Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieser Band enthält folgende Arztromane Thomas West: Schicksalssprung Thomas West:Sie liebte einen verheirateten Mann Anna Martach: Notfall mit Folgen Kathi und Rita arbeiten beide als Krankenschwestern im Marien-Krankenhaus und sind Freundinnen. Rita ist aufgrund einer bitteren Enttäuschung nicht gut auf Männer zu sprechen. Darum gefällt es ihr nicht, dass Kathi ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat, der auch noch Arzt im gleichen Krankenhaus ist. Sie warnt Kathi, doch die will davon nichts hören. Hätte sie doch nur auf ihre Freundin gehört …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 402
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
3 Bewegende Arztromane Februar 2023: Super Arztroman Sammelband
Copyright
Schicksalssprung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
Sie liebte einen verheirateten Mann
Notfall mit Folgen
Dieser Band enthält folgende Arztromane
Thomas West: Schicksalssprung
Thomas West:Sie liebte einen verheirateten Mann
Anna Martach: Notfall mit Folgen
Kathi und Rita arbeiten beide als Krankenschwestern im Marien-Krankenhaus und sind Freundinnen. Rita ist aufgrund einer bitteren Enttäuschung nicht gut auf Männer zu sprechen. Darum gefällt es ihr nicht, dass Kathi ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat, der auch noch Arzt im gleichen Krankenhaus ist. Sie warnt Kathi, doch die will davon nichts hören.
Hätte sie doch nur auf ihre Freundin gehört …
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Zum Blog des Verlags geht es hier:
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
Ärztin Alexandra Heinze
Arztroman von Thomas West
Der Umfang dieses Buchs entspricht 134 Taschenbuchseiten.
Als Konstantin Lorenz überraschend Knall auf Fall aus der Firma gedrängt wird, macht sich in ihm eine heftige Depression breit. Die Welt ist dunkel, und er will sich das Leben nehmen. Doktor Alexandra Heinze steigt zu ihm aufs Dach, um ihn vor dem Sprung zu bewahren, aber es scheint vergeblich.
Es war ein Riesenköter – schwarz, zottig, und mit gefletschten Zähnen stand er vor Charlotte. Sie mochte Hunde nicht besonders und kannte sich mit Hunderassen nicht gut aus. Aber dieses angriffslustige Vieh musste wohl ein Riesenschnauzer sein – jedenfalls sah es genauso aus, wie der Hund in dem Krimi am vergangenen Sonntag. Der Hund des ermordeten Geschäftsmann. Und das war ein Riesenschnauzer.
Charlotte wusste, dass sie ziemlich schlechte Karten hatte: Weit und breit keine Spur von Herrchen oder Frauchen der Bestie – auf dem Feldweg nicht, und am Waldrand nicht. Auch kein anderer Jogger, der ihr zur Hilfe hätte kommen können.
Der Hund stand wie festgewachsen und knurrte. Charlotte hatte ihn plötzlich zwischen den Laubbäumen des Stadtwaldes auftauchen sehen. „Einfach weiterrennen und so tun, als würdest du ihn gar nicht sehen“, hatte sie sich gesagt.
Sie lief diese Strecke fast jeden zweiten Morgen zwischen sechs und sieben. Seit etwa drei Jahren. Seitdem sie die Mitte vierzig hinter sich und eingesehen hatte, dass Fitness und eine gute Figur nicht einfach so vom Himmel fallen.
Natürlich begegnete sie bei ihren Waldläufen öfter Spaziergängern mit Hunden. Aber bis jetzt war ihr ein schmerzhafter Zusammenstoß mit einem Vierbeiner erspart geblieben. Nur einmal, im letzten Sommer, hatte sich einer von diesen kleinen Kläffern an ihre Fersen gehängt und nach ihrer Jogginghose geschnappt. Seitdem trug sie immer eine kleine Spraydose mit sich.
Der Hund, der jetzt vor ihr stand, war kein kleiner Kläffer, der seine lächerliche Winzigkeit durch ohrenbetäubendes Gebell ausgleichen musste. Der schwarze Bursche bellte nicht, noch nicht. Er stand nur da und knurrte. Charlotte spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten.
„Ist ja gut, ist ja gut“, murmelte sie. Sie hatte ihre Vogel-Strauss-Taktik aufgegeben und war stehen geblieben. Nur alles vermeiden, was den Jagdinstinkt des Köters reizen könnte. „Bin nur eine harmlose Frau, die ein bisschen durch den Wald joggt.“
Sie sah sich um. Immer noch kein Mensch weit und breit. Ihr Herz schlug jetzt nicht mehr nur von dem dreißigminütigen Dauerlauf, der schon hinter ihr lag.
„Bitte verschwinde und lass mich in Ruhe!“ Sie wurde lauter, und das Zittern in ihrer Stimme machte ihr die Angst bewusst, die in ihre Glieder kroch. „Lass mich in Ruhe, hörst du?“
Der Schwarze hörte keineswegs. Er begann heiser zu bellen. Nicht laut, aber bösartig. Charlotte tastete nach der Tasche in ihrer Jogginghose. „Verschwinde!“, rief sie.
Schau einem angriffslustigen Hund nie in die Augen, sonst wird er erst recht aggressiv, hatte Stefan manchmal gesagt. Charlotte war da anderer Ansicht als ihr verstorbener Mann. Nur keine Angst zeigen – das schien ihr in diesem Fall die bessere Devise zu sein. Also fixierte sie das schwarze Biest mit ihrem Blick.
„Lass mich jetzt in Ruhe!“, schrie sie. Sie zog den Reißverschluss ihrer Hosentasche auf. Der Hund knurrte und bellte, stemmte seine Vorderläufe ins taunasse Gras und wirkte von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher.
Charlotte zog die kleine Spraydose mit dem Reizgas heraus. „So – ich will pünktlich im Büro sein.“ Ohne den Hund aus den Augen zu lassen wandte sie ihm die Seite zu und machte ein paar vorsichtige Schritte. „Und deswegen werde ich jetzt weitergehen, verstanden?“
Der Hund bellte immer lauter und schwenkte dabei seinen Vorderkörper hin und her. Charlotte machte sich nichts vor – der zottige Riese würde sich nicht damit begnügen, nur nach ihrem Hosenbein zu schnappen.
Plötzlich machte er einen Satz und sprang auf sie zu. Sie riss die Dose hoch und drückte ab. Das Biest jaulte und heulte laut auf. Es schoss wie blind in die Wiese hinein, drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und rieb seinen Kopf im Gras.
Charlotte spurtete los. Der Waldparkplatz war fast vierhundert Meter entfernt. Doch sie rannte ohne Unterbrechung. Schwer atmend und schweißnass ließ sie sich knapp vier Minuten später in ihren Wagen fallen und schlug die Tür zu. „Mist!“, schimpfte sie und schlug aufs Lenkrad. Dann schloss sie die Augen und zwang sich ruhig und tief durchzuatmen.
Lange saß sie so da. Die Anspannung löste sich allmählich, und Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht. Tränen der Wut. Dieser blöde Köter hatte ihr den Tagesbeginn versaut!
Ihr Blick fiel aufs Armaturenbrett. 6.59 Uhr zeigte die Digitaluhr. „O Gott! Schon so spät!“, rief sie erschrocken. „Susanne wollte geweckt werden!“ Sie drehte den Zündschlüssel um und startete den Wagen.
Charlottes achtundzwanzigjährige Tochter wohnte noch bei ihr im Haus. Seit Stefans Tod vor sieben Jahren war ihr Verhältnis noch inniger geworden. Susanne und sie waren wie gute Freundinnen.
Gestern, am Sonntagabend, war Susanne ziemlich angeheitert und sehr spät nach Hause gekommen. Weil Charlotte Frühaufsteherin war, hatte es sich eingebürgert, dass sie Frühstück machte und ihre Tochter weckte.
Als sie mit dem Wagen zurückstieß, sah sie ein Pärchen aus dem Wald auf den Parkplatz laufen. Einige Augenblicke länger als nötig beobachtete sie die beiden. Zehn Jahre jünger als sie mochten die beiden sein. Bei einem Wagen blieben sie stehen, und der Mann legte den Arm um die Frau.
Seufzend wandte Charlotte sich ab. Die wunde Stelle in ihrer Brust meldete sich mit einem leisen Brennen. Sie hatte lernen müssen, mit dieser Stelle zu leben. Sieben Jahre lang. Am Anfang schmerzte sie Tag und Nacht, wie eine entzündete Wunde. Seit zwei, drei Jahren kribbelte und brannte sie nur noch ab und zu. Wie große Narben es tun.
Ja – Charlotte hatte gelernt, mit dieser Narbe zu leben. Doch manchmal meldete sich die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und menschlicher Nähe. In letzter Zeit immer öfter.
Sie bog in die Straße ein und fuhr zurück in die Stadt. Um die trüben Gedanken zu verscheuchen, schaltete sie das Autoradio ein. Das Zeitzeichen ertönte – sieben Uhr. Der Nachrichtensprecher nannte das Datum: „Freitag, der dreizehnte Mai …“
„Natürlich!“, rief Charlotte. „Das passt ja wie die Faust aufs Auge!“ Wieder schlug sie mit der Hand auf das Lenkrad. „Blöder Köter!“
Später würde sie manchmal sagen: „Der schwarze Hund damals, am Freitag dem Dreizehnten – der war wie ein Vorbote des Unglücks.“ Aber noch ahnte sie nichts von den schlimmen Tagen, die ihr bevorstanden.
Alexandra hatte nichts dagegen, wenn eine Woche ruhig ausklang. Und diese Woche schien sehr ruhig auszuklingen. Die ersten zwei Stunden des Tages jedenfalls waren ohne Notruf verstrichen. Kurz vor acht saß sie mit ihren Kollegen von der Chirurgie in der Röntgenbesprechung. Lore Keller, die Oberärztin der Internen, stellte Röntgenbilder eines Patienten mit einem großen Dickdarmtumor vor.
„Der Tumor sitzt hier am aufsteigenden Colon, wie Sie sehen“, sie deutete auf das Röntgenbild. „Schön abgegrenzt und vermutlich leicht zu entfernen. Die Frau ist erst Anfang fünfzig – vielleicht können wir ihr einen Anus preater ersparen.“
„Die histologische Untersuchung ist eindeutig.“ Professor Walter Streithuber studierte den Bericht des Labors. In den Gewebeproben hatten sich bösartige Zellen gefunden.
„Metastasen?“, fragte Alexandra.
Lore schüttelte den Kopf. „Jedenfalls konnten wir keine Tochtergeschwüre finden. Ich werde heute mit der Patientin über die Diagnose sprechen.“ Sie wandte sich an Rudolph Benrath, den Stationsarzt der Chirurgie. „Haben Sie ein Frauenbett frei auf ihrer Station?“
Alexandras Piepser schlug Alarm. Auf dem Display erschien die Nummer des Bereitschaftszimmers. Sie griff zum Telefon auf der Konsole unter dem Wandschirm, an dem das Röntgenbild hing und wählte die Nummer.
„Notfall, Frau Doktor!“ Ewald Zühlkes raue Stimme. „Wir warten im Wagen auf Sie!“
„Ich werd’ gebraucht!“, entschuldigte sich die Notärztin und lief aus dem Besprechungszimmer. Sie spurtete an den Röntgenräumen vorbei zum Treppenhaus, eilte die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, und rannte an der Ambulanz vorbei in die Zufahrtshalle für die Krankenwagen.
Das hydraulische Tor stand schon offen, und der Dieselmotor des Notarztwagens brummte rasselnd. Ewald Zühlke hielt ihr die Tür auf. Alexandra rutschte neben ihren Fahrer, Jupp Friederichs, und Zühlke sprang in das Fahrzeug und schlug die Tür zu. Wenige Sekunden später jagten sie mit Martinshorn und Blaulicht über die Rheinpromenade.
„Was ist passiert?“ Alexandra schnallte sich an.
„Kind aus dem Fenster gefallen“, antwortete Zühlke knapp.
Alexandra erschrak. „Gott – wie furchtbar!“ Sie machte diese Arbeit nun schon so lange – aber an den Anblick verletzter oder schwer kranker Kinder würde sie sich nie gewöhnen können. Es ging ihr jedes Mal unter die Haut, wenn sie ein verunglücktes Kind versorgen musste.
„Passt zu dem Tag, so ein Scheißunfall!“ So tarnte Friederichs seinen Schrecken.
„Wieso?“ An Alexandra vorbei schaute Zühlke seinen Kollegen fragend an.
„Na, Freitag, der dreizehnte!“
„Quatsch!“, brummte Zühlke. „Da passiert auch nicht mehr als sonst.“
Sie brauchten sechs Minuten bis zu der Wohnblocksiedlung am Stadtrand, wo der Unfall passiert war. Schon als sie in die Sackgasse einbogen, sahen sie die Menschenansammlung auf dem Wäscheplatz hinter einem der großen Mietshäuser. Friederichs stoppte, und Zühlke und die Ärztin sprangen aus dem Wagen.
Während Zühlke den Notfallkoffer aus dem Heck des Notarztwagens riss, lief Alexandra auf die Versammlung zu. Fast zwei Dutzend Menschen standen auf der Wiese unter den Fenstern des Hauses. Überwiegend Frauen.
Die Menge teilte sich. Eine weinende Frau hockte auf dem Kiesweg, der an der Hauswand entlangführte. Sie hielt ein etwa dreijähriges Mädchen im Arm. „Aus dem zweiten Stock“, erklärte eine ältere Frau, die neben ihr stand, mit belegter Stimme.
Alexandra schaute nach oben. Im zweiten Stock stand ein Fenster auf. „Ich bin nur schnell an die Wohnungstür, um den Großen zur Schule zu schicken“, schluchzte die Frau mit dem Kind.
Neben ihr hockte ein Junge mit Schulranzen auf dem Rücken. Er machte ein betretenes Gesicht und streichelte das kleine Mädchen. „Und in den paar Minuten klettert der Balg aufs Fensterbrett …“ Tränen erstickten die Stimme der noch jungen Frau.
Alexandra kniete sich ins Gras und widmete sich ihrer kleinen Patientin. Das Mädchen guckte mit großen Augen zu den Umstehenden hoch. Alexandra runzelte die Stirn. Dafür, dass sie aus einem Fenster im zweiten Stock gefallen war, wirkte die Kleine reichlich lebendig.
„Platz machen, bitte!“ Zühlke knallte den Koffer ins Gras und sah sich suchend um. „Ist das unser Patient?“ Verwundert musterte er das Kind.
Alexandra ließ es auf dem Arm seiner Mutter und untersuchte Glied für Glied. Das Kind kicherte, als würde man es kitzeln. „Legen Sie Ihre Tochter bitte auf den Rücken“, bat Alexandra die Frau. Sie tastete den kleinen Bauch und die zarten Rippen ab, drehte das Kind dann auf den Bauch und untersuchte die Wirbelsäule. Nichts. Das Mädchen quengelte nicht einmal.
Alexandra erhob sich und schaute sich unter den Leuten um. „Ist das Kind wirklich aus dem Fenster gefallen?“
Einige der Umstehenden nickte. Die Mutter des Kindes riss Augen und Mund auf. Die Frage der Notärztin schien ihr die Sprache zu verschlagen. „Ja, was glauben denn Sie?“, jammerte sie mit vorwurfsvollem Unterton. „Ich hör’ meine Jessi schreien, schau’ zum Fenster hinaus, und da liegt sie unten auf dem Kies.“
Die Frau begann hysterisch zu weinen. Skeptisch betrachtete Alexandra die Kleine. Sie hatte nicht einmal Schürfwunden.
„Stimmt“, sagte ein älterer Mann. Er trug ein weißes Unterhemd über einer grauen Hose. Getrockneter Rasierschaum bedeckte sein Gesicht. „Wohn’ nebendran und hab’s vom Bad aus gehört.“ Er deutete hinauf auf eines der Fenster. „Ich hab’ das Fenster aufgerissen, und da liegt der Zwerg unten auf dem Weg und plärrt.“
Friederichs drängte sich durch die Gruppe hindurch zur Hauswand. „Wo genau lag sie?“
Der Mann mit dem Rasierschaum im Gesicht folgte ihm und deutete auf eine Stelle vor einem Haufen Sperrmüll. „Hier.“
Alexandra und Zühlke betrachteten das Gerümpel: Pappkisten mit Kleiderbügeln, und ausrangierten Küchengeräten stapelten sich neben einem Tisch und zwei Bettgestellen. Dazwischen, säuberlich aufeinandergeschichtet, ein halbes Dutzend Matratzenteile.
Alexandras Blick wanderte von den Matratzen an der Hauswand entlang zum zweiten Stock hinauf. Das offene Fenster lag direkt über dem Matratzenstapel.
Die Notärztin und Zühlke sahen sich an. Beiden hatte es die Sprache verschlagen. Der Sanitäter schüttelte den Kopf und stapfte zu seinem Notfallkoffer zurück. „Von wegen Freitag, der Dreizehnte“, knurrte er seinen Kollegen an. „Die Kleine ist auf die Matratzen geknallt.“
Die Leute begannen aufgeregt zu palavern, und die Mutter des Kindes brach erneut in lautes Geheul aus. Alle waren fassungslos. Nur der Bruder des Mädchens strahlte über sein ganzes Lausbubengesicht. Er drehte sich um und rannte davon. Vermutlich will er die Story so schnell wie möglich seinen Klassenkameraden erzählen, dachte Alexandra.
„Nehmen wir sie trotzdem mit?“, wollte Friederichs wissen.
Alexandra überlegte. „Ja“, entschied sie schließlich. „Messen Sie bitte den Bauchumfang, Herr Zühlke.“ Sie zog ihr Arztlämpchen aus der Tasche. „Und ich schau mir die Pupillen noch einmal genau an.“
Dann wandte sie sich noch einmal an die schluchzende Mutter. „Danken Sie dem Himmel – Ihre Tochter muss einen tüchtigen Schutzengel haben. Aber vorsichtshalber will ich sie bis heute Abend auf unsere Kinderstation legen und beobachten lassen. Wenn wir restlos sicher sein können, dass sie keine inneren Blutungen hat, können Sie das Kind heute Abend wieder mit nach Hause nehmen.“
„Freitag, der dreizehnte“, höhnte Zühlke, während sie Mutter und Kind zum Notarztwagen begleiteten. „So einen Glücksfall habe ich selten gesehen!“
„Glücksfall nennst du das, wenn jemand aus dem Fenster fällt?“ Friederichs hielt der Frau die Heckklappe auf und half ihr beim Einsteigen. Alexandra reichte ihr das Mädchen hinein.
Zühlke verdrehte die Augen. „Haben Sie das gehört, Frau Doktor? Diese abergläubischen Leute finden doch immer ein Haar in der Suppe!“
Charlotte hatte ihre Tochter geweckt und in aller Eile das Frühstück zubereitet. Sie selbst hatte keine Eile. Seitdem die große Aluminiumfirma, in der sie Sekretärin eines der Geschäftsführer war, die gleitende Arbeitszeit eingeführt hatte, saß sie manchmal erst um halb neun an ihrem Schreibtisch. Dafür arbeitete sie häufig bis abends um sechs. Außerdem genoss sie als Chefsekretärin gewisse Privilegien.
Susanne blickte auf die Wanduhr über der Küchentür. „O Mist!“, schimpfte sie. „Schon zehn vor acht!“ Um acht Uhr begann ihr Dienst als Krankenschwester in der Ambulanz des Marien-Krankenhauses.
„Tja, Mäuschen – vielleicht schaffst du dir doch mal einen Wecker an“, schlug Charlotte vor und schenkte ihrer Tochter einen Kaffee ein. „Und vor allem bleibt man nicht bis in die Puppen op Jück, wenn man am nächsten Morgen arbeiten muss.“
„Nenn mich nicht Mäuschen, verdammt! Wie oft soll ich dir das noch sagen?“ Sie biss von ihrem Honigbrot ab und stand auf. „Und wie lange ich abends unterwegs bin, ist allein meine Sache.“ Kauend ging sie auf den Flur, wo das Telefontischchen stand.
Charlotte runzelte die Stirn und verkniff sich eine Antwort.
Susanne nahm den Hörer ab und wählte die Nummer ihrer Arbeitsstelle. „Wolters“, meldete sie sich. „Ja, ich bin’s, Susanne. Hab verschlafen. Komm ein paar Minuten zu spät.“
Wieder am Frühstückstisch pellte sie ihr Ei. Sie dachte nicht daran, mit leerem Magen in die Klinik zu fahren. Besser eine unpünktliche Schwester als ein ungenießbare, pflegte sie zu sagen. „Hast du die Inserate durchgesehen?“, fragte sie ihre Mutter mit vollem Mund.
„Ach, Susanne!“ Das Thema war Charlotte sichtlich peinlich. „Ich kann das nicht!“
„Wieso nicht?“, ereiferte sich Susanne mit einem Seitenblick auf die Uhr. „Viele machen das! Vor allem Leute, die so beschäftigt sind wie du!“ Sie spülte den Bissen herunter und hielt ihrer Mutter die leere Kaffeetasse hin. „Du hast einfach keine Zeit, Kontakte zu knüpfen. Und bist noch zu jung und viel zu attraktiv, um noch länger ohne Mann zu sein!“
Charlotte stützte ihren Kopf in die Hände und sah aus ihren braunen Augen in irgendeine Ferne. „Meinst du wirklich? Ich frage mich immer, was …“
„Jetzt fang bloß nicht wieder damit an! Ich kann dir sagen, was Vati dazu sagen würde. Er würde sagen: Hör’ auf deine Tochter, Lotte, und: Ich freu’ mich, wenn du glücklich bist.“
Susanne betrachtete das schmale Gesicht ihrer Mutter. Die feinen Züge wirkten weich und sanft und spiegelten nichts von der Hartnäckigkeit wider, mit der sie sich an ihrem stressigen Arbeitsplatz behaupten konnte. Sie trug ihr dichtes, schwarzes Haar kurz. Vereinzelte, silbrige Fäden durchzogen es am Scheitel.
Susanne war stolz auf ihre Mutter. „Ich habe eine schöne Mutti“, hatte sie schon im Kindergarten verkündet. Und das fand sie auch heute noch, fast fünfundzwanzig Jahre später.
Und sie war stolz darauf, ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein: Dieselben feinen Züge, dieselbe kleine Nase, derselbe große Mund. Nur trug Susanne ihre langen, schwarzen Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Und die graugrünen Augen hatte sie von ihrem Vater geerbt.
„Also gut“, seufzte Charlotte, „ich werde noch einmal darüber nachdenken.“
„Denk nicht soviel darüber nach – tu es einfach.“ Susanne stellte ihre Tasse ab und stand auf. „Antworte auf ein Inserat, oder gib selbst eine Kontaktanzeige auf. Tu’s einfach.“ Sie strich ihrer Mutter zum Abschied kräftig über das kurze Haar. „Ich muss – schon fünf vor acht!“
Charlotte grinste ihrer Tochter hinterher. „Fahr vorsichtig! Und leg dich nicht wieder mit dem Oberarzt an!“ Die burschikose Art ihrer Tochter gefiel ihr. Sie wünschte, sie hätte auch ein bisschen mehr davon. Andrerseits stieß sie auf diese Weise immer wieder ihre zahlreichen Verehrer vor den Kopf. Die wenigsten waren der jungen Frau an Willensstärke und Dickköpfigkeit gewachsen.
Charlotte war sich ziemlich sicher, dass Susanne insgeheim einen Mann suchte, der stärker war als sie. Und an den sie sich anlehnen konnte. Natürlich würde sie das niemals zugeben. Und wehe, Charlotte machte entsprechende Bemerkungen! Dann konnte ihre Tochter einen lauten Streit vom Zaun brechen.
Charlotte ging ans Fenster und sah auf die Straße. Ihren roten Lederbeutel über der Schulter rannte Susanne auf den blauen Golf zu, den sie sich voriges Jahr gekauft hatte. Mit quietschenden Reifen fuhr sie an.
Charlotte ging zurück zum Frühstückstisch. Auf der Eckbank lag die Zeitung von gestern. Natürlich hatte sie die Kontaktanzeigen gelesen. Und es waren auch Inserate dabei, die sie spontan angesprochen hatten. Aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht überwinden können, auf eine derartige Anzeige zu antworten. Doch immer mehr dämmerte ihr, dass Susanne recht hatte. Warum sollen vielbeschäftigte Menschen nicht diesen Weg wählen, um einen Partner kennenzulernen?
Sie faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. In der Mittagspause wollte sie sich die Anzeigen noch einmal genauer ansehen.
Er parkte seinen metallic-blauen Mercedes neben dem großen BMW des Chefarztes. Ein Schild wies diesen Parkplatz als seinen aus – Verwaltungsdirektor.
Er stieg aus und betrachtete die schöne Jugendstilfassade der Kurklinik, deren Finanzen und Personal er seit knapp fünf Jahren managte. Stolz erfüllte ihn. Noch vor vier Jahren war die psychosomatische Klinik am Rheinufer wirtschaftlich auf der Kippe gestanden. Dass sie immer noch arbeiten konnte, und inzwischen wieder mit Gewinn arbeiten konnte, war einzig und allein sein Verdienst.
„Guten Morgen, Herr Lorenz“, grüßte der Leiter der physiotherapeutischen Abteilung. Er trabte mit zwei Dutzend Patienten über den Parkplatz auf den Waldrand zu. Morgendliches Jogging stand auf dem Programm.
Lorenz winkte grüßend zurück. Er genoss bei allen Mitarbeitern uneingeschränkte Anerkennung. Bei fast allen.
Pfeifend schlenderte Konstantin Lorenz auf den Haupteingang der Klinik zu. Zur Arbeit gehen war für ihn wie für andere Leute nach Hause zu kommen. Ja – die Klinik war ihm ein Stück Heimat geworden. Und Lorenz hatte fünf lange Jahre kein zu Hause gehabt. Seit ihn seine Frau mit den Kindern verlassen hatte. Fast zehn Jahre war das jetzt her.
Sein lässiger Gang hatte nichts Steifes oder Schleppendes. Seiner Haltung und seiner lockeren Art sich zu bewegen nach, hätte er leicht für vierzig durchgehen können. Nur seine weißen Haare und die Geheimratsecken über seiner hohen Stirn deuteten an, dass dieser Mann wohl schon auf die Fünfzig zugehen musste.
Tatsächlich war Konstantin Lorenz vierundfünfzig an dem Tag, an dem sich am Horizont seines Lebens nach etlichen ruhigen Jahren wieder eine Krise zusammenbraute.
Seinen guten Gesundheitszustand und sein fast jugendliches Auftreten verdankte er der eisernen Disziplin, mit der er kontinuierlich Sport trieb: Radfahren, Joggen, Tennis, Schwimmen.
Das war nicht immer so gewesen. Die ersten drei Jahre nach der Trennung von seiner Frau war er total auf den Hund gekommen. Wirtschaftlich, gesundheitlich, psychisch. Er hatte geraucht wie ein Schlot, getrunken und sich gehen lassen.
Depressionen hatten ihn damals an den Rand des Selbstmords getrieben. Lange Zeit hatte er die Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch nehmen müssen.
Aber irgendwann hatte er sich wieder aus dem Nullpunkt nach oben retten können. Und als er dann vor fünf Jahren Verwaltungschef dieser Klinik geworden war, hatte er sein Leben längst wieder im Griff gehabt.
Er zog die Tür zum Foyer auf und begrüßte die beiden Damen an der Rezeption. Auch hier freundliche Gesichter. Sein Büro lag im Durchgang zu einem großzügigen Veranstaltungssaal, in dem regelmäßig Konzerte oder Ausstellungen durchgeführt wurden.
Auch das ging auf seine Initiative zurück. Er hatte alles getan, um der Klinik eine gute Reputation zu verschaffen – hatte enge Kontakte mit der Presse geknüpft, besuchte regelmäßig die Kontaktleute in den Krankenkassen, und pflegte ausgedehnte Reisen im ganzen Bundesgebiet zu unternehmen, um in Arztpraxen und Beratungseinrichtungen für die Klinik zu werben.
Und das Haus war gut belegt. Mehr als fünfundneunzig Prozent Auslastung in den letzten drei Jahren. Ein Kunststück in Zeiten, in denen die sogenannte Gesundheitsreform Arztpraxen und Privatkliniken reihenweise sterben ließ.
Er öffnete die Tür zu seinem Büro. Hinter dem schwarz lackierten Schreibtisch hing die riesige Panoramaaufnahme einer wilden Berglandschaft – die Rocky Mountains von Montana. Konstantin Lorenz’ Traum war es, den amerikanischen Kontinent von den kanadischen Rocky Mountains bis hinunter zu den Anden zu durchqueren. Mit dem Mountainbike. In etwa sechs Jahren wollte er sich auf den Weg machen. Nach seiner Pensionierung.
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. „Lorenz?“
Der Chefarzt war am Apparat. Einer der wenigen Mitarbeiter in diesem Haus, auf den er gern verzichtet hätte. „Herr Lorenz, können Sie heute zehn Minuten früher zu unserer Besprechung kommen? Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.“
„Kein Problem.“ Er legte auf. In aller Ruhe suchte er Aktenordner, Kalender und Schreibkladde zusammen und machte sich auf den Weg ins Chefarzt-Büro. Mit dem ärztlichen Direktor der Klinik, der leider auch Mit-Eigentümer war, traf er sich jeden Morgen zu einem organisatorischen Check-up.
„Guten Morgen, Herr Lorenz.“ Die Chefsekretärin strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihn begrüßte. Die Frau flirtete seit gut zwei Jahren mit ihm. Sie war knapp zwanzig Jahre jünger als er, und er konnte sich manchmal nichts Schöneres vorstellen, als sich von ihr verführen zu lassen.
Ihr einziger Nachteil: Sie war verheiratet. Und seit seiner Trennung hatte Lorenz es sich zum Grundsatz gemacht, nie in eine fremde Beziehung einzudringen.
„Dr. Grüner erwartet Sie schon“, säuselte die Sekretärin. Und dann leiser: „Ist das eine neue Psychologin?“ Sie deutete auf die verschlossenen Tür zum Sprechzimmer. „Die sitzt schon eine geschlagene Stunde bei ihm drin.“
Lorenz zuckte mit den Schultern. „Lassen wir uns überraschen.“ Das war schon eine stehende Redewendung in der Kurklinik. Der Chefarzt hielt seine Mitarbeiter nämlich gern mit irgendwelchen Überraschungen in Atem.
Der Verwaltungsleiter klopfte und trat ein. Lorenz sah die junge Frau, und sofort ging rotes Licht unter seiner Schädeldecke an. Sie war relativ klein und zierlich. Eine Modelfigur eben, wie der Chefarzt es liebte. Er schätzte sie Anfang bis Mitte dreißig. Ein blonder Pagenschnitt umrahmte ihr kantiges Gesicht, in dem die braunen Augen dominierten – sie musterten ihn kühl.
Lorenz hatte einen sehr guten Instinkt für Menschen und Situationen. Er wusste sofort, dass die Anwesenheit der Frau bei Dr. Grüner auch private Gründe hatte. Sehr private Gründe. Und er spürte, dass die Frau gefährlich für ihn war. Darüber konnte auch die übertriebene Freundlichkeit des Chefarztes nicht hinwegtäuschen, mit der er Lorenz und die Frau bekannt machte.
„Das ist Frau Marten, Herr Lorenz“, lächelte er. „Sie ist Betriebswirtin … und … äh … wird bei uns ein bisschen hereinschauen.“
Es gab im ganzen Haus nur eine Stelle für einen Betriebswirt. Und das war seine, Lorenz’ Stelle!
Fast jeden Morgen dieselbe Hektik! Susanne gab Gas. Ungeduldig drängelte sie sich auf den linken Fahrstreifen, um an einen Bus zu überholen. Der Fahrer des roten Honda Civic, den sie dabei schnitt, hupte aufgebracht. „Leck mich!“, fauchte Susanne. Im Rückspiegel sah sie den Mann schimpfen und mit den Armen fuchteln.
Sie fuhr grundsätzlich immer erst auf den letzten Drücker los. Auch wenn sie nicht verschlief. Die Kolleginnen in der Klinik hatten sich schon daran gewöhnt, dass Susanne selten auf die Minute genau um acht auf der Matte stand.
Die Ampel sprang auf gelb. Doch der Wagen vor ihr dachte nicht daran, noch über die Kreuzung zu huschen. Seine Bremslichter leuchteten auf. „Lahmarsch!“ Susanne stieg auf die Bremse.
Nervös trommelte sie auf dem Lenkrad herum. „Werd endlich grün, du blödes Ding!“ Sie sah auf die Borduhr – drei nach acht. Hoffentlich war in der Ambulanz noch nicht allzu viel los!
Die Ampel sprang auf gelb. Der Wagen vor ihr ließ sich alle Zeit der Welt. „Nun mach’ schon!“, schimpfte Susanne und drückte auf die Hupe. „Pennst du noch, oder wie?“
Endlich fuhr ihr Vordermann an. Susanne gab Gas – und würgte den Motor ab. „Mist – elender!“ Hinter ihr hupte einer. Sie fummelte am Zündschlüssel herum, doch bevor sie weiterfahren konnte, leuchtete die Ampel schon wieder rot auf.
Der Typ hinter ihr hupte wie ein Verrückter. „Idiot!“, fauchte sie in den Rückspiegel. Es war der Kerl in dem roten Honda, vor dessen Kühler sie sich vorhin auf die linke Fahrspur gedrängelt hatte.
„Ist ja gut, ist ja gut!“, rief sie und machte eine abwehrende Geste in den Rückspiegel. Der rote Wagen rollte auf ihr Heck zu, ganz langsam zwar, aber er rollte. „He – spinnst du?“ Susanne löste hastig die Handbremse und legte den ersten Gang ein.
Zu spät: Ein Ruck ging durch ihren Golf. Der Hondafahrer hatte sie touchiert! „Das gibt’s doch nicht!“ Susanne riss die Handbremse hoch und stieß die Tür auf. „Dieser Mistkerl!“
Sie sprang aus dem Wagen. Mit zwei Schritten war sie am Kühler des Hondas. Ein Blick auf ihre Stoßstange – nichts. Der Typ hatte das doch absichtlich gemacht, oder?
Die Ampel war inzwischen wieder rot und würde jeden Moment auf grün springen. Ein ohrenbetäubendes Hupkonzert hatte eingesetzt. Susanne kümmerte sich nicht darum. „Na warte!“ Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und pflanzte sich breitbeinig vor der Fahrertür des roten Hondas auf. „Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen?“
Der Fahrer lehnte sich aus dem Beifahrerfenster und machte ein grimmiges Gesicht. Schwarzer Bürstenhaarschnitt, dunkler Teint, einen glitzernden Stein im linken Ohr, Anfang dreißig. Schwarzenegger-Verschnitt.
„Verdammt noch mal!“, schimpfte sie. „Ja, ich hab’ den Wagen abgewürgt – na und?“ Susanne konnte unheimlich wütend werden, und der Fahrer des Hondas bekam eine volle Breitseite ihrer Wut ab. Sein ärgerlich verkniffenes Gesicht glättete sich, und er zog überrascht die Brauen nach oben.
„Das ist kein Grund, mir gegen die Stoßstange zu knallen!“, rief Susanne. „Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Hinter dem Honda scherten die Wagen aus und fuhren hinter Susanne vorbei, um über die inzwischen wieder grüne Ampel zu fahren.
„Ich wollte nur …“ Der Mann versuchte, sie zu beschwichtigen.
„Sie gehören wohl auch zu den Idioten, für die ein Auto in erster Linie aus Hupe und Gaspedal besteht!“
Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem verlegenen Grinsen. „Sorry …“
Wie ein kleiner Junge, den man beim Kirschenklauen erwischt hat, dachte Susanne. Und ihre Wut verrauchte. Leider. Demonstrativ wandte sie sich ab und lief hinter den Honda, um sich wenigstens noch sein Kennzeichen zu notieren. Er blickte halb grinsend, halb bedauernd aus dem Seitenfenster zu ihr.
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, setzte sie sich wieder hinter ihr Steuer. Die Ampel leuchtete grün. Sie ließ den Motor an, wartete ein paar Sekunden, bis die Ampel auf Gelb sprang und fuhr dann mit quietschenden Reifen an.
Befriedigt schaute sie in den Rückspiegel: Der Honda wartete brav am Haltestreifen. Sie grinste. Die kleine Rache befriedigte sie.
Fast zehn Minuten kam sie zu spät. Ihre Kollegin, Grit Mindermann, bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick.
„Tut mir leid, Grit“, Susanne zuckte bedauernd mit den Schulter. „Verkehrsunfall.“
Grit legte erschrocken die Hand auf den Mund. „Ist jemand verletzt worden?“ Susanne schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, über den unverschämten Autofahrer zu reden. Aber Grit bohrte weiter. „Großer Schaden?“
Susanne winkte kopfschüttelnd ab. „So ein Möchtegern-Rambo ist mir gegen die Stoßstange gefahren.“
„Mit so etwas muss man an einem Tag wie heute rechnen“, sagte Grit.
„Wieso?“
Grit deutete mit dem Kopf auf den Abreißkalender neben dem Schreibtisch. „Freitag, der dreizehnte!“
Alexandra verzichtete auf das Mittagessen. Ihr war heute nicht nach Forelle Blau. Außerdem würde sie heute Abend im Gasthof Kühn im Westerwald essen. Gleich, um drei Uhr, wenn Werner seine Sprechstunde beendet hatte, wollten sie in ihr Wochenendhaus fahren.
Statt ins Ärztekasino ging sie zur Kinderstation, um nach der kleinen Jessica zu sehen. Das Mädchen war quietschfidel. Neben ihrem Bett saß die Mutter und betrachtete mit ihrer Tochter ein Bilderbuch.
„Wie geht’s unserer kleinen Patientin?“, fragte Alexandra.
„Ich bin ja so froh, Frau Doktor“, seufzte die junge Frau. „Schauen Sie doch“, sie wies auf ihr Töchterchen. „Jessica ist putzmunter. Ich kann es nicht fassen!“
„Danken Sie dem Himmel.“ Alexandra strich der Kleinen über das Blondhaar. „Und streichen Sie sich den Tag rot in Ihrem Kalender an. Es hätte nicht viel gefehlt, und …“
„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach die Frau. Ihre Augen wurden feucht. „Ich bin noch ganz geschockt.“
Alexandra verabschiedete sich. Im Stationszimmer erfuhr sie von Dr. Baumgärtner, dem jungen Kinderarzt, dass Jessica noch am Nachmittag entlassen werden sollte. Fast beschwingt verließ sie die Station. Als Ärztin musste sie viel Unglück und Leid sehen. Es tat gut, auch einmal ein Wunder zu erleben.
Im Bereitschaftszimmer telefonierte sie mit Werner. „Du rufst an, weil du überraschend Wochenenddienst machen musst, stimmt’s?“ Seine grimmige Stimme verriet Alexandra, dass er das nicht nur scherzhaft meinte.
„Mein kleiner, pessimistischer Schatz“, unkte Alexandra, „ich rufe an, weil ich wissen will, ob du noch schnell ein Dutzend Hausbesuche oder gar einen kleinen Ärztekongress in Hamburg für das Wochenende eingeschoben hast.“
„Nein, hab’ ich nicht.“ Sie konnte sich sein erleichtertes Grinsen lebhaft vorstellen. „Punkt drei Uhr schließe ich die Praxis, und dann werde ich mir mit Frau Dr. Heinze ein schönes Wochenende machen.“
Sie lachte. „Ich ruf’ dich an, weil ich ein Wunder erlebt habe.“
„Lass hören.“ Sie erzählte ihm von dem kleinen Mädchen und ihrem glimpflichen Fenstersturz.
„Kaum zu glauben“, staunte Werner. „Das ist ein gutes Omen für unser Wochenende. Die Maisonne lacht, und die Schutzengel sind unterwegs – was wollen wir mehr.“
Zur Abwechslung meldete sich mal wieder Alexandras Piepser. „Bis bald, mein Schatz“, flötete sie und legte auf.
Die Nummer der Ambulanz flimmerte auf dem Display. Offenbar wurde sie dort gebraucht.
Schon auf dem Gang von der Pforte zur Ambulanz hörte Alexandra eine jammernde Männerstimme. Sie beschleunigte ihren Schritt und öffnete die große Tür zum Hauptbehandlungsraum.
Auf dem Behandlungstisch unter der OP-Lampe lag ein Mann in einem blauen Overall.
„Arbeitsunfall“, sagte Schwester Susanne Wolters. Sie hatte dem Mann gerade die schweren und schmutzigen Arbeitsschuhe ausgezogen. Der Mann jammerte in höchsten Tönen. „Herr Bugül ist in einen Nagel getreten und dann vom Gerüst gefallen.“
Der türkische Bauarbeiter griff nach Alexandras Hand. „Schmerzen, Frau Doktor, Schmerzen!“ Er sah die Ärztin flehend an.
„Wer hat ihn gebracht?“, wunderte sich Alexandra. Solche Arbeitsunfälle waren normalerweise Anlass genug, den Notarztwagen anzufordern.
„Kollegen, Kollegen“, jammerte der Mann.
Die kleine Wunde in der Fußsohle war schmutzig und tief. Susanne reichte der Ärztin Kompressen und ein Desinfektionsmittel. Vorsichtig reinigte Alexandra das blutende Loch. Der Mann stöhnte.
Die Tür öffnete sich. Mit einem Stapel Röntgenbilder kam der Oberarzt Helmut Höper herein. „Was haben wir denn da?“ Er stellte sich neben Alexandra und betrachtete die Wunde. Susanne berichtete. „Ist doch nicht schlimm“, raunzte Höper den Mann an. „Jetzt reißen Sie sich mal ein bisschen zusammen!“
Der Ton gefiel Alexandra nicht. „Ich kümmere mich schon um ihn.“ Sie wollte den Oberarzt schnell wieder loswerden. „Wo tut es Ihnen noch weh, Herr Bugül?“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht deutete der Bauarbeiter auf seine Rippen.
Gemeinsam mit Höper und Susanne zogen sie dem Mann seinen Overall aus. Über seine linke Brustseite zog sich eine leicht blutende Schürfwunde. Er stöhnte laut und gestikulierte theatralisch.
„Sie benehmen sich wie ein altes Weib!“, fuhr Höper ihn an.
„Der Mann ist Südländer, Herr Dr. Höper!“, zischte Susanne. „Die äußern ihre Schmerzen nun mal etwas leidenschaftlicher als unsereins – bitte!“ Sie sah ihn streng an.
Verdutzt runzelte der Oberarzt die Stirn. Er lief rot an, und Alexandra erwartete, dass ihm der Kragen platzen würde. „Wir reinigen die Wunde und machen eine Thoraxaufnahme“, sagte sie schnell. „Vielleicht ist eine Rippe gebrochen.“ Sie wandte sich an Höper. Wütend fixierte der immer noch die Schwester. „Wollen Sie die Wunde ausschneiden?“
Er holte zischend Luft. Dann wandte er sich abrupt ab, warf die Röntgenbilder auf die Arbeitsfläche unter den weißen Hängeschränken und stapfte aus dem Raum.
Alexandra sah die Schwester an. Nicht die geringste Spur von Verlegenheit zeigte sich in ihren Gesichtszügen. Sie schätzte die direkte Art der jungen Frau, die vor etwa einem Jahr von der Städtischen Klinik ins Marien-Krankenhaus gewechselt hatte. Ihr Vater war vor sieben Jahren auf der Inneren gestorben. An Krebs. Alexandra konnte sich gut erinnern.
„Geben Sie mir bitte ein paar sterile Handschuhe, Skalpell und chirurgische Pinzette.“ Sie setzte dem jammernden Bauarbeiter eine lokale Betäubung. „Diplomatie ist nicht Ihre Stärke, hab’ ich recht, Susanne?“, sagte sie, während sie die durch den Nagel verdreckten Wundränder ausschnitt.
„Stimmt“, seufzte Susanne. „Aber dafür versteht jeder, was ich sagen will.“
„Da haben Sie recht“, grinste Alexandra.
In der Nachbarschaft des Bürohauses gab es einen kleinen Park. Hier verbrachte Charlotte häufig ihre Mittagspausen. Selten zog es sie zum Essen in die Mitarbeiterkantine. Der Vormittag war in aller Regel so stressig, dass sie froh war, mal eine halbe Stunde lang keinen Menschen zu sehen und zu hören.
Außerdem hatte sie sich angewöhnt, mittags weiter nichts als ein Glas Joghurt und ein Stück Obst zu sich zu nehmen. Warm gegessen wurde bei den beiden Wolters-Frauen abends. Und das auch nur jeden zweiten Tag.
Sie ließ sich auf ihrer Lieblingsbank vor dem barocken Springbrunnen nieder und öffnete das Joghurtglas. Im Vorzimmer des Chefs war es wie meistens heiß her gegangen: Telefonate, Terminabsprachen, Buchungen für Dienstreisen, Koordinierung von Sitzungen und Tagungen, Korrektur wichtiger Briefe und Protokolle. Wochenendstimmung würde sich frühestens um vier oder fünf Uhr einstellen.
Charlotte kannte das seit fast sechs Jahren – seitdem sie nach Stefans Tod wieder ganztags zu arbeiten angefangen hatte. Und sie beklagte sich nicht über die hohen Anforderungen, die ihr Job als Chefsekretärin an sie stellte. Im Gegenteil – ihre Arbeit füllte sie aus. Und sie erntete viel Anerkennung und Achtung von der ganzen Abteilung. Jeder wusste, dass sie die graue Eminenz im Hintergrund war, ohne die der Laden nicht lief. Auch ihr Chef wusste das. Und er schätzte sie dafür. Was wollte sie mehr?
Etwas gab es, was sie über ihren beruflichen Erfolg noch wollte. Etwas, das sie nach Stefans Tod abgeschrieben und zu den Akten gelegt hatte. Von dem sie aber in den letzten zwei Jahren immer häufiger träumte: Einen Lebenspartner. Zärtlichkeit. Einen Mann, mit dem sie irgendwann alt werden konnte.
Und Susanne hatte recht: Wenn man zu beschäftigt war, um auf Tanzveranstaltungen oder in Vereine zu gehen, musste man eben andere Wege beschreiten, um jemanden kennenzulernen.
Während sie einen Apfel aß, holte sie die Zeitung aus der Handtasche und entfaltete sie. Hinter dem Veranstaltungskalender für das Wochenende standen die Kontaktanzeigen.
Charlotte hatte die Anzeige angekreuzt, die sie gestern so spontan angesprochen hatte: Arzt, Mitte 50, verw., seriöse Erscheinung, sportlich, sucht treue Sie für gemeinsamen Lebensabend. Dann eine Chiffre, unter der man einen Antwortbrief an die Zeitung schicken konnte.
Sie holte ihren Notizblock heraus und entwarf einen Brief. Sehr geehrter Herr Unbekannt, ich könnte mir vorstellen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich bin achtundvierzig Jahre alt, seit sieben Jahren verwitwet … und so weiter.
Obwohl es zu ihrem alltäglichen Geschäft gehörte, Briefe zu schreiben – diese Zeilen fielen ihr nicht leicht. Die Mittagspause war zu kurz, um damit fertig zu werden.
Gegen fünf Uhr, als ihr Chef nach Hause gegangen war und Charlotte ihren Schreibtisch für das Wochenende aufgeräumt hatte, packte sie das Notizbuch aus und schrieb den Brief zu Ende. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, tippte sie ihn mit dem Computer ab.
Auf dem Nachhauseweg steckte sie ihn in den Briefkasten. Morgen würde er den Adressaten erreichen. Mit einem warmen Prickeln im Bauch ging sie nach Hause.
Niedergeschlagen verließ Konstantin Lorenz am Abend die Kurklinik. Der Chef hatte sich heute merkwürdig distanziert verhalten. Und die junge Frau – Lisa Marten hieß sie – hatte er ihm als Praktikantin vorgestellt.
Sie hatte sich verschlossen, fast kühl, Lorenz gegenüber verhalten. In alle Arbeitsabläufe hatte sie Einblick verlangt. Und es war nicht Lorenz’ Art, jemandem rundweg etwas abzuschlagen.
Es war ihm aufgefallen, dass ihre Fragen zielgerichtet und von Sachkenntnis geprägt waren. Auch ihre Kommentare spiegelten ihm mehr Berufserfahrung wider, als er einer Praktikantin zutraute. Lorenz hatte ganz und gar nicht den Eindruck, dass Lisa Marten ein Praktikum nötig hatte.
Irgend etwas stimmte nicht. Seine innere Stimme sagte ihm das. Auf dem Nachhauseweg grübelte er nach. Ein paar Wochen und Monate zurückliegende Auseinandersetzungen mit dem Chef fielen ihm ein. Einmal hatte Dr. Grüner von ihm eine Inkorrektheit dem Finanzamt gegenüber verlangt. Lorenz hatte abgelehnt. Ein anderes Mal wollte sich der Chefarzt von einem Hausmeister trennen, den er wegen seines polternden Wesens nicht mochte. Lorenz hatte sich vor den Mann gestellt.
Und noch ein paar kleinere Vorfälle fielen ihm ein. Sollte Grüner an seinem Stuhl sägen? Lorenz war sich ziemlich sicher, dass der Chef ein Verhältnis mit der jungen Frau pflegte. Für so etwas hatte er einen Blick. Ein böser Verdacht beschlich Konstantin Lorenz. Wollte der Chef die Stelle des Verwaltungsdirektors mit seiner Geliebten besetzen?
Die ganze Angelegenheit verursachte ihm regelrechte Beklemmungen. Als er sein Apartment betrat, fühlte er sich so deprimiert wie lange nicht mehr. Dagegen gab es ein gutes Mittel – Bewegung bis zum Schweißausbruch. Lorenz hatte das oft ausprobiert.
Er zog seinen blauen Bikerdress an und holte sein Mountainbike aus der Garage. Bis zum Sonnenuntergang radelte er durch das Moseltal. Die liebliche Landschaft, die laue Luft, und der milde Maiabend taten ihm gut. Völlig ausgepumpt und nassgeschwitzt kehrte er am Abend nach Hause zurück. Aber er fühlte sich besser.
Nach einem Bad telefonierte er mit einem Freund aus Köln. Der arbeitete dort als Manager in einer großen Bank und hatte Kontakt zu vielen Firmen. Lorenz wollte mehr über seine neue Praktikantin erfahren.
Eine Akte mit Bewerbungsunterlagen gab es nicht. Ein Grund mehr, ihre Qualifizierung als sogenannte Praktikantin eher im Schlafzimmer des Chefarztes zu vermuten. Aber die Marten hatte ihm von einer Kölner Firma erzählt, in der sie zuletzt gearbeitet hätte.
Lorenz Kölner Freund hörte sich die Sorgen des Mannes an und versprach nachzuforschen. Seine Antwort kam am späten Samstagvormittag.
„Deine neue Kollegin war Personalchefin in dieser Firma. Sie galt als hart und gut“, sagte der Mann. „Kaum vorzustellen, dass sie irgendwo ein Praktikum macht.“
Der Anruf kam unerwartet. Charlotte war allein zu Hause, Susanne hatte Wochenenddienst. Sie beschäftigte sich gerade mit den leidigen Putzarbeiten. Dieses Wochenende war sie an der Reihe.
Sie nahm den Hörer ab. „Wolters?“
„Guten Tag, Frau Wolters.“ Charlotte kannte die freundliche, warme Frauenstimme nicht. „Meine Name ist Lammert, Sibylle Lammert. Sie haben uns auf unser Inserat geschrieben.“
Charlotte war zunächst irritiert. Sie hatte den Brief in dem Glauben verfasst, direkt an den Arzt zu schreiben, der seinen Kontaktwunsch in der Zeitung inseriert hatte. Die fremde Frau am anderen Ende der Leitung klärte sie darüber auf, dass sie eine Partnervermittlung vertrete, die von dem Arzt beauftragt wurde, eine Partnerin für ihn zu suchen.
„Ach so“, sagte Charlotte gedehnt, „das war mir nicht bewusst.“
„Das geht vielen meiner Kunden so“, beruhigte die Frau. Sie machte wirklich einen netten und einfühlsamen Eindruck. „Und die meisten Menschen, die uns beauftragen, hatten vorher schon mal versucht, auf eigene Faust über ein Inserat Kontakt mit jemandem zu bekommen.“ Ihre Stimme nahm einen bedauernden Ton an. „Das geht leider meistens schief. Die wenigsten privaten Anzeigen sind ernst gemeint. O weh – da kann ich ihnen schlimme Geschichten erzählen.“
Sie berichtete von Frauen, die über private Kontaktanzeigen an Heiratsschwindler und Lüstlinge geraten waren. „Man hält es nicht für möglich, wie viel Gemeinheit es in unserer Welt gibt. Deswegen wenden sich viele Menschen an seriöse Partnerschaftsvermittlungen. So wie der Arzt, dessen Anzeige Sie gelesen haben.“
Das leuchtete Charlotte ein. Die Frau namens Lammert plauderte noch dies und das, und schlug schließlich ein persönliches Treffen vor, um alles Weitere zu besprechen.
Charlotte war einverstanden. Sie verabredeten sich für den Sonntagvormittag. Charlotte selbst hatte den Sonntag vorgeschlagen. Erstens wollte sie nun keine Zeit mehr verlieren, und zweitens war sie an den folgenden Wochentagen fast restlos ausgebucht.
Erst als sie aufgelegt hatte, kam ihr der Gedanke, dass es vielleicht gut wäre, wenn Susanne bei dem Gespräch dabei war. Und die hatte am Sonntagvormittag Dienst. Sie überlegte, ob sie den Termin verschieben sollte. „Ach was“, sagte sie sich schließlich, „ich bin selber groß.“
Am Sonntagvormittag, pünktlich um zehn Uhr klingelte es. Eine große, blonde Frau stand vor der Tür. Sie wirkte gepflegt, trug ein elegantes, graues Kostüm und war etwa sechs bis acht Jahre jünger als Charlotte. „Ich bin Sibylle Lammert“, lächelte sie.
Charlotte bat sie herein. „Schön haben sie es hier!“ Anerkennend sah die Frau sich in der kleinen, modern eingerichteten Wohnung um. Sie strahlte Charlotte an. „Ich bin immer gespannt, wie die Leute aussehen, mit denen ich am Telefon gesprochen habe. Und Sie sehen genauso aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe.“
Sie machte ein skeptisches Gesicht. „Aber haben Sie nicht geschrieben, sie seien achtundvierzig Jahre alt?“ Charlotte nickte und bot der Frau einen Platz an. „Das ist ja kaum zu glauben! Sie sehen fast zehn Jahre jünger aus, Frau Wolters!“
Charlotte fühlte sich geschmeichelt. Sie bot Kaffee an und stellte eine Schale mit Plätzchen auf den Tisch. Die Frau öffnete ihre dunkelrote Ledermappe und begann einige Unterlagen auszupacken.
„Aber Sie haben nicht geschrieben, was Sie von Beruf sind“, sagte die Frau. „Lassen Sie mich raten.“ Sie legte den Finger auf die Lippen und musterte Charlotte nachdenklich. „Drei Berufe fallen mir ein: Lehrerin, Abteilungsleiterin in einem Modehaus, oder Chefarztsekretärin.“
Charlotte musste lachen. „Fast richtig – ich bin Chefsekretärin in einem großen Aluminiumkonzern.“ Die Frau war ihr spontan sympathisch.
„Da hat man natürlich kaum Zeit, einen Partner zu suchen.“ Die Frau fuhr fort, ihre Tasche auszupacken. „Ich hätte am ehesten auf Lehrerin getippt. Vielleicht, weil ich selbst viele Jahre Lehrerin war.“
„Ach ja?“, staunte Susanne. „Für welche Schulart?“
„Realschule. Deutsch und Religion. Ich habe Theologie studiert. Ein schöner Beruf, kann ich Ihnen sagen. Aber als die Kinder kamen, habe ich aufgehört. Jetzt sind sie groß, und ich habe einen noch viel schöneren Beruf für mich entdeckt. Nichts ist befriedigender, als Menschen fürs Leben zusammenzuführen!“
Sie erzählte von einigen Paaren, die durch ihre Vermittlung zusammengefunden hatten. „Erst am vorigen Wochenende war ich auf einer Hochzeit. Ich bin immer so gerührt, wenn ich die Paare sehe, denen ich bei der Erfüllung ihres Traumes helfen konnte. Natürlich klappt’s nicht immer gleich beim ersten Mal.“
Sie berichtete von einer Frau, der sie erst beim dritten Anlauf ihren Traummann vermitteln konnte. Charlotte hing wie gebannt an ihren Lippen. „Mein Mann sagt immer: Du hast es doch nicht nötig zu arbeiten. Wissen Sie, er hat eine Augenarztpraxis in Bonn, und wenn es nach ihm ginge, sollte ich den ganzen Tag Kaffee trinken, im Swimmingpool planschen und unsere beiden Perserkatzen verwöhnen. Aber ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als diese Arbeit zu tun.“
Sie legte Charlotte einen Fragebogen auf Hochglanzpapier vor – Hobbies, Gewohnheiten, Lieblingsfarben, finanzielle Verhältnisse, und so weiter. „Ich werde Sie in meine Kartei aufnehmen.“
Charlotte sah sie fragend an. „Wozu das? Ich möchte doch Kontakt zu diesem Arzt.“
„Nun“, die Frau legte beruhigend die Hand auf ihren Arm, „wie gesagt, klappt es nicht immer auf Anhieb. Und dem Arzt habe ich gestern, kurz bevor ich Ihren Brief erhielt, ein Treffen mit einer meiner Kundinnen organisiert.“
Charlotte machte ein enttäuschtes Gesicht. „Keine Sorge, Frau Wolters. Ich kenne den Mann natürlich persönlich – glauben Sie mir: Er hätte gar nicht zu Ihnen gepasst. Viel zu ruhig und zurückgezogen für so eine lebhafte Frau wie sie …“
Sie zerstreute Charlottes Bedenken mit dem Hinweis auf ihre große Kartei, in der sich sicher etwas Passenderes fände. „Noch heute werde ich Ihren Fragebogen analysieren und jemanden heraussuchen, der zu Ihnen passt. Mir schwebt da auch schon einer vor.“
Sie plauderten, tranken Kaffee und verstanden sich prächtig. So gut, dass Charlotte aus ihrem Leben erzählte, und sogar Fotoalben mit Bildern von Stefan herausholte.
Schließlich legte ihr die Frau einen Vertrag vor. „Und nun nicht erschrecken, Frau Wolters – mein Institut gehört nicht zu den angeblichen Exklusivagenturen wie Wieland & Partner oder Graf Remmerson – die nehmen bis zu zwanzigtausend Mark, stellen Sie sich mal vor! – aber unsere Arbeit kostet natürlich auch ihren Preis!“
Charlotte überflog den Vertrag, konnte aber zunächst keine Ziffer entdecken. „Wir nehmen ein Jahr durchschnittliche Vermittlungszeit als Grundlage und berechnen nicht ganz dreißig Mark am Tag.“ Sie deutete auf eine Summe am unteren Rand des Vertragspapiers.
„Zehntausend Mark!“, rief Charlotte überrascht aus.
„Dreißig Mark am Tag, Frau Wolters, für den Mann des Lebens – ich bitte Sie!“ Sie hielt Charlotte vor, wie unbezahlbar ein guter Lebenspartner wäre und was für eine lächerliche Summe dreißig Mark dagegen seien. Charlotte konnte sich ihren Argumenten nicht verschließen.
Ganz wohl war ihr nicht, aber sie unterschrieb den Vertrag. „Der Vertrag gilt als gültig, sobald Sie mir die Vermittlungsgebühr überwiesen haben. Gleich danach melde ich mich mit einem Partnervorschlag bei Ihnen, Frau Wolters.“
Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde über dies und das. Danach brachte Charlotte die Frau zur Tür und verabschiedete sie dort. Seufzend ließ sie sich in ihren schwarzen Ledersessel fallen.
Freilich – zehntausend Mark waren eine Menge Geld. Auch wenn sie wesentlich mehr auf der hohen Kante liegen hatte. Aber wenn man bedachte, was man dafür bekam …
Hundert romantische Bilder zogen Charlotte durch Kopf und Herz: Bilder von einem Rendezvous mit einem möglichen Partner, Bilder von zärtlichen Stunden, Bilder von Reisen zu zweit, Bilder vom Joggen zu zweit – lauter Bilder, die diese freundliche, warmherzige Frau Lammert in ihr geweckt hatte.
„Merkwürdig, wie gründlich ich die Klinik nach so einem freien Wochenende vergessen kann“, dachte Alexandra. Sie schloss ihren Wagen ab und schlenderte durch den Krankenhausgarten auf den Hintereingang des Marien-Krankenhauses zu.
Es war erst zehn vor zwei, noch reichlich Zeit, sich innerlich mit dem bevorstehenden Arbeitstag anzufreunden. Das Licht der Maisonne lag hell und warm auf dem Garten und auf der freundlichen Rückfront der Klinik. Zum ersten Mal in diesem Jahr beobachtete Alexandra einige Patienten, die sich auf den Balkonen aufhielten. Nach einem verregneten April war es endlich Frühling geworden.
Sie betrat das Krankenhaus. Durch die offenen Tür zur Pforte grüßte sie Joseph Preuss, den Pförtner. Zwischen den vollbesetzten Tischen der Patienten-Cafeteria hindurch balancierte Fanny Reimers ein Tablett mit Kaffeekännchen und Tortenstücken. Alexandra winkte ihr zu.
Im Bereitschaftszimmer warteten Clemens Stellmacher mit seinen beiden Sanitätern Karl Miller und Bruno Burgholz schon ungeduldig auf ihre Ablösung. Jupp Friederichs und Ewald Zühlke saßen am Tisch und lasen Zeitung.
„Guten Tag, Frau Doktor“, begrüßte sie Zühlke, „schönes Wochenende gehabt?“
„Göttlich“, seufzte Alexandra. Für einen Augenblick blitzten noch einmal die schönen Stunden mit Werner im Westerwald vor ihrem inneren Auge auf. „Und Sie?“
„Wir haben schwer gearbeitet“, grinste Zühlke, „stimmt’s, Jupp?“
Der nickte. „Feuerwehrfest – Würstchen und Steaks grillen am laufenden Band, und Bierfässer stemmen.“
Der Übergabebericht fiel kurz aus. Alexandras Notarzt-Kollege hatte nicht viel zu berichten. Das Wochenende war so still und friedlich gewesen wie der endlich anbrechende Frühling.
Auch die Nachmittagsschicht dieser Woche begann friedlich. Nur ein Transport einer schwerkranken Frau zur Computer-Tomographie. Danach half Alexandra in der Ambulanz aus. Schwester Susanne Wolters hatte Dienst.
Gegen fünf Uhr – Alexandra und Susanne tranken gerade einen Kaffee zusammen – klopfte es an die Tür der Ambulanz. Ein Mann trat ein: Groß und breitschultrig, schwarzer Bürstenhaarschnitt, dunkler Teint, einen glitzernden Stein im linken Ohr. Er trug Jeans und unter einem grauen, teuer aussehendem Jackett ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt.
Alexandra schätzte ihn Anfang dreißig. Ihr fiel auf, dass Susanne große Augen machte. Der Mann machte nicht den Eindruck, als wäre er besonders krank. Er lächelte verlegen. „Darf ich hereinkommen?“
Alexandra sah ihn fragend an.
„Ich hab’ mich in den Finger geschnitten.“ Er hob den Mittelfinger seiner rechten Hand. Alexandra stand ein paar Schritte entfernt von ihm und konnte auf die Entfernung lediglich ein kleines Pflaster erkennen. „Ob ich eine Tetanusimpfung brauche?“, fragte er unsicher.
Aus den Augenwinkeln musterte Alexandra die Schwester. Susanne stand neben ihr. Eigentlich wäre es ihr Job gewesen, den Patienten hereinzubitten und seine Personalien aufzunehmen. Doch sie stand immer noch wie angewurzelt. Zwischen ihren Brauen bemerkte Alexandra eine steile Falte. Offensichtlich kannte sie den Mann.
„Setzen Sie sich erst einmal.“ Alexandra wies auf einen der Stühle an der gekachelten Wand neben dem doppeltürigen Eingang. „Schwester Susanne wird Ihre Personalien aufnehmen.“
Endlich kam Bewegung in die Schwester. Wortlos ging sie quer durch die Ambulanz zum Stehschreibtisch zwischen den weißen Hängeschränken.
„Ist das während der Arbeitszeit passiert?“, fragte sie kühl. Dabei würdigte sie den Patienten keines Blickes.
Alexandra kannte Susanne als selbstbewusste, burschikose Schwester, die einem Patienten oder einem Arzt, der unverschämt wurde, durchaus die Zähne zeigen konnte. Doch wenn man sie nicht provozierte, war sie die Freundlichkeit in Person. Irgendetwas hat sie gegen diesen Mann, dachte Alexandra.
„Ja“, nickte er, „während der Arbeitszeit.“ Susanne griff nach dem entsprechenden Formular. Für Arbeitsunfälle mussten besondere Papiere ausgefüllt werden, weil die Berichte an die Berufsgenossenschaften gingen, die für Folgekosten eines Unfalles aufkamen.
„Name?“
„Peter Giller.“
„Geboren?“
„25. Januar 1962.“
Während Susanne in dieser knappen Art die Personalien des Patienten aufnahm, entfernte Alexandra das Pflaster, um sich die Verletzung anzuschauen. Die Augen des Mannes hingen unablässig an der Gestalt der Schwester. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich nach ihm um.
Alexandra war befremdet. Ob der Mann ein Verflossener von Schwester Susanne war? Sie betrachtete die glatte, nicht besonders große, dafür aber relativ tiefe Schnittwunde. „Mit was haben Sie sich denn da geschnitten?“, unterbrach sie Susannes Interview.
„Mit einem Glasschneider.“
„Was machen Sie denn während der Arbeit mit einem Glasschneider“, wunderte Alexandra sich, „sind Sie Glaser?“
„Nein, Einbrecher – ich musste in eine fremde Wohnung. Sie war abgeschlossen. Da habe ich ein Loch in die Terrassentür geschnitten …“
Jetzt endlich drehte Susanne sich um. Die Falte zwischen ihren Brauen war noch steiler geworden. Sie musterte ihn misstrauisch. Auch Alexandra schaute den Mann erstaunt an. „Sie nehmen uns auf den Arm, hoffe ich.“
„Nur halb“, grinste Peter Giller, „ich musste tatsächlich in eine Wohnung einbrechen. Aber natürlich nicht, weil ich Einbrecher bin. Ich bin Kriminalpolizist.“ Er sah Susanne an, als er das sagte. Als wollte er ihre Reaktion beobachten. Sie zeigte ihm augenblicklich wieder die kalte Schulter.
„Aha“, machte Alexandra, „so ist das also.“ Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, dass die Schnittwunde nur ein Vorwand war. Es kam selten vor, dass jemand wegen so einer lächerlichen Verletzung seine Wundstarrkrampf-Impfung auffrischen ließ. In aller Regel waren das dann sehr ängstliche Menschen. Und dieser Athlet machte Alexandra nicht den Eindruck, besonders ängstlich zu sein.
„Sie wollen also eine Tetanusspritze.“ Er nickte. „Haben Sie ihren Impfpass dabei?“
„Impfpass?“ Er schaute sie irritiert an. „Nein …“
„Wann sind Sie denn zum letzten Mal gegen Wundstarrkrampf geimpft worden?“
Er wusste es nicht. Alexandra musterte ihn grinsend. Auch um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. Susanne schrieb die ganze Zeit und bekam von dieser kurzen, wortlosen Verständigung nichts mit.
„Dann wird Ihnen Schwester Susanne eine Auffrischimpfung geben.“ Sie wandte sich der Schwester zu. „Okay, Susanne?“ Ohne sich umzuwenden nickte die junge Frau.
Alexandra streckte dem Mann die Hand hin. „Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Giller.“
Jetzt drehte die Schwester sich um. Ihr Blick hatte nun gar nichts Skeptisches oder Burschikoses mehr. Sie guckte fast flehend. Als wollte sie sagen: „Bleiben Sie um Gottes Willen hier!“
Alexandra kümmerte sich nicht darum. Sie nickte ihr zu und verließ die Ambulanz. Sollten die beiden doch ihre offene Rechnung allein miteinander ausmachen.
Konstantin Lorenz war noch nie so ungern zu seinem Arbeitsplatz gegangen wie an diesem Montag. Die Atmosphäre zwischen ihm und Lisa Marten klirrte vor Kälte. Er schickte sie unter einem Vorwand ins Archiv. Sie sollte einen Brief des Regierungspräsidiums suchen.
„Schauen Sie mal die Aktenordner von ’81 bis ’89 durch, irgendwo werden Sie das Papier schon finden.“
Zähneknirschend zog sie ab. Bis in den frühen Nachmittag war sie beschäftigt.
Natürlich wusste Konstantin genau, dass dieser Brief nicht im Archiv zu finden sein würde. Er hatte ihn unter seinen besonders wichtigen Unterlagen abgeheftet. Immerhin wurde der Klinik darin zugesichert, dass mindestens zwanzig ihrer Betten in den Krankenhaus-Bedarfsplan aufgenommen werden sollten. Zwanzig garantiert belegte Betten – für eine Privatklinik mit hundert Betten bedeutete das zwanzig Sorgen weniger. Außerdem stammte der Brief nicht aus achtziger Jahren, sondern aus seinem ersten Arbeitsjahr als Verwaltungsdirektor.