wer die Bombe an Bord gebracht haben könnte. Dem Flughafenpersonal ist es ein Rätsel, wie die Bombe durch die Handgepäckkontrolle gelangen konnte.

An Bord der Maschine befanden sich 132 Passagiere und 6 Besatzungsmitglieder. Unter den Passagieren waren 24 Deutsche und drei Kinder. Die betroffenen Reisegäste wurden zwischenzeitlich mit einem anderen Flugzeug nach Deutschland gebracht.

In Berlin traf am gleichen Nachmittag eine Expertenkommission zusammen. In einem ersten Statement versicherte der Regierungssprecher, dass es sich bei diesem Anschlag eindeutig um die Handschrift der El Kaida handle. Einen Zusammenhang mit dem Einsatz deutscher Marine-Schiffe vor dem Libanon und der Verlängerung des Isaf-Mandats in Afghanistan sehe er nicht.

In einer Depesche aus dem Weißen Haus in Washington erklärte US-Präsident George W. Bush: „Der internationale Terrorismus hat wieder einmal bewiesen, dass die demokratische Welt in großer Gefahr ist. Auf feigste Art und Weise wollte man Deutschland mitten ins Herz treffen. Wir sollten nicht zögern, die Terroristen der El Kaida und ihren Anführer Bin Laden unschädlich zu machen. Koste es, was es wolle!“

Der pakistanische Geheimdienst vermeldete am gleichen Tag, dass es gelungen sei, ein Camp der El Kaida im unzugänglichen Norden Pakistans auszulöschen: „Wir haben eine Zelle der El Kaida beseitigt und erhoffen uns durch die Festnahme einiger Terroristen neue Hinweise über den derzeitigen Aufenthaltsort Bin Ladens“, erklärte ein Sprecher der pakistanischen Regierung. Nach pakistanischen Angaben kamen bei der Aktion 64 Terroristen und 7 pakistanische Soldaten ums Leben.

In Deutschland wurden die Kontrollen auf den Flughäfen verschärft.

„Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dürfen wir nicht den Kopf verlieren“, äußerte sich eine von diesem neuerlichen Zwischenfall sichtlich betroffene Bundeskanzlerin am frühen Abend.

...

Die Hand

„Sag deinen Namen.“

„Meinen Namen?“

„Ja. Sag mir deinen Namen.“

„Ich habe keinen Namen.“

„Du hast keinen Namen? Jeder Mensch hat einen Namen. Wie nennt man dich?“

„Ich bin kein Mensch. Ich habe keinen Namen. Als Mensch wurde ich geboren, vielleicht gab man mir einen Namen. Ich habe ihn vergessen.“

„Vergessen? Man vergisst den eigenen Namen nicht. Was ist passiert, dass du deinen Namen angeblich vergessen konntest?“

„Es ist passiert, und ich habe ihn vergessen. Warum fragst du? – Ich musste meinen Namen vergessen. Mein Vater gab mir einen Namen. Nur er hat das Recht, mich so zu nennen. Und nun habe ich meinen Namen vergessen. Ich bin kein Kind mehr. Früher war ich ein Kind. Dann ist es geschehen, und ich habe meinen Namen vergessen.“

„Was ist mit deiner Familie geschehen? Wie wirst du gerufen? Wenn jemand etwas von dir will, wie nennt er dich? Wie sagt man zu dir?“

„Man sagt zu mir Haydar.“

„Haydar? Dann hast du also doch einen Namen. Haydar ist dein Name. Du hast ihn nicht vergessen.“

„Haydar ist nicht mein Name. Haydar ist die Bezeichnung eines Tieres.“

„Ein Tier? Welches Tier lieh dir seinen Namen, mein Freund?“

„Der Löwe lieh mir seinen Namen.“

„Der Löwe? Du siehst nicht aus wie ein Löwe, Haydar. Nein, du siehst nicht wirklich so aus.“ Der Journalist lächelt.

„Es ist aber so“, protestiert der Junge. „Ein Löwe gab mir seinen Namen. Man nennt mich Haydar.“

„Du denkst also, du bist kein Mensch? Bist du es nicht wert, ein Mensch zu sein?“

„Nein. – Ich war ein Mensch. Früher war ich ein kleines Kind. Dann erst wurde ich Haydar.“

„Was ist geschehen, dass du kein Mensch mehr sein solltest?“

„Es ist geschehen.“

„Was, mein Junge? Was ist geschehen mit dir, dass du kein Mensch mehr sein solltest?“

Haydar erhebt sich vom Stuhl. Seine dunklen Augen weichen dem Journalisten aus. Er will schreien, doch hält er inne. Die Hand des Journalisten liegt auf seiner Schulter.

„Setz dich, bitte setz dich, Haydar. Bitte setz dich. Ich wollte dir nicht wehtun.“

Der Junge nimmt zögernd Platz. Er starrt auf den Lehmboden. Die Hände zittern.

„Du siehst nicht aus wie ein Löwe, Haydar. Ein Löwe ist kräftig. Ein Löwe brüllt, um seine Feinde zu beeindrucken. Ein Löwe hat eine kräftige Mähne und große Zähne. Du dagegen bist klein und mager, nie habe ich dich brüllen hören!“

Haydar blickt auf. „Nicht ich habe mich Haydar genannt! Ich habe keinen darum gebeten, mich Haydar zu nennen. Ich wäre auch glücklich, wenn ich keinen Namen besäße.“

„Glücklich?“ Der Journalist lacht gekünstelt. „Was weißt du über das Glück? Hat es dich je in diesem Lager gefunden? Seit vier Wochen begleite ich Zaim. Ich sah dich nie lachen. – Du willst nicht darüber reden. Du musst nicht darüber reden. Nein, Haydar, wirklich nicht. Obwohl es mich interessieren würde. Es würde mich sehr interessieren. – Sag mir bitte, wie alt bist du, Haydar?“

„Ich kenne keine Zahlen.“

„An wie viele Winter erinnerst du dich?“

Haydar zögert. „Wahrscheinlich bin ich vierzehn oder fünfzehn“, sagt er. „Ich kann mich nur an einen einzigen Winter erinnern“, fügt er kurz darauf hinzu.

„Nur an einen Winter? – Du kennst ja doch die Zahlen.“

„Ja, ich kenne die Zahlen.“

„Was war in jenem Winter, dass du dich nur an diesen einen erinnern kannst?“

Haydar schweigt zunächst.

„‘Du musst nicht darüber reden, Haydar.’ – Das hast du gesagt!“, sagt er schließlich.

„Entschuldige, entschuldige, mein Junge, ich wusste nicht, dass es in jenem Winter passierte. Nein, du musst nicht darüber reden. Obwohl es mich wirklich interessieren würde.“

Eine kurze Pause entsteht.

„Hast du Freunde, Haydar? Du bist ein Kind. Du musst Freunde haben. Hast du Freunde? Hier im Lager oder draußen, hast du Freunde?“

„Ein Löwe hat keine Freunde. Du weißt das.“

„Nicht einen einzigen Freund? Vielleicht hast du eine Freundin? Auch Löwen haben Frauen. Sonst würde es wahrscheinlich keine Löwenkinder geben.“

„Ich bin kein Mensch, ich bin kein Kind. Es ist geschehen. Es gibt keine Freunde. – Du hörst mir nicht zu. Nie hörst du mir zu!“

„Darum also nennt man dich Haydar? Weil du ein Einzelgänger bist? Noch dazu einer, der sich im Selbstmitleid gefällt. Ja, du bist ein kleines stures Kind, das sich im Selbstmitleid gefällt.“ Der Journalist greift nach der rechten Hand des Jungen. Er streicht mit seinem Daumen sanft über Haydars Handrücken. „Sieh her, Haydar. Dies ist die Hand eines Kindes. Sie ist verletzlich und klein. Keineswegs ist das die Pranke eines Löwen. Es ist deine Hand. Du bist ein Kind. Verstehst du mich? Du bist noch ein Kind. – Wann hast du zuletzt gespielt? Wann hast du zuletzt mit anderen Kindern gespielt?“

„Ich bin kein Kind!“ Haydars Stimme überschlägt sich. „Ich spiele nicht. Ich habe aufgehört zu spielen. Es gibt keinen Grund, dass ich spielen sollte.“

Der Journalist hält noch immer die Hand des Jungen und drückt sie. Dann ergreift er derb das Handgelenk und hebt die Hand vor dessen Augen. „Haydar! Ist das deine Hand?“, fragt er laut, sehr laut. „Beantworte meine Frage! Ist das deine Hand? – Ist diese Hand Haydars Hand?“

Haydar nickt zögernd.

„Gut. Es ist also deine Hand. Es ist Haydars Hand. – Sieht diese Hand wie die Pranke eines gefährlichen Löwen aus?“

„Nein.“

„Wie sieht die Hand aus?“

„Die Hand sieht wie eine Hand aus.“

„Ich stimme dir zu, Haydar. Die Hand sieht wie eine Hand aus. – Sieht die Hand grob und groß wie die Hand eines Mannes aus?“

„Nein.“

„Diese Hand, die nicht die Pranke eines Löwen ist, die deine Hand ist, diese Hand ist die Hand eines Kindes. – Stimmst du mir zu?“

Haydar blickt dem Journalisten unentwegt in die Augen.

„Ja.“ Der Junge schluckt. „Sieht die Pfote eines Löwenkindes wie die Pranke eines großen Löwen aus?“, fragt er.

„Eine Kinderhand bleibt eine Kinderhand! Auch wenn sie eine Waffe so schnell montieren kann, wie es die Hand eines erwachsenen Mannes tut. Und wenn diese Hand deine Hand ist und diese Hand wie die Hand eines Kindes aussieht, dann bist du ein Kind! Auch ein Löwenkind ist ein Kind! Du bist ein Kind, Haydar! Denn die Hand gehört zu dir. Sie ist ein Teil von dir. So, wie die andere Hand ein Teil von dir ist, wie dein Kopf, deine Beine, deine Arme, dein Herz, deine Lunge zu dir gehören. Du bist ein Kind. Du bist ein Junge, der nicht erwachsen ist. – Jedes Kind hat das Recht zu spielen. Wann hast du zuletzt gespielt? Wann war es, Haydar? Wann hast du zuletzt gespielt wie ein Kind?“

Der Junge zieht die Hand zurück. Er schweigt. Er schweigt lange.

Der Journalist betrachtet die Tränen in Haydars Augen, trinkt hastig Wasser aus einem Blechnapf. „Gut. Du willst mir nicht antworten. Ich zwinge dich nicht, auch wenn mich die Antwort sehr interessiert. Ich zwinge dich nicht. – Stell du mir eine Frage, Haydar“, sagt der Mann nach einer kurzen Pause.

„Eine Frage?“

„Ja. Stell du mir eine Frage. Du antwortest auf meine Fragen nicht, also drehen wir den Spieß um. Stell du mir eine Frage. Irgendeine Frage, Haydar. Was möchtest du wissen über mich? Stell eine Frage!“

Der Junge betrachtet zunächst seine Hand. Er blickt auf. „Eine Frage?“

Der Journalist stellt den Becher auf den Tisch zurück. „Ja. Eine Frage.“ Er ist ungeduldig. „Es muss doch irgendetwas geben, das du wissen möchtest. Es muss doch irgendeine Frage geben, die du mir stellen möchtest!“

Haydar zögert. Dann stellt er die Frage: „Glaubst du an den EINZIGEN?“

Der Journalist lächelt und dreht sich um. Nur für einen Moment. „Genau diese Frage habe ich erwartet, Haydar.“ Er lacht. „Ja, genau diese Frage. Und doch weiß ich nicht, wie ich sie dir beantworten soll. Sage ich ja, so ist es eine halbe Lüge. Sage ich nein ... – Wirst du mich dann töten? Wirst du mich töten, Haydar, wenn ich nein sage?“

Der Junge verzieht sein Gesicht. „Ich darf dich nicht töten. Du weißt, Zaim hat es verboten. Zaim sagt, auch wenn du zum Dār al-Harb1 gehören könntest, er verbietet es, dich zu töten. Er sagt, er denkt, du bist nicht aus dem Dār al-Harb. Er sagt, er denkt, du bist zwischen den Welten.“

„Das sagt Zaim?“ Wieder lächelt der Journalist. „Zaim ist ein kluger Mann. Zaim hat Recht. Zwischen den Welten lebe ich, zwischen den ganzen schrecklichen, verdammten Welten. Ich bin in allen Welten zu Hause. Im Dār al-Harb und im Dār al-Islam. Doch niemals im Dār al-Kufr2! Behaupte das niemals, Haydar! – Ich respektiere jeden Glauben. Weißt du, was es heißt, zu respektieren?“

Der Junge schüttelt den Kopf.

„Wenn du ein Ziel genau dort triffst, wo es von dir verlangt wird, und die erwachsenen Soldaten staunen darüber und klopfen auf deine Schulter, und sie sagen, dass du gut geschossen hast, dann ist es Respekt, den sie vor dir haben. Sie respektieren dich. – Weißt du jetzt was es heißt zu respektieren?“

„Ja. – Es gibt in diesem Camp aber keinen Respekt. Es gibt nur Mut. Es gibt nur Folgsamkeit.“

Der Journalist erhebt sich. „Nein, Haydar, du irrst. Du irrst dich gewaltig!“ Er zeichnet mit seinem Arm einen Kreis. „Hier, in diesem Zelt, hier gibt es Respekt. Großen Respekt.“

Haydar schaut sich um im Zelt. „Hier? In diesem Zelt? Wo ist dein Respekt? Ich sehe deinen Respekt nicht.“

„Hier!“ Der Journalist klopft auf seine Brust. „Hier drin ist der Respekt. Du kannst ihn nicht sehen. Du kannst ihn nur fühlen. Es ist mein Respekt gegenüber dir. Ich respektiere dich, weil du als Kind jeden Tag überlebst, jeden Tag, den du hier verbringst, hier in diesem Camp. Weil du überstanden hast, was dir widerfahren ist. Es ist mein Respekt. Ich achte dich. Ich rede mit dir.“ Er setzt sich wieder. „Nein, ich glaube nicht nur an den EINZIGEN. Ich glaube nicht nur an Allah. Aber ich respektiere alle, die an Allah glauben. Beim Salãt knie ich mich nieder, reinige mich mit Wasser oder dem Sand und dem Dreck, der unter mir liegt. Ich respektiere die Sitten der Moslems. – Ich beuge mich gen Mekka, wo ich die Kaaba3 vermute, und bitte darum, dass ich bis zum nächsten Gebet leben darf. Das ist Respekt vor dem Glauben der Muslime. Ich habe Mohammed gesehen. Mehr als nur einmal sah ich ihn. Und ich habe gelernt, an die Vorsehung zu glauben.“

„Du hast Mohammed gesehen?“, fragt der Junge erstaunt. „Wann hast du ihn gesehen?“

„Oh, ich habe Mohammed oft gesehen. Ja, oft. In Palästina, als ich ein Interview mit einem offiziellen Vertreter der Hamâs führte, als eine israelische Rakete explodierte und meinen Gesprächspartner zerriss, als es mich gegen eine Hauswand schleuderte, als ich aufstand, nachdem ich erwacht war, als das fremde Blut abgewaschen war und ich feststellte, dass ich nur ein paar Kratzer abbekommen hatte, dass stattdessen aber Kinder, die zwanzig Meter entfernt spielten, nur spielten, von Splittern durchlöchert wurden, da begann ich an die Vorsehung zu glauben. Und ich habe sehr geflucht, weil ich überlebte und die armen Kinder nicht. Ich habe geflucht, weil die Frauen das Leben ihrer Kinder beweinten und nicht meins. – Willst du noch mehr Beispiele? Willst du noch mehr Beispiele hören, Haydar, wann ich Mohammed gesehen habe? Ich erzähle dir noch eines: Drüben, in Afghanistan, ich begleite eine Gruppe deutscher Soldaten. Wir bringen mit einem Jeep Schuhe hinauf in die Berge. Schuhe für Kinder. Ich wollte nur ein paar Fotos machen. Von lachenden Kindern, deren Füße bei minus zwanzig Grad endlich in warmen deutschen Schuhen stecken durften. Eine russische Mine zerbarst unter den Reifen unseres Jeeps. Zwei meiner Begleiter waren sofort tot, der dritte starb im Krankenhaus, junge Männer, die sich verpflichtet hatten, gottverdammte Schuhe zu diesen armen Kindern zu bringen! Ich lag auf dem Boden, auf mir türmten sich blutige Kinderschuhe. Zwei Wochen später ging es mir wieder gut. Und etwas mehr glaubte ich an die Vorsehung.“ Paul holt tief Luft. „Du kennst den Koran?“

Haydar nickt.

„Sure 2, Vers 256. Was steht da?“

Haydars Gesicht rötet sich.

„Vers 256. Zaims Worte stehen dort geschrieben: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Zaims Worte sind es. Merke dir das: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Es steht im Koran, doch niemand will es gelesen und verstanden haben! – Wichtig ist, dass man glaubt. Wer den Glauben verloren hat, wird vom Hass verzehrt. Es soll kein Zwang sein im Glauben. Gewiss, Wahrheit ist nunmehr deutlich unterscheidbar von Irrtum; wer also sich von dem Verführer nicht leiten lässt und an Allah glaubt, der hat sicherlich eine starke Handhabe ergriffen, die kein Brechen kennt; und Allah ist allhörend, allwissend. Ja, Haydar, das steht im Koran geschrieben.“

Haydar schaut Paul grimmig an. „Allah – es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem aus sich selbst Seienden und Allerhaltenden. Schlummer ergreift Ihn nicht, noch Schlaf. Sein ist, was in den Himmeln und was auf Erden ist. Wer ist es, der bei Ihm fürbitten will, es sei denn mit Seiner Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen ist und was hinter ihnen; und sie begreifen nichts von Seinem Wissen, außer was Ihm gefällt. Sein Thron umfasst den Himmel und die Erde; und ihre Erhaltung beschwert Ihn nicht; und Er ist der Erhabene, der Große.4 Auch das steht im Koran! – Es gibt keinen Gott außer ihm!“ Haydar lässt Paul staunen.

„So ähnlich steht es auch in der Bibel. Nur von Allah ist im Neuen Testament nicht die Rede“, sagt er. „Sonst ist es fast die gleiche Schrift. Bei uns heißt es Journalist und bei euch Sahaafi. Gemeint ist das Gleiche, eine Bezeichnung für den Job, den ich mache. Bei euch heißt es Allah und bei uns Gott. Es sind die Gleichen, verstehst du? Es sind die, an die man glaubt. Es sind die, zu denen man betet. Es sind die, die man bittet, dass alles besser wird. Eines Tages. – Ist deine Frage jetzt beantwortet, Haydar?“

„Ja. Das ist sie.“ Die Antwort kommt zögernd. „Und doch – es kann nicht ein und denselben Gott für euch und für uns geben.“

Paul schüttelt den Kopf. „Wer ist euch? Wer ist uns? Warum nicht? Wir alle sind Menschen! Wir alle wurden von unserem Vater gezeugt und von unserer Mutter geboren. Wer gibt dir das Recht zu behaupten, es gäbe uns und euch? Wer gibt dir das Recht dazu? – Vergiss es nicht: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Im Koran steht es so geschrieben.“ Paul dreht sich weg. Er redet mit der Zeltwand. „Wirst du mich töten, wenn Zaim sagt, dass du mich töten kannst?“

„Ja“, antwortet Haydar prompt.

Der Journalist dreht sich zurück zu dem Jungen und blinzelt mit den Augen.

Haydar schaut ihn ernst an.

„Gut. Dann tu es. Bitte, tu es. Töte mich, wenn du es willst. Aber warte damit, bis Zaim es dir erlaubt. – Nun stell mir eine weitere Frage. Zaim hat es dir noch nicht erlaubt, mich zu töten.“

„Eine weitere Frage?“

„Ja, Haydar. Noch eine Frage. Das ganze Leben besteht aus Fragen. Sei froh, wenn sie dir beantwortet werden. Stell mir eine weitere Frage.“

„Ich weiß nicht ...“

„Stell mir die Frage, die ich dir zuerst gestellt habe.“

„Die erste Frage?

„Ja. Stell mir diese Frage.“

„Deine erste Frage ... Du hast mich nach meinem Namen gefragt. – Wie also ist dein Name?“

Der Journalist lacht übertrieben auf, erhebt sich und umarmt Haydar. „Endlich! Endlich stellst du mir die Frage nach meinem Namen. Ich fühle, dass eine Freundschaft entsteht. Endlich! Wie ich darauf gewartet habe, Haydar. Endlich fragst du nach meinem Namen!“

„Warum bist du so glücklich, nur weil ich dich nach deinem Namen frage, zudem du mich darum gebeten hast?“, fragt der Junge erstaunt.

„Warum ich so glücklich bin? Beantworte ich die Frage, so wirst du mich bei meinem Namen nennen. Immer und immer wieder. Du wirst anderen von mir erzählen. Du wirst dich daran erinnern, so, wie ich mich an dich erinnern werde. Ich werde sagen: Haydar, das war der Junge, den ich in einem geheimen Camp in den nördlichen Bergen Pakistans kennen lernte. Ich habe viel Respekt vor diesem Jungen. Er war noch ein Kind, doch er lebte und kämpfte wie ein erwachsener Soldat. Sein Name war Haydar, Haydar heißt Löwe. Haydar war ein Löwenkind. Das werde ich über dich sagen. – Wissen Freunde deinen Namen, machen sie dich unsterblich.“

„So etwas wirst du tatsächlich über mich sagen?“

„Ja. Das werde ich über dich sagen, Haydar.“

„Wie ist nun dein Name?“

Der Journalist lacht, als wäre er selbst ein Kind. „Ich habe mehr als nur einen Namen.“

„Du hast mehrere Namen?“

„Menschen gaben mir die Namen. Menschen, denen ich begegnet bin.“

„Wie ist dein erster Name?“

„Paul. Meine Mutter nannte mich Paul. Ihr Araber sagt Boulos. Das ist okay. Boulos ist völlig okay. Doch niemand nennt mich hier Boulos. Niemand. Wer schon will sich in Arabien mit einem solch schnöden Namen abgeben? Boulos werde ich von kaum einem genannt.“

„Niemand nennt dich so? Du sagst, Boulos wäre dein Name, doch niemand nennt dich so.“

„Seit ich hier bin, nennen sie mich ... – Du wirst dich nicht über mich lustig machen?“

„Nein, das werde ich nicht.“

„Sie nennen mich Safiy al Din.“

Haydar lacht übertrieben laut. „Safiy al Din?”

„Ja. Sie nennen mich Safiy al Din. – Endlich sehe ich dich lachen. – Warum lachst du? Gefällt dir mein Name nicht?”

Der Junge schaut den Journalisten erstaunt an. „Warum? Warum?“, fragt er.

„Was – warum?“

„Warum Safiy al Din? Wer hat dir diesen Namen gegeben? Er passt nicht zu dir.“

„Er passt nicht zu mir? Eine Rotznase, die sich einbildet, ein Löwe zu sein, behauptet tatsächlich, der Name Safiy al Din passt nicht zu mir! – Wer mir diesen Namen gegeben hat? Ich verrate es dir: Vor einigen Monaten. Im Februar war es. Man schickte mich nach Pakistan. Ich war das erste Mal hier.“

„Was hast du getan in diesem Land?“

„Ich bin Reporter, Haydar. Ein Sahaafi, verstehst du? Ich bin Journalist. Ich berichte über Dinge, die in meiner Welt in Zeitungen gedruckt werden, damit es andere erfahren. – Daniel Pearl war das auch. Daniel Pearl war auch ein Sahaafi. – Armer Kerl.“

„Wer ist Daniel Pearl?“

„Du stellst mir viele Fragen, Haydar. Siehst du: Das ganze Leben besteht aus Fragen. Sei froh, wenn sie dir beantwortet werden. – Daniel war ein Reporter. Ein amerikanischer Reporter. Er wurde entführt und getötet. Am 23. Januar wurde er entführt und am 30. Januar getötet. Hier in Pakistan. Man schnitt ihm den Kopf ab. Man enthauptete ihn. Ich sollte über Daniels Mörder berichten. – Weißt du, warum Daniel getötet wurde?“

„Nein.“

„Er hatte keinen Zaim. Deshalb wurde er getötet. Ein sinnloser Tod. Ein einziger Ungläubiger weniger. Ich wurde zu einem Gespräch eingeladen. Zu einem netten alten Offizier. Genau genommen lud ich mich selbst ein. Soldaten verbanden meine Augen. In einem Camp löste man den Verband wieder. Das Camp war kleiner und hässlicher als dieses hier, aber es schien besser bewacht. Sahir sollte ich den alten Mann nennen. Er trug eine Uniform. Er sprach englisch. Er sprach sehr gut englisch, dieser Sahir.“

*

Paul sah sich aufmerksam im Zelt um, ohne zu zeigen, dass er etwas sehen wollte.

„Setzen Sie sich!“

Der Deutsche verbeugte sich leicht. „Ich danke Ihnen, dass ich mich setzen darf“, sagte Paul und nahm Platz.

„Sie kommen aus Deutschland?“

„Ja, Sahir, ich komme aus Deutschland.“

„Was wollen Sie hier? Sind Sie ein Spion?“

Der Offizier ließ Paul nicht aus den Augen.

Der überlegte sich jedes Wort, das er sagte. Er kannte einige pakistanische Offiziere.

„Ich muss einen Bericht schreiben, Sahir. Einen Artikel für eine Zeitung in Deutschland.“

„Es gibt nichts zu berichten, Nasraani5! Was wollen Sie wirklich? Arbeiten Sie für einen Geheimdienst?“

Sahir drehte Runden um den Tisch. Er begann seine Fragen stets, wenn er hinter Paul stand.

Paul lächelte. „Nein, mein Freund, diese Tätigkeit überlasse ich Menschen wie Ihnen. Ich bin Journalist. Journalist, wie es auch Daniel Pearl war. Nur arbeite ich für deutsche Zeitungen, nicht für amerikanische. Nur bin ich kein Jude, wie es Daniel Pearl war.“

Der Pakistani stützte sich auf den Tisch und sah Paul ins Gesicht. „Sie pokern außerordentlich hoch, junger Freund. Etwas zu hoch für meinen Geschmack.“

„Ich weiß, Sahir. Ich weiß das. So wissen Sie wenigstens, was ich weiß. Ich wandte mich an Ihre Leute, weil ich wusste, dass sie vom ISI6 sind. Ihre Uniformen sind sauber und wirken wie neu.“

„Was wissen Sie über den ISI?“

Paul legte sich die Worte zurecht, die er sagen würde. So entstand eine kurze Pause.

„Inter-Services Intelligence. Ich weiß den Namen und weiß von seiner großen Bedeutung. Der pakistanische Geheimdienst ... Ich weiß nichts sonst über diesen Geheimdienst. Jede Nation hat einen Geheimdienst. Und die Existenz aller Geheimdienste wäre sinnlos, wüsste ein Reporter – wie ich – über die Geheimdienste Bescheid. Ich weiß lediglich – das heißt, ich glaube zu wissen, dass ich denke –, dass Sie etwas über den Vorfall wissen, was unsere Leser in Deutschland interessieren könnte. Verzeih, Sahir, dass ich frage. Es ist mein Beruf, Fragen zu stellen. – Ich glaube, dass sich ISI und CIA sehr nahe stehen. Vielleicht irre ich aber.“

Sahir trommelte mit den Fingernägeln auf dem Tisch. Dann trat ein Lächeln in sein Gesicht. „Sie wissen aber auch, dass ich Ihnen nicht die Wahrheit sagen werde? Selbst wenn ich sie wüsste.“

Pauls Antwort war gleichfalls ein Lächeln. „Sahir, ich muss Ihnen nichts vormachen. Achtzig Prozent der Antworten, die ich auf meine Fragen erhalte, entsprechen nicht zwingend der Wahrheit. Doch erfüllen diese Antworten ihren Zweck. Sie befriedigen die Bedürfnisse der Leser. Es war immer so. Und es wird immer so bleiben.“

Der Offizier stellte sich neben Paul. Obwohl er stand, hatte er fast die gleiche Größe wie der sitzende Journalist. Er klopfte Paul mit der Hand auf die Schulter. „Gut. Ich beantworte Ihre Frage. – Haben Sie etwas zum Schreiben?“

„Mit Verlaub, Sahir, ich werde mir Ihre Worte merken.“

Sahir zögerte einen Moment. „So sagen Sie Ihren Lesern, dass ihr amerikanischer Journalist ...“

Die Worte des Offiziers wurden unsanft unterbrochen. In der Nähe des Zeltes machte sich ein Muezzin7 lautstark bemerkbar. Er rief zum Abendgebet.

„Oh. Es tut mir Leid, Sahir, Ihre Rede muss warten.“ Paul erhob sich, ging ohne ein weiteres Wort hinaus und kniete sich direkt neben den Eingang des Zeltes. Die untergehende Sonne im Westen verriet Paul, wo er Mekka finden konnte.

Sahir beobachtete seinen Gast erstaunt, der mit dem losen Dreck die Hände reinigte, sich tief zum Boden beugte und unverständliche deutsche Worte zu flüstern begann. Auch Sahir kniete nieder, vollzog sein Tayammum8 und begann das Salãt9.

Nach einigen Minuten erhoben sich die Muslime und setzten ihre jeweiligen Tätigkeiten fort. Auch Paul stand auf, klopfte sich den Staub aus den Sachen und ging an Sahir vorbei ins Zelt zurück. Er setzte sich auf seinen Stuhl, als wäre nichts gewesen.

Sahir setzte sich ebenfalls. Wieder trommelte er mit den Fingernägel auf die Tischplatte.

„Sie meinten, ich soll meinen Lesern sagen, dass unser amerikanischer Journalist ...“ Paul sah den Pakistani fragend an, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. „Was soll ich meinen Lesern sagen, Sahir?“

„Sie sind ein rätselhafter Mensch“, stellte der Offizier fest. „Sind Sie Muslim?“

Paul lächelte. „Töten Sie mich, wenn ich mit nein antworte?“

„Das werde ich nicht tun.“ Sahir drehte erneut eine Runde um den Deutschen.

„Ich danke Ihnen. – Nein. Ich bin vielleicht kein Muslim, denn ich erfülle nicht all die Forderungen des Korans. Ich nutze jedes Gebet zu danken, dass ich beten kann und um die Bitte zu äußern, dass ich bis zum nächsten Gebet leben darf.“

„Und ... wen bitten Sie darum?“

„Ich bin Journalist, Sahir. Dieser Job bringt mich in viele Länder. In den verschiedenen Ländern gibt es verschiedene Götter. Hier ist es selbstverständlich Allah, den ich meine Bitten erhören lassen möchte.“

„Glauben Sie tatsächlich, dass Allah Ihre erbärmliche Stimme hört?“

„Mit Verlaub, mein lieber Freund, würde ich noch leben, wenn er es nicht täte?“

Sahir schwieg einige Minuten. Er kratzte sich am Kinn und sah immer wieder zu Paul. Dann endlich brach er sein Schweigen. „Du bist nicht Boulos. Du bist Safiy al Din.”

„Safiy al Din? Meinen Sie wirklich?” Paul lächelte. „Sie machen mich verlegen, das ist zuviel Ehre für einen Ungläubigen. Es ist jedoch ein schöner Name, Sahir. Dieser Name gefällt mir. Ich werde ihn mir merken. Safiy al Din.“

„Du weißt, welche Bedeutung der Name hat?“, fragte der Offizier.

„Ja, Sahir. Er bezeichnet mich als den besten Freund des Glaubens. Ich würde Sie auch gern Safiy – meinen Freund – nennen, doch ich weiß, dass es meiner Ansicht nach nicht sein darf.“

Sahir lachte laut. Dann erhob er sich, ging aus dem Zelt und brüllte etwas.

Kurz darauf kam ein Soldat angelaufen. Er brachte einen dampfenden Teekessel, dessen Gewürzgeruch sich sofort ausbreitete.

„Sag Safiy zu mir. Wenn du es möchtest. – Warum denkst du, dass es nicht sein dürfte, dass du mich als deinen Freund bezeichnest, Safiy al Din?“

„Es war ein Gefühl, das mich arg täuschte. Manchmal wird man von seinen Gefühlen getäuscht. Ich bitte dich höflich, meine Entschuldigung anzunehmen, Safiy.“

„Gut.“ Sahir lächelte und legte seine Beine auf den Tisch, dass er mit dem Stuhl fast nach hinten gekippt wäre. „Ich nehme deine Entschuldigung an.“

Beide tranken den berauschenden Tee und Paul spürte, wie er sich in seinem Körper verteilte. Er suchte die Zigaretten und bot Sahir eine an. Kurz darauf rauchten und lächelten die beiden Männer.

Paul begann das Gespräch erneut. „Du hast deinen Satz nicht vollendet, Safiy.“

„Wirst du schreiben, was ich sage?“

„Ich werde schreiben, was die Leser hören wollen, Safiy. Nicht mehr und nicht weniger. Es wird meinem neuen Freund kein Schaden zugefügt. Und nicht den Freunden meines neuen Freundes. Niemals. Das schwöre ich bei Allah.“

„Bei Allah? Niemals?“

„Niemals.“

„Was wirst du schreiben?“

„Du willst wissen, was ich schreiben werde, ohne dass du mir eine Antwort gibst?“

„Ich will nur sicher sein, dass du meine Antwort nicht verwenden wirst, Safiy al Din.“

„Du bist sehr klug und weise, Safiy. Sehr klug und weise. Du bist zu Recht Kommandeur des Geheimdienstes geworden.“

„Ich danke dir für den Honig, den du um mein Maul schmierst, Safiy al Din. Bekommt man Honig um das Maul geschmiert, stechen einen schon bald die Wespen! – Was wirst du schreiben?“

Paul beugte sich nach vorn und sah auf den Lehmboden, als stände dort sein Text.

„Ich werde Folgendes schreiben, Safiy: Islamabad: Nach neuesten Erkenntnissen wurde die Entführung des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl durch eine bisher unbekannte Gruppe durchgeführt, die vor allem im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan agiert. Wahrscheinlich ist, dass die Tötung des jüdischen Amerikaners, der für das Südasienbüro des The Wallstreet Journals von Bombay aus recherchierte, schon zum Zeitpunkt der Entführung fest eingeplant war. Pearls bestialische Enthauptung – die mit großer Sicherheit die Handschrift der Al-Qaida trägt – wurde von den Attentätern gefilmt und das Video anschließend verschiedenen westlichen Fernsehsendern zugespielt.“ Paul sagte die Worte, als würde er sie vom Boden ablesen.

Sahir zog grinsend an der Zigarette. Er nickte. „Al-Qaida ist gut, ist immer gut. Die Amerikaner haben Al-Qaida als Feind, wir haben die Feinde der Al-Qaida als Feind und die Amerikaner als Freund. Das ist gut. Dein Bericht gefällt mir, Safiy al Din, deine Leser werden zufrieden sein. Und ich werde zufrieden sein.“

„Es macht mich glücklich, Safiy, dass dir mein Bericht gefällt. Ich werde ihn so weiterleiten.“ Paul lehnte sich zurück und wartete.

„Daniel Pearl war ein patenter Bursche.“ Sahir schlürfte seinen Tee, nachdem er mit Paul angestoßen hatte. „Aber er war ein schrecklicher Schnüffler. Und außerdem war er ein Jude.“

„Was hat er getan, dass man ihn umbringen musste?“

„Er war nicht so, wie du es bist. Er war eigensinnig. Niemand weiß, ob er einen Auftrag hatte zu schnüffeln. Angeblich suchte er die Hintermänner von Richard Reid.“

„Richard Colvin Reid?“

„Ja. Richard Colvin Reid. Der Reid, der im Dezember ein Flugzug der American Airlines im Meer versenken sollte. Ein großer Versager, ein Möchtegernmoslem. Die Amerikaner werden ihn für immer wegsperren, weil er zu viel weiß.“

„Über die Al-Qaida?“

Sahir rekelte sich. „Niemand weiß etwas über die Al-Qaida. Es gibt keine Al-Qaida.“

„Es gibt keine Al-Qaida?“ Paul staunte. „Du sagst, es gibt sie nicht?“

„So ist es. Es gibt keine Al-Qaida. Es gibt nicht die Al-Qaida, von der die Ungläubigen sprechen und zu glauben meinen, es gäbe sie. Alles ist ein Gerücht. Ein Gerücht, dem man einen schön klingenden Namen gab. – Das Ungeheuer von Loch Ness. Meinst du, dass es existiert?“

„Nein, Safiy. Ich glaube, es existiert nicht.“

„In jedem Jahr gibt es irgendeinen verrückten Wanderer, der vom Touristenbüro bezahlt wird und behauptet, er hätte den Schwanz des Ungeheuers von Loch Ness gesehen. So wird die Legende am Leben gehalten. Jedes Jahr kommen Tausende Idioten an einen ungastlichen See im Norden Schottlands, um Loch Ness zu sehen. Und jeder Zweite behauptet anschließend, er hätte es getan. AlQaida ist das Ungeheuer von Loch Ness der Amerikaner. Das ist die Wahrheit, Safiy al Din.“

„Es gibt aber zweifellos einen Auslöser, eine ungewöhnliche Wasserspiegelung, einen sehr großen Fisch vielleicht. Sonst wäre die Legende nicht entstanden.“

Sahir dachte einige Momente nach.

„Einen Auslöser? Ja, Safiy al Din, den gibt es zweifellos. Dass siebzig Prozent der Erdölreserven dieser Menschheit im heiligen islamischen Boden darauf warten, in klingende Münze umgesetzt zu werden. Das ist ein Auslöser. – Sei nicht naiv. Es waren ein paar Attentate gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten, um ihnen diesen provokativen Gedanken aus den Gehirnzellen zu blasen. Daraufhin haben die Amerikaner einige Feindbilder schaffende Aktionen durchgeführt. Dem Feind gaben sie den wohlklingenden Namen Al-Qaida. Du hast einen eigenen Kopf. Mehr sage ich nicht, denn ich treibe meinen Freund in große Gefahr, wenn ich schwatze wie eine alte Frau. Verstehst du das, Safiy al Din?“

„Ja. Ich glaube, dich zu verstehen.“ Pauls Kopf wurde schwer. „Nur eine Frage musst du mir noch erlauben. – Daniel Pearl, warum nur musste er wirklich sterben?“

„Er wollte die Legende um Al-Qaida zerstören. Und er wusste, wer Richard Reid geschickt und ausgestattet hatte. Außerdem war seine Hinrichtung eine der Aktionen, die dem Westen zeigen sollen, dass wir Moslems nicht gewillt sind, uns den Heimatboden unter unseren heiligen Ärschen wegreißen zu lassen.“

„Nun, Safiy, weißt du, was ich nicht wissen möchte?“ Paul lächelte seinem Gegenüber zu. „Ich möchte nicht wissen, wie man die Legende um Al-Qaida zerstören kann, und ich will nicht wissen, wer Richard Reid geschickt hat.“

„Das ist sehr klug von dir, Safiy al Din. Es ist klug, dass du so denkst. Allah könnte sonst deine Gebete überhören. – Nun lass uns noch einen Becher leeren, dann schicke ich dich zurück in deine Zivilisation.“

Paul trank seinen Becher aus und Sahir goss großzügig nach.

„Doch glaubte ich“, lallte Paul, „dass dein Geheimdienst die Amerikaner seine Freunde nennt. Aber fast klang es eben in meinen Ohren, als ob sie Freund und Feind zugleich für dich wären. Ist es so, oder liege ich falsch, Safiy? Strafe mich nicht, es interessiert mich persönlich.“

Sahir blickte den Deutschen mit gläsernen Augen an, als wollte er in dessen Gehirn den Ursprung der Frage finden. „Freunde und Feinde?“ Er hustete und spie auf den Boden. „Freunde, sagst du? – Schau dir mein Land an. Seit es existiert, wird es aufgerieben zwischen Hindus, Europäern und Kommunisten. Ein dürres, wehrloses Kind sucht sich stets einen starken Beschützer, es wird sonst nicht überleben. Es wird den Beschützer ausnutzen, auch wenn der Beschützer Dinge tut, mit denen sich das Kind niemals anfreunden wird. Es betrachtet die Freunde des Beschützers als seine Freunde und die Feinde als seine Feinde. Findet es eines Tages aber einen besseren Beschützer, so wird es seinem Instinkt folgen und dessen Schutz beanspruchen. Dies besagt jedoch nicht, dass der Beschützer ein Freund des Schutzsuchenden ist. Ist der Schutzsuchende aber dem Beschützer zuwider, so wird der Schutzsuchende gerichtet. – Unsere Regierungen sind nichts als Kinder.“

Paul hörte aufmerksam zu. „Du weist mich auch bestimmt darauf hin, wenn meine Fragen Allah gehörlos machen können?“

„Es wird dann sein, mein lieber Freund, wenn eine Kugel in deinem Gehirn feststeckt. Du wirst es früh genug bemerken.“

„Deine Worte sind so freundlich, Safiy“, sagte Paul ironisch. Schon dachte er sich die nächste Frage aus: „Die Deutschen – sag, wie stehen die Moslems zu den Deutschen?“ Er beobachtete sorgsam die Reaktion des Pakistanis.

Sahir lachte auf. „Wenn die Deutschen den Islam in Ruhe lassen, dann wird ihnen nichts geschehen. Es gibt sehr viele Muslime, die nach Deutschland gehen. Es wird bald zum Islam gehören.“ Wieder lachte er laut. „Ohne den Krieg der Deutschen würde es Pakistan nicht geben. Und die Deutschen hätten es fast geschafft, Mekka zu befreien. – Steht der Legende nicht im Weg, dann spielt dein Land keine Rolle in den Überlegungen der angeblichen Al-Qaida.“ Sahir erhob sich, und Paul tat es ihm gleich. „Trinken wir auf dein Deutschland, Safiy al Din, auf Deutschland lass uns trinken.“

Paul hob seinen Becher hoch: „Nun denn, auf Deutschland und auf Pakistan lass uns trinken, Safiy.“

Sahir hatte rote Wangen. „Ja, auch auf mein heiliges Pakistan! – Was ist nun, Safiy al Din, bist du ein Spion? Für wen spionierst du?“

Paul lachte. „Du irrst, Safiy, wenn du glaubst, der Tee würde mein Gehirn töten. Ich bin Reporter. Das ist meine Berufung. Es ist weder meine Berufung noch mein Wunsch, Spion zu sein.“

*

„Kurz darauf schickte mich meine Agentur nach Djerba. Dort gab es ein Attentat auf eine Synagoge in Tunesien. Vierzehn unschuldige Deutsche starben, weil sie zufällig in der Nähe waren. – Wer Daniel Pearl getötet hat, das erfuhr ich nie.“ Paul nimmt seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündet mit dem Feuerzeug eine Zigarette an. „So kam ich zu meinem Namen Safiy al Din. Jetzt weißt du, warum ich diesen Namen habe, Haydar. Viele in Arabien nennen mich Safiy al Din.“

„Ich aber werde dich Boulos nennen“, legt Haydar fest.

„Warum nennst du mich nicht Safiy?“

„Ich kann dich nicht Safiy nennen. Du bist nicht mein Freund, Boulos. Ich habe keine Freunde.“

„Eines Tages werde ich sehr erfreut sein, wenn du mich Safiy nennen wirst. Eines Tages, Haydar, eines schönen Tages.“ Paul blickt auf seine Armbanduhr. „Unsere Zeit ist leider abgelaufen, mein Freund. – War es dir unangenehm, mit mir zu reden?“

Haydar zögert. Er schaut Paul einen Moment in die Augen, antwortet jedoch nicht sofort. „Wenn Zaim verlangt, ich soll mit dir reden, dann werde ich es tun“, sagt er schließlich. „Menschen, die viel reden, meide ich. Es ergibt keinen Sinn, nur zu reden. Nichts wird dadurch besser, nichts wird dadurch schlechter. Alwidaah10, Boulos.“

„Alwidaah, Haydar.“ Paul reicht dem Jungen die Hand. Der greift vorsichtig zu. „Warum willst du kein Kind sein?“, fragt Paul erneut.

Wieder sieht Haydar den Journalisten fragend an, als begreife er dessen Frage nicht.