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1989. Erste Unruhen in der Zone schrecken die westdeutschen Immobilienhändler auf. Landkäufer werden ins Feld geschickt und erleben im Osten unglaubliche und doch nachvollziehbare Abenteuer. Heute fragen wir uns: Begann 1989 eine Wiedervereinigung der Deutschen? Oder hatte man sich einfach nur verschrieben und meinte Widervereinigung der Deutschen? Eines zeigt Hemmann deutlich: Die rein anatomischen Voraussetzungen, dass es zu Vereinigungen zwischen den kommunistischen und den imperialistischen Vertretern deutscher Staatsbürgerschaft kommen konnte, waren gegeben. Erotik, Spannung und ein wenig Ostalgie bestimmen dieses Buch.
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Seitenzahl: 190
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Die Personen der Handlung
sind frei erfunden.
Wahrscheinlich aber ist,
dass es sie doch gegeben hat.
Die Rahmenereignisse dieser Handlung sind
keinesfalls erfunden.
Wahrscheinlich jedoch ist,
dass es einige der genannten Ereignisse nicht gab.
Titelseite
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Bibliografie Tino Hemmann
Tino Hemmann
Roman zur Wiedervereinigung
Engelsdorfer Verlag
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Impressum
„Ost gegen West“
eISBN:978-3-86703-958-1
Copyright (2009) Tino Hemmann
Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte bei Tino Hemmann!
www.tino-hemmann.de
GEWIDMET
DEM DEUTSCHEN VOLKE
„Heinz-Rüdiger? Heinz-Rüdiger! …“
Aus dem Wintergarten erklang ein derbes, wenngleich unterwürfiges Stöhnen.
„Heinz-Rüdiger!!! – Könntest du bitte zu mir kommen, wenn ich mit dir rede?“ Eine bebende, zitternde, kastanienbraungefärbte Kunstlockenpracht brodelte hinter der amerikanischen Küchenzeile. Augen funkelten durch die Gläser einer dezent mit Brillianten besetzten – keinesfalls privatkassenärztlich verschriebenen – goldschimmernden und zweifellos hochmodischen Frauenbrille.
Langsam quoll eine abwaschbare Küchenschürze mit zwei riesigen, pinkfarbenen, aufgedruckten Mäuschen, unter einem Palmengewächs, zwischen zwei in voller Blüte stehenden Orchideen hervor. Darunter wurde eine leicht beschmutzte, dunkelblaue Sonntagnachmittagsarbeitskombi mit einem kleinen Biber auf der Brusttasche sichtbar. Oben aus der Schürze ragte ein etwas faltiger, schwitzender Hals heraus und darüber thronte das Gesicht von Heinz-Rüdiger Kannengießer. Anziehungspunkt seines Gesichtes war der in den Spitzen nach oben stehende, oberbayrische, obercool wirkende Oberlippenbart. In das düster blickende Gesicht fielen die letzten Haare, die von der einst üppigen Pracht übrig waren; sie verdeutlichten die höchstanstrengende Tätigkeit des Gatten von Frau Goltraud Kannengießer-Tittenberg.
Stolz! Höchster Stolz begleitete die geborene Tittenberg in ihrem bis dato bedeutungsvollen Leben, angesichts des auf hochwohlgeborene Herkunft verzierenden Namens Tittenberg. Und niemals würde es die Dame des Hauses überwinden können, dass ihr leiblicher Gatte nach der Trauung eine ablehnende Haltung gegen einen gemeinsamen Doppelnamen Kannengießer-Tittenberg einnahm! Goltraud hingegen nahm das niedere Beiwerk Kannengießer an.
„Nu mei, liebste Gattin, bei deiner Ausstattung passt der Name aufs Tüpfelchen. Doch was bittschön soll i damit?“, hatte der Neugatte verlauten lassen.
Die holde, stolze Gattin, damals noch im Brautkleid aus Amsterdam, rümpfte nur kurz das gepuderte Zinkennäschen. „Auf was hab i mi da eiglasse? Du führst di so abgrundtief proletari auf, wie dazumal die Buam in mouoana Schoualklassn.“
Man hatte es trotzdem fast zwanzig Jahre miteinander ausgehalten. Zweckehemäßig ohne Sex. Und, obwohl die Tittenbergsche Villa fast im Zentrum Münchens stand, hatte man den bayerischen Dialekt aus geschäftstaktischen Gründen abgelegt.
„Ich topfe gerade deine überdimensional geschossene Yuccapalme um“, erklang die aufbrausende Stimme Kannengießers.
„Bitte schrei mich nicht gleich an, Heinz-Rüdiger!“ Die glanzlackierten, aufgesetzten Fingernägel der Frau Kannengießer-Tittenberg fuhren aufgeregt über ihre eng geschnallte Taille. „Ich finde das Hundeshampoo nicht!“
„Du machst so ein Theater wegen des Hundeshampoos?“
„Ja. Und wenn es dir auch nicht passt“, aufgeregt wippte sie in den hohen, knallroten Pumps, dass ihre Brüste wackelten. „Franz Josef braucht sein Bad. Sonst riecht er wie ein Hund.“
„Liebste Gattin: Franz Josef ist ein Hund! Soll er doch auch so riechen.“
Tatsache. Franz Josef war ein Pudel, benannt nach einem bayrischen Ministerpräsidenten, erzogen wie eine Hündin und wahrscheinlich homosexuell veranlagt. Er bellte Hündinnen an und war mit Rüden gut Freund. Äußerst ungewöhnlich. Und er war schwarz, was Herrn Strauß wahrscheinlich sehr gepasst hätte, denn der war es schließlich auch.
„Ich hatte Lene ausdrücklich gesagt, wir benötigen Hundeshampoo. Und sie hat es vergessen. Sie ist sehr unzuverlässig!“ Zorn. Purer Zorn schwang in den Worten der Tittenberg mit.
„Ich kann mich über das Mädchen nicht beklagen.“ Heinz-Rüdiger verkroch sich wieder zwischen Palmenwedeln und Orchideenblüten. Seine Gattin sollte keinesfalls den leicht rötlichen Schimmer auf seinen Wangen bemerken und richtige Schlussfolgerungen ziehen. Heinz-Rüdiger wurde es ganz heiß zumute, wenn er auch nur den Namen Lene hörte.
In Wirklichkeit hieß das Hausmädchen Aleyna, benannt mit einem heiligen arabischen Namen aus dem Koran. Doch Aleyna auszusprechen schien für die Tittenberg ein Problem. Daher wurde das ungewollte Prachtexemplar eines armen Türken und einer armen Münchnerin vom ersten Tag an LENE gerufen. Ein Name wie Lene passte außerdem viel besser in das traditionell deutsch-bayerische Anwesen der Tittenbergs, wo selbst die Österreicher schon als norditalienische Rebellen verrufen waren. Normalerweise gehörte natürlich kein halbtürkisches Mädchen in das Haus der Tittenberg, jedoch hatte Aleyna das Glück, nicht wie eine Türkin auszusehen oder gar zu sprechen. Nur aus diesem Grunde machte die Tittenberg eine Ausnahme! Aleyna zählte gerade zwanzig Lenze und hatte damit das beste Alter für einen knapp Fünfzigjährigen wie Heinz-Rüdiger. Der nannte es „Schutz“, wenn er dem Mädchen nachstellte, und die wehrte sich nicht, denn der Hausherr zahlte aus der Kasse der Hausherrin. Und die Herrin befand sich am Samstagvormittag stets in den weichen Händen von Luicci, einem uritalienischen Kosmetiker, der die Kundschaft im noblen Wohnzimmer bediente. Mit Kosmetik und mehr. Damit die frischen Nägel keine Gebrauchsspuren aufwiesen, brachte die Tittenberg gleichnamigen Berg vorab ins Spiel und kaufte zunächst das „mehr“, bevor sie sich der vollendeten schönheitspflegenden Maniküre Luiccis hingab.
Am Samstagmorgen begann der holde Gatte derweil mit einem duftintensiven Bad, kaum dass die Gattin ihren Porsche in Bewegung gesetzt hatte, und er wartete darauf, dass sich die Tür des Bades öffnen und Lene lächelnd einkehren würde. Meistens half sie ihm zunächst bei der Körperreinigung, und wenn er dann den spritzigen Gipfel seiner Ekstasen noch nicht erstiegen hatte, ließ er sich von dem wohlgebauten, milchschokoladenfarbenen, immerzu lächelnden Mädchen trockenrubbeln, bevor er sie gleich einer Daunenfeder ins herrschaftliche Wohnzimmer trug, um ihr dann, gebettet auf einem Eisbärenfell, langsam das Kleid zu entwenden, ihre dunkelbraunen Augen zu küssen, die festen Brüste zu liebkosen, den Bauchnabel zu lecken und einzutauchen, in …, in …
Er musste diese Gedanken lassen! Selbst die Mäuschenschürze stand von seinem Körper ab und es war keineswegs der kleine Bierbauch, der sie nach vorn drückte.
Später fuhr er erleichtert mit Lene zum Einkauf. Da sie jedoch mehr mit sich selbst beschäftigt waren, blieb das Hundeshampoo auf der Strecke.
Heinz-Rüdiger fühlte sich pudelwohl, wenn er sich mit Lene in der Öffentlichkeit zeigen konnte, noch pudelwohler, als sich Franz Josef jemals hätte fühlen können. Kannengießer verbanden nur drei Dinge mit seiner Ehefrau, die da waren: der Platz in der VIP-Loge des FC Bayern München, der silberne S-Klasse Mercedes und das Mädchen Lene. Diese wichtigen Dinge wurden ausschließlich durch den Reichtum der Tittenberg ermöglicht.
„Wir hätten besser ein Kind haben sollen, statt eines schwulen Pudels“, brummte es aus Kannengießer heraus, vielleicht nur, um sich von den letzten Gedanken abzulenken. Eine hervorstehende Schürze war unauffällig. Eine feuchte Hose verräterisch.
„Ein Kind?“ Kunstvolles Lachen der Tittenberg drang aus dem Küchentrakt. Sie mixte sich soeben ein Soda mit Whisky. „Aber Heinz-Rüdiger, ich bin gerade mal fünfundvierzig, in der Blüte meines Lebens, für Kinder ist später noch genug Zeit.“ Kannengießers größter Albtraum. Er wünschte sich schon immer ein Kind. Doch natürlicherweise entstanden diese beim Geschlechtsverkehr, und einen solchen hatte die Gattin bereits seit fünf Jahren – wenigstens mit dem Ehemann – nicht zugelassen. Die Pille würde ihren Körper ruinieren, ein Kind ebenfalls. Manchmal wünschte er sich, mit Lene könnte es klappen, doch mitunter hatte er Angst davor.
Das Tittenbergsche Imperium entstand mit einem seltsam funktionierenden Immobiliengeschäft. Kaufen – Verkaufen, Kaufen – Verkaufen. Und es funktionierte. Kannengießer wusste dies, denn schließlich ging er im Familienbetrieb ein und aus, wenngleich das seine Gattin nicht gerade mochte.
Der riesige Fernseher begann zu röhren, und während sich die Tittenberg auf dem Sofa mit ihrem Whisky und einer Nagelfeile abmühte, begnügte sich Heinz-Rüdiger mit den Palmenwedeln. Lene hatte sonntags frei.
„Heinz-Rüdiger! Schau nur, in der Ostzone gehen die Menschen auf die Straße!“, erklang die schrille Stimme der Tittenberg aus dem Wohnzimmer. Und wenig später vernahm der Gatte weitere Worte: „Das ist ein Zeichen! Gleich morgen machen wir einen Plan …“ Die Augen der Tittenberg leuchteten dunkelschwarz hinter den Brillengläsern.
Am nächsten Morgen gab sie in der Kanzlei klare Anweisungen und ihren Plan bekannt. Das Personal des Immobilienimperiums hatte im Gang zwischen den Büros Aufstellung genommen.
Goltraud Kannengießer-Tittenberg baute sich im Abstand von zwei Nasenspitzen vor der Belegschaft auf und hielt zunächst eine allgemeinpolitische Grundsatzrede. Keiner der Anwesenden wagte es zu atmen. Alle hörten aufmerksam dem Gerede der Chefin zu.
„Heute, liebe Kollegen“, sie holte tief Luft und es hatte den Anschein, als würde sie jeden Moment anfangen zu heulen, „ist ein historischer Tag in unserer deutschen Geschichte. Nach der Spätausgabe der Tagesschau vom gestrigen Abend hatte ich eine Vision! Und ich weiß, diese Vision wird in Erfüllung gehen. Ich sah, dass die Ossis drüben erwachen. Ich sah, wie diese armen, lange Zeit erniedrigten und unterjochten, ja diktatorisch bestraften Randzonenbewohner den Versuch unternahmen, ihre jämmerlich kriechende Haltung, gegen einen aufrechten Gang zu tauschen. Vielleicht wird es bald einen kleinen Krieg geben, vielleicht werden viele dieser armen Ossis in einem Blutbad danieder liegen, vielleicht … Egal! – Am Ende steht der Fall der Mauer, jener Mauer, die uns bis zum heutigen Tage davon abhielt, unserer glorreichen Tätigkeit in diesem unterentwickelten Teil Deutschlands nachzugehen.“ Tiefes Luftholen, sie drehte den Angestellten den Rücken zu, so dass die den knackigen Hintern unter dem viel zu engen Kleid bewundern konnten. Ruckartig wandte sie sich nach dieser Kunstpause um. „Schon höre ich Stimmen die sagen: Halt! Wenn das passiert, sind wir ihnen schutzlos ausgeliefert! Die Ossis werden über unser sauberes Land herfallen und sich für Unseresgleichen halten! – Aber wer das behauptet, der hat nicht Recht. Selbst wenn sie kommen und eine rote Spur hinterlassen, so benötigen sie eine Bleibe, falls sie bleiben, und wollen eine neue Bleibe, falls sie zurück in ihr zerstörtes Land kehren müssen. Man stelle sich vor, Tausende von Anwälten, Steuerberatern, Vertriebmitarbeitern, Politikern und Möchtegernstrebern werden in den Osten reisen, werden ihn kolonisieren und urbar machen. Und sie werden sich nicht die Blöße geben, in irgendwelchen noch vom Krieg beschädigten, zerfallenen und verkommenen, unhygienischen und stasiverwanzten Immobilien zu wohnen. Sie wollen neue Häuser, neue Wohnungen, neue Grundstücke. Ich weiß, dass der Traum meiner letzten Nacht in Erfüllung gehen wird. Und ich weiß, dass wir jetzt handeln müssen. Wir werden uns Land und Gebäude sichern, denn so billig wie heute, werden wir es niemals wieder bekommen. Ich habe fähige Leute und ich sage diesen Leuten: Wenn wir heute etwas riskieren, werden wir alle zusammen in wenigen Jahren im Geld schwimmen.“ Nun stand sie ganz dicht vor dem jüngsten Mitglied ihrer Organisation. „Schüssler …“, sie graulte den jungen, schwitzenden Immobilienverkäufer unterm Kinn und rückte anschließend seinen Schlipsknoten zurecht. „Sie gehen nach Preußen.“
Schüssler nickte und wurde aschfahl im Gesicht. Die Chefin schickte ihn in die Zone! Dorthin, wo Wessis im Allgemeinen noch hingerichtet werden wenn sie versehentlich die Transitstrecke verlassen! Dorthin, wo an jeder Straßenecke ein russischer Kalaschnikowträger stand und auf den imperialistischen Feind wartete! Schüssler hatte sich erfolgreich um den Wehrdienst gedrückt und stattdessen ein Jahr lang Rentnerinnen zum gynäkologischen Höhlenforscher gefahren und nun … Nun schickte sie ihn in den Krieg. – Oh Scheiße!
Die Tittenberg ahnte wohl, was in Schüsslers jungem Köpfchen vor sich ging. „Keine Angst, mein Junge, rein intellektuell sind uns die Ossis weit unterlegen. Und Sie wissen doch … Keine Widerrede! Holen Sie sich ihren Reisekostenzuschuss, die Einreisepapiere besorgt Klaus, kaufen Sie mir dieses rote Land, auf dass wir es schwarz machen!“ Sie warf ihre Haare hinter sich, als würde sie gerade eine Dreiwettertaftwerbung drehen. „Wegtreten, Schüssler!“
Nun näherte sich die Tittenberg ihrem nächsten Opfer. Franz Kränkle, graue Haaransätze, sittenwidrig gute Solarbräune, muskulös aufgebauter Oberkörper, war schon als Witwer geboren. Jedoch mit einem anatomischen Fehler – er hatte eine große Nase. Leider war er damit die Ausnahme, welche die Regel bestätigte: „So wie die Nase des Mannes, so sein Johannes“. Als die Tittenberg den Kränkle einst vernaschen wollte, fand sie fast nichts in seiner Hose, fühlte sich zutiefst beleidigt. Und trotzdem war er ein ausgeprägt guter Vaginalentflammer, eher für das Vorspiel als für die Hauptspeise geeignet – wie sie meinte.
„Franz, dich schicke ich in die mitteldeutsche Hochburg nach Leipzig. Und ich möchte, dass du gemeinsam mit Jürgen fährst. Der kennt sich in Sachsen gut aus, der kann auch ihre Sprache verstehen. Ich will Villen von euch – die schönsten, die besten, die größten, Innenstadthäuser mit ordentlicher Substanz, Passagen, was weiß denn ich! Nur kosten darf das alles nichts. Haben wir uns verstanden? Macht Verträge, kauft die Altansprüche, sucht die Erben vergangener Zeiten, holt mir diese dreckige Stadt und ich werde eine Traumstadt daraus machen!“ Die Tittenberg war mit jedem Wort lauter geworden, streckte sich in ihrer ganzen Länge und stand nun auf den Spitzen ihrer roten Lackschuhe.
Jürgen war der Älteste im Team. Ein Niemand im Bereich der Nächstenliebe, ein führender Familienvater, einer, der im Krieg noch Heldentaten für das Reich vollbrachte und nach vierzig Jahren redete, als hätte Hitler gerade den letzten Zipfel der Erde deutsch gemacht. Einer, an dessen Mercedes stand: Ich bremse nicht für Türken! Jürgen war nicht bayerisch wie all die anderen im Freistaat. Der war einfach nur deutsch. Genau der richtige Mann, um den Osten heim ins Immobilienreich zu holen. Und außerdem ein sehr, sehr guter Immobilienhändler. Er trug den Nachnamen Hiller und war stolz, ja sehr stolz darauf, dass sein Signum dem des Führers bis aufs i-Tüpfelchen glich.
„Gnädige Frau. Ich werde aber nicht mit meinem Benz in die Ostzone fahren, das wäre mir zu suspekt“, sprach Hiller im gemäßigten Ton. „Dann kann ich den Stern gleich selbst abbrechen und mir die Scheiben einschlagen. Und diese ostdeutschen Wege sind mit einem Mercedes praktisch nicht zu befahren …“
„Müssen Sie auch nicht, Jürgen. Sie fahren mit dem Zug. Und in der Provinz mieten Sie sich ein Taxi für drei Wochen.“
Franz nickte immerzu, wenngleich es ihm unangenehm war, dass die Chefin ihn als Butler für Hiller in den Osten schickte. Andererseits fühlte er sich so etwas sicherer. Und Hiller kannte sich angeblich in Sachsen aus. Weil er drei Monate zum Kriegsende ‘45 in der Nähe von Dresden wohnte, bis die Russen kamen und ihn – auf freiwilliger Basis – in westlicher Richtung vertrieben.
Die Büroangestellte und ein weiterer Immobilienfinanzierungsexperte namens Klaus mussten im Büro verbleiben. Sonst hätte sich die Tittenberg wehrlos gefühlt.
Nun ließ sie ihre Untergebenen wegtreten und rieb sich ein wenig die Hände. „Und Klaus … Du besorgst uns die Kredite!“
„Ist das nicht ein bisschen früh, Frau Kannengießer-Tittenberg?“
„Lieber Klaus, würden Sie das Denken bitte mir überlassen?“, forderte die Tittenberg ekstatisch und alle anderen hielten die Luft an. „Ich spüre, dass etwas in der Luft liegt. Und wenn Sie das nicht verspüren, dann haben Sie die falsche Branche gewählt und hätten besser Politiker werden sollen! – Dann benötige ich für alle drei einen hieb- und stichfesten Besuchereinreiseantrag in den Osten – oder wie auch immer das heißt – und zwar so lange wie nur möglich!“
Damit war die Sache erledigt und Klaus machte sich daran, Kredite aufzutreiben.
Ein paar Tage später kehrte eine gewisse Ruhe in die Tittenbergsche Kaserne ein. Die Truppe war auf dem Weg ins Feld.
* * *
„Mit dich kann ick Klartext reden. Wa, min Jung?“ Bauer Erich Kühlhoff schaute auf den jungen Burschen, der mühsam und erfolglos versuchte, dem harten und auch matschigen Kuhfladen auszuweichen.
„Wir kennen uns ja schon so lange …“ Der junge Mann im Nadelzwirn, akkuratem Schlips und Lackschuhen nannte sich Detlef Schüssler. Aber wirkliche Freunde reden sich doch mit dem Vornamen an … war sein Lieblingsspruch, um ein vertrauensvolles Vertriebsgespräch bei den Kunden zu eröffnen.
„Aber sicher, Detlef …“
Schüssler war nicht sehr groß und verschwand hinter der Figur des Bauern mühelos. Irgendwann hatte er in der Firma Tittenberg Immobilien GmbH (kurz TIG) in München sein Praktikum als Immobilienkaufmann absolviert. Nachdem die Tittenberg ihn ganz nebenbei, nach einer Feierlichkeit, in deren Villa im Bad, im Fach Sexualkunde praktisch ausgebildet hatte, stellte sie ihn ein, weil Schüssler angeblich gnadenlos begabt war. Nun, im Hochsommer des Jahres 1989, nachdem die Tagesschau berichtet hatte, dass es im Osten eine Revolte geben könnte, schickte sie ihren jüngsten Mann ins Feld. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und sie führte den Jungen in das Gebiet, wohin die Eltern des Jungen an weitläufige Ost-Verwandtschaft zur Weihnachtszeit Westpakete mit Aldikonserven sendeten: nach Tottendorf, Bezirk Potsdam, nördlich von Ostberlin im Herzen der Deutschen Demokratischen Republik. Hinein in den tiefsten, dörflichen Kommunismus: „… als Wegbereiter der Ostkolonialisierung“, wie die Tittenberg sagte, mit dem Ziel, bebaubares Bauernland für das Tittenbergsche Immobilienkonsortium zu erwerben. Zwei Wochen lang. Und die waren fast um. Eine Woche hatte Detlef Schüssler für die Akklimatisierung benötigt. Nichts unterschied die Mission des Herrn Schüssler von der jener Seefahrer, die einst südamerikanisches Land entdeckten. Zunächst wurde er von den eingeborenen Ossis argwöhnisch beobachtet, später – nachdem er gezeigt hatte, dass er etwas Hartes in der Hose mit sich herumtrug – also im Besitz von Westgeld war – achtete und hochlobte man den westgermanischen Besuch. Dies wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, Geschäfte abzuschließen, denn schon bald würde sich die Achtung in das Gefühl des Ausgebeutetwerdens wandeln und einen Befreiungskrieg entfesseln.
Bauer Kühlhoff schien Schüsslers erste fruchtbare Verbindung zum wilden Osten zu werden, wenngleich auch die Enkelin selbigen Bauern das Objekt Detlefs Begierde zu werden schien. Doch mit diesem Gedanken konnte sich Schüssler momentan nicht abgeben, er konzentrierte sich ganz und gar auf die Tretminen.
„Weißt du, min Jung, was die in Leipzig veranstalten, will mich jar nicht jefallen.“
„Das wundert mich aber sehr, Herr Kühlhoff.“ Platsch – Treffer! Eine Sekunde nicht konzentriert. Der riesige Bauer in seinen riesigen Armeestiefeln und der riesigen Kampfanzughose mit den vielen kleinen Strichen blieb endlich stehen. „Scheiße!“
„Stimmt. – Schau mal, Detlef, jetze seid ihr Wessis Ausländer für uns. Damit haben wir euch unter Kontrolle. So wie ihr die Türken in Berlin und so, wa. Ihr müsst euch benehmen wie Jäste, weil euch sonst die Stasi den Arsch versohlt. Stell dir EUCH mal vor, wenn wir alle eins wären. Ne, ne. Dat ist, wie wenn sich der Westen mit die Türkei vereint.“
„Na ganz so schlimm wird’s ja nicht werden …“
„Schlimm? – Warum bist du hier? Du versuchst Land zu sichern. Wir sind in der Nähe von Berlin, ideal für einen Baumarkt oder einen Wohnpark, wa. Stimmt’s?“
„Na, Sie sind ja ziemlich helle, Sie denken ja fast wie wir, Herr Kühlhoff. Darf denn das Land verkauft werden?“
Der Bauer lehnte sich an einen Pfosten, nahm den Hut vom Kopf und hielt die Schärpe dem Jungen vor die Nase. „Lies mal dette, min Jung!“
„LPG, in Klammern T, Siebter Oktober …“, las Schüssler von der Mütze ab.
„So wenige Buchstaben und so viel Aussagekraft. Landwirtschaftliche Produktionsjenossenschaft, T steht für Tierzucht, LPJe. Jehört dem Staat, wa. Schon mal wat von Bodenreform jehört?“
„Bei uns in München gibt es auch Reformhäuser …“
„Quatsch! Fahr nach Berlin und frag Erich oder Ejon oder wer jerade dat Sachen hat, ob sie dir wat verkaufen. Überjeh aber Mielke dabei nicht. Für Devisen machen die fast allet. Fragen kost schließlich nichts, wa.“ Er setzte sich den Hut wieder auf und begann auf einen Hügel zu krabbeln, wobei er ein paar dicke fette Kühe mit dicken fetten Eutern aus dem Weg schickte.
Schüssler versuchte, sich mit Grasbüscheln den Kuhdung von den Lackschuhen zu wischen und warf angewidert das Gras zur Seite. Nun rochen auch noch seine Hände abartig.
„Komm her, min Jung …“ Der Immobilienmakler baute sich in den Schatten des Bauers. „Siehst du dette?“ Kühlhoffs Arm machte eine ausladende Bewegung. „Vor dem Krieg, jehörte dat janze Land meinem Vater. Und noch einen Krieg vorher meinem Großvater. Von da, bis da!“
„Auch der Wald?“
„Auch der Wald.“
„Und jetzt gehört’s der DDR?“
„Den Bauern. Anjeblich. Und wenn’s die DDR nicht mehr jibt …“
„… dann?“
„Dann jehört’s wieder mir, wa.“
„Und die LPG?“
„Jedem Bäuerchen sein Äckerchen. Wat der Bauer sät, das erntet er. Wat glaubst du, min Jung, wie viele Idioten wir in unsere LPJe durchfüttern? – Aber noch jehört mein Land mich nich.“ Ohne weitere Worte stiefelte Kühlhoff davon. Schüssler folgte ihm eiligen Schrittes, bis er ihn endlich eingeholt hatte.
„Herr Kühlhoff … Könnten wir nicht einen Vorvertrag … Ich meine, unser Büro zahlt ganz gut …“
Kühlhoff blieb für einen Moment stehen. Dann zog er Schüssler an dessen Schlips ganz nah an sich heran. „Hör, min Jung“, er flüsterte, dass selbst das Zirpen der Grillen wie Schreien klang, „hinta jedem Halm, in jedem Busch, selbst unter dem kleinsten Kieselstein, überall lauschen sie. Jejen unsre Stasi ist dein BND ein winziger Kackverein. Verstanden? Weißt du, wat mit mich passiert, wenn ick mit dir Verträje mache?“ Bei seinen Worten piekste er Schüssler in die Brust. Bevor er ganz langsam mit seinem Zeigefinger über die eigene Gurgel fuhr und sich selbst zustimmend zunickte. „Später, min Jung, später vielleicht.“
Jürgen Hiller verabschiedete sich eilig von seiner Ehefrau. Er hatte sie nach dem Kriege geheiratet, weil sie damals blond und willig war. Mittlerweile hatten sich diese Eigenschaften auf Blond reduziert. Hiller war gerade sechzig geworden, dachte bereits an seinen Ruhestand. Frau Barbara zählte lächerliche achtundvierzig Lenze und hatte allerhand Flausen im Kopf. Vor zehn Jahren hatte er sie im Urlaub in Jamaika erwischt, als ein jamaikanischer Männerkopf zwischen ihren Oberschenkeln klemmte. Er stellte sie damals zur Rede und sie machte ihn darauf aufmerksam, dass sie einmal im Leben einen richtigen Orgasmus haben wollte. Und dieser Fremdländische hätte die besten anatomischen Voraussetzungen, ihr einen solchen zu verschaffen. Das wäre nicht nur ein Rammler, der unaufhörlich immer nur an das eigene Vergnügen denken würde. Der hätte wenigstens was in der Hose. Eine Scheidung kam für Hiller natürlich nicht in Frage. Nicht wegen eines Jamaikaners. Allerdings kühlte sich das Verhältnis zu Ehefrau Barbara merklich ab. Also konzentrierte sich Hiller auf seinen Berufsstand und den Lebensabend.
Und nun saß er hier, in diesem Zug, der unaufhörlich auf die Ostzone zusteuerte, der er vor vierundvierzig Jahren den Rücken zugekehrt hatte. Er war auf dem Weg ins Feindesland und glaubte nicht so recht daran, dass die Russen dieses Land freiwillig hergeben würden. Wäre es nach Hiller gegangen, hätte die Armee es schon längst holen müssen, samt Ostpommern, Schlesien und Sudetenland. Aber mit dieser verweichlichten, unentschlossenen Bundeswehr war kein Blumentopf zu erobern. Nichts als eine kostenintensive Aufbewahrungsstation nichtsnutziger, junger, deutscher Männer! Ein Wunder, dass die Russen nie angegriffen haben. Samstagabend zum Beispiel. Zu solchen Zeiten war die Bundesrepublik wehrlos! Und nun würde sich das Blatt tatsächlich wenden? Hiller beobachtete bedauernd den Kollegen.
Kränkle machte den Eindruck, als wäre er auf der Solarbank eingeschlafen. Sein Körper war nicht braun, sondern rot. Passend zur russischen Besatzungszone. Erbärmlich.
„Franz, du musst im Osten aufpassen“, stellte Hiller fest.
Kränkle schaute hinter seinem „Focus“ hervor und strich sich die Haare nach hinten, wie er es fast tausend Mal pro Tag machte. „Aufpassen? Warum?“
„Geschlechtskrankheiten.“
„Ach so, meinst du?“
Hiller nickte ernst. „Wir sind dort im Osten, vergiss das nicht.“