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Hauptsache gestört – müssen wir alle zur Therapie?
In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft mit hohem Leistungsdruck nehmen psychische Probleme zwangsläufig zu. Die drei Behandlungsmethoden, die in Deutschland von den Krankenkassen anerkannt werden – Tiefenpsychologische Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie – reagieren darauf, indem sie jeder psychischen Störung Krankheitswert zuweisen. Arbeitssucht, Internetsucht, Burn-out, Depression usw. – jedes Problem erscheint plötzlich therapiewürdig. Gleichzeitig steigt die Einnahme etwa von Antidepressiva beinahe um das Fünffache: Ein Volk wird für psychisch pathologisiert und psychopharmakologisch angefüttert.
Michael Mary wirft einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Psychotherapie. Denn seit sie unter staatliche Aufsicht gestellt ist, geht es mit ihr bergab. Um Menschen mit normalen Problemen oder durch Krisen begleiten zu können, müssen sie für psychisch krank erklärt und in ein fragwürdiges Diagnose- und Behandlungssystem gezwängt werden. Dabei wird so getan, als könnte Psychotherapie wissenschaftlich sein, als wären Gutachten und Diagnosen objektiv und als könnte Effizienz garantiert werden.
Der Autor zeigt aber, dass die meisten psychischen Probleme keinen Krankheitswert haben, sondern in Wahrheit schon den Keim zu ihrer Lösung in sich bergen. Daher kann nur ein Therapeut, der sich nicht an Vorgaben und Ziffern orientiert, sondern der sich auf sein Gegenüber einlässt, nicht in Form einer Behandlung, sondern nur in Form einer Beletigung gemeinsam mit dem Klienten einen Weg aus einer Krise finden. Zudem entwirft der Autor im Buch den Grundriss einer „Psychotherapie des Graubereichs“. Damit ist eine Psychotherapie gemeint, die in psychischen Problemen ganz normale Phänomene sieht - die unvermeidbar in einer Gesellschaft entstehen, in der man nicht mehr mit einer einzigen Identität auskommt, in der man nicht mehr nur eine Person sein kann, in der man nicht über eine klar definierte Persönlichkeit verfügt, sondern in der man gezwungen ist, 'viele' Personen zu sein.
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Seitenzahl: 318
Michael Mary
AB AUF DIE COUCH!
Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten
Karl Blessing Verlag
1. Auflage 2013Copyright by Michael Mary und Karl Blessing Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: Christine Roithner Verlagsservice, BreitenaichISBN 978-3-641-10218-0www.blessing-verlag.de
Inhalt
VORWORT
EINLEITUNG
EINE SKIZZE: INTERESSENGRUPPEN, DIE DIE PSYCHOTHERAPIE BESTIMMEN
IWOZU GIBT ES DIE PSYCHOTHERAPIE?
IIDER BEDARF AN PSYCHOTHERAPIE NIMMT STETIG ZU
Individualität früher: ein einziges Ich
Die moderne Gesellschaft: ein Puzzle
Individualität heute: viele unterschiedliche Ichs
Probleme mit der Identität
Großer Spielraum für Probleme
Die Persönlichkeit ist multipel: Psychische Probleme gehören heute dazu
IIIWAS EINE MODERNE PSYCHOTHERAPIE LEISTEN SOLLTE
Offenheit
Bezogenheit
Flexibilität
IVIM STAATLICHEN AUFTRAG – VON DA AN GING’S BERGAB
Das Psychotherapiegesetz
Behandlungsmonopole durch Richtlinientherapie
Klassifizierung durch Diagnosen
Das Rosenhan-Experiment
Der Gutachtenzwang
Die Dokumentationspflicht
VDIE PSYCHOTHERAPIE IM WÜRGEGRIFF DER ÖKONOMIE
Das Qualitätsmanagement
Die Effektivitätskontrolle
Schematisierte Psychotherapie
Ungewisse Zukunft
Boni für Ärzte, Renditevorgabe und Kostenminimierung
VIDIE EROBERUNG DES GRAUBEREICHS – WIE DIE MENSCHEN PATHOLOGISIERT WERDEN
Der Krake wächst
Psychische Modelle: fragwürdige Vorstellungen
Das Modell der ganzen Person
Defizitorientierung
Therapeutische Wisserei
Steuerung des Begehrens
Wisserei schafft Patienten
Wissenschaftliche Scheinobjektivität
Der Einfluss der Pharmaindustrie
Beachtet oder nicht beachtet?
Das Leben: zu bunt für einfache Konzepte
VIIVOM SINN PSYCHISCHER STÖRUNGEN UND DEM SOZIALEN BEDARF AN PSYCHISCHEN AUFFÄLLIGKEITEN
Vom Sinn eines Burn-out
ADHS
Depressionen
Aufstand der Psychen
Fazit zur Richtlinienpsychotherapie
VIIIRADIKAL AM PROBLEM ORIENTIERT – EINE PSYCHOTHERAPIE DES GRAUBEREICHS
Das Wesen von Problemen: Identitäten im Konflikt
Die Aufgaben der Identität
Welches Bild man sich von der komplexen Psyche machen kann
Wie Probleme ihre eigenen Lösungen enthalten
Eine Psychotherapie der Identitäten
Die Lösungsfrage lautet nicht ›was‹, sondern ›wer‹
Problemformen
Nicht-therapeutische Lösungen
Alternativen zur Richtlinienpsychotherapie
PSYCHOTHERAPIE IST EINE KUNST DES VERSTEHENS
NAMENSREGISTER
VORWORT
Die Entwicklung der Psychotherapie beobachte ich bereits seit etlichen Jahren mit wachsendem Unbehagen. Im Jahr 2011 wurde mir die Ehre zuteil, einen Vortrag auf den Lindauer Psychotherapiewochen zu halten und ein Seminar zu geben. Dort traf ich auf eine große Zahl etablierter Psychotherapeuten, hörte Vorträge anderer Referenten, nahm an Diskussionen teil und beobachtete die Reaktionen der mehr als 1200 Teilnehmer. Die Szene schien vorwiegend mit sich selbst befasst zu sein, man sprach in oft unnötig verklausulierter Fachsprache und tauschte eifrig neue Ergebnisse zur ›Behandlung‹ der ›Patienten‹ oder zum Umgang mit ›Fällen‹ aus. In der Woche, die ich mich dort aufhielt, wuchs der Eindruck, mich in einer Art geschlossener Gesellschaft zu befinden. Diese Erfahrungen in Lindau wurden zur Initialzündung dafür, dieses Buch zu schreiben.
Ein Buch wie das vorliegende kann wahrscheinlich nur jemand schreiben, der keiner psychotherapeutischen Szene angehört, keine Rücksicht auf Kollegen, Berufsverbände oder universitäre Institutionen nehmen muss und kein Interesse an einer staatlichen Anerkennung seiner Arbeit hat. Vorab gab ich das Manuskript einigen Psychotherapeuten zur Lektüre, das Feedback lautete zusammengefasst: Endlich sagt mal jemand, wie es wirklich ist.
Wie ist es denn? Befindet sich die Psychotherapie tatsächlich auf Abwegen, wie der Untertitel dieses Buches behauptet? Wenn man die Entwicklung der modernen Psychotherapie aufmerksam beobachtet, spricht vieles für diese These. Lassen Sie mich einige Anhaltspunkte aufzählen:
Psychotherapie ist heute keine offene Angelegenheit mehr, sondern eine staatlich reglementierte Richtlinientherapie. Diese nimmt für sich eine Menge an Vorzügen in Anspruch, die man in der Zeit vor der staatlichen Reglementierung nicht mit Psychotherapie zusammenbrachte.
Sie glaubt die Psyche erforschen zu könnenSie ordnet psychische Zustände in von ihr konstruierte Diagnosekategorien einSie gibt standardisierte Behandlungsrichtlinien vorSie definiert ständig neue KrankheitsbilderSie greift wie eine Krake um sich, indem sie ganze Bevölkerungsteile für psychisch krank erklärtSie misst lebendige Menschen an von ihr erfundenen psychischen ModellenSie entwickelt Vorstellungen eines psychisch korrekten Lebens und LiebensSie spielt sich auf, als ob sie eine Wissenschaft wäreKurzum: Sie beteiligt sich in geradezu unerträglicher Weise am grassierenden Machbarkeitsglauben und dem dazugehörenden Lifemanagement.
Dieses und anderes, was Sie in diesem Buch erfahren werden, weist darauf hin, dass sich die Psychotherapie vom Individuum mehr und mehr entfernt und dass sie im Begriff ist, die Psyche zu verdinglichen. Sie geht zunehmend so vor, als wäre sie nicht länger Psychotherapie, sondern eine Medizin der Seele. Wie ich zeigen werde, hat dies gravierende Folgen für die Menschen, die psychische Unterstützung suchen.
Paradoxerweise wird die problematische Entwicklung gerade durch die breite Anerkennung forciert beziehungsweise erzwungen, welche die Psychotherapie in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Denn sie muss sich zunehmend den ökonomischen und bürokratischen Erfordernissen des Gesundheitssystems unterwerfen, in das sie eingegliedert wurde. Dazu werden, wie schon in der Medizin, auch im psychotherapeutischen Bereich starre Bedarfsplanungen aufgestellt, allgemeingültige Behandlungsschemata festgelegt, Kosten und Nutzen kalkuliert, Töpfe gedeckelt, Behandlungsmethoden zertifiziert oder ausgeschlossen, Richtlinien und Qualitätsstandards gesetzt und anderes mehr, das sich grundsätzlich nicht mit einer menschenwürdigen Psychotherapie verträgt.
Der fatale Machbarkeitsglaube des Managements, die harten Mechanismen des Marktes, eine von diversen Interessengruppen forcierte Scheinwissenschaftlichkeit und der Einfluss der in der psychologischen und psychiatrischen Forschung bestens vertretenen Pharmaindustrie breiten sich rapide auf dem psychotherapeutischen Feld aus. Die Psychotherapie ist, wie schon vor ihr die Medizin, zu einem Spielfeld mächtiger Gruppen und Verbände geworden. Der Markt erobert hier allerdings einen gesellschaftlichen Bereich, der sich ausdrücklich nicht mit Waren und Fakten, sondern mit Emotionen und mit Sinn befasst.
Die Psychotherapie war für das Individuum gedacht und einzig zu seiner persönlichen Begleitung ins Leben gerufen worden. Die Richtlinienpsychotherapie ignoriert das und begegnet psychischen Phänomenen wie technischen, unbestimmbaren Situationen wie eindeutigen, unüberschaubaren Zusammenhängen wie klassifizierbaren. Psychotherapeuten führen sich zunehmend wie Ingenieure und Operateure der Seele auf. Damit läuft die Psychotherapie Gefahr, ihre Besonderheit zu verlieren und ihren ureigenen sozialen Auftrag aufzugeben.
Worin besteht das Einzigartige der Psychotherapie, und worin besteht ihr ursprünglicher Auftrag? Sie befasst sich ihrem Wesen nach mit existenziellen und zutiefst individuellen Zusammenhängen. Sie dient dem Einzelnen beim Finden eines verlorenen Sinns. In dieser Orientierungssuche kann sie weder den Finger auf objektive Ursachen legen noch Lösungswege vorgeben. Verlorener Sinn kann nicht verschrieben werden wie ein Antibiotikum oder ein Hormon und ist auch nicht durch ein Hirnimplantat einpflanzbar. Die Psyche lässt sich, anders als der Körper, nicht behandeln, sie gestattet keine Eingriffe von außen, keine Operationen und Interventionen. Der konkret gesuchte Sinn muss in jeder Psyche neu aufgebaut werden, was unter den Bedingungen einer immer komplexer und unüberschaubar werdenden inneren und äußeren Welt oft ein schwieriger Prozess ist.
Die Psychotherapie befasst sich nicht mit Dingen, nicht mit Fakten, nicht mit Ursachen – sondern mit unüberschaubaren Zusammenhängen und hat dazu nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Ein Psychotherapeut kann seinem Klienten kommunikative Angebote machen; und dass der Einzelne diese annimmt und Sinn darin findet, darauf muss der Therapeut hoffen, aber darauf zählen kann er nicht.
Auch die fortschrittlichste Psychotherapie kann nicht behandeln. Ihre besondere soziale Aufgabe liegt darin, Menschen durch schwierige und existenziell wichtige Phasen hindurch zu begleiten.
Doch unbeeindruckt davon, dass man psychischen Zusammenhängen weder auf medizinische noch auf technische noch auf wissenschaftliche Weise gerecht werden kann, versucht sich die heutige Richtlinienpsychotherapie genau daran; und deshalb befindet sie sich meiner Ansicht nach auf Abwegen. Diese Abwege aufzuzeigen und zugleich Alternativen zu dieser fragwürdigen Entwicklung anzudeuten ist die Intention dieses Buches.
Michael Mary, Januar 2013
EINLEITUNG
Lassen Sie mich zuerst einen kurzen Überblick darüber geben, was Sie in diesem Buch erwartet.
Ganz am Anfang steht, sozusagen als Vorabskizze, ein kurzer Überblick über die Interessengruppen, die das Feld der Psychotherapie bestellen; und zwar ohne Ausnahme im jeweils eigenen Interesse.
Im ersten Abschnitt erläutere ich dann die grundlegende Frage, wozu es die Psychotherapie überhaupt gibt. Warum gehen Menschen mit ihren psychischen Problemen nicht zum Arzt oder zum Psychiater? Wozu ist ein eigener Berufsstand entstanden? Worin besteht die soziale Aufgabe der Psychotherapie?
Es ist unstrittig, dass psychische Vorgänge in unserer Gesellschaft kontinuierlich an Bedeutung gewinnen und dass Menschen immer öfter unter psychischen Belastungen leiden. Ich werde im zweiten Kapitel darlegen, dass diese Symptome keineswegs den ihnen unterstellten Krankheitswert haben, sondern unvermeidbar zu einem ganz normalen Leben in einer komplexen Gesellschaft und einer individualisierten Welt gehören.
Im dritten Teil werde ich darstellen, wie eine Psychotherapie beschaffen sein sollte, die ihrem sozialen Auftrag gerecht wird, indem sie Flexibilität, Methodenvielfalt und Offenheit menschlichen Situationen und individuellen Lösungen gegenüber zeigt, weil sie anders mit den schwer greifbaren Dingen des psychischen Lebens nicht umgehen könnte.
Im vierten Kapitel zeige ich, dass die Richtlinienpsychotherapie diese Bedingungen längst nicht mehr erfüllt. Klassifizierung von psychischen Zuständen, ausufernde Bürokratie und die Ökonomisierung psychischer Behandlung rauben der Psychotherapie ihre Seele. Die Konsequenzen einer solchen, ökonomisch und politisch bestimmten Entwicklung sind uns vom ärztlichen Gesundheitssystem her bekannt. Die Medizin entfernt sich zunehmend vom Patienten, der längst ein Objekt mächtiger Interessengruppen geworden ist. Demgegenüber wirkt die relativ junge Psychotherapie zwar unschuldig, doch der Schein trügt. Auch sie ist dabei, sich in ein von Interessenvertretern dominiertes System zu verwandeln, in dem es um die Betroffenen erst an letzter Stelle geht. Die staatliche Anerkennung und Finanzierung einer Psychotherapie ist nämlich an problematische Bedingungen geknüpft. Diese lauten Diagnose-, Gutachten- und Dokumentationszwang.
Der fünfte Teil zeigt, wie sehr sich die Psychotherapie im Würgegriff der Ökonomie befindet, unter anderem durch Ergebnisdruck und fragwürdige Evidenzanforderungen. Im Schatten dieser Zwänge tritt das Paradox der gegenwärtigen Entwicklung vollends hervor:
Eine Kunst, deren ureigene Aufgabe es ist, sich mit nicht klassifizierbaren Dingen zu befassen, hat sich dem Zwang zur Klassifizierung ergeben und arbeitet damit gewissermaßen gegen sich selbst.
Wie alle gesellschaftlich etablierten Systeme ist auch die Psychotherapie in erster Linie an ihrem eigenen Erhalt interessiert. Sie will ihren Platz an den Töpfen der Kassen und die Zahl ihrer Klienten absichern. Um ihre Existenz zu rechtfertigen, scheut sie sich nicht, große Bevölkerungsteile für psychisch krank zu erklären. Sie hat sich darangemacht, den großen Graubereich ganz normaler psychischer Probleme zu erobern, worauf ich im sechsten Teil des Buches eingehe.
Um diese Pathologisierung zu rechtfertigen, hantiert die Richtlinienpsychotherapie mit anachronistischen Vorstellungen und hält zu großen Teilen an fragwürdigen Persönlichkeitsmodellen und der absurden Idee der ›ganzen Person‹ fest. Sie gibt sich einen wissenschaftlichen Anschein und bildet eine Schar von scheinbar Wissenden aus, die Vorstellungen vom psychisch korrekten Leben aufbauen und verbreiten. Defizitorientierung, Besserwisserei und Arroganz den Patienten gegenüber sowie Scheinwissenschaftlichkeit können sich so unter dem Mantel der etablierten Psychotherapie ausbreiten.
Im siebten Kapitel nehme ich dann eine andere Sichtweise auf psychische Probleme ein, indem ich nach dem Sinn frage, den grassierende psychische Symptome für die Gesellschaft liefern. An solchen massenhaft auftretenden psychischen Phänomenen besteht offenbar gesellschaftlicher Bedarf. Man möchte geradezu eine Lanze für manche psychische Phänomene brechen und behaupten, dass eine Gemeinschaft, die massenhaft psychische Auffälligkeiten produziert, auf derartige Korrektive offenbar angewiesen ist.
Der achte und letzte Teil befasst sich mit den Alternativen. Womit würde sich eine Psychotherapie befassen, die von den geschilderten Zwängen befreit ist und die sich ganz ihrer Kernaufgabe – der persönlich-menschlichen Begleitung – widmen kann? Was bleibt einer solchen Psychotherapie? Eine ganze Menge. Komplexe und unüberschaubare Bedingungen wie die, in denen wir heute leben, erfordern es, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Psychotherapie sollte sich ausschließlich auf das Problem konzentrieren, das den Einzelnen in seiner jeweiligen Lebenslage beschäftigt und das er für sich lösen will. Es geht längst nicht mehr darum, ein ›ganzer Mensch‹ oder eine ›gereifte Persönlichkeit‹ zu sein oder den ›richtigen Beziehungsstil‹ zu entwickeln. Es geht nicht einmal mehr darum, psychisch ›gesund‹ zu werden, weil niemand definieren kann, was das sein soll. Es geht für den Einzelnen heute darum, den nächsten Schritt zu tun, einen Schritt, der ihm an einem schwierigen Abschnitt seines Lebensweges nicht allein, sondern nur mit unterstützender Begleitung gelingen mag. Einen Schritt zudem, von dem auch der Psychotherapeut nicht weiß, wohin er den Betreffenden führen wird.
Eine strikt am jeweiligen Problem orientierte Psychotherapie ist möglich, da psychische Störungen in den allermeisten Fällen durch Konflikte ausgelöst werden, die jemand mit sich selbst oder anderen Menschen hat. Solche Konflikte zu bewältigen erfordert einen therapeutischen Umgang mit Identitäten und führt zu einer für die meisten Menschen verblüffenden Erkenntnis: dass nämlich ein jedes Problem seine Lösung bereits in sich trägt.
Eine konfliktorientierte Psychotherapie lässt den Defizit-Ansatz der Richtlinientherapie hinter sich und wendet sich den Lösungen zu, an denen der Klient bereits arbeitet. Der Klient weiß, wohin er will, und es geht darum, seine unbewusste angedeutete Lösung zu entdecken und zu erforschen. Dazu sind Offenheit, Neugierde, Flexibilität und vor allem Bescheidenheit nötig. Eine Bescheidenheit, wie sie sich einstellt, wenn man sich nicht als Behandler oder Wissender, sondern als Begleiter und Erforscher psychischer Prozesse versteht.
Dreh- und Angelpunkte der Vorgänge im psychischen Labyrinth sind die Identität oder, genauer gesagt, die Selbstbeschreibung des Individuums, deren zwangsläufige Unvollständigkeit sich als Quelle psychischer Probleme erweist. Die Auseinandersetzung mit den zur Identität gehörenden Themen – wie etwa der Selbstbeschreibung, der Person als sozialer Adresse und der multiplen Persönlichkeit – führt zu der Anregung, dass sich die Psychotherapie weniger mit der Frage ›Was tun?‹ befassen und sich verstärkt dem Umgang mit psychischen Subsystemen oder Identitäten zuwenden sollte. Dann geht es vor allem darum, ›Wer‹ jemand jetzt oder zukünftig sein will.
Aus dieser Perspektive ergibt sich eine größere Bandbreite von Lösungsmöglichkeiten, die keinesfalls psychotherapeutischer Art sein müssen, worauf ich abschließend eingehen werde.
Zum Schluss dieser Einleitung möchte ich betonen, dass ich keinesfalls die Psychotherapie in Bausch und Bogen verurteilen will. Psychotherapeuten leisten oft gute und unverzichtbare Arbeit. Ich möchte den kritischen Blick auf jene fragwürdigen Tendenzen lenken, die aus der Verstaatlichung der Psychotherapie resultieren und unter denen nicht nur die Klienten, sondern auch die Psychotherapeuten selbst zunehmend leiden. Andererseits geht es mir um die Besinnung der Psychotherapie auf ihre ureigene Aufgabe und um die Wahrung ihres menschlichen Gesichts.
EINE SKIZZE: INTERESSENGRUPPEN, DIE DIE PSYCHOTHERAPIE BESTIMMEN
Noch vor wenigen Jahrzehnten hat die Psychotherapie nur in bestimmten gesellschaftlichen Schichten Beachtung gefunden. Mittlerweile hat sie sich zu einer ökonomisch bedeutsamen Sphäre entwickelt, in der zweistellige Milliardenbeträge umgesetzt werden. Noch vor 1999 fand die Psychotherapie überwiegend auf dem freien Markt statt und war von gesetzlichen Regulierungen weitgehend verschont. Mittlerweile weckt sie vielfältige Begehrlichkeiten und ist unter staatliche Aufsicht gestellt.
Wer heutzutage das Feld der Psychotherapie betritt, begegnet daher nicht bloß Patienten und Behandlern, sondern vor allem: Interessenvertretern.
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Da ist die Politik. Politiker reagieren auf die wachsende Bedeutung der Psychotherapie und sorgen für deren gesetzliche Regelung. Das Interesse dieser Gruppe besteht darin, das Thema Psychotherapie aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Ihre Taten sollen dem Wähler versichern: »Bezüglich deiner psychischen Gesundheit ist alles bestens für dich geregelt.« Politiker sind aufgrund ihrer Interessenlage (Wiederwahl) weniger an der tatsächlichen Effektivität der Psychotherapie als vielmehr an dem Anschein solcher Effektivität interessiert.Da sind die Krankenkassen. Ihre Aufgabe ist es, Gelder einzusammeln und zu verteilen, an der Qualitätssicherung der Behandlung mitzuwirken und für ausreichende Behandlungskapazitäten zu sorgen. In Zeiten sinkender Einnahmen besteht das Interesse der Kassen vor allem darin, den Kostenfaktor Psychotherapie und damit ihre Beitragssätze möglichst gering und die Zahl ihrer Versicherten möglichst hoch zu halten.Da sind die psychologischen und ärztlichen Berufsverbände. Sie halten nach außen hin zusammen, um die Wertschätzung der Psychotherapie und deren Anteil an den Gesundheitsausgaben zu erhöhen, aber nach innen kämpfen sie rücksichtslos gegeneinander um Macht und Einfluss und darum, das Einkommen ihrer jeweiligen Klientel auszuweiten.Da ist die Kassenärztliche Vereinigung, der die berufliche Standesorganisation der Psychotherapeutenkammer angegliedert ist. Diese Institutionen sorgen für die Kontrolle von Zulassung und Fortbildung, ihre Funktionäre sind zufrieden, solange sich die Standesinteressen in ihren Händen befinden.Da sind psychologische und ärztliche Psychotherapeuten. Die staatliche Zulassung zum Gesundheitssystem sichert ihnen ein verlässliches Einkommen, denn sie sind durch Bedarfsplanung und Zulassungsbeschränkungen der üblichen Konkurrenz des Marktes enthoben. Ihr Interesse gilt in erster Linie der eigenen Sicherheit.Da sind die Kliniken, von denen viele bereits privatisiert sind und deren Interesse in einem möglichst hohen Gewinn besteht. Für sie ist der Patient in erster Linie ein Kalkulationsfaktor.Da sind staatlich anerkannte Ausbildungsinstitute, die die von ihnen gelehrte Methode unter allen Umständen gegen andere Methoden durchsetzen wollen, um selbst am Markt bestehen zu bleiben.Da ist die Wissenschaft, die die Psychotherapie als Forschungsgebiet entdeckt hat und versucht, sich durch wissenschaftliche Studien für das Gesundheitswesen unentbehrlich zu machen. Sie arbeitet Politikern, Kassen, Industrie und den anderen Akteuren zu und liefert die jeweils nötigen Fakten und Rechtfertigungen für die Richtlinientherapie.Da ist die Pharmaindustrie, die im Interesse ihres Profits jede Störung, von der Depression bis zur sexuellen Lustlosigkeit, medikamentös behandeln möchte.Und da ist der Patient. Er kommt ganz zum Schluss, jedenfalls was seinen Einfluss auf das System der Psychotherapie angeht. Er steht dem System (im Grunde) allein gegenüber und hat am wenigsten zu sagen.• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Das Wirken der zahlreichen Interessengruppen hat die Psychotherapie grundlegend verändert. Sie ist ein fester Bestandteil des öffentlich finanzierten Gesundheitssystems geworden – und zahlt dafür einen hohen Preis. Sie wird, wie es Prof. Dr. Giovanni Maio ausdrückt1, zunehmend nach ökonomischen Kategorien des Marktes organisiert, das heißt, ihre Abläufe werden nicht mehr als Heilungs-, sondern als Produktionsprozesse verstanden.
Diese Entwicklung gefährdet die Psychotherapie. Einerseits ist die Psychotherapie durch Gesetze, Vorschriften und Einflussnahmen der aufgeführten Interessengruppen gefährdet, also von außen her. Andererseits ist sie von innen her gefährdet. Denn die Etablierung der Psychotherapie im öffentlich finanzierten Gesundheitssystem macht es ihr auf Dauer unmöglich, ihrem eigentlichen gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen.
1 Prof. Dr. Giovanni Maio, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und zuständig für Ethik und Geschichte der Medizin. Verstehen nach Schemata und Vorgaben? In: Psychotherapeutenjournal 2/2011.
IWOZU GIBT ES DIE PSYCHOTHERAPIE?
Doch worin besteht der ureigene Auftrag der Psychotherapie? Er besteht nicht darin, die Psyche eines Menschen so zu behandeln wie ein Arzt den Körper seines Patienten, sondern vielmehr darin, den Menschen durch schwierige Lebensphasen zu begleiten.
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