4 Arztromane mit Herz November 2022 - Thomas West - E-Book

4 Arztromane mit Herz November 2022 E-Book

Thomas West

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Beschreibung

Über diesen Band: Dieser Band enthält folgende Romane von Thomas West: Die falsche Ärztin (Thomas West) Drei Schicksale und eine Ärztin (Thomas West) Sie liebte einen verheirateten Mann (Thomas West) Notfall mit Folgen (Anna Martach) Frau Dr. Alexandra Heinze hat verschlafen. Eilig macht sie sich auf zum Marien-Krankenhaus. Prompt schnappt ihr eine junge, ihr unbekannte Frau den Parkplatz weg, was sie ziemlich wütend werden lässt. Aber ihre Wut verraucht bald, und sie freundet sich mit der neuen Ärztin an. Alexandra spürt jedoch, dass sie ein Geheimnis mit sich herumträgt …

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Thomas West, Anna Martach

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Inhaltsverzeichnis

4 Arztromane mit Herz November 2022

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Die falsche Ärztin

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Drei Schicksale und eine Ärztin mit Herz: Arztroman

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Sie liebte einen verheirateten Mann

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Notfall mit Folgen

4 Arztromane mit Herz November 2022

Thomas West, Anna Martach

Über diesen Band:

Dieser Band enthält folgende Romane von Thomas West:

Die falsche Ärztin (Thomas West)

Drei Schicksale und eine Ärztin (Thomas West)

Sie liebte einen verheirateten Mann (Thomas West)

Notfall mit Folgen (Anna Martach)

Frau Dr. Alexandra Heinze hat verschlafen. Eilig macht sie sich auf zum Marien-Krankenhaus. Prompt schnappt ihr eine junge, ihr unbekannte Frau den Parkplatz weg, was sie ziemlich wütend werden lässt. Aber ihre Wut verraucht bald, und sie freundet sich mit der neuen Ärztin an. Alexandra spürt jedoch, dass sie ein Geheimnis mit sich herumträgt …

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker (https://www.lovelybooks.de/autor/Alfred-Bekker/)

© Roman by Author / Cover EDHAR YURALAITS 123rf

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Die falsche Ärztin

Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 139 Taschenbuchseiten.

Frau Dr. Alexandra Heinze hat verschlafen. Eilig macht sie sich auf zum Marien-Krankenhaus. Prompt schnappt ihr eine junge, ihr unbekannte Frau den Parkplatz weg, was sie ziemlich wütend werden lässt. Aber ihre Wut verraucht bald, und sie freundet sich mit der neuen Ärztin an. Alexandra spürt jedoch, dass sie ein Geheimnis mit sich herumträgt …

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COVER MARA LAUE

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

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1

Es war einer dieser Montage, an denen man am liebsten im Bett bleiben würde. Der Abend zuvor war lang und feucht gewesen - Alexandra und Werner waren auf einer Geburtstagsparty versumpft - und am Morgen peitschte der Regen gegen die Schlafzimmerfenster. Davon wachte Alexandra auf. "Bleib noch einen Augenblick liegen!", brummte Werner und öffnete die Arme. Sie kuschelte sich an ihn, und die Wärme seines Körpers zog sie wieder hinab in einen dämmrigen Schlummer.

Irgendwann klopfte es.

"Alexandra!?" Die Stimme ihrer Schwiegermutter drang durch die Tür. "Alexandra! Hast du verschlafen?"

Alexandra öffnete die Augen und blinzelte zu dem Wecker auf Werners Nachttisch. Der behauptete, es sei 6.55 Uhr.

"Oh, Mist!", schimpfte Alexandra und sprang aus dem Bett. Sie hätte schon vor fünfundfünfzig Minuten in der Klinik sein müssen!

"Ich koch dir schnell einen Kaffee", krächzte Werner und schob sich aus den Federn. Alexandra stürzte die Treppe hinunter zum Telefon. Hilde hatte sich schon wieder in ihr Zimmer im Erdgeschoss zurückgezogen. Der Anrufbeantworter blinkte, mindestens drei Anrufe waren eingegangen - nicht einmal das Telefon hatte sie gehört! Wahrscheinlich hatte die Klinik versucht, sie zu erreichen.

Sie wählte die Nummer des Bereitschaftszimmers. Ewald Zühlke war am Apparat.

"Sorry, ich hab' verschlafen", stöhnte Alexandra ins Telefon. "In einer Viertelstunde bin ich da."

Der Sanitäter gab sich einsilbig. Er pflegte morgens nie viel zu sprechen. Alexandra hoffte nur, dass ihr Kollege Conrady nicht allzu sauer sein würde. Er hatte Nachtdienst gehabt und wartete sicher schon ungeduldig auf die Ablösung.

"Mach Platz Anuschka - ich muss ins Bad!" Alexandra drängte sich an der schwarzen Dogge vorbei. Die Hundedame spürte die Hektik und winselte beunruhigt.

Zehn Minuten später war die Notärztin geduscht und angezogen. Im Stehen stürzte sie einen Kaffee hinunter. Werner saß im Morgenmantel am Küchentisch.

"Sei so lieb und lös mir eine Aspirin auf, Schatz!", sagte Alexandra. "Ich hätte nach dem Rotwein keinen Sekt mehr trinken sollen." Sie fasste sich an den schmerzenden Kopf.

Werner ging zum Medizinschrank und holte die Tabletten heraus. Während die Brausetablette im Wasserglas sprudelte, sah er auf die Uhr.

"Ich glaube, ich leg' mich noch einmal hin", brummte er, "vor neun Uhr gehe ich heute nicht in die Praxis."

"Du Glücklicher!" Alexandra leerte das Glas mit einem Zug, küsste ihren Mann auf die Wange, tätschelte dem Hund den Hals und huschte aus dem Haus. Auf der Treppe vor der Haustür schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch. Der Morgen hätte längst dämmern müssen, aber der verregnete Himmel war immer noch stockdunkel. Alexandra hasste solche trüben Märztage. Sie sehnte den Frühling herbei.

"Wenigstens schneit es nicht mehr", seufzte sie und schloss die Garage auf.

Wenige Minuten später bog sie auf den Parkplatz vor dem Personalwohnheim des Marien-Krankenhauses ein. Es war zehn vor halb acht. Die meisten Parkplätze waren belegt. An einem der wenigen freien fuhr sie vor lauter Hektik vorbei.

"Du schläfst ja noch halb, Alexandra!", schimpfte sie und trat auf die Bremse. Sie schwor sich, nie wieder auf eine Geburtstagsfeier zu gehen, wenn sie am nächsten Morgen Frühdienst hatte.

Den Rückwärtsgang einlegen, den Blinker setzten und nach hinten schauen. Durch den Wasserschleier auf ihrer Heckscheibe sah Alexandra ein Scheinwerferpaar auftauchen. Ein Kleinwagen bog mit einem Affenzahn in den Parkplatz ein. Ohne abzubremsen, fuhr er auf sie zu. "Du wirst doch nicht etwa ...?"

Tatsächlich scherte das Fahrzeug in die Parklücke ein, die Alexandra für sich ausgespäht hatte. "So ein frecher Bursche!" Sie war stinksauer und drückte auf die Hupe. Aus dem Kleinwagen stieg ein Frau aus, schloss hastig ihr Fahrzeug ab und machte Anstalten, im Laufschritt in den Krankenhausgarten zu eilen.

"Unverschämtes Weib!" Alexandra platzte der Kragen. Sie stieß die Wagentür auf und stieg aus. "He, Sie! Das war mein Parkplatz!"

Im Laufen drehte die Frau sich um. Blonde Haarsträhnen wehten aus dem hochgeschlagenen Kragen ihrer schwarzen Lederjacke.

"Tut mir leid - ich hab's unheimlich eilig!", sprach's und rannte weiter.

"Natürlich - eilig haben Sie's!", schrie Alexandra ganz gegen ihre Art hinter ihr her. "Machen Sie sich keine Gedanken! Sie sind sicher die einzige auf der Welt, die es heute Morgen eilig hat!" Die Frau reagierte nicht einmal und verschwand zwischen den Rhododendronsträuchern, die den Gartenweg zum Hintereingang der Klinik säumten.

Alexandra ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

"Ich hab' ja alle Zeit der Welt! Bin ja nur eine Notärztin, die ein bisschen verschlafen hat! Anderthalb Stunden zu spät - was ist das schon!" Schimpfend suchte sie sich einen neuen Parkplatz.

Dr. Herbert Conrady war nicht eben glücklich über Alexandras Verspätung, sagte aber nichts. Sie versprach ihm, ihn übernächste Woche, während seiner nächsten Frühschicht, an einem Tag anderthalb Stunden früher abzulösen.

Der Vormittag ging genauso weiter, wie der Tag angefangen hatte. Kaum hatte Conrady die Tür hinter sich geschlossen, rief schon die Rettungsleitstelle an. Jupp Friedrichs ging ans Telefon. "Auffahrunfall auf der Autobahn!", verkündete er. "Die haben auf Sie gewartet, Frau Doktor!"

Im strömenden Regen musste die Notärztin wenig später einem schwerverletzten Autofahrer durch das eingeschlagene Seitenfenster eine Infusion anlegen. Der Mann war in seinem Wagen eingeklemmt, und die Feuerwehr ließ auf sich warten. Der Bewusstlose hatte abscheuliche Gesichtsverletzungen, und Alexandra musste ihrem leeren Magen gut zureden, damit er durchhielt.

Sie kam den ganzen Vormittag nicht zum Frühstücken. Ein Notfall jagte den anderen, meistens Verkehrsunfälle. Um die Mittagszeit wurde es ruhiger. Vollkommen erschöpft sank die Notärztin auf einen Stuhl im Ärztekasino.

"Sie scheinen heute ja einen Bärenhunger zu haben, Frau Kollegin!", begrüßte sie Tobias Borgheim, ein Chirurg, der seit knapp drei Monaten im Marien-Krankenhaus arbeitete. Grinsend spähte er auf Alexandras vollgeladenen Teller.

"Das kann man wohl sagen", seufzte Alexandra. Der Duft des Cordon Bleus auf ihrem Teller stieg verlockend in ihre Nase.

"Die Küche steigert sich", lächelte der große, breitschultrige Arzt und ließ sich ihr gegenüber nieder. "Guten Appetit, Frau Heinze!" Er war braungebrannt, und trotz seiner mindestens vierzig Jahre hatte er noch pechschwarzes, dichtes Haar. Seine Gesichtszüge ähnelten dem Männerideal, mit dem man in den fünfziger Jahren die Hauptrolle der Hollywoodwestern besetzt hatte.

Mit ihrem sich füllenden Magen stieg auch Alexandras Laune. Aber nur vorübergehend. Nämlich genau so lange, bis sie eine fremde Frau am Tresen bei der Essenausgabe entdeckte. Eine fremde Frau mit langen, blonden Haaren!

Ihr Profil hatte Alexandra in der verregneten Morgendämmerung nicht sehen können, aber an den Haaren und an der hastigen Art sich zu bewegen, erkannte sie die Frau wieder - es war das unverschämte Weibsstück, das ihr heute Morgen den Parkplatz weggeschnappt hatte.

Alexandra registrierte nur beiläufig, dass Borgheims Blick wohlgefällig auf der schlanken Gestalt der blonden Frau im Arztmantel ruhte. Von ihm war sie nichts anderes gewöhnt. Er hatte schon wenige Wochen nach Dienstantritt in der Klinik den Ruf gehabt, ein Charmeur mit großem Appetit auf blonde Frauen zu sein. Alexandra hatte ihm irgendwann einmal sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er bei ihr nicht landen konnte, und seitdem kamen sie einigermaßen miteinander aus.

"Wer ist das denn?", fragte sie.

"Unsere neue Kollegin - hat heute erst angefangen."

Die Frau steuerte ihren Tisch an und stellte ihr Tablett neben Borgheims.

"Und? Wie hat Ihnen Ihr erstes OP-Programm in unserem Haus geschmeckt?", grinste der Arzt.

"Ganz gut", sagte die Frau und streckt Alexandra die Hand hin. "Wir kennen uns noch nicht. Ina Breckmann - heute war mein erster Arbeitstag."

"Heinze", sagte Alexandra knapp. Die Wut von heute Morgen stieg wieder in ihr hoch. "Wir hatten schon das Vergnügen miteinander", sagte sie sarkastisch.

Die Frau sah sie mit ihren grünen, schmalen Augen verwundert an.

"Sie haben mir den Parkplatz weggeschnappt heute Morgen. Laut Straßenverkehrsordnung ist das eine Ordnungswidrigkeit. Und ich war ziemlich sauer."

"Oh", die neue Ärztin errötete und hielt erschrocken die Hand vor den Mund. "Das tut mir leid. Aber bitte verstehen Sie ..."

Alexandra erfuhr nicht mehr, was sie verstehen sollte. Der Oberarzt Helmut Höper stand unvermittelt am Tisch und setzte sich neben Alexandra. Mit seinem unnachahmlichen Feingefühl unterbrach er das Gespräch.

"So, Frau Breckmann", tönte er, "Sie haben die ersten Stunden also überlebt, wie ich sehe!"

Er und Borgheim nahmen die Frau in Beschlag, befragten sie über ihre berufliche Vergangenheit und gaben sich alle Mühe, sich selbst von ihrer besten Seite zu zeigen. Es war klar, dass Höper vor Charme sprühte. Alexandra hätte sich gewundert, wenn er Ina Breckmann mit seinen Flirtversuchen verschont hätte. Sie war viel zu hübsch, um nicht die Aufmerksamkeit dieses Weiberhelden von Oberarzt zu erregen. Er flirtete mit Borgheim um die Wette.

Immerhin erfuhr sie auf diese Weise, dass die Ärztin den chirurgischen Facharzt hatte und zuletzt in einem Kreiskrankenhaus in der Freiburger Gegend gearbeitet hatte.

Die neue Kollegin verhielt sich freundlich aber distanziert. Je länger Alexandra sie beobachtete, desto besser gefiel ihr die Frau. Als die beiden Männer fast synchron und mit wichtigen Mienen auf ihre Armbanduhren schauten und aufstanden, war sie schon fast bereit, ihr den frechen Parkplatzraub zu verzeihen.

Borgheim und Höper verabschiedeten sich.

"Es tut mir wirklich leid, Frau Heinze", sagte die Breckmann und flehte mit den Augen um Vergebung. "Sie waren richtig böse auf mich, stimmt's?"

"Kann man wohl sagen."

"Das wäre ich an Ihrer Stelle auch gewesen. Aber es war mein erster Arbeitstag, müssen Sie wissen - und was passiert? Der Wecker bleibt mitten in der Nacht stehen und ich verschlafe!"

2

Die uralte romanische Kirche wirkte selbst zwischen den mittelalterlichen Fachwerkhäusern wie ein Dinosaurier auf einer Pferdekoppel. Während die Leute links und rechts an ihm vorbeigingen und in den engen Gassen verschwanden, die sich von allen Seiten der Kirche in die Altstadt hineinbohrten, stand der Mann in der braunen, langen Lederjacke vor dem Portal und ließ seine Augen an dem grauen Gemäuer bis zur Turmspitze hinaufgleiten. Die dunklen Wolken begannen an manchen Stellen aufzureißen und den Blick auf den blauen Himmel freizugeben.

Den Mann fröstelte. Er warf die filterlose Zigarette auf den verwitterten Pflasterstein, der die Kirche umgab.

Steht wahrscheinlich unter Denkmalschutz, dachte er. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. "Unter Denkmalschutz", murmelte er und lachte trocken. "Wie meine Vergangenheit."

Er sah auf die Uhr: Halb zehn. Noch eine halbe Stunde Zeit. Er gab sich einen Ruck und betrat die Kirche. Die stille Kälte des Kirchenschiffs umfing ihn. Rechts flackerten Opferkerzen vor einem Marienbild. Im Chorraum hinter dem Altar brannte gedämpftes Licht. Links, in der vorletzten Reihe des schlichten Eichengestühls, saß eine alte Dame mit einer Pelzmütze.

Er hatte sich damit abgefunden, dass ihn nach all den Jahren immer noch das Gefühl überfiel, nach Hause zu kommen, wenn er eine Kirche betrat. Zwanzig Jahre lang war er fast täglich in solchen Gemäuern aus und ein gegangen. Man müsste gelernt haben, seinen Namen zu vergessen, um eine derart tief eingebrannte Erinnerung abschütteln zu können. Man kann aber nicht lernen, seinen Namen zu vergessen. Das lernt man erst im Tod.

Er schritt an den Kerzen vor dem Marienbild vorbei und dann an der Außenseite des Gestühls bis zum Beichtstuhl. Trotz des Gewölbes, in dem normalerweise jedes Geräusch widerhallte, waren seine Schritt nicht zu hören. Er hatte gelernt, leise zu gehen. Schon in seiner Kindheit hatte er sich das antrainiert. Seine Mutter hatte unter Migräne gelitten, solange er zurückdenken konnte. Lärm hatte sie als persönliche Kränkung aufgefasst.

Vor dem Beichtstuhl blieb er stehen. Lange betrachtete er das dunkle Holz der von zwei Seiten mit schweren, tiefblauen Stoffen verhängten Kabine. Unzählige Stimmen fielen ihm ein, Stimmen die er in den fast zehn Jahren, die er Priester war, gehört hatte. Leise, weinerliche Stimmen, die ihm irgendwelche Alltäglichkeiten wie kleinere Diebstähle, Steuerhinterziehungen oder sexuelle Banalitäten erzählten. Verkrampfte Flüsterstimmen, die ihre kleinlichen Neid- und Hassgefühle ausbreiteten oder irgendwelche menschlichen Streitereien oder Wutgefühle an den Haaren herbeizogen und zu sogenannten Sünden hochstilisierten, um überhaupt etwas beichten zu können. Und die Stimmen derer, die wirklich schuldig geworden waren. Stockende, murmelnde Stimmen von Frauen, die abgetrieben hatten oder fremdgegangen waren, und von Männern, die Fahrerflucht begangen, gestohlen oder getötet hatten.

Er überlegte sich, was er beichten würde, wenn er noch wirklich zu Hause wäre an so einem Ort. Der Vorhang auf der einen Seite des Beichtstuhls bewegte sich. Ein Priester kam heraus. Überrascht sah er ihn an und machte Anstalten in seinen engen Arbeitsplatz zurückzukehren.

"Sie wollen beichten?"

Der Mann schüttelte lächelnd den Kopf. Die Mischung aus der dieses Lächeln bestand - Spott und Wehmut - irritierte den Priester. Schnell wandte er sich ab.

Merkwürdig, dachte der Mann, ich habe wirklich nichts zu beichten. Absolut nichts, was ich bereuen würde.

Vor etwas mehr als sieben Jahren hätte ihn ein solcher Gedanke mehr als beunruhigt. Damals, als er noch Priester war, und unter seinem Doppelleben gelitten hatte.

Er sah auf die Uhr und ging zurück zum Kirchenportal. Es war Viertel vor zehn, und er schätzte es, mindestens zehn Minuten vor einer verabredeten Zeit an einem Treffpunkt zu sein. Dann war man schon vertraut mit den Örtlichkeiten, wenn man den Kunden gegenübersaß.

Das Café, in dem die Frau ihn treffen wollte, war kaum zwei Minuten entfernt. Er ging hinein, setzte sich an einen Tisch in der dem Eingang gegenüberliegenden Ecke und bestellte einen Milchkaffee. Danach zog er die gelbe Zigarettenschachtel aus seiner Lederjacke, schnippte eine Filterlose heraus und schob die Schachtel in die Tischmitte. An ihr würde die Frau ihn erkennen.

Die Zeit verging, und es wurde zehn nach zehn, ohne das die Frau kam. Doch er wurde nicht ungeduldig. Er wusste, dass die Frau einen weiten Anfahrtsweg hatte. Sie wohnte in Köln, und die Autobahn war um diese Zeit häufig vollgestopft. Der Regen würde seinen Teil dazu beitragen.

Er rief sich die Telefonstimme der Frau ins Gedächtnis zurück und versuchte sich vorzustellen, wie ein Frau aussah, die eine solch tiefe, raue Stimme hatte. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer fülligen Blondine Ende vierzig.

Gegen halb elf betrat eine elegant gekleidete, rothaarige Frau das Café. Sie sah sich suchend um und kam zielstrebig auf seinen Tisch zu, nachdem sie die gelbe Zigarettenschachtel entdeckt hatte. Die Frau streckte ihm die Hand entgegen.

"Herr Vandaalen?"

Er stand auf und reichte ihr ebenfalls die Hand.

"Ja - Johannes Vandaalen."

Sie war höchstens Ende dreißig und alles andere als füllig. Mit einem Blick erfasste er die Hüftknochen, die sich unter der offenen Jacke des seidenen Hosenanzugs abzeichneten, die hervortretenden Schlüsselbeine unter der freizügig aufgeknöpften Bluse, und er fühlte ihre knochige Hand.

"Ich bin Carolin Borgheim", sagte sie und setzte sich. Er fragte sich, ob diese Frau sich mit Hungerkuren quälte oder krank war. Die scharfen, langen Falten, die sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herabzogen, sprachen eher für eine Magenerkrankung.

Als sie eine Schachtel schwarzer, französischer Zigaretten herausholte, sah er die gelben Fingerspitzen ihrer rechten Hand und wusste warum die Frau so dünn war.

"Ich habe Sie mir anders vorgestellt, Herr Vandaalen", ohne ihn aus den Augen zu lassen, zündete sie sich eine Zigarette an. "Älter und ...", sie machte eine kreisende Bewegung mit der Hand. "… und irgendwie seriöser."

Vandaalen war es gewöhnt, dass seine Kunden nach dem ersten Telefonkontakt überrascht waren von seinem Äußeren. Mit seinem durchtrainierten, wenn auch nicht besonders kräftig gebauten Körper und seinem jungenhaften Gesicht, wurde er im Allgemeinen fünf bis zehn Jahre jünger geschätzt, als er tatsächlich war. Seine saloppe Kleidung unterstrich noch den Eindruck, einen Mittdreißiger vor sich zu haben. Unter dem alten graublauen Jackett, von dem er sich nicht trennen konnte, trug er rote oder schwarze T-Shirts, dazu Jeans oder schwarze Cordhosen und irgendwelche abgetragenen Wildlederschuhe.

Zwar war er in der Regel glattrasiert, aber der dunkelblonde Zopf trug noch seinen Teil dazu bei, dass Johannes Vandaalen ein wenig wie ein ewiger Student wirkte. Seine Stimme dagegen klang sanft und summend, fast väterlich. Sie öffnete ihm in der Regel die Herzen der Menschen.

Er verschwieg ihr, dass er sich von ihr ebenfalls ein anderes Bild gemacht hatte.

"Ich fasse das als Kompliment auf." Sein charmantes Lächeln, in dem immer eine Spur von Spott mitschwang, veranlasste die Frau, sich entspannt zurückzulehnen und ebenfalls zu lächeln.

"Aber ich kann Ihnen versichern", fügte er hinzu, "dass ich mich, was meine Garderobe betrifft, dem Milieu anpasse, in das meine Aufträge mich führen." Er nahm eine Filterlose aus der Schachtel und zündete sie mit einem Streichholz an. Vandaalen verabscheute Feuerzeuge. "Was kann ich für sie tun, Frau Borgheim?"

3

Ihren zweiten Arbeitstag trat Ina schon wesentlich gelassener an, als den ersten. Zwar hatte sie kaum ein Auge zugemacht und die halbe Nacht chirurgische Fachbücher über Gallenblasenresektionen gelesen, aber das beeinträchtigte sie nicht besonders. Schon seit zehn Jahren, seit sie Mitte zwanzig war, brauchte sie nicht mehr als höchstens sechs Stunden Schlaf. Und wenn einmal eine Nacht ohne Schlaf vorüberging, verkraftete sie das auch ganz gut.

Die Frau mit dem Gallenstein operierte sie zusammen mit Höper. Nachdem die Gallenblase entfernt war, nähte Ina die Operationswunde zu. Höpers bewundernde Augen wanderten zwischen ihrem Gesicht und ihren flinken, geschickten Fingern hin und her.

"Hände, die so sicher sind, wie Ihre, sieht man selten", sagte er hinterher im Waschraum.

Ina spürte, dass er ihr schmeicheln wollte, aber sie bemerkte auch die Anerkennung hinter seinen Worten. Und sie wusste selbst, dass sie gut war.

"Wo haben Sie Ihren Facharzt gemacht?", wollte der Oberarzt wissen.

"In der Uniklinik Zürich", antwortete sie.

"Oha!", staunte Höper. "Die chirurgische Abteilung der medizinischen Fakultät in Zürich hat einen besonders guten Ruf. Warum haben Sie nicht in Deutschland gelernt?"

Ina fand den Arzt ein wenig aufdringlich, aber sie war auf neugierige Fragen vorbereitet.

"Meine Mutter war Schweizerin, und ich habe meine Jugend teilweise in Zürich verbracht."

"Dann haben sie also einen Schweizer Pass?"

Sie bestätigte.

"Ich freu' mich jedenfalls, dass wir so eine versierte Chirurgin gewonnen haben", lächelte Höper, "hoffentlich bleiben Sie ein wenig länger bei uns und schielen nicht schon nach der eigenen Praxis."

Ina trocknete ihre Hände ab und zog den grünen OP-Mantel aus. Die große Wanduhr über dem Eingang zu Saal 2 zeigte fünf Minuten vor zehn. Ab zehn Uhr würde der Chef sie in seinem Büro erwarten.

"Ich werd' mich doch nicht freiwillig den Dschungelgesetzen des freien Marktes ausliefern", sagte sie ernsthaft.

Das war gelogen - Ina hatte sich schon ein ansehnliches Kapital zusammengespart. Ihre verstorbenen Eltern hatten ihr zudem eine große Eigentumswohnung in München hinterlassen. Die wollte sie in zwei, drei Jahren zu einer Praxis umbauen lassen. Aber noch musste sie ein wenig Erfahrung sammeln.

"Sehr vernünftig, Frau Kollegin", nickte Höper, "wer in Seehofers Zeiten eine Praxis eröffnet, verübt wirtschaftlichen Selbstmord, sage ich immer."

Ina winkte und verließ den OP. Sie war heilfroh, dass die Gallenoperation so komplikationslos über die Bühne gegangen war. Auch Höpers Komplimente trugen sehr zu ihrer Entspannung bei. Trotz seiner kaum verhohlenen Hintergedanken. Um Viertel vor elf würde sie zusammen mit Tobias Borgheim einen Blinddarm operieren. Der erfahrene Arzt wollte sie in die Technik der endoskopischen Operation einführen, die er selbst als einziger im Marien-Krankenhaus praktizierte. Sie war begierig auf alles Neue, was sie dazu lernen konnte.

"Guten Tag, Frau Breckmann", begrüßte sie die Sekretärin des Chefarztes, Therese Neumayer. "Der Herr Professor erwartet sie schon."

Sie öffnete ihr die ledergepolsterte Tür zur Residenz von Walter Streithuber, und Ina trat ein.

"Ich begrüße Sie, Frau Breckmann", rief der Professor, legte sein Diktiergerät beiseite und stand auf. "Es tut mir leid, dass ich Sie an Ihrem ersten Arbeitstag nicht unter meine Fittiche nehmen konnte, wie sich das gehört." Er drückte ihr herzhaft die Hand. Ina spürte, wie ihr Herz klopfte. "Aber ich musste gestern einen Vortrag auf einem Kongress in Aachen halten." Er nahm ihren Arm und führte sie zu der ledernen Sitzgruppe vor dem Fenster seines Büros. "Dafür nehme ich mir jetzt ein bisschen mehr Zeit für Sie."

Sie nahmen Platz, und der Professor erkundigte sich nach ihren ersten Eindrücken, ließ sich von den Kliniken erzählen, in denen Ina gearbeitet hatte, und plauderte munter über sein geliebtes Marien-Krankenhaus.

Ina spähte mehrmals auf die Uhr, sie wollte auf keinen Fall zu spät in den OP kommen. Der Professor merkte es. Er fasste sich an die Stirn.

"Ich Idiot halte sie von der Arbeit ab!", rief er aus. "Sie operieren ja um Viertel vor elf einen Blinddarm mit Herrn Borgheim!" Er stand auf. "Schauen Sie dem Kollegen nur gut auf die Hände", sagte er, "von dem können Sie viel lernen. Der ist Privatdozent in Köln und arbeitet gerade an einer Studie über endoskopische Bauchraumoperationen." Ina folgte dem Chefarzt zur Tür. "Leider wird uns der Kollege nicht lange erhalten bleiben", bedauerte Streithuber, "die Uniklinik Köln hat ihn nur für ein Vierteljahr freigestellt."

Ina horchte auf. Sie schätzte Borgheim Ende dreißig, Anfang vierzig. Ein Mann also, der gerade an dem Gipfelsturm seiner Karriere arbeitete? Der würde ihr unter Umständen noch wichtig sein können. Sie beschloss, den Kontakt mit ihm zu suchen.

Der Professor verabschiedete sie herzlich.

"Weiter einen guten Anfang, junge Frau, und wenn mal irgendwo der Schuh drückt, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich."

Ina bedankte sich und steuerte den OP an. Es lief alles bestens. Auch ihr neuer Chef schien ein Prachtstück zu sein. Was sollte ihr passieren?

Borgheim operierte einen Leistenbruch. Er würde noch zehn Minuten brauchen. Ina nutzte die Zeit für einen Kaffee. Im Personalraum lag der Plan für das OP-Programm des kommenden Tages, des Mittwochs. Sie überflog es und erschrak - man hatte ihr die Leitung für eine komplizierte Dickdarmoperation zugeteilt. Ein Tumor war zu entfernen. Bisher hatte sie nur zweimal bei solchen Operationen assistiert. Abgesehen von den unzähligen Malen, wo sie als Krankenschwester bei Dickdarmoperationen assistiert hatte. Die Nacht würde wieder lang werden ...

4

Vandaalen hatte nicht erwartet, dass er einen Fall von Betriebsspionage aufklären, einen Verschwundenen aufspüren, oder einen als Selbstmord getarnten Mord aufklären sollte. Trotzdem war er enttäuscht, als die Frau ihm genau den Auftrag gab, mit dem er gerechnet hatte.

"Ich habe keine Beweise", sagte sie, "es ist nur so ein Gefühl." Das sagten fast alle Frauen, die glaubten, dass ihre Männer sie betrogen. Vandaalen hatte das schon unzählige Male gehört. Bei zwei Dritteln aller Aufträge, die er seit Gründung seines Detektivbüros vor drei Jahren übernommen hatte, war er gezwungen gewesen, sich mit Männern und Frauen zu befassen, deren Ehepartner davon überzeugt waren, von ihnen betrogen zu werden.

"Sie haben nicht den geringsten Anhaltspunkt?", fragte er, und es fiel ihm nicht ganz leicht, interessiert zu wirken.

"Natürlich habe ich Anhaltspunkte, sonst wäre ich nicht aus Köln hierhergefahren, um Sie zu treffen." Sie zündete sich die nächste Zigarette an. Es war bereits die vierte, seit sie sich vor einer halben Stunde an seinen Tisch gesetzt hatte. "Er macht verdächtig viel Nachtdienste."

"Muss er das nicht als Chirurg?"

"Er hat eine Sonderstellung. Sie müssen wissen, dass mein Mann Privatdozent an der Uni Köln ist. Man hat ihm eine ordentliche Professur in Aussicht gestellt. Deshalb arbeitet er seit über einem Jahr an einer Studie …" Sie unterbrach sich, weil die Kellnerin an den Tisch kam.

"Möchten Sie noch etwas trinken?"

Vandaalen nahm noch einen Milchkaffee, und Carolin Borgheim bestellte einen Sekt mit Orangensaft. Das Mädchen entfernte sich.

"Er untersucht den Ausbildungsstandard von Chirurgennachwuchs in den mittleren Krankenhäusern zwischen Koblenz und Aachen. Das weiß aber niemand, außer dem jeweiligen Chefarzt. Sechs Krankenhäuser will er untersuchen, und in jedem etwa ein Vierteljahr arbeiten. Seine Kollegen glauben, er würde über eine neue Operationsmethode forschen."

"Er müsste keinen Nachtdienst machen, macht aber trotzdem welchen?"

Sie nickte.

"Hat er vielleicht Geldsorgen?"

"Ich bitte Sie", die Frau machte ein fast beleidigtes Gesicht. "Unserer wirtschaftlichen Verhältnisse sind mehr als solide!"

Er registrierte diesen Satz und korrigierte seine geplante Honorarforderung um einige Scheine nach oben.

"Haben Sie denn mal nachgeprüft, ob er tatsächlich im Nachtdienst war, als er das vorgab?"

"Ich habe zwei, drei Mal in der Klinik angerufen", sie zuckte mit den Schultern, "er war jedes Mal unter der angegebenen Nummer zu erreichen."

"Sind Sie sicher, dass es eine Kliniknummer war?"

"Na hören Sie, Herr Vandaalen!" Wieder dieser beleidigte Blick. "Natürlich habe ich das!"

"Pardon - ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber ich muss alle Möglichkeiten ausschließen." Die Frau war nicht nur dünn, sie schien auch eine dünne Haut zu haben. Es war besser, sie wie ein rohes Ei zu behandeln.

"Tobias hatte vor drei Jahren mal etwas mit einer Studentin. Ich bin ihm auf die Schliche gekommen." Ihr Augen funkelten angriffslustig. "Das war sicher nicht das einzige Mal. Wenn ich ihn schon mal in der Uni abgeholt habe, war er immer von blonden Ärztinnen oder Studentinnen umgeben. Er steht auf blond, verstehen Sie?"

Die Kellnerin kam und stellte Kaffee und Sekt auf den Tisch. Als sie sich wieder entfernte, beugte Carolin Borgheim sich nach vorn und sagte flüsternd: "Ich habe ihm damals geschworen, dass ich ihn nicht nur verlassen, sondern ruinieren werde, wenn so etwas noch ein einziges Mal vorkommt."

Johannes Vandaalen wusste zwar, dass Frauen mit ihrer Intuition meistens nicht ganz verkehrt lagen, aber der Verdacht dieser Frau schien ihm doch auf ziemlich vagen Vermutungen zu beruhen. Die Rothaarige ihm gegenüber war jedenfalls eine typische Hysterikerin. Andererseits konnte er es sich kaum erlauben, einen Auftrag abzulehnen.

"Sagen Sie, Frau Borgheim - haben Sie sonst wirklich keinen Anhaltspunkt für einen Seitensprung Ihres Mannes?" Er beugte sich ebenfalls nach vorne, legte die Handflächen zusammen und stützte das Kinn auf die beiden Daumen, so dass die Innenkanten der Hände über Mund und Nase lagen, als würde er beten.

Carolin Borgheim hielt seinem prüfenden Blick nicht lange stand. Sie senkte den Blick.

"Er kümmert sich nicht mehr richtig um mich. Als hätte er das Interesse an mir verloren."

"Sie meinen, er schläft nicht mehr mit Ihnen", sagte Vandaalen gedehnt. Sie nickte stumm. Dass Männer und Frauen, die aus einer Beziehung ausstiegen, sich zuerst sexuell zurückzogen, wusste der Detektiv noch aus der Zeit, in der er als Seelsorger gearbeitet hatte. Und er hatte es auch selbst erlebt.

"Was ist jetzt?" Die Frau wurde ungeduldig. "Übernehmen Sie den Auftrag oder nicht?"

Vandaalen musterte sie immer noch. Natürlich würde er den Auftrag übernehmen. Sein Dispokredit war inzwischen schon um das Dreifache überzogen, und notfalls würde er sogar einen Hühnerdiebstahl aufklären. Bevor Carolin Borgheim am Wochenende angerufen hatte, hatte er sich sogar überlegt, vorübergehend einen Job als Kaufhausdetektiv zu übernehmen.

"Wie kommen Sie ausgerechnet auf meine Detektei?"

Ihr blassgelbes Gesicht verzog sich zu einem herben Grinsen.

"Mein Schwager hat einen Freund, der als Geschäftsführer in der Computerbranche arbeitet. Für dessen Chef haben Sie, wie mein Schwager erzählte, gute Arbeit geleistet."

Vandaalen erinnerte sich. Er hatte den Prokuristen dieses Chefs der Unterschlagung überführt. "Also gut, ich übernehme den Fall", sagte er langsam, "ich bin aber nicht billig."

"Das spielt keine Rolle", sagte sie energisch, "Qualität hat ihren Preis. Brauchen Sie einen Vorschuss?"

Wieder überraschte ihn die Frau. Normalerweise musste er seinen Kunden schonend beibringen, dass er Vorschuss nimmt. Und meistens machten sie dann lange Gesichter.

"Zweitausend Mark", sagte er.

Carolin Borgheim zog ein Scheckheft aus der Tasche und füllte ohne weiteren Kommentar einen Scheck aus. Ihre Lippen wurden zu schmalen Strichen dabei, und zwischen ihren Brauen erschien eine Falte, die ihr Gesicht noch strenger wirken ließ. Zum ersten Mal kam Vandaalen der Gedanke, dass er ihren Mann verstehen könnte, sollte er tatsächlich fremd gehen. Und ein zweiter Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Gab es für diese Frau womöglich noch andere Gründe - außer Eifersucht - ihren Mann der Untreue überführen zu wollen?

Sie reichte ihm den Scheck, ohne ihn anzuschauen, griff wieder in ihre Tasche und zog ein weißes DIN-A-4 Kuvert heraus.

"Hier sind Fotos von meinem Mann, Adresse der Klinik, Telefonnummern, Autokennzeichen - alles was Sie brauchen." Sie schob ihm das Kuvert über den Tisch. "Auch ein Terminplan für die nächsten zwei Wochen ist dabei. Ich habe am Wochenende in seinem Kalender herumspioniert."

Vandaalen zog die Unterlagen heraus. Die Fotos zeigten einen athletisch gebauten Sportsmann, auf den meistens solche Frauen flogen, die Vandaalen verächtlich ,Plastikdamen‘ zu nennen pflegte, weil sie ihn in der Regel an diese blöde Puppe erinnerte, mit der seine Schwester als Kind gespielt hat. Borgheims Gesicht schien ihm eine ausgewogenen Mischung aus John Wayne und Henry Ford zu sein.

"Ich erwarte von Ihnen eindeutige Beweise." Carolin Borgheim gebärdete sich nun nicht mehr wie eine Kundin, sondern wie der Personalchef eines Kaufhauses.

Oder wie der Bischof damals, in dem Jahr, bevor er mich feuerte, dachte Vandaalen.

"Am besten Fotos, vielleicht auch Briefe oder Tonbandmitschnitte. Jedenfalls brauche ich irgendetwas Hieb- und Stichfestes."

Wieder fiel Johannes der dringende Ton auf. Er ging aber nicht drauf ein, sondern nickte nur, als würde er nachdenken.

"Gut. Dann wollen wir mal sehen, was an Ihrem Verdacht dran ist."

5

Der Dienstagvormittag verlief fast friedlich. Ein Fehlalarm und einer dieser ,Selbstmordversuche‘, die Alexandra immer als Hilferufe oder Racheakte bezeichnete. Eine siebzehnjährige Schülerin hatte fünf oder sechs Schlaftabletten genommen, weil ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Mit fünf Schlaftabletten kann man unter Umständen ein Meerschweinchen oder einen jungen Hund ins Jenseits befördern - aber keinen Menschen. Vorsichtshalber aber brachte das Notarztteam das Mädchen dennoch auf die Intensivstation, wo ihr der Magen ausgespült wurde. Mit letzter Sicherheit ließ sich eben doch nicht ausschließen, dass die Schülerin wirklich nur fünf Tabletten genommen hatte.

Die Magenspülung bestätigte: Es war nicht mehr als ein halbes Dutzend Tabletten. Das Mädchen wurde zum Ausschlafen auf die Innere verlegt und würde morgen wieder in der Schule sitzen.

Alexandra war dankbar für den ruhigen Vormittag, denn sie hatte geplant, sich die endoskopische Blinddarmoperation anzuschauen, die Tobias Borgheim um Viertel vor elf durchführen wollte. Sie hatte von dieser Operationsmethode natürlich schon viel gelesen, aber bisher wurde sie vor allem in Unikliniken angewandt. Die Gelegenheit, sie einmal in Natura zu erleben und von einem Fachmann die Technik zu erlernen, wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Der Patient, dem der Blinddarm entfernt werden sollte, war ein halbwüchsiger Junge von vierzehn Jahren. Er lag schon anästhesiert und intubiert auf dem OP-Tisch in Saal 3, als Alexandra in den Waschraum trat, sich die Hände zu desinfizieren und Mantel, Haube und Mundschutz anzulegen.

Der OP-Saal war gerammelt voll. Alle Chirurgen, die nicht selbst in einem anderen Saal operieren mussten, waren versammelt. Selbst Lars Remmers von der Intensiv. Und natürlich sämtliche PJler. Die neue Chirurgin, Ina Breckmann, assistierte.

Alexandra nickte ihr grinsend zu. Seit ihrer Begegnung gestern im Kasino herrschte ein stilles Einvernehmen zwischen den beiden Frauen. Alexandra schätzte Kollegen, die jenseits aller Standesdünkel waren, und Ina Breckmann schien ihr so eine Ärztin zu sein. Die Wut von gestern Morgen hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst und war einer wachsenden Sympathie gewichen.

"Die Sache ist kinderleicht", die sonore, männliche Stimme Borgheims wurde laut. "Es ist wie bei einer Laparatomie. Sie setzen einfach einen kleinen Schnitt in die Bauchdecke - bitte, Frau Kollegin." Er nickte der neuen Ärztin zu, und Ina setzte mit dem Skalpell einen nicht einmal zwei Zentimeter langen Schnitt im rechten Unterbauch des Patienten.

"Und dann schieben Sie das Endoskop in den Bauchraum." Borgheim setzte ein starres Rohr auf die Wunde und drang in sie ein. "Mit der Sonde und dem Laser suchen sie sich den Weg durch das Laparatomie zum Appendix. Wenn Sie das integrierte Mikroskop nicht verwenden wollen, können sie die Bewegungen der Sonden auf dem Bildschirm kontrollieren."

Gebannt sahen alle auf den Monitor neben dem OP-Tisch. Die typischen Einschnürungen des Dickdarms wurden sichtbar. Und dann am Blinddarm der kleine, längliche Umriss des Appendix, des sogenannten Wurmfortsatzes.

Die Tür zum Waschraum öffnete sich, und der Chef trat ein.

"Hab' ich schon etwas versäumt?", flüsterte er Alexandra zu. Sie erklärte ihm den Stand der Operation.

"Und was ist, wenn der Appendix perforiert ist?", fragte der Oberarzt Helmut Höper.

"Das ist der entscheidende Punkt", antwortete Borgheim, "bei einem Durchbruch würde ich Ihnen empfehlen, auf das Endoskop zu verzichten und konservativ zu operieren. Das Risiko einer Peritonitis ist einfach zu groß, wenn sie das vereiterte Gewebe durch die Bauchdecke herausziehen." Er presste sein rechtes Auge an den Mikroskopaufsatz des Endoskops. "Aber in diesem Fall haben wir Glück. Der Appendix ist zwar feuerrot, wie sie auf dem Bildschirm sehen können, aber nicht perforiert."

Mit geübtem Chirurgenblick konnte Alexandra das entzündete Darmanhängsel auf dem Monitor gut von dem anderen Gewebe unterscheiden. Sie verfolgte mit, wie Borgheim den Wurmfortsatz mit Laser vom Dickdarm trennte und dann mit einer kleinen Sondenzange umklammerte. Zwei Minuten später zog er das entzündete Gewebe aus dem Endoskop. Sämtliche anwesenden Ärzte klatschten spontan Beifall.

"Die Vorteile liegen auf der Hand", sagte Borgheim während Ina die kleine Wunde vernähte. "Sie kennen Sie aus der Literatur: Kürzere Operationsdauer und damit eine verringerte Belastung des Patienten durch die Narkose, weit weniger Blutverlust und ein vermindertes Infektionsrisiko."

Alexandra war beeindruckt. Die Technik erschien ihr tatsächlich kinderleicht und vor allem zeitsparend.

"Was wollen Sie als Nächstes auf diese Art operieren, Herr Borgheim?" Walter Streithuber machte keinen Hehl aus seiner Anerkennung.

"Am liebsten eine Galle."

"Also gut", sagte der Chef, "dann wollen wir die nächste Gallenoperation so planen, dass wieder möglichst viele Kollegen zuschauen können.

Später sah Alexandra Borgheim und Ina Breckmann im Waschraum miteinander tuscheln. Für sie war es nur eine Frage der Zeit, bis der Chirurg die neue Ärztin erobert haben würde. Es sei denn, sie wäre ähnlich prinzipientreu wie Alexandra selbst - denn der Arzt war verheiratet. Und jede Frau konnte das an seinem Ehering erkennen. Wenn sie es erkennen wollte.

Alexandra ging hinter den beiden vorbei auf den Ausgang zu.

"Frau Heinze!" Sie blieb stehen und drehte sich um. Ina Breckmann kam auf sie zu. "Entschuldigen Sie", sie nahm die Notärztin am Arm und führte sie auf den Gang des OP-Traktes. "Ich hab' so ein schlechtes Gewissen wegen der Sache mit dem Parkplatz." Sie grinste verlegen. "Ich würde Sie gerne zum Essen einladen - als Wiedergutmachung sozusagen."

Die unerwartete Geste überraschte Alexandra zunächst. Aber sie gefiel ihr.

"Warum nicht?"

6

Sie parkten den dunkelblauen Wagen mit dem weißen Dach auf einem Waldparkplatz am Stadtrand. Es war ein 190er Daimler, Baujahr 1979, ein Diesel. Über einen Waldweg erreichten sie das Wohngebiet, das sich am Berghang über dem Rhein bis zum Waldrand erstreckte. Hier wohnten vor allem Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten. Der kleinere der beiden jungen Männer deutete auf eine Jugendstilvilla, die von einer hohen Zypressenhecke umgeben war.

"Das ist unser Haus."

Sie trugen dunkle Jogginganzüge, und jeder von ihnen hatte einen großen Rucksack auf den Rücken geschnallt.

"Hast du Schiss?" Mirko sah seinen Kumpel spöttisch an.

"Quatsch", stieß der um einen halben Kopf größere Patrick aus. "Wovor denn?"

"Gib's ruhig zu", grinste der dunkelhaarige etwa neunzehnjährige Mirko. "Beim ersten Mal hat man immer Schiss." Er war etwas untersetzt und hatte dunkle, dichte Locken.

"Also gut", sagte Patrick, "mir ist ein bisschen mulmig, weiter nichts." Im Gegensatz zu Mirko war er ziemlich schlaksig. Sein strohblondes, kurzes Haar hatte er notdürftig unter eine roten Baseballkappe versteckt.

"Verlass dich ganz auf mich!" Mirko wandte sich ab und schlich weiter auf die Villa zu. "Ich hab' das schon hundert Mal gemacht."

Gebückt pirschten sie sich an den Gartenzaun heran. Mirko zog einen Drahtschere aus dem Gürtel unter seiner Joggingjacke und begann den Maschendraht hinter der Hecke durchzuknipsen. Patricks Mund wurde trocken, und er musste schlucken, als er die Pistole im Gürtel seines Kumpanen sah.

"Bleib eng hinter mir!", flüsterte Mirko. "Und zieh jetzt deine Handschuh an!"

Jeder holte ein paar Lederhandschuh aus der Tasche seines Jogginganzuges und streifte sie über. In der Deckung der zahlreichen Sträucher des Villengartens schlichen sie durch das nasse Gras auf die Veranda des Hauses zu.

"Und wenn doch jemand da ist?", flüsterte Patrick.

Mirko drehte sich um und sah ihn scharf an.

"Sie sind auf der Beerdigung ihre Vaters, verflucht! Kapiert?"

Patrick senkte den Blick und nickte stumm.

"Wenn du zu viel Schiss hast, kannst du noch aussteigen."

Der Blonde mit der Baseballkappe schüttelte den Kopf.

"Also, dann reiß dich jetzt zusammen! So ein Job ist vor allem Nervensache. Geht das in deinen Schädel?", zischte Mirko. Wieder nickte Patrick.

Sie huschten über eine Treppe auf die Terrasse der Villa. Mirko holte eine Rolle Tesaband heraus.

"Jetzt pass gut auf - das nächste Mal, übernimmst du diesen Teil." Mit einem Glasschneider setzte er einen Schnitt in die Scheibe der Terrassentür, etwa in Höhe der Türklinke. Dann klebte er einige Streifen des Klebebands über den Schnitt und setzte noch einmal den Glasschneider an. In Sekundenschnelle hatte er eine fast kreisrunde Fläche von der Größe eines kleinen Tellers herausgeschnitten.

"Halt deine Mütze drunter!"

Patrick hielt seine Kappe unter den Schnitt, und Mirko löste das Klebeband von der Scheibe. Vorsichtig zog er die ausgeschnittenen Glasfläche aus dem Fenster und legte sie in Patricks Mütze. "Leg das in die Blumenkästen, aber mach keinen Lärm!"

Patrick trug das Glas zu den Dahlienkästen am Rande der Terrasse und legte sie vorsichtig darin ab. Als er sich wieder seinem Kumpanen zuwandte, streckte dieser gerade seine Hand durch das Loch in der Scheibe und legte auf der Innenseite der Tür den Griff um. Sekunden später waren sie im Haus.

Systematisch durchwühlten sie Zimmer um Zimmer. Mirko hatte es Patrick an dessen eigenem Zimmer demonstriert, wie man bei einem Einbruch nach Wertsachen sucht: Teppiche umschlagen, Sitzpolster herausnehmen oder aufschlitzen, Bücher aus den Regalen, Wäsche aus den Schränken, Schubladen aus Sekretären, Schreibtischen oder Kommoden auf dem Boden ausleeren.

Wie Mirko vorausgesehen hatte, blieben sie ungestört. Die Familie des Rechtsanwaltes, der dieses Haus gehörte, befand sich auf der Beerdigung ihres Vaters. Patrick hatte in seinem Leben noch nicht so viele Zeitung gelesen, wie in den letzten zwei Wochen. Vor allem den Teil mit den Todesanzeigen. Und am vergangenen Samstag hatten sie die Todesanzeige des Mannes gefunden, der bis zu seinem Tod in diesem Haus bei seinen Kindern gelebt hatte.

Die Trauerfeier war für drei Uhr angesetzt. Jetzt war halb vier. Mirko hatte zwei Stunden Zeit einkalkuliert.

Im Schlafzimmer fanden sie eine Schmuckschatulle, die Patrick in seinem Rucksack verschwinden ließ. Im Wohnzimmer stieß Mirko auf eine Münzsammlung und eine teure Stereoanlage.

"Bring zuerst die Boxen nach draußen!", zischte er und begann das Gerät abzubauen.

Während Patrick mit klopfendem Herzen seiner Anweisung nachkam und die Boxen nacheinander durch den Garten hinter die Hecke schaffte, stöberte Mirko im Arbeitszimmer herum. Alles, was ihm irgendwie von Wert erschien, stopfte er in seinen Rucksack: Anrufbeantworter, Faxgerät, Notebook und Diktiergerät.

Auf dem Weg in die Küche, im Wohnzimmer traf er den unsicheren Patrick.

"Und jetzt?", fragte er mit belegter Stimme.

"Stell dich nicht so an, du Hosenscheißer!" Mirko deutete energisch auf die Stereoanlage. "Raus mit dem Zeug!"

"Aber das können wir doch gar nicht alles auf einmal tragen", Patricks Stimme vibrierte vor Angst.

"Schau auf die Uhr!", fuhr ihn der andere an. "Wieviel Uhr ist?!"

"Fünf vor vier", flüsterte Patrick.

"Wieviel Zeit haben wir demnach noch laut Plan?'"

"Eine Stunde ..."

"Also beweg deinen Arsch!" Er ließ seinen eingeschüchterten Komplizen stehen und verschwand in der Küche. Während er dort die Schränke und Schubladen ausräumte - sogar den Kühlschrank verschonte er nicht - registrierte er befriedigt, wie Patrick die Anlage nach draußen schaffte.

Grinsend zog er ein halbes Dutzend Goldmünzen aus dem Eisfach des Kühlschranks. Seit vier Jahren lebte er von Einbrüchen und hatte gelernt, welche Verstecke die Leute für sicher hielten. Auch vierhundert Mark Bargeld fand er in einer Schublade des Küchenschrankes.

Kurz vor halb vier verließen sie den Garten. Dreimal mussten sie zwischen Hecke und Parkplatz durch den Wald hin und herlaufen, bis sie ihre Beute geborgen hatten.

"Genial", rief Patrick begeistert, als Mirko aus dem Parkplatz in die Landstraße einbog. "Einfach genial!" Der junge Mann - er war etwa zwei Jahre älter als Mirko - konnte sich kaum noch beruhigen vor Begeisterung. Nachdem die Spannung von ihm abgefallen war, geriet er völlig aus dem Häuschen.

"Dass das so einfach geht! Ich glaub's nicht!" Er schlug sich auf die Schenkel. "Geil! Absolut geil!"

"Krieg dich wieder, Alter!" grinste Mirko. "Und das nächste Mal erwarte ich bessere Nerven von dir, klar?"

"Kein Problem! Ich werd' cool sein, wie Arnold Schwarzenegger, ich schwör's!"

"Die Arbeit ist noch nicht zu Ende", sagte Mirko. "Jetzt müssen wir das Zeug verhökern."

"Wieviel Kohle bringt das, was glaubst du?" Patricks Gesicht glühte vor Begeisterung.

Mirko zuckte mit den Schultern.

"Viertausend, fünftausend - wenn wir Glück haben auch mehr."

"Geil!", staunte Patrick und riss sich die Baseballkappe vom Kopf.

"Also bleibst du dabei?" Mirko musterte den Blonden.

"Ja klar, was glaubst du denn?" Er lachte übertrieben. "So eine Lehre wie bei dir, krieg' ich doch nirgends geboten."

"Dann knöpfen wir uns am besten so schnell wie möglich das nächste Haus vor."

7

Gleich am Mittwoch begann Johannes Vandaalen mit der Beschattung des Arztes. In Köln, vor dem Haus der Borgheims, wartete er am frühen Morgen, bis der Mann mit seinem Wagen aus der Garage fuhr und hängte sich dann an seine Stoßstange. Er ließ ihn auf den Parkplatz des Krankenhausgeländes fahren und parkte sein Fahrzeug davor am Straßenrand. Hinter ihm her folgte er ihm durch den Krankenhausgarten und betrat nach ihm die Klinik. In der Patientencafeteria trank er einen Kaffee und dachte nach.

Natürlich konnte er sich jetzt Tag für Tag an Borgheims Fersen heften und ihn auf seinen Wegen zum Krankenhaus und zurück beobachten. Und wenn er Glück hatte, würde er ihn bei irgendeinem Rendezvous in irgendeinem Restaurant erwischen und fotografieren können. Aber dieser Glücksfall erschien ihm unwahrscheinlich. Es sei denn, Borgheim würde seine vorgeblichen Nachtdienste dazu benutzen, seine vermeintliche Freundin außerhalb des Krankenhauses zu treffen. Aber seine Frau hatte ja gesagt, dass sie ihn während des Nachtdienstes angerufen hatte. Zweimal, und jedes Mal sei er selbst am Apparat gewesen.

Am wahrscheinlichsten erschien es Vandaalen daher, dass der Mann seine heimliche Liebschaft - oder seine Liebschaften - innerhalb des Krankenhauses pflegte. Er musste sich also etwas einfallen lassen, wie er sich möglichst unauffällig im Krankenhaus bewegen und dem Arzt nachspionieren konnte.

Zunächst aber wollte er diese Nacht abwarten. Borgheim hatte nach dem Terminplan, den seine Frau dem Detektiven gegeben hatte, in dieser Nacht Dienst, und Vandaalen würde schon ein Trick einfallen, mit dem er sich unauffällig durch die Klinik bewegen konnte. Zunächst aber wollte er ausschließen, dass der Mann seiner Auftraggeberin am Abend die Klinik verließ.

Er trank seinen Kaffee aus und verließ die Klinik. Ein paar Häuser weiter fand er wie erwartet ein Blumengeschäft. Früher, als Priester, hatte er häufig Mitglieder seiner Pfarrgemeinde im Krankenhaus besucht. Von daher wusste er, dass es in der Nähe der meisten Kliniken Blumengeschäfte gab. Mit einem eingewickelten Asternstrauß kehrte er zurück in das Marien-Krankenhaus. Vor der Glasscheibe, hinter der ein weißhaariger Pförtner saß, blieb er stehen.

"Ich wollte auch Ihnen herzlich danken", sagte er und spähte auf das Namensschild des Pförtners. "Herr Ahlers, auch Sie leisten ja Ihren Beitrag, damit diese Klinik ihren Dienst an den Menschen versehen kann."

Ahlers sah ihn fragend an.

"Ich bin ja so dankbar, wissen Sie? Meine Mutter ist vor ein paar Tagen operiert worden, und Ihre Ärzte haben hervorragende Arbeit geleistet. Einfach toll."

Das Gesicht des Pförtners zeigte keine besondere Regung. Er nickte einfach nur.

"Sie fühlt sich so wohl hier", fuhr Vandaalen unbeirrt fort, "die Schwestern sind so zuvorkommend und die Ärzte so nett. Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie dankbar man in einer solch schweren Situation ist, einen geliebten Menschen in guten Händen zu wissen. Meine Mutter hatte Krebs, verstehen Sie?"

Ahlers nickte erneut.

"Doch, doch", widersprach er, "ich kann mir gut vorstellen, wie Ihnen zumute ist."

"Und in der ersten Nacht nach der Operation ging es ihr so schlecht." Vandaalen ließ dem Pförtner keine Zeit zum Nachdenken. "Wenn da nicht dieser nette Arzt gewesen wäre, hätte sie die Nacht nicht überlebt, sagt sie. Dieser Herr Dr. Borgheim. Ein toller Mann. Hat der heute eigentlich wieder Nachtdienst? Ich würde ihm so gern eine Flasche Wein vorbeibringen."

Der Pförtner gab seinem Drehstuhl einen Schwung und studierte den Dienstplan hinter sich an der Wand.

"Nein", wandte er sich wieder dem Mann vor der Glasscheibe zu. "Heute Nacht hat Frau Dr. Mahler Dienst."

"Na ja", Johannes zuckte mit den Schultern, "dann eben ein anderes Mal. Vielen Dank noch einmal für alles", sagte er überschwänglich und wandte sich den Aufzügen zu.

Kein Nachtdienst also. Und eine Ärztin hatte Dienst. Nun, das schien ja ganz verheißungsvoll zu beginnen. Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und schlenderte mit dem Blumenstrauß in der Linken über die chirurgische Station. Er tat so, als würde er die Zimmernummern studieren und prägte sich dabei die Örtlichkeiten genau ein: Stationszimmer, Arztzimmer, Teeküche. Er wollte in die Lage kommen, von außen die Fenster der jeweiligen Räume bestimmen zu können.

Im Aufenthaltsraum sah er durch das Fenster auf die Straße hinunter. Er schaute sich um, und als er sicher war, dass ihn keiner der zeitungslesenden Patienten beobachtete, klebte er ein briefmarkengroßes Etikett an die Fensterscheibe. Mit einem Fernglas würde er es von außen erkennen und so den Aufenthaltsraum bestimmen können. Von diesem Anhaltspunkt aus würde er dann auch sagen können, hinter welchem Fenster die anderen Räume lagen. Vielleicht würde ihm das noch nützlich werden.

Er setzte seinen Weg über die Station fort, zählte Türen und Fenster auf der Seite, die zur Straße hinlag und tat dabei so, als würde er eine bestimmte Zimmernummer suchen.

"Zu wem wollen Sie denn?", sprach ihn schließlich eine Schwester an.

"Frau Herschel, sie liegt auf der Gynäkologie."

"O - da sind Sie ja völlig falsch!" Die Schwester erklärte ihm freundlicherweise den Weg zur gynäkologischen Station. Vandaalen bedankte sich höflich und verließ die Chirurgie.

Nach der Stationstür entdeckte er einige Türen mit Namensschildern im Türrahmen. ,Oberarzt Dr. Helmut Höper‘ las er, und daneben: ,Privatdozent Dr. Tobias Borgheim‘.

"Na also", murmelte er. Er prägte sich die Anzahl der Türen vom Aufenthaltsraum bis zu dieser Tür ein, schätzte die Anzahl der Fenster, die zwischen beiden Räumen lagen und wandte sich dann dem Treppenhaus zu.

Später saß er in seinem Wagen vor der Vorderfront der Klinik und suchte mit dem Feldstecher die Fenster der zweiten Etage nach dem Aufkleber ab. Als er ihn ausgemacht hatte, fiel es ihm relativ leicht, das Fenster zu bestimmen, hinter dem Borgheims Büro liegen musste. Anschließend ging er zu Fuß in die Innenstadt und aß in einer Pizzeria zu Mittag. Johannes Vandaalen hoffte inständig, dass Borgheim tatsächlich der Don Juan war, für den seine Frau ihn hielt. Dann würde er ihn vielleicht heute Nacht schon in flagranti erwischen. Er wollte diesen langweiligen Auftrag so schnell wie möglich abhaken. Bei einer Zigarette und einem Esspresso überlegte er, auf welche Weise er sich heute Nacht in die Klinik einschleichen würde.

8

"Feierabend?" Tobias Borgheim war auf dem Weg zum Abendessen im Ärztekasino, als er Ina Breckmann in Privatkleidern auf der Treppe traf. Graue Stretchhosen und eine schwarze Lederjacke, die an der Taille äußerst raffiniert geschnitten war. Borgheim war wie elektrisiert von dem Anblick seiner neuen Kollegin.

"Ja - jetzt habe ich schon den dritten Tag hinter mir", sagte die Ärztin, und ihr zufriedener Gesichtsausdruck verriet, dass ihre ersten drei Arbeitstage gut gelaufen waren.

"Ich finde, Sie schlagen sich ganz prächtig bei uns." Borgheim setzte eine anerkennende Miene auf. "Sie haben verdammt flinke Hände. Den Dickdarm-Karzinom heute Morgen haben sie ja toll hingekriegt. Frau Mahler hat mir davon erzählt."

"War nicht so kompliziert", winkte Ina ab.

"Wohnen Sie in der Nähe?"

"Ja, im Personalwohnheim." Ina machte Anstalten weiterzugehen.

"Man fühlt sich ein bisschen verloren, wenn man so ganz neu in einer Klinik und in einer Stadt anfängt, nicht wahr?" Borgheim senkte die Stimme. Sanft, fast zärtlich klang sie jetzt. "Mir ging es genauso vor zwei Monaten."

"Die Arbeit hält mich davon ab, mich mit mir selbst zu beschäftigen."

"Ich würde Sie gerne einmal zum Essen einladen, Frau Breckmann", ließ der Arzt die Katze aus dem Sack. "Vielleicht nächste Woche? Bitte verstehen Sie das nicht falsch - ich finde Sie einfach sehr nett, und würde Sie gern näher kennenlernen."

"So, so", die blonde Frau neigte den Kopf und musterte ihn spöttisch. "Vielleicht", sagte sie dann, "eine gute Nacht wünsche ich Ihnen, Herr Borgheim." Sie wandte sich und lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Borgheim sah ihr fasziniert hinterher.

Während des Abendessens kehrten seine Gedanken immer wieder zu ihr zurück. Er bemerkte dieses leichte Prickeln im Bauch, dass er immer spürte, wenn er sich verliebt hatte. Er kannte sich gut und wusste, dass dieses schöne und erregende Gefühl ihn solange nicht mehr verlassen würde, bis er diese Frau erobert hatte. Das war ihm schon vor zwanzig Jahren so gegangen, und würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch in den nächsten zwanzig Jahren nicht ändern.

Sie hat so etwas Rätselhaftes in ihren grünen Augen, dachte er und lächelte versonnen. Und die ganze Art, wie sie geht und sich bewegt ... Er schüttelte den Kopf, weil das Prickeln jetzt seinen ganzen Körper erfüllte. Es kam ihm vor, als hätte er selten eine Frau gesehen, die sich derart erotisch bewegte. Und natürlich bewunderte er sie auch ein wenig - immerhin hatte sie mit Mitte dreißig ihren Facharzt, und er hatte ja selbst gesehen, wie sicher und geschickt sie operierte.

Wenn du nicht aufpasst, wirst du dich noch richtig in sie verlieben, Junge, dachte er, also reiß dich zusammen!

Er zwang seine Gedanken zu der Arbeit, mit der er sich heute Nacht beschäftigen wollte. Und zu dem Rendezvous, das er für elf Uhr geplant hatte. Es wollte sich keine rechte Vorfreude einstellen. Die Eroberung war schon wieder viel zu abgestanden ...

Gegen acht Uhr saß er in seinem Büro und schaltete seinen PC ein. Die nächsten drei Stunden würde er hier verbringen. Carolin pflegte manchmal anzurufen. Nicht oft - aber zwei oder dreimal hatte sie kontrolliert, ob er auch tatsächlich im Nachtdienst war. Jedenfalls glaubte er, dass es Überwachungsanrufe waren. Und jedes Mal hatte sie gegen zehn Uhr angerufen. Zwar war er jederzeit über den Piepser zu erreichen, aber er wollte nicht gestört werden. Nachher, wenn er unten in der Röntgenabteilung bei Uschi Thamm sein würde.

Er lud ein Spiel auf seinen PC und spielte zwanzig Minuten. Es war ein Logikspiel. Damit brachte er gern seine Hirnzellen in Schwung, bevor er an die Arbeit ging. Zuhause, bei Carolin, konnte er sich das nicht erlauben. Sie kam fast alle zwanzig Minuten ins Arbeitszimmer hinein, wollte wissen, wann er endlich fertig wäre, und nörgelte grundsätzlich, wenn sie ihn beim Spielen ertappte. Sie wollte einfach nicht verstehen, dass das seine Art war, sich auf die Arbeit vorzubereiten. Sie war wie ein kleines Kind. Jede Minute, die er zu Hause war, sollte er sich um sie kümmern. Immer hing sie an ihm, und betrachtete es als persönliche Kränkung, wenn er sich bis spät in die Nacht mit seiner Arbeit, mit einem Buch oder mit sonst was beschäftigte. Deswegen hatte er irgendwann einmal vorgegeben, Nachtdienste machen zu müssen. Hier hatte er wenigstens seine Ruhe. Die kleinen und großen Flirts ab und zu waren eher Nebenprodukte dieser Flucht vor Carolin.

Der Gedanke an seine Frau bedrückte Borgheim. Die Ehe mit ihr war seit etwa drei oder vier Jahren nicht mehr als eine alte Gewohnheit.

"Und in letzter Zeit eine schlechte Gewohnheit", murmelte er. Die Unselbstständigkeit seiner Frau nervte ihn, ihre Kettenraucherei stieß ihn ab. Und in letzter Zeit hatte sie auch noch angefangen, regelmäßig ins Spielkasino nach Aachen zu fahren.

Seit ein paar Monaten drängte sich Borgheim immer wieder der Gedanke an eine Scheidung auf. Er schob ihn jedes Mal beiseite. Auch ohne seinen Anwalt wusste er, dass eine Scheidung ihn ruinieren würde. Carolin war auch im Hinblick auf Geld unersättlich.

Bis um Viertel vor elf dokumentierte Borgheim seine Beobachtungen aus dem OP. Er hatte ein halbes Notizbuch vollgekritzelt seit seinem letzten Nachtdienst vorige Woche. Die Kollegen hier wussten nicht, dass er an einer Veröffentlichung über chirurgische Ausbildungsstandards arbeitete. Außer dem Chef natürlich. Glücklicherweise hatte Walter Streithuber vollstes Verständnis dafür gehabt, dass Chirurgen sich mehr Mühe im Umgang mit PJlern und Assistenzärzten geben würden als sie es normalerweise taten, wenn sie wüssten, dass sie beobachtet werden.

Borgheim kam gut voran. Ganz fertig wurde er nicht. Deswegen ließ er den Computer angeschaltet.

"Erst mal das Vergnügen, dann läuft die Arbeit wieder doppelt so gut", grinste er sich im Spiegel an, der über seinem Waschbecken hing. Er zog sich seinen Arztmantel über, rief die Pforte an: "Ich bin über meinen Piepser zu erreichen" - und verließ das Büro.

Vor der chirurgischen Station irrte ein nervöser, bärtiger Mann herum. Mit der linken Faust hielt er einen Blumenstrauß umklammert. Borgheim hätte wetten können, dass er die Gynäkologie suchte. Eine richtige Vermutung, wie sich schnell bestätigte.

"Können Sie mir sagen, wie ich auf die gynäkologische Station komme", sprach ihn der Mann mit unsicherer Stimme an. Wahrscheinlich war er gerade Vater geworden.

Borgheim grinste und erklärte ihm den Weg.

9

Der Kofferraum seines Kombis war gut ausgestattet. Sämtliche Requisiten, die er erfahrungsgemäß bei durchschnittlichen Einsätzen brauchte, hatte Johannes Vandaalen hier verstaut.

Er fuhr am späten Nachmittag in den Stadtwald, machte ein Nickerchen und stellte sich den Wecker seiner Armbanduhr auf achtzehn Uhr. Etwa eine Stunde lang schlief er tief und fest. Er hatte es gelernt, in jeder Situation zu schlafen. Aus dem Kofferraum holte er die Sachen, die er brauchte: ein großkariertes, grünes Sakko, dunkle Hosen mit Bügelfalten, blank gewienerte, schwarze Schuhe, Perücke, schwarze Hornbrille und einen falschen Bart.

Auf dem Beifahrersitz zog er sich um. Prüfend blickte er in den großen Spiegel, den er sich auf die Sonnenblende des über der Windschutzscheibe montiert hatte und stopfte sorgfältig seine langen Haarsträhnen unter das dunkle Kunsthaar.

Gegen sieben Uhr parkte er seinen alten Kombi vor der Klinik. Schnell hatte er Borgheims Bürofenster ausgemacht. Es war noch dunkel. Vandaalen glaubte nicht, dass der Arzt um die Zeit schon mit einer Frau beschäftigt war. Das sprach gegen alle seine Erfahrung. Wenn er tatsächlich eine Geliebte in der Klinik haben sollte, würde die beiden kaum zur Sache kommen, bevor sich der Klinikbetrieb nicht etwas beruhigt hatte. Außerdem hatte er in den letzten Jahren die Beobachtung gemacht, dass Paare, die sich heimlich trafen, Lichtquellen bevorzugten. Und sei es nur eine Kerze. Das Bürofenster aber war nicht erleuchtet.

Also schaltete Vandaalen sein Autoradio ein, schob eine Kassette mit alten Stones-Songs ins Kassettenfach und wartete. Nach einer knappen Stunde - die Borduhr zeigte kurz nach sieben - ging das Licht in Borgheims Büro an. Vandaalen rauchte die Zigarette zu Ende, die er sich gerade angezündet hatte und schaltete Mick Jagger ab. Aus dem abschließbaren Fach unter der Rückbank - eine Spezialwerkstatt in Holland hatte seinen Kombi mit einer Reihe von Geheimfächern ausgestattet - angelte er eine kleine Kodak, ein Miniaturaufnahmegerät und ein winziges, hoch empfindliches Außenmikrofon. Lauter komplizierte Elektronik, für deren Anschaffung er vor drei Jahren einen fünfstelligen Kredit aufgenommen hatte. Noch heute zahlte er ihn ab.

Seine Waffe ließ er im Auto. In flagranti ertappte Ehemänner pflegten nach seiner Erfahrung nicht gewalttätig zu werden. Er nahm den immer noch verpackten Nelkenstrauß und zog los.

Der Pförtner ließ ihn ohne weiteres hinein. Über das Treppenhaus gelangte er in die zweite Etage. Prüfend sah er sich um. Durch die offene Stationstür der Chirurgie sah er einige Schwestern über den Gang huschen. Er bog um die Ecke, an der ein Hinweisschild den Weg zu gynäkologischen Station wies. An die Wand gepresst spähte er vorsichtig zurück. Keine Schwester auf der Chirurgie mehr zu sehen. Auch hinter der großen, zweiflügligen Milchglastür der Intensivstation schien alles ruhig zu sein.

Vandaalen schlenderte aus seiner Deckung und ging auf die Bürotür Borgheims zu. Wenn ihn jemand ansprechen sollte, würde er die Nummer mit der Gynäkologischen bringen. Noch einmal sah er sich nach allen Seiten um, dann presste er das kleine Außenmikrofon an die Tür des Arztes. Er lauschte. Aus dem Mikro waren deutlich die klappernden Geräusche einer Tastatur zu hören. Borgheim arbeitete also am PC.

Der Detektiv verschwand wieder in dem Zwischengang, der zum Anbau mit der Gynäkologie führte und dachte nach. Er hatte eigentlich nur eine Möglichkeit: Abwarten, bis Borgheim mit seiner Arbeit fertig war, und schauen, ob er sich dann mit einer Frau treffen würde.

Vandaalen setzte sich auf einen der Stühle vor der Intensivstation. Von hier aus hatte er das Büro im Blick. Er würde einfach so tun, als wäre er ein werdender Vater, dem während der Wehen seiner Frau schlecht geworden war.

"Und jetzt warte ich hier auf die gute Nachricht", grinste er.

Er musste lange warten. Aber das war er gewöhnt. Es dauerte fast vier Stunden, bis Borgheim aus dem Büro kam. Er öffnete die Tür in einem Augenblick, in dem Vandaalen gerade ein wenig davor auf und ab ging, um sich die Füße zu vertreten. Er zog die Nummer des nervösen Vater-in-Hoffnungen ab und ließ sich den Weg zur Wöchnerinnenstation erklären.