Addicted - Brennende Sehnsucht - Tracy Wolff - E-Book

Addicted - Brennende Sehnsucht E-Book

Tracy Wolff

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Beschreibung

Für die einen ist es Liebe ... für die anderen Sucht.

»Ich gehöre zu Ethan Frost. Er besitzt mich auf eine Weise, wie es sonst noch nie jemand getan hat, wie es niemand jemals tun wird. Er besitzt mein Herz, meine Seele und meinen Körper.«

Ethan Frost ist alles, wovon Frauen träumen. Er sieht gut aus, ist unglaublich vermögend, mächtig und einer der begehrtesten Junggesellen der Welt. Aber nicht deswegen bin ich mit ihm zusammen.

Ich liebe ihn für all die Dinge, die niemand anderes je zu sehen bekommt: seine berührende Güte, seine waghalsige Spontanität - und die Entschlossenheit, mit der er seine Macht für Gutes einsetzt. Ich liebe die Art, wie er mich ansieht, wie er mich berührt. Dass er mich die Trümmer meiner Vergangenheit vergessen lässt - und die verdrehte Angst, die noch immer in mir lebt.

Aber manchmal erschreckt es mich auch, wie stark mein Verlangen nach ihm ist, wie sehr ich ihn zum Atmen brauche. Ich habe immer befürchtet, dass meine Vergangenheit uns zerstören wird. Aber da ist eine Dunkelheit in Ethan, von der ich nichts ahnte. Werden wir seine Geheimnisse überleben, die nach und nach an die Oberfläche kommen?

Emotional, leidenschaftlich, fesselnd: Eine Billionaire-Romance von der Autorin der Katmere-Academy-Chroniken.

Weitere Bücher der SPIEGEL Bestseller-Autorin Tracy Wolff bei beHEARTBEAT:

Ruined - Verbotenes Verlangen
Dark Royal - Unwiderstehlich
Dark Royal - Unberührbar

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

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EPUB

Seitenzahl: 422

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung der Autorin

Über dieses Buch

Ethan Frost ist alles, wovon Frauen träumen. Er sieht gut aus, ist unglaublich vermögend, mächtig und einer der begehrtesten Junggesellen der Welt.

Aber nicht deswegen bin ich mit ihm zusammen.

Ich liebe ihn für all die Dinge, die niemand anderes je zu sehen bekommt: seine berührende Güte, seine waghalsige Spontanität und seine Entschlossenheit, seine Position für Gutes einzusetzen. Ich liebe die Art, wie er mich ansieht, wie er mich berührt. Dass er mich die Trümmer meiner Vergangenheit und die verdrehte Angst, die noch immer in mir lebt, vergessen lässt.

Aber manchmal erschreckt es mich auch, wie stark mein Verlangen nach ihm ist, wie sehr ich ihn zum Atmen brauche. Ich habe immer befürchtet, dass meine Vergangenheit uns zerstören wird. Aber da ist eine Dunkelheit in Ethan, von der ich nichts ahnte. Wird unsere Beziehung trotz seiner Geheimnisse überleben?

Über die Autorin

New York Times und USA Today Bestsellerautorin Tracy Wolff lebt in Texas und unterrichtet Schreiben an der örtlichen Volkshochschule. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Söhnen.

Tracy Wolff

Addicted

BRENNENDE SEHNSUCHT

Aus dem amerikanischen Englischvon Nina Behrmann

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

A Loveswept eBook Original

Copyright © 2014 by Tracy Deebs-Elkenaney

All Rights Reserved.

Published in the United States of America by Loveswept, an imprint of The Random House Publishing Group, a division of Random House LLC, a Penguin Random House Company, New York.

This translation is published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of

Random House, a division of Penguin Random House LLC.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Übersetzung: Nina Behrmann

Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven von © Viorel Sima/shutterstock | malija/thinkstock

Das Gedicht in Kapitel 14 von Pablo Neruda, Liebessonett XVII, wurde zitiert aus »Hungrig bin ich, will deinen Mund« (2001), 2. Auflage, Luchterhand Literaturverlag, München, S.27.

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3637-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

»Aufwachen, Schlafmütze.« Ethan legt sich auf mich und küsst mich auf die Wangen und die Lippen und meine Stirn.

Ich lächle schläfrig und strecke mich ein wenig. »Du hast mich überredet, heute zu schwänzen. Ich muss nicht aufwachen.«

»Nein. Ich habe Maryanne angerufen und ihr gesagt, ich würde dich heute für ein sehr wichtiges Projekt im Büro des Geschäftsführers brauchen«, korrigiert er mich und gleitet in mich.

Ich bäume mich ihm entgegen und stöhne leise, weil es sich so gut anfühlt. »So nennst du das also? Ein wichtiges Projekt?«

»Das allerwichtigste.«

Unser Liebesspiel an diesem Morgen ist so zärtlich, wie es in der letzten Nacht wild war, und so träge, wie es gestern Nacht rasend war. Und ich genieße jede Sekunde davon. Aber ich liebe ohnehin alles, was Ethan mit mir macht. Das habe ich immer getan. Und werde es immer tun.

Und auch wenn ich mich ein wenig schuldig fühle, weil ich heute nicht zur Arbeit gehe, weiß ich, Ethan und ich brauchen diese Zeit. Nach allem, was gestern geschehen ist, bin ich noch nicht bereit, mich von ihm zu trennen. Ich sehe in seine Augen und die besitzergreifende Art, mit der er mich berührt, verrät mir, dass es ihm genauso geht.

Er bewegt sich langsam, gleitet in einem ruhigen Rhythmus in mich und wieder hinaus, der jedoch schnell genug ist, das Feuer wieder voll zu entfachen. Uns beiden bricht der Schweiß aus, Erregung ergreift von uns Besitz, und es dauert nicht lange, bis wir gemeinsam über den Rand der Welt fallen. Genau so, wie es sein soll.

Lange Zeit drückt Ethan mich an sich, sein Körper umgibt meinen beschützend, und er spielt mit meinen außer Kontrolle geratenen Locken, drückt weiche Küsse auf meine Schultern und meinen Rücken. Zuerst bin ich ein wenig angespannt wegen dieser Position – mein Rücken an seiner Vorderseite –, aber nach allem, was letzte Nacht in dieser Haltung passiert ist, wäre es verrückt, sich jetzt darüber Sorgen zu machen.

Also bemühe ich mich, die Angst und die Panik loszulassen. Oh, ich weiß, ich werde niemals wie die anderen sein, weiß, dass es immer einen Teil von mir geben wird, den Brandon in seiner Gewalt hat, egal wie sehr ich mir auch wünsche, es wäre nicht so. Aber jetzt, heute, will ich mich auf Ethan konzentrieren und auf alles, was zum ersten Mal in meinem Leben – in unseren Leben – richtig läuft.

Mein Magen knurrt schließlich, und er springt lachend aus dem Bett. »Dusche und dann Frühstück?«, fragt er und hält mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

Aber ich fühle mich satt und zufrieden und will mich nicht bewegen. Noch nicht. Die Laken riechen noch nach ihm und mir, und ich will noch ein paar Minuten hierbleiben und genießen, dass wir beide zusammen sind.

»Du zuerst«, sage ich zu ihm. »Ich will noch nicht aufstehen.«

Er lächelt nachsichtig. »Na gut. Ich gehe duschen und mache dir dann Frühstück im Bett. Wie klingt das?«

»Kommst du dann auch wieder ins Bett?«

Er hebt seine eine Augenbraue auf die Weise, die mich verrückt macht. »Das lässt sich einrichten.«

»Dann würde ich sagen, das klingt sehr gut.«

Er beugt sich zu mir herunter und gibt mir einen flüchtigen Kuss, aus dem ein nicht mehr ganz so flüchtiger Kuss wird. Aber wieder stört uns mein knurrender Magen. Sofort zieht Ethan sich zurück. »Ich gehe schnell duschen und füttere dich dann. Überleg dir, was du haben willst, solange ich weg bin.«

Aber er ist gerade einmal ein paar Minuten unter der Dusche, als sich meine Pläne für einen faulen Morgen im Bett in Luft auflösen. Es klingelt an der Tür, und auch wenn ich es anfangs ignoriere – immerhin ist das nicht mein Haus –, wer auch immer vor der Tür steht, will unbedingt eine Antwort haben. Und als mir einfällt, dass jemand, der schon an der Tür klingelt, den Code zu Ethans Tor hat, nehme ich mir seinen Bademantel und wickle mich darin ein. Möglicherweise hat seine Putzfrau den Schlüssel vergessen oder etwas in der Art.

Aber als ich an der Tür angekommen bin und sie öffne, durchfährt es mich eiskalt. Schrecken breitet sich in mir aus, lässt meine Knie weich werden, so sehr, dass ich mich mit der Hand am Türrahmen festhalten muss, um nicht hinzufallen.

»Hey Chloe. Lange nicht gesehen.«

Meine Welt zerbricht. Denn im Vorgarten steht nicht Magdalena und wartet darauf, hereingelassen zu werden. Stattdessen starrt mich mein schlimmster Albtraum an. Brandon Jacobs … und sein Gesicht sieht eine Million Mal zerbeulter aus als Ethans, und er hat noch mehr Blutergüsse.

Er macht einen Schritt auf mich zu, und mein Instinkt gewinnt die Oberhand. Ich schlage ihm die Tür vor der Nase zu, verriegle sie und drücke meinen Rücken dagegen, als bräuchte ich noch eine zusätzliche Barriere, um ihn fernzuhalten.

Und während ich das tue, sehe ich direkt in Ethans dunkle, gequälte Augen. Und ich weiß, was auch immer er für ein Geheimnis hütet, es wird mich zerstören.

Kapitel 1

»Chloe.«

Ethan streckt die Hand nach mir aus, und seine Finger legen sich sanft um meinen Arm.

Ich fühle sie nicht.

Ich fühle nichts mehr, außer der Kälte, die sich langsam in mir ausbreitet, über meine Haut gleitet, durch meine Adern fährt, ebenso wie durch mein Blut, meine Seele. Sie lässt mich selbst erstarren, verwandelt alles, was formbar ist – alles, was echt ist –, in scharfkantige Puzzleteile, die nicht mehr zusammenpassen.

»Was –« Meine Stimme bricht, das eine Wort, das ich herausbringe, verklingt und fällt in den schwarzen, scheinbar endlosen Abgrund, der sich plötzlich zwischen uns aufgetan hat.

Ethan antwortet nicht. Er sieht mich nur an, sein schönes Gesicht ist ramponiert, und seine blauen Augen sind fiebrig.

Wieder läutet es an der Tür. Und wieder. Und wieder. Eine nicht enden wollende Kakophonie, die das Gefühl des Surrealen und der Verwirrung verstärkt, das von allen Seiten auf mich einstürzt.

Aber es ist nicht surreal, nicht wahr? Denn das geschieht wirklich. Es ist real.

Ich verstehe es nicht.

Nein, das stimmt nicht. Ich will es nicht verstehen.

Ich atme tief durch, versuche nachzudenken. Aber nichts geschieht.

Ein Teil von mir will zurück ins Bett, will diesen Tag neu beginnen, damit ich aus dem Albtraum erwache, in dem ich mich plötzlich befinde. Aber so funktioniert die Wirklichkeit nun einmal nicht. Das ist kein Traum, und ich kann mir nicht einfach wünschen, es wäre nicht so, ich kann davor nicht davonlaufen, kann mich nicht verstecken, so gerne ich das auch tun würde.

Und selbst jetzt, wo ich das weiß – wo ich es begreife –, bin ich doch entschlossen, es zu versuchen.

Ich schiebe mich an Ethan vorbei und renne zur Treppe.

Zu seinem Schlafzimmer am anderen Ende des Hauses.

Zu der Chance, zu dem Zeitpunkt vor zehn Minuten zurückzukehren, als das Leben beinahe noch einen Sinn gemacht hat.

Und noch während ich renne, spüre ich einen inneren Drang in mir. Eine Stimme, die nach Antworten sucht, die die Wahrheit wissen will, und ich weiß, ich kann sie nicht ewig ignorieren. Aber in diesem Moment, nur in diesem einen, eisigen Moment will ich so tun, als könnte ich sie nicht hören.

Ich will das alles verdrängen, so wie ich Brandon und die Vergewaltigung vor all diesen Jahren verdrängt habe.

Wie ich meine Eltern weggedrängt habe.

Wie ich gerade diese gottverdammte Klingel verdränge.

Aber als ich Ethans Zimmer erreiche, ist es nicht der sichere Rückzugsort, den ich zu finden gehofft hatte. Weil das Bett aussieht wie ein Kriegsschauplatz. Weil unsere Kleider auf dem Boden verstreut liegen. Und weil diese Erinnerungen – unsere Erinnerungen – überall sind und mir die Luft zum Atmen nehmen.

»Chloe«, sagt Ethan hinter mir. Seine Stimme ist heiser und voller Schmerz und kaputt. »Chloe, es tut mir leid.«

Mein Herz – erstarrt, schwach, zerbrochen – zerspringt in meiner Brust, und die Scherben schneiden mich entzwei, bis ich blute und wieder völlig kaputt bin.

»Ethan.« Dieses kaum hörbare Flüstern entreißt mir seinen Namen.

»Ich kann …« Seine Stimme erstirbt.

»Was? Alles erklären?« Ich würge die Worte aus meiner brennenden Kehle und zwischen meinen schmerzenden Lippen hervor, während ich versuche zu atmen.

Aber meine Lungen sind wie zugeschnürt. Sie schmerzen.

Alles schmerzt. Jedes Körperteil von mir. Jeder Zentimeter. Jede Zelle.

Aber ich bin bereits auf diesem Weg, die Erinnerungen treffen mich wie Pistolenkugeln. Sie stürzen zu schnell auf mich ein. Ich kann nicht weglaufen, mich nicht ducken, kann nichts anderes tun, als dazustehen und zu spüren, wie sie mich treffen.

»Bitte. Erkläre mir, was der Mann, der mich vergewaltigt hat, an deiner Tür macht, und wieso er offensichtlich noch schlimmer verprügelt wurde als du.«

Ethan wendet den Blick ab, fährt sich mit der Hand durchs Haar, aber er antwortet mir nicht, obwohl ich ungeduldig auf eine Erklärung warte. Etwas – irgendetwas –, das beweist, es ist nicht so, wie es aussieht.

Ich möchte ihn anschreien, dass er es mir sagen soll – er ist mir gefolgt, er ist derjenige, der darauf bestanden hat, dass wir darüber reden –, aber am Ende stehe ich einfach nur da. Warte. Manchmal glaube ich, ich habe nie etwas anderes getan.

»Brandon ist mein Halbbruder. Meine Mutter hat wieder geheiratet, nachdem sie sich von meinem Dad scheiden ließ.«

Die Worte fallen in den Abgrund zwischen uns, und für einige Sekunden verstehe ich ihre Bedeutung gar nicht. Als es endlich so weit ist – als ich sie wirklich höre –, trifft mich ihre Bedeutung mit der Kraft eines Tsunamis, und ich bin kurz davor, den Verstand zu verlieren.

Alles, was ich tun kann, ist, mich zusammenzureißen und nicht einfach auf den Boden zu sinken und zu heulen. Meine Knie werden weich, ich atme zu schnell und mein Herz – das, was von meinem Herzen übrig geblieben ist – fühlt sich an, als würde es jeden Moment explodieren und aus meiner Brust springen.

Und doch … mein Körper mag völlig hinüber sein, aber mein Gehirn funktioniert noch sehr gut. Ich bin immer noch damit beschäftigt, die Teile zusammenzufügen, und ertrage die Antworten nicht, die mir das fertige Bild liefert. Die Erkenntnisse, die mein Hirn durchzucken und meinen Magen verkrampfen, sind zu viel für mich.

»Du hast es gewusst.«

»Chloe.« Wieder streckt er die Hand nach mir aus, und wieder schiebe ich sie weg.

»Du hast es die ganze Zeit über gewusst, und du hast mich dazu gebracht -« Meine Stimme bricht. »Trotzdem hattest du mit mir Sex. Du hast mich dir alles erzählen lassen, was passiert ist – weißt du, wie schwer das für mich war? –, und du hast es alles bereits gewusst. Du hast bereits … Oh Gott.«

»Nein, Baby.« Dieses Mal weicht er meinen Händen aus und zieht mich an seine Brust. Seine starken Arme halten mich ebenso, wie sie mich einsperren. »Ich wusste es selbst nicht, bis ich vor ein paar Tagen nach Hause geflogen bin. In einer Zeitschrift war ein Foto von uns beiden abgedruckt – von dem Tag im Zoo –, und meine Mutter hat dich erkannt. Sie sagte mir, wer du bist und -« Seine Stimme wird noch rauer. »Ich wusste es nicht, Chloe. Ich schwöre dir, ich wusste es nicht.«

Ich schubse ihn von mir weg, versuche verzweifelt, mich von ihm zu befreien. Seine Arme schließen sich noch enger um mich, und für einen Moment befürchte ich, er wird mich nicht gehen lassen. Dass ich kämpfen muss, um mich zu befreien.

Immerhin ist er Brandons Bruder. So etwas liegt einem vermutlich im Blut.

Doch schließlich muss ich ihn nur fragen. »Bitte«, flüstere ich. »Lass mich los.«

Sofort lässt Ethan mich los und macht einen Schritt zurück, bis er außerhalb meiner Reichweite ist.

Genau das will ich, das brauche ich, und dennoch fühle ich mich von etwas beraubt. Verloren. Ich sollte wütend sein, und vielleicht werde ich das auch, sobald der Schock nachlässt, aber im Moment ist da nur Trauer. Überwältigend, alles umfassend, absolut.

Ich will schreien, bis ich nicht mehr kann, will ausrasten, bis es nicht mehr schmerzt. Will einfach in der Verwirrung und dem Grauen ertrinken, die wieder einmal mein Leben zerstören.

Aber Erinnerungsfetzen der letzten Nacht schieben sich in mein Bewusstsein, und ich setze sie zusammen, auch wenn es das Letzte ist, was ich jetzt tun will.

Ethan, der mit mir Schluss macht.

Ethan, der aussieht, als würde seine ganze Welt auseinanderbrechen.

Ethan, der mir nachläuft, und wie wir, an die Wand gelehnt, Sex haben, als wären wir die beiden letzten Menschen auf Erden.

Einen Moment lang, nur einen Moment, reagiert mein Körper auf die Erinnerung daran, wie es war, in seinen Armen zu liegen. Wie es war, ihn in mir zu spüren. Vielleicht wusste er wirklich nicht, dass es Brandon gewesen war, als es zwischen uns ernst wurde. Vielleicht sagt er wirklich die Wahrheit. Er hat mich noch nie zuvor angelogen.

Wieder zittern mir die Knie, aber nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Verlangen.

Vor Sucht ebenso wie vor Sorgen.

Meine Augen finden die seinen, sturmumtost und blau, während ich noch versuche, die Wahrheit herauszufinden.

Ich versuche, mich zu entscheiden, was zählt und was nicht.

Aber die Wahrheit ist, jetzt zählt alles – vor allem die Vergangenheit. Wenn ich versuche, so zu tun, als wäre dem nicht so, würde es das nur schlimmer machen. Denn jetzt hier mit Ethan zu stehen und zu wissen, was ich weiß, lässt das Geschehene mit erbarmungsloser Deutlichkeit auf mich einprasseln. Ich kann mich weder davor verstecken noch davonlaufen. Es ist genau hier in meinem Kopf. In meinem Herzen. In meiner Seele.

Die Vergewaltigung.

Der Verrat meiner Eltern, und wie sie mich kurz darauf verkauft haben.

Die Monate und Jahre, in denen ich belästigt worden bin, in denen ich von seinen ach so privilegierten Freunden im Treppenhaus der Schule betatscht worden bin, in denen ich Schlampe, Hure und bei noch einer Million anderer Namen genannt wurde, die ich versucht habe zu vergessen.

Das Gefühl, nirgendwo mehr sicher zu sein.

»Gestern Nacht wusstest du es.«

»Ja.«

»Und du hast es mir nicht gesagt.«

Er öffnet den Mund, will etwas sagen, schließt ihn aber wieder. Er sieht so aus, wie ich mich fühle – als wäre ihm schlecht. »Nein.«

Er sagt sonst nichts weiter, aber es gibt wohl nichts weiter zusagen, nicht wahr? Sein Bruder hat mich vergewaltigt. Ethans Bruder hat mich vergewaltigt.

Mir dreht sich der Magen um, und einen Moment lang befürchte ich, mich übergeben zu müssen.

Aber ich bin nicht mehr dieses Mädchen. Ich bin kein schwacher, verängstigter Teenie mehr, der sich im Badezimmer übergeben hat, weil er mit dem Mobbing und der Angst nicht mehr klarkam. Ich bin nicht mehr das Mädchen, das so verzweifelt die Anerkennung seiner Eltern suchte, dass es zuließ, dass sie es einschüchterten und die Wahrheit vertuschten, indem sie es verkauften.

Nein, ich habe dieses Mädchen zurückgelassen, als ich von zu Hause auszog und hierherkam, um aufs College zu gehen. Als ich begann, mir ein eigenes Leben nach meinen eigenen Vorstellungen aufzubauen.

Und ich will verdammt sein, wenn ich wieder zu diesem Mädchen werde, wieder gefangen und verängstigt werde, nur weil Ethan mich angelogen hat. Nur weil Brandon plötzlich und ohne eingeladen worden zu sein, wieder in meinem Leben auftaucht.

»Ich muss gehen.«

»Chloe, bitte.« Er streckt wieder die Hand nach mir aus.

»Fass mich nicht an!« Es klingt halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Schrei, und Ethan erstarrt mitten in der Bewegung. Zum ersten Mal, seit dieser Albtraum begonnen hat, werde ich laut. »Lass mich in Ruhe. Ich brauche –«

Mir bricht die Stimme, und ich wende mich ab, um meine Kleider vom Boden aufzusammeln. Ich will sie anziehen, bemerke aber, dass ich dafür meinen Morgenmantel ausziehen muss, und das Letzte, was ich will, ist, nackt vor Ethan Frost zu stehen. Vor allem, da er mich schon auf so viele andere Arten nackt und bloß gesehen hat.

Ich drehe mich um und stakse zittrig und schwankend ins Badezimmer. Ich rechne damit, dass er mich aufhalten wird, erwarte, seine Hand auf meiner Schulter zu spüren oder seinen Arm um meine Taille. Aber er folgt mir nicht, nicht einmal der kleinste Muskel zuckt. Zur Hölle, ich wüsste nicht einmal, ob er es könnte, selbst wenn er wollte. Er sieht so erstarrt aus, wie ich mich fühle, und scheint nicht einmal mehr zu atmen.

Ich weiß, ich atme nicht. Nicht richtig. Nicht wie ich atmen sollte.

Aber es ist schwer, Luft zu holen, wenn sich das Gewicht deines ganzen Lebens – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – auf deine Brust hinabsenkt und dich langsam zermalmt.

Es ist sogar noch schwerer zu atmen, wenn man erkennt, dass nichts ist, wie es zu sein scheint – und dass es wahrscheinlich nie wieder so sein wird.

Kapitel 2

Die Badezimmertür schließt sich hinter mir, und ich lehne mich dagegen. Sie ist das Einzige, was mich noch davon abhält, einfach zu Boden zu sinken.

Etwas in mir will schreien. Will weinen und ausrasten und alles in diesem zu großen, zu luxuriösen Badezimmer zerschmettern, bis es ebenso kaputt ist, wie ich mich fühle.

Aber es gibt noch einen anderen Teil in mir, einen, der einfach nur hier wegwill. Weg von Ethan. Weg von den Lügen und der Verwirrung und dem Schmerz. Weg von Brandon und diesem neuen Massaker, das er in meinem Leben angerichtet hat.

Langsam rollen mir Tränen über die Wangen, und hastig wische ich sie weg. Ich werde nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt, während Brandon noch irgendwo da draußen ist. Er hat mich bereits einmal gebrochen. Ich will verdammt sein, sollte ich ihm die Genugtuung geben, dies noch einmal zu tun. Nicht für ihn. Nicht für irgendwen sonst. Nicht wo ich schon so weit gekommen bin.

Ein paar Sekunden lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, konzentriere ich mich auf meinen unregelmäßigen Atem. Versuche, Sauerstoff in meine zugeschnürten Lungen zu bekommen. Es fällt mir schwer, und ich muss mehr als einmal ein Schluchzen unterdrücken, aber schließlich gelingt es mir, tief einzuatmen. Ich habe meine Gefühle wieder unter Kontrolle. Oder zumindest bilde ich mir das ein.

Ich habe Angst davor, was ich in diesem gottverdammten Spiegel sehen werde. Angst, dass nach gestern Nacht, beziehungsweise heute Morgen, die neuen Risse deutlich erkennbar sein werden. Und das kann ich nicht zulassen, zur Hölle, das werde ich nicht mitansehen. Nicht wenn ich dieses Badezimmer einfach verlasse, die Treppe hinunter und zu meinem Auto gehe. Nicht wenn ich meinen Kopf gerade halte und einfach an Ethan vorbei- und durch Brandon hindurchsehe.

Und genau das werde ich tun. Das muss ich tun.

Ich gehe zum Waschbecken und binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Dafür benutze ich eines der Haargummis, die ich in Ethans Schublade gelegt hatte, als ich das erste Mal bei ihm übernachtet hatte. Ich benutze die Zahnbürste, die er mir gegeben hat, um mir die Zähne zu putzen, und spritze mir dann kaltes Wasser ins Gesicht – all das, ohne in den Spiegel zu sehen.

Dann straffe ich meine Schultern und taste in meiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Aber ich finde nur die Kette aus Platin und Diamanten, die Ethan mir gekauft hat, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Dieselbe Bauchkette, die ich mir während unseres Streits vom Körper gerissen habe, und es ist genau diese Bauchkette, die meinen Vorsatz in Luft aufzulösen droht, während ich noch krampfhaft versuche, an ihm festzuhalten.

Ich lasse es nicht zu.

Ich will keine weitere Konfrontation mit Ethan – und ich weiß, genau das würde geschehen, wenn ich sie ihm jetzt zurückgäbe –, also entschließe ich mich, sie neben das Waschbecken zu legen. Aber es ist so viel schwerer, sie loszulassen, als ich gedacht hätte.

Vielleicht weil ich mehr loslasse als eine Kette von Tiffany.

Aber darüber will ich jetzt nicht nachdenken, will an nichts anderes denken als an das, was ich tun muss, um hier rauszukommen. Schritt für Schritt.

Ich beiße die Zähne zusammen, bringe meine Faust dazu, sich zu lösen, und sehe dem Schmuckstück dabei zu, wie es durch meine Finger gleitet und elegant auf der Marmorplatte landet. Der Anblick lässt meinen Magen rebellieren, und ich wende mich ab, bevor ich es mir noch anders überlege. Bevor ich etwas Dummes tue. Etwas Unverzeihliches.

Ich nehme die Schultern zurück, öffne die Badezimmertür und gehe, auf alles vorbereitet, in meine, wie ich mir fest vornehme, letzte Konfrontation mit Ethan Frost.

Aber da gibt es niemanden mehr für eine Konfrontation. Das Schlafzimmer ist so leer, wie ich mich fühle, nur die verknautschten Decken auf dem Bett – und das Verlangen zwischen meinen Schenkeln – erinnern mich daran, wie viel besser die Dinge noch vor einer Stunde waren.

Aber daran denke ich nicht weiter. Ich denke an nichts anderes als daran, hier heil herauszukommen. Etwa eine Minute lang suche ich nach meinen Schuhen, finde sie aber nirgendwo. Ich versuche, mich zu erinnern, wo ich sie letzte Nacht gelassen habe – in der Eingangshalle, der Küche, im Gang dazwischen –, aber es fällt mir nicht ein. Und da ich keine Lust habe, nach ihnen zu suchen, werde ich wohl barfuß nach Hause fahren müssen.

Keine große Sache. Es wäre nicht das erste Mal.

Ich lege mir meine Gelassenheit wie einen Mantel um die Schultern und gehe, ohne nach links oder rechts zu sehen, zur Haustür. Ich rechne weiterhin damit, dass Ethan wie ein Gespenst plötzlich vor mir auftauchen wird, und vermute ihn schon an der nächsten Ecke. Aber er ist nicht da. Ich sage mir, ich sollte erleichtert sein – und das bin ich auch –, aber ich bin auch verletzt. Und wütend. Bedeute ich ihm wirklich so wenig?

Es ist ein lächerlicher Gedanke, wenn man bedenkt, dass ich ihm gesagt habe, er solle mich in Ruhe lassen. Aber es ist eben eine lächerliche Situation. Lächerlich und furchtbar und schrecklich; alles auf einmal.

Ich wirbele durch das Haus – ich habe eine Mission –, ich werde nicht stehen bleiben, ehe ich die Haustür erreicht habe. Dort bleibe ich stehen, denn ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Die Klingel ist bereits vor ein paar Minuten verstummt, was zwei Gründe haben kann: Entweder hat Ethan Brandon hereingebeten, oder er steht draußen und redet mit ihm. Falls Letzteres zutrifft, falls sie beide dort draußen sind, wird der Weg zu meinem Auto ziemlich lang werden. Sollte es so sein, werde ich mir nichts anmerken lassen.

Ich bete, dass ich falschliege, bete, dass Ethan mit seinem Bruder auf der Terrasse oder in seinem Büro oder im Wohnzimmer ist – egal wo, nur nicht in der Auffahrt, an der ich entlangmuss –, und öffne die Tür. Mir sinkt das Herz in die Hose, als ich sie beide sehe, wie sie kurz davor sind, sich zu prügeln. Sie haben die Fäuste geballt, ihre Gesichter sind vor Wut verzerrt, und sie stehen neben einem roten Cabrio, das wahrscheinlich Brandon gehört.

Scheiße.

Warum überrascht mich das? Nichts ist in den letzten zwölf Stunden leicht gewesen. Warum sollte es jetzt anders sein?

Erhobenen Hauptes und mit gestrafften Schultern marschiere ich an den beiden vorbei zu meinem Auto und versuche, sie dabei zu ignorieren. Ich spüre Ethans Blick auf mir, spüre seine Bedenken und seine Sorgen. Einen Moment lang drohen meine Vorsätze zu schwinden, aber dann fällt mir wieder ein, dass er mir das alles auch letzte Nacht hätte erzählen können. Er hätte mir – er hätte uns beiden – das hier ersparen können.

Meine Wut flammt wieder auf.

Ich reiße die Autotür auf. Steige ein. Stecke den Schlüssel ins Zündschloss. Und dann fluche ich in Gedanken wie ein Kutscher, weil der Wagen sich weigert anzuspringen.

Nicht jetzt, verdammt. Nicht jetzt. Bitte. Zu jeder anderen Zeit. Während des Berufsverkehrs. Nach einem langen Arbeitstag. Morgens, wenn ich ohnehin schon zu spät zur Arbeit komme. Bloß nicht jetzt und hier.

Meine Gebete werden aber nicht erhört – natürlich nicht –, und das verdammte Ding springt nicht an. Ich versuche es noch ein drittes und dann ein viertes Mal, aber nichts tut sich.

Als ich den Zündschlüssel zum fünften Mal herumdrehe, öffnet Ethan die Tür. Er bedrängt mich nicht, berührt mich nicht, aber seine Anwesenheit genügt, und ich komme mir vor wie ein Beutetier.

»Lass mich dich nach Hause fahren, Chloe.«

»Ich muss nicht gefahren werden.« Wieder versuche ich, das Auto zu starten. Doch nur das kranke Röcheln der Zündung ist zu hören.

»Bitte, Baby.« Noch immer hat er mich nicht berührt, aber das muss er auch nicht. Mein ganzer Körper reagiert auf seine dunkle, heisere Stimme, auch wenn ich das gar nicht will. Und das macht mich noch wütender. Trotz meiner guten Vorsätze beginnen meine Hände zu zittern.

»Ich komme klar«, sage ich zu ihm, schnappe mir meine Handtasche vom Beifahrersitz und ducke mich unter ihm hinweg, als ich aus dem Auto klettere. Bis zur Wohnung, die ich mit meiner besten Freundin Tori teile, sind es nur knappe drei Kilometer. Wenn ich schnell gehe, kann ich in zwanzig Minuten zu Hause sein.

»Wow, die Zeiten haben sich wirklich geändert«, meldet sich Brandon zu Wort. Er lehnt lässig an seinem Auto. »Früher war es einfacher, sie dazu zu bringen, in ein Auto zu steigen. Aber vielleicht bist du ja auch nicht der Bruder, den sie will.«

Die Worte treffen mich wie Pistolenkugeln. Mir dreht sich der Magen um, und für eine Sekunde – nur eine Sekunde – droht die Selbstkontrolle, in die ich mich gehüllt habe, zu zerbrechen.

Ethan wirbelt herum, seine Hand packt Brandons Kehle und drückt zu, bis ihm die Augen fast aus dem Kopf springen und er offensichtlich keine Luft mehr bekommt.

»Da du beim ersten Mal nicht zugehört hast, werde ich es dir noch einmal erklären«, knurrt Ethan und lockert seinen Griff nicht, auch wenn Brandons Finger verzweifelt an seiner Hand zerren. »Du siehst sie nicht an, du redest nicht mit ihr, du näherst dich ihr nicht. Eigentlich -«

Ich bleibe nicht lange genug, um den Rest zu hören oder mit anzusehen, was als Nächstes geschieht. Stattdessen nutze ich es, dass Ethan abgelenkt ist, schiebe mich an ihm vorbei und marschiere die Auffahrt hinauf.

Ich schaffe es nicht einmal bis zum Tor am Ende der Auffahrt, ehe er neben mir steht. »Chloe, Baby, du bist barfuß. Du kannst so nicht nach Hause laufen.«

Ich gehe weiter und weigere mich, ihn anzusehen. Die Auffahrt fühlt sich unter meinen bloßen Füßen heiß an, und ich weiß, es wird nicht lange dauern, bis sie brennen werden. Aber es ist mir egal. Der Schmerz, verursacht durch den heißen Beton, ist nichts im Vergleich zu den Gefühlen, die in mir toben. Die Ablenkung ist mir sogar willkommen. Willkommen, weil sie mir etwas gibt, worauf ich mich konzentrieren kann, und mich ablenkt von dem Zorn, der Trauer und dem furchtbaren Verrat.

Ich bin kurz davor zusammenzubrechen, und das will ich nicht hier tun. Will es nicht jetzt tun. Nicht während ich so wütend auf Ethan bin. Und nicht während Brandon am anderen Ende der Auffahrt steht und mich wie ein Raubtier betrachtet, denn das ist er. Ich spüre seine Blicke auf mir, sein bösartiges Vergnügen hieran verdunkelt alles, was mich umgibt, und färbt es dunkelgrau. Es fällt mir, umgeben von dieser Luft, schwer zu atmen, schwer zu denken, aber ich bin fest entschlossen.

»Warte hier«, sagt Ethan verzweifelt. So habe ich ihn noch nie gesehen. So fahrig, so niedergeschlagen, so offensichtlich nicht unter Kontrolle. »Du kannst nicht wieder zurückgehen, du würdest ihm begegnen. Bleib einfach, ich hole das Auto -«

Seine Hand legt sich wieder um meinen Arm, und diesmal strecke ich meine andere Hand aus und stoße ihn so fest zurück, wie ich nur kann.

Es stört ihn gar nicht, und er stolpert nicht rückwärts, wie ich gehofft habe. Aber er erstarrt in seiner Bewegung, und seine Augen sind groß und gequält und blau. So verdammt blau, dass ich jeden letzten Rest meiner Selbstbeherrschung aufbieten muss, um mich nicht wieder in ihnen zu verlieren.

Sofort lässt er mich los. Seine Hand lässt meinen Arm fahren, als hätte er sich daran verbrannt. Ich spüre keine Reue. Wie auch, wenn er mein Innerstes freigelegt hat. Ich bin eine einzige offene, brennende Wunde, und es ist unmöglich zu atmen, ohne dabei zu bluten.

»Ich werde dir nicht wehtun, Chloe«, sagt er mit sanfter Stimme und hebt die Hände in einer beruhigenden Geste.

Aber das hat er bereits getan. Doch ich war noch nie jemand, der das Offensichtliche betonen muss, also drehe ich mich um und gehe weiter. Diesmal lässt er mich.

Als ich das Ende der Auffahrt erreiche, verspüre ich eine Woge der Erleichterung. Vor mir erstreckt sich der Ozean, blau und wild und unendlich. Ein Sturm zieht auf, und die Wellen brechen an der Küste, erfassen die Surfer, die so früh am Morgen schon hier sind, und werfen sie ins Wasser. Sie stehen nebeneinander, wie aufgereiht. Und einer nach dem anderen wird von den Wellen erfasst, von den Füßen gerissen und von dem hungrigen Sog des Ozeans verschlungen.

Für einen Moment halte ich inne, nur für einen Moment, und sehe zu, denn ich kann nicht nicht zusehen. Ich stehe an Land, aber ich weiß genau, wie diese Surfer dort draußen sich fühlen. Ich ertrinke in meinem Schmerz, ertrinke in der Scham und werde in die Tiefe gezogen, ohne die Oberfläche noch sehen zu können.

Hinter mir heult ein Motor auf, und dann höre ich Ethans Stimme – tief, fordernd, bittend. »Bitte. Chloe, steig ein. Lass mich dich wenigstens nach Hause bringen, und dann gehe ich.«

Kurz blicke ich mich um. Ethan sitzt in einem seiner Autos – diesmal dem grünen Tesla –, aber zum ersten Mal verspüre ich nicht den leisesten Funken von Interesse oder geringsten Anflug von Neid. Gestern wäre ich noch dafür gestorben, im Motor eines dieser Autos herumfuhrwerken zu können, aber heute will ich es nicht einmal anfassen, geschweige denn darin fahren.

Unsere Blicke treffen sich, und mir dreht sich der Magen um, droht zu rebellieren.

Er sieht so verloren aus, wie ich mich fühle, und auch wenn ich wütend bin, hasse ich es zu wissen, dass er leidet. Hasse, dass ich der Grund dafür bin, selbst nach alledem, was passiert ist. Den Schmerz, den ich fühle, wünsche ich niemandem, vor allem nicht Ethan, dem einzigen Mann, den ich jemals geliebt habe.

Was aber nicht bedeutet, dass ich bleiben kann. Es bedeutet nicht, dass ich jemals wieder mit ihm zusammen sein kann. Nicht wenn meine Vergangenheit wie ein Tsunami auf uns niederstürzt.

Ich wende mich ab und gehe die Straße hinunter zum Meer. Es erstreckt sich vor mir, blau und unendlich und wunderschön. Eine Sekunde lang, nur eine Sekunde, denke ich daran, einfach weiterzugehen. Den Bürgersteig entlang, über den Strand, ins Wasser. Weitergehen und weitergehen und weitergehen, bis es mich vollkommen umgibt, bis das dunkle Wasser über meinem Kopf zusammenschlägt und die Strömung mich tiefer zieht.

Der Gedanke ist verlockend. Zu verlockend, wenn man bedenkt, wie ich die Monate und Jahre direkt nach der Vergewaltigung verbracht habe. Ich ertrank in Angst, Erniedrigung, Selbstvorwürfen.

Dorthin will ich nicht wieder zurück – ich weigere mich, wieder zu diesem Punkt zurückzukehren – und konzentriere mich daher auf nichts anderes als darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Hitze des Bürgersteigs hilft mir, der Schmerz bringt mich dazu, nicht den Verstand zu verlieren. Hilft mir, mich konzentrieren zu können.

»Steig ins Auto, Chloe.«

Ethans Stimme erklingt neben mir – er fährt den Tesla im Schritttempo neben mir her –, aber ich drehe mich nicht zu ihm um. Ich bin fertig. Mit ihm. Mit uns. Mit dieser ganzen verkorksten Situation.

»Verdammt, Chloe! Bitte. Lass mich dich einfach nach Hause bringen, damit ich sichergehen kann, dass du gut dort angekommen bist. Ich verspreche, danach werde ich dich in Ruhe lassen.«

Bei seinen Worten vertieft sich der Riss in mir, zerreißt mich noch ein Stück mehr. Unter seinen Worten gelingt es mir kaum, mich aufrecht zu halten.

Aber ich bleibe aufrecht.

Ich gehe weiter.

Ich antworte ihm nicht.

Ein Teil von mir kann nicht anders und will dem Befehlston – und dem Flehen – in Ethans Stimme nachgeben, aber ich ignoriere diesen Teil von mir. Ich schließe ihn so tief in mir weg, dass ich ihn vielleicht niemals wiederfinden werde.

Genau so soll es sein. Mag sein, ich weiß im Augenblick nicht viel, aber das weiß ich. Ich werde auf keinen Fall zu Ethan ins Auto steigen. Ich werde ihm auf keinen Fall wieder die Chance geben, mich, wenn auch unabsichtlich, in Stücke zu reißen.

Ich biege auf die Prospect Street ein, eine der Hauptstraßen, die durch La Jolla führen. Ich sehe Ethan nicht an, aber ich weiß, er folgt mir in der Kurve, denn jemand hupt laut. Er fährt immer noch in meiner Schrittgeschwindigkeit, aber jetzt befindet er sich auf einer Straße, auf der er mindestens sechzig fahren sollte.

Eine besonders schrille Hupe ertönt, lang und laut. Erst als sie wieder verklingt, höre ich Ethan lauthals fluchen.

Es braucht jedes noch so kleine Quäntchen meiner Willenskraft, um ihn nicht aus den Augenwinkeln zu beobachten. Aber so schwach bin ich nicht. Nicht mehr. Nie wieder.

Das Gehupe erstirbt plötzlich, und da ich stur geradeaus blicke, sehe ich, wie Ethan mit quietschenden Reifen anfährt.

Das hat ja nicht lange gedauert. Nicht dass es mich überrascht. Geduldig war er noch nie.

Eine neue Welle aus Schmerz brandet über mich hinweg und zieht mich hinunter. Ich kämpfe nicht dagegen an – ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass man einige Dinge nicht bekämpfen kann. Nicht besiegen kann. Man kann sie nur ertragen.

Ich zwinge mich dazu, den Blick von den Rücklichtern des Teslas abzuwenden, und konzentriere mich wieder auf das Gehen, einfach nur gehen. Je eher ich nach Hause komme, umso schneller wird dieser Albtraum vorbei sein.

Aber weit komme ich nicht – gerade einmal eineinhalb Blocks weit –, ehe ich Ethan entschlossen die Straße hinunter und auf mich zugehen sehe. Als er sich mir nähert, zucke ich zurück, auch wenn er keine Anstalten macht, mich zu berühren.

Er registriert jede meiner instinktiven Bewegungen, seine Augen verdunkeln sich zu einem Mitternachtsblau, während er bedächtig die Hände in die Hosentaschen steckt.

»Ich werde dich nicht anrühren«, sagt er heiser. »Ich werde nicht mit dir reden oder etwas anderes tun, was dich wütend machen könnte. Aber egal wie, ich werde dich sicher nach Hause bringen, also kannst du es genauso gut akzeptieren.«

»Ich bin nicht mehr dein Problem.« Die Worte kommen mir über die Lippen, bevor ich auch nur gemerkt habe, dass ich sie sagen will.

»Du warst niemals ein Problem«, erwidert er, und seine Stimme ist warm und ruhig und vertraut. So vertraut. Es ist dieselbe Stimme, mit der er spricht, wenn wir im Bett kuscheln. Wenn er mich in der Dusche einseift. Wenn er mir sagt, dass er mich liebt.

Eine weitere Welle aus Schmerz rollt über mich hinweg, und ich gehe schneller. Ich sehe das Gebäude, in dem sich Toris Eigentumswohnung befindet, vor mir, und für einen Augenblick fürchte ich, es handele sich nur um eine Illusion. Ich will verzweifelt dorthin – und weg von Ethan.

Ich beginne zu rennen, ohne darüber nachzudenken. Der heiße Asphalt scheuert meine Fußsohlen wund, aber im Moment ist mir das egal. Tränen brennen in meinen Augen, mein ganzer Körper zittert, und meine Brust ist so zugeschnürt, als hätte ich einen Herzinfarkt, aber ich weiß es besser. Ich bin so kurz davor zusammenzubrechen, und ich werde das nicht auf der geschäftigsten Straße in La Jolla tun, während Ethan Frost und eine Million Touristen mir dabei zusehen.

Als ich das Tor des Gebäudekomplexes erreiche, bin ich bedeckt von kaltem Schweiß, und mein Atem geht stoßweise. Ich würde ihm gerne die Schuld daran geben, aber ich weiß es besser. Wie auch Ethan, der mich mit schmerzerfüllten Augen und angespanntem Kiefer ansieht.

Ich fische den Schlüssel aus meiner Tasche, versuche, das Tor aufzuschließen, aber meine Hände zittern so sehr, dass ich den Schlüssel nicht einmal ins Schloss stecken kann. Ethan streckt die Hand aus und versucht, mir den Schlüssel abzunehmen.

»Nicht!« Es klingt halb wie ein Keuchen, halb wie ein Kreischen, auf jeden Fall völlig verrückt. Aber es ist mir egal, denn es erfüllt seinen Zweck. Ethan macht einen Schritt zurück.

»Chloe, bitte. Ich will nur -«

»Es ist mir egal, was du willst!« Meine Worte klingen undeutlich – meine Zunge fühlt sich dick und schwerfällig in meinem Mund an –, aber das ist mir egal. Mir ist alles egal, außer in dieses gottverdammte Gebäude zu kommen und so weit weg wie möglich von Ethan Frost.

Wie durch ein Wunder rutscht der Schlüssel genau in dem Moment ins Schloss, als ich die Beherrschung verliere. Ich drücke das Tor auf und beginne zu rennen.

Ethan ruft meinen Namen, während das Tor knarzend hinter mir ins Schloss fällt, aber ich bin schon zu weit weg, als dass es mich kümmern würde. Zu weit weg, um etwas anderes zu tun, als meine Arme um mich zu schlingen und in eine Million Stücke zu zerbrechen.

Kapitel 3

Tori springt auf, als ich in die Wohnung stürme.

»Chloe?«, fragte sie. Der neugierige Ausdruck auf ihrem Gesicht verwandelt sich in Entsetzen, als meine Beine unter mir nachgeben und ich hart auf die Fliesen im Flur aufschlage.

»Chloe?« Sie kommt zu mir und beugt sich herunter, um mir aufzuhelfen, aber ich weise ihre ausgestreckte Hand zurück. Im Augenblick bekomme ich nichts anderes hin, als zu atmen.

»Chloe, was ist los?« Als ich immer noch nicht antworte, lässt sie sich neben mir auf den Boden sinken, und mit jedem Wort wird ihre Stimme drängender. »Was ist passiert? Hast du dich verletzt? Hattest du einen Unfall -«

Ich lache, ein harscher, hysterischer Laut, meinem tiefsten Inneren entrissen. Selbst als er noch in der Luft um uns herum verhallt, schmerzt er in meiner Brust.

Ich will ihr antworten. Und sei es auch nur, damit sie weggeht, damit ich in Ruhe meine Wunden lecken kann. Aber ich kann nicht. Mein Mund ist trocken, zu trocken, um irgendeinen sinnvollen Laut von mir zu geben, und meine Lippen scheinen auch vergessen zu haben, wie man Laute formt.

Es scheint, als hätte ich alles vergessen.

Alles außer Ethan und Brandon und der Leere, die sich zwischen uns ausgebreitet hat.

Ethan. Sein Name ist eine stumpfe Klinge in meinem Innern, eine gezackte Glasscherbe, deren Ränder mich zerschneiden.

»Sag mir wenigstens, ob du verletzt bist«, verlangt Tori, und ihre Hände ballen sich zu Fäusten.

Ich schüttle den Kopf und drücke meine Wange gegen die kühlen Fliesen. Ich liege da wie ein Kind, mit meinen Knien unter mir, meine Hüften ruhen auf meinen Fersen und mein Gesicht ist auf den Boden gedrückt. Aber für mich bedeutet diese Stellung keinen Frieden. Keine Gelassenheit. Nur Hoffnungslosigkeit und Wut, und mir ist schlecht. So schlecht, dass jeder Atemzug es schlimmer macht.

Brandon. Ethan. Brandon. Ethan.

Mit jedem Schlag meines Herzens wiederholen sich ihre Namen, wie ein Echo.

»Verdammt, Chloe! Was ist los?« Toris Gesicht ist direkt neben meinem, und ihre grünen Augen sind vor Angst und Wut verengt. Sie sieht aus wie ein Racheengel – ganz Zorn und Vergeltung, dazu ihre leuchtend pinkfarbenen Haare. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre mir ihre Entschlossenheit, mich zu verteidigen, wahrscheinlich willkommen gewesen. Aber jetzt macht es mich nur müde. »Was hat Ethan Frost dir angetan?«, will sie wissen.

Zu viel. Er hat zu viel getan und doch nicht genug. Er hat mich wieder völlig gebrochen, und diesmal kann ich nicht einmal sagen, ich hätte es nicht kommen sehen. Denn ich habe es kommen sehen. Oh Gott, das habe ich. Von Anfang an, schon während ich mich gegen diese Sache zwischen uns gewehrt habe, habe ich gewusst, wie es enden würde. So hatte ich es mir nicht vorgestellt – wie hätte ich das auch können –, aber ich habe gewusst, es würde nicht ausgehen wie in einem Disney-Märchen. Nicht wenn mein Leben sonst eher ein Hans Christian-Andersen-Märchen ist. Aber selbst mit diesem Wissen habe ich ihn in mein Leben gelassen, habe es vorgezogen, seinen schönen Worten und meinem erbärmlichen Herzen zu glauben statt der harten Wahrheit, die mich das Leben immer wieder und wieder und wieder gelehrt hat.

Dafür muss ich jetzt bezahlen. Ich muss für meinen dummen Optimismus und meine noch dümmeren Gefühle bezahlen. Ein Teil von mir glaubt, dass es mir recht geschieht. Und der Rest von mir … der Rest ist zu niedergeschlagen, als dass es ihn kümmern würde.

»Es geht mir gut.« Ich presse die Worte durch meine wie zugeschnürte Kehle, und sie klingen leise und düster.

Tori schnaubt. »Klar. Genauso siehst du gerade aus. Völlig in Ordnung.«

Sie legt ihren tätowierten Arm um meine Taille und hält mit der anderen Hand mein Handgelenk fest. Im nächsten Moment hebt sie mich vom Boden auf und zieht mich in eine warme, tröstliche Umarmung.

Normalerweise ist trösten nicht ihr Spezialgebiet – dafür ist sie ein bisschen zu hart –, was bedeutet, ich muss so schlecht aussehen, wie ich mich fühle. Der Gedanke ist beängstigend, denn im Moment fühlt es sich an, als wäre der Tod besser als mein jetziger Zustand.

Aber ich halte meine Augen fest geschlossen und vergrabe mein Gesicht an ihrer Halsbeuge, als die Tränen beginnen zu fließen, heiß und unaufhaltsam.

»Schon okay, Chloe«, murmelt sie leise und wiegt mich lange Zeit. »Du bist okay.«

Das bin ich nicht. Nicht einmal ansatzweise. Mir fehlt gerade die Energie, ihr das zu sagen, vor allem weil ich weiß, dass ich ihr dafür einiges erklären müsste. Eine Erklärung, für die ich noch lange nicht bereit bin.

Tori ist meine beste Freundin, und das schon seit drei Jahren – seit wir uns in unserem ersten Jahr am College im Biologielabor an der University of California in San Diego getroffen haben. Aber sie kennt meine Vergangenheit nicht. Niemand hier tut das – außer Ethan, und man sieht ja, was mir das eingebracht hat.

Ich genieße es, dass sie mich tröstet, und reiße mich jeden Atemzug aufs Neue zusammen. Schließlich – nachdem die Tränen nur noch vereinzelt fließen und meine Lungen sich nicht mehr anfühlen, als würde mir sie jemand aus dem Brustkorb reißen, fühle ich mich stark genug und löse mich von ihr.

»Entschuldige«, sage ich zu ihr, und meine Hände hängen schlaff an meinem Körper herab. »Ich -«

»Entschuldige dich nicht!«, antwortet sie bestimmt. »Es ist nicht deine Schuld, dass Ethan Frost ein blöder Idiot ist. Als du gestern Nacht nicht nach Hause gekommen bist, ging ich davon aus, dass er es wiedergutgemacht hat, aber offensichtlich lag ich damit falsch.«

Sie geht zu der kleinen Hausbar in der Ecke des Raumes, nimmt eine Flasche Tequila heraus und gießt etwas davon in ein paar Schnapsgläser. »Hier«, sagt sie und reicht mir eines. »Das wird dir guttun.«

Ich starre sie ungläubig an. »Es ist gerade einmal neun Uhr morgens.«

»Dir wurde gerade das Herz aus der Brust gerissen. Da ist ein bisschen Alkohol nötig, egal wie spät es ist.«

Ich mache keine Anstalten, das Glas zu nehmen, und sie reicht es mir herüber. Fehlt nur noch, dass sie mich zwingt, es in die Hand zu nehmen. »Komm schon«, sagt sie. »Danach fühlst du dich besser. Gefestigter.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie unrecht hat. Nichts kann mich festigen, nachdem ich herausgefunden habe, dass der Mann, den ich liebe, der Bruder des Mannes ist, der mich vergewaltigt und in der Highschool gequält hat. Der Mann, dessen Eltern meinen Eltern Geld gegeben haben, damit ich meine Anschuldigungen zurückziehe. Aber sie weiß davon nichts, und ich kann es ihr einfach nicht erzählen. Nicht jetzt.

Aber das kann der Tequila kaum noch schlimmer machen, oder? Und der Schmerz ist noch immer so heftig, dass mir alles willkommen ist, was ihn ein wenig abschwächt.

Mit einem Mal wirkt Trinken auf mich wie die Lösung. Ich greife nach dem Schnapsglas und leere es unter Toris zustimmendem Blick in einem tiefen Zug.

»Gutes Mädchen«, sagt sie und hält mir ein weiteres Glas hin.

Ich kippe auch das hinunter und merke, wie sich tief in mir Hitze ausbreitet. Zum ersten Mal, seit ich heute Morgen die Tür geöffnet und Brandon gesehen habe, spüre ich etwas anderes als Kälte. Es ist nicht von Dauer – natürlich ist es das nicht – aber im Augenblick reicht es mir. Und wenn es mir hilft, eine Weile zu vergessen, wie verworren das alles ist, reicht mir auch das.

»Willst du noch einen?«, fragt Tori, schenkt zwei weitere Gläser voll und trinkt sie schnell hintereinander aus.

»Klar. Warum nicht?« Ich muss heute nirgendwo mehr hin und habe auch nichts vor. Ethan hat mich heute Morgen überredet, mich krankzumelden, damit wir -

Wieder dreht sich mir der Magen um, als mir klar wird, wie schwierig diese ganze Situation geworden ist. Ich will Ethan nie wiedersehen, will nie wieder in seine blauen Augen sehen und Brandon darin erblicken. Aber ich mache gerade ein Praktikum bei Frost Industries, für das ich mir in den letzten drei Jahren den Hintern aufgerissen habe. Das mir dabei helfen soll, einen Platz an einer der angesehensten Jurafakultäten zu kommen, sobald ich im nächsten Jahr meinen Abschluss gemacht habe.

Und jetzt, jetzt kann ich mir einfach nicht vorstellen, dorthin zurückzukehren. Kann mir nicht vorstellen, Ethans Gesicht jemals wiederzusehen. Nicht nach all der Zerstörung und der Verwüstung zwischen uns. Ein Kollateralschaden, den ich niemals hätte kommen sehen können.

Aber was ist die Alternative? Mit eingezogenem Schwanz wieder zu meinen Eltern zurückzukriechen? Oder meinen Vater um etwas von seinem Blutgeld – oder, um genau zu sein, mein Blut, sein Geld – zu bitten, damit ich Jura studieren kann? Allein der Gedanke macht mich krank.

»Ist mein Drink fertig?«, frage ich in dem verzweifelten Versuch, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als darauf, wie sehr ich es versaut habe. Es ist wirklich schon lächerlich. Ich fange an zu planen, das habe ich schon immer getan: Erst gehe ich alle Szenarien durch, stelle mir jeden möglichen Ausgang der Situation und alle Eventualitäten vor, ehe ich überhaupt etwas tue. Vor fünf Jahren, mit Brandon, habe ich nicht nachgedacht, keinen Plan gemacht, und man hat ja gesehen, wo mich das hingeführt hat. Ich wurde vergewaltigt, brutal misshandelt, terrorisiert. Pure Ironie, dass ich fünf Jahre später, als ich das erste Mal meine Vorsicht in den Wind schieße, ausgerechnet an Brandons Bruder gerate. Ich bin wieder genau da, wo ich angefangen habe. Die psychologische Beraterin für Vergewaltigungsopfer, bei der ich während meines ersten Jahres an der UCSD war, wäre gar nicht erfreut.

Oh, Ethan würde mir niemals körperlich etwas antun. Das weiß ich sicher – er war zu mir immer sehr zärtlich. Aber das, was ich gerade fühle, ist so viel schlimmer als jeder Schlag, den er mir hätte versetzen können. Die Tatsache, dass er es letzte Nacht gewusst hat … Dass er Liebe mit mir gemacht hat, während er die ganze Zeit gewusst hat, was zwischen Brandon und mir geschehen ist …

Der Tequila droht mir wieder hochzukommen.

Und doch weiß ein Teil von mir, dass es nicht fair ist, ihm das vorzuwerfen – als ich letzte Nacht zu ihm kam, hatte er versucht, mit mir Schluss zu machen –, aber einem anderen Teil von mir ist es verflucht egal. Denn er hat nicht mit mir Schluss gemacht. Und er hat mir die Wahrheit verschwiegen. Stattdessen hat er mich gevögelt, bis ich nicht mehr gerade stehen konnte, fast bis zur Bewusstlosigkeit. Er hat mir gesagt, dass er mich liebt, hat zugelassen, dass ich sagte, dass ich ihn liebe. Und er hat es die ganze Zeit über gewusst. Verdammt, er wusste es.

Meine Gedanken müssen mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Tori kommt zu mir und drückt mir wieder ein Glas in die Hand. »Trink aus«, befiehlt sie und kippt ihren eigenen Drink herunter. Ich tue sofort, was sie sagt, und sehe dann dabei zu, wie sie uns zwei weitere Drinks aus der Tequila-Flasche eingießt, die sie von der Bar mit herübergebracht hat.

»Setz dich«, sagt sie und deutet auf das Sofa.

Ich tue, was sie sagt, denn meine Knie drohen unter mir nachzugeben. Drei Gläser Tequila in fünf Minuten – auf leeren Magen –, das bin ich nicht gewohnt.

»Ich will nicht darüber reden«, sage ich zu ihr, während ich mich auf die Couch fallen lasse.