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Wen liebst du, wenn deine Zeit abläuft? Atemberaubend spannend und romantisch: Band 5 der Bestseller-Fantasy-Reihe erzählt endlich die Geschichte von Grace und Hudson! Die Monate, in denen Grace eine steinerne Gargoyle war, bergen mehr Geheimnisse, als sie sich je hätte ausmalen können. Was soll man schon erwarten, wenn man plötzlich mit ausgerechnet der Person eingesperrt ist, die man sich als Letztes als Begleitung gewünscht hätte? Doch um das Schattenreich zu überleben und all seine Bewohner retten zu können, wird Grace die Hilfe von Hudson benötigen. Wenn sie ihren nervig unwiderstehlichen Mitgefangenen nicht zuerst umbringt … oder küsst. Alle Bände der Katmere-Academy-Chroniken: Band 1: Crave Band 2: Crush Band 3: Covet Band 4: Court Band 5: Charm Band 6: Cherish Kennen Sie bereits die Calder-Academy-Chroniken von Tracy Wolff bei dtv? Band 1: Sweet Nightmare Band 2: Sweet Chaos (erscheint im Herbst 2025) Band 3: Sweet Vengeance (erscheint 2026) Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar.
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Es ist leicht, sich vor der Liebe zu fürchten, wenn man miterlebt, wie sie aus dem Ruder läuft.
Nachdem Grace die Wahrheit über die Katmere Academy herausgefunden hat, sollte sie eigentlich nichts mehr schocken können – bis sie sich plötzlich in einer Parallelwelt wiederfindet, die sich das Schattenreich nennt. Und das auch noch mit dem schlimmsten Monster von allen: Hudson Vega. Er mag Jaxons Bruder sein und vielleicht ist er auch unerlaubt gut aussehend und manchmal erstaunlich charmant, aber auf keinen Fall wird Grace auf ihn hereinfallen. Sie müssen einen Ausweg aus dem Schattenreich finden, bevor ihre Zeit abläuft …
Opfer müssen erbracht werden und ich bin genau der Typ dafür.
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass alles Hudsons Schuld ist – zumindest, wenn es nach Grace geht. Aber Hudson glaubt immer mehr, dass Grace nicht so menschlich ist, wie sie es zu sein glaubt. Und dass eigentlich sie diejenige ist, die sie im Schattenreich eingesperrt hält. Sie werden zusammenarbeiten müssen, wenn sie überleben wollen. Denn etwas verbindet Hudson und Grace, etwas, das stärker ist als Furcht – und verflixt noch mal bedrohlicher …
Atemberaubende Spannung und eine große Liebe, die Raum und Zeit überwindet – der fünfte Teil der Bestsellerreihe
Von Tracy Wolff sind bei dtv lieferbar:
Crave (Band 1)
Crush (Band 2)
Covet (Band 3)
Court (Band 4)
Charm (Band 5)
Cherish (Band 6)
Star Bringer (mit Nina Croft)
Tracy Wolff
Band 5
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Gyo
Für Andrea Deebs,
die fantastischste Mutter, die ein Mädchen
sich nur wünschen kann.
Danke, dass du meine bist.
Anmerkung der Autorin:
Dieses Buch stellt Aspekte von Panikattacken, Tod und Gewalt, suizidalen Gedanken, lebensbedrohlichen Situationen, Folter, Inhaftierung, Situationen mit Insekten, Tod eines Elternteils sowie sexuelle Inhalte dar. Ich hoffe, dass ich diese Elemente sensibel und angemessen behandelt habe, aber falls diese Themen für dich belastend sein könnten, bitte ich hiermit um Kenntnisnahme.
MEIN KOPF FÜHLT SICH KOMISCH AN.
Eigentlich fühlt sich alles komisch an und ich habe keine Ahnung, was eigentlich los ist.
Ich gehe die letzten paar Minuten noch einmal durch, will wissen, warum ich mich so ausgehöhlt und losgelöst fühle, aber ich sehe nur Jaxons Gesicht vor mir. Er lächelt mich an, wir laufen den Flur hinab und scherzen über …
Dann ist alles wieder da. Ich schreie und zucke instinktiv vor Hudsons Klinge zurück.
Nur ist da gar keine Klinge.
Kein Hudson.
Kein Jaxon.
Kein Flur – und keine Katmere Academy. Stattdessen ist da eine weite, dunkle Leere und in mir tobt die Panik, während ich versuche zu begreifen, was hier vor sich geht.
Wo bin ich?
Wo sind alle?
Was ist das für eine seltsame Schwerelosigkeit, die jede Zelle in mir erfüllt?
Hat Jaxons Bruder mich tatsächlich mit diesem Schwert getötet?
Bin ich tot?
Der Gedanke nistet sich in einen Winkel meines Kopfs ein und drückt mir die Luft aus der Lunge.
Dann wird die Panik zu ausgewachsenem Entsetzen, während meine Augen sich abmühen mehr als ein paar Zentimeter in diesem tintenschwarzen Nichts, das mich umgibt, zu erkennen. Hektisch fahre ich mit den Händen über meinen Körper auf der Suche nach der tödlichen Verletzung. Um den Gedanken zu bestätigen – oder, bitte, lieber Gott, zu widerlegen –, dass ich sterbe oder sogar schon tot bin.
Oh Gott, ich will nicht tot sein. Der Gedanke durchzuckt mich. Bitte, lass mich nicht tot sein – oder schlimmer, ein Geist.
Einen Vampir zu daten ist eine Sache, aber bitte, bitte, bitte lass mich kein Geist sein. Auf ewig die Flure der Katmere Academy als die Fast Gedärmlose Grace heimzusuchen ist so überhaupt nicht meine Vorstellung von Spaß.
Ich beende die Inspektion meines Körpers und begreife, dass da keine Wunde ist.
Kein Blut.
Gar kein Schmerz. Nur diese schräge Taubheit, die sich weigert zu verschwinden und wegen der mir mit jeder verstreichenden Sekunde immer kälter wird.
Ich blinzle ein paarmal, um klarer sehen zu können, und als das nicht hilft, reibe ich mir die Augen und sehe mich dann erneut um, ignoriere dabei meine feuchten Handflächen und die zitternden Hände.
Nichts hat sich verändert. Die Dunkelheit umgibt mich weiterhin – und zwar nicht irgendeine Dunkelheit. Sondern die Sorte Dunkelheit, die nur herrscht, wenn kein Mond und keine Sterne am Himmel stehen. Nur ein Himmel so schwarz und leer wie das Entsetzen, das in mir wächst.
»Ernsthaft? So schwarz und leer wie das Entsetzen, das in dir wächst?«, sagt eine sarkastisch klingende Stimme mit deutlich britischem Akzent in den Tiefen meines Hirns. »Ist das nicht etwas übermelodramatisch?«
In den letzten Wochen hatte ich mich an die Stimme in meinem Kopf gewöhnt, die mir manchmal sagt, wie ich eine Situation überleben kann, aber das hier ist völlig anders. Dieser Typ klingt, als wolle er mir wehtun und nicht helfen.
»Wer bist du?«, frage ich.
»Echt jetzt? Das ist deine Frage?« Er gähnt. »Soooo originell.«
»Schön, dann sag mir doch, was hier los ist?« Meine Stimme klingt sehr viel schriller – sehr viel verängstigter –, als mir lieb ist. Andererseits heißt es nicht umsonst, dass Reklame die Wahrheit sagen muss …
Dennoch räuspere ich mich und versuche es noch mal. »Wer bist du? Was willst du von mir?«
»Ich bin ziemlich sicher, dass ich dir diese Fragen stellen sollte, Prinzessin, da du mich mit auf diesen Trip geschleppt hast.«
»Dich geschleppt?« Meine Stimme bricht. »Ich sitze hier fest ohne einen Schimmer, wo hier überhaupt ist, ganz zu schweigen davon, mit wem ich festsitze. Klar habe ich Fragen, vor allem weil es so dunkel ist, dass ich nichts sehen kann.«
Er stößt einen Laut aus, der wohl mitfühlend klingen soll, tatsächlich aber weit davon entfernt ist. »Tja, es gibt eine Lösung für das allermeiste davon …«
Hoffnung regt sich. »Die wäre?«
Er stößt einen langen, gequälten Seufzer aus. »Das verflixte Licht anmachen. Was sonst?«
Das kurze, scharfe Klicken eines Lichtschalters hallt durch die Leere. Dann flutet Helligkeit die Welt um mich herum.
SCHMERZ ATTACKIERT MEINE AUGÄPFEL und ich blinzle ein paar endlose Sekunden wie ein Maulwurf, der gerade aus der Erde aufgetaucht ist. Nachdem ich endlich wieder etwas erkennen kann, sehe ich, dass ich mich in einem Zimmer befinde. In einem sehr großen Loft, mindestens halb so groß wie ein Fußballfeld, in dem sich Bücherregale vom Boden bis zur Decke über die gesamte Länge der Wand vor mir erstrecken.
Auf dem obersten Regalbrett stehen lauter Kerzen in allen erdenklichen Größen und Formen, und einen Moment lang beschleicht mich eine weitere Sorge. Ein rascher Blick zeig mir aber, dass weit und breit kein Altar zu sehen ist. Keine Gefäße mit Blut. Keine gruseligen Bücher mit Zaubersprüchen, die meine Reise ins Jenseits beschleunigen sollen.
Was ich als sehr gutes Zeichen deute. Ein Mädchen kann es nur begrenzt oft verkraften, als Opfergabe des Tags herzuhalten. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mein Limit erreicht habe … und darüber hinaus bin.
Noch ein rascher Blick enthüllt absolut nichts Beängstigendes in diesem Raum. Eigentlich sieht es hier aus wie in so einem schicken Möbelkatalog-Showroom.
Die drei Hauptwände, an denen keine Bücherregale stehen, sind strahlend weiß gestrichen und Lampen und Kronleuchter tauchen den Raum in weiches, warmes Licht. Ein großartiger Mix aus modernen und rustikalen Möbeln in Weiß, Hellbraun und Schwarz unterteilt alles mithilfe eines strategischen Arrangements von Teppichen und Sitzgelegenheiten in acht unterschiedliche Bereiche.
In einem Teil stehen lauter Schallplatten auf großen schwarzen Metallregalen sowie ein beeindruckender Schrank voller Medienequipment. Weiter hinten ist ein Fitnessbereich, dann einer mit Zielscheiben und ein Gaming-Bereich, der dominiert wird von einem riesigen Flachbildfernseher und einer superbequem wirkenden Couch, auf der lauter Gaming-Controller und weiße Kissen verteilt liegen. Es gibt einen Schlafzimmerteil mit einem großen weißen Bett, einen Bibliotheksbereich mit zahlreichen, überquellenden Bücherregalen und einer Lesenische mit schwarzer Akzentwand, eine Küche und dahinter etwas, das ein Bad sein muss.
Alles wirkt beinahe beruhigend. Fühlt sich fast an, wie nach Hause zu kommen.
Na ja, solange man die körperlose Stimme, die in meinem Hinterkopf immer weiterredet, außer Acht lässt. Eine Stimme, die sehr definitiv nicht zu mir oder meinem Bewusstsein gehört.
»Gefällt dir die Akzentwand? Das ist Armani-Schwarz«, sagt er und ich muss die Zähne zusammenbeißen, um ihm nicht zu sagen, was er mit seinem Armani-Schwarz machen kann, ganz zu schweigen von dieser Herablassung, die von jeder ach so britischen Silbe trieft. Aber diesem Typen, wer immer er ist, zu widersprechen scheint mir gerade nicht die beste Idee, besonders nicht, da ich immer noch nicht weiß, was ich als Nächstes tun soll.
Also verlege ich mich – wieder – auf den Versuch, Antworten zu bekommen. »Warum tust du mir das an?«
Ein tiefer Seufzer. »Und wieder klaust du mir meinen Spruch.«
Ich bin so in Panik, dass es einen Moment dauert, bis seine Worte zu mir durchdringen. Und dann muss ich einfach losquietschen. »Ich habe dir schon gesagt, ich bin das nicht! Ich weiß nicht einmal, was das sein soll.«
»Tja, tut mir leid, dir in deine Selbsttäuschungsparade zu fahren, aber das musst du sein. Denn Vampire können zwar viel, aber so was hier verflixt sicher nicht.«
So wie er dieses Mal ›verflixt‹ sagt, klingt es eher wie ›verfliiixt‹ – sein Akzent wird mit jedem Wort ausgeprägter und ich verspüre den albernen Drang zu kichern.
»Ja, schön, ich kann das aber auch nicht. Tatsächlich …« Ich verstumme, weil der Rest seiner Worte ankommt. »Du bist ein Vampir?«
»Na, ich bin verdammt sicher kein Werwolf. Und da ich kein Feuer speie und mir auch kein magischer Stab aus dem Arsch wächst, kannst du dir den Rest ja denken.«
»Keine Ahnung, was dir wo wächst – aus dem Arsch oder sonst wo –, denn ich kann dich nicht sehen«, blaffe ich. »Wo genau bist du? Und vor allem, wer bist du?«
Er antwortet nicht – große Überraschung. Dann ertönt hinter mir ein leises Geräusch, das Rascheln von teurem Stoff.
Ich wirble mit erhobenen Fäusten und pochendem Herzen herum und erblicke einen sehr großen, sehr gut aussehenden Typen mit einer modernen Haartolle und herausragendem Klamottengeschmack, dem schwarzen Seidenhemd und der schwarzen Anzugshose nach zu urteilen. Er steht mit einer Schulter an ein Bücherregal gelehnt da und starrt mich aus schmalen, arktisch-blauen Augen an, die Hände tief in den Taschen vergraben.
Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, was ich da sehe, aber dann … Oh mein Gott. Oh. Mein. Gott. Das ist Hudson. Wo immer das hier ist – was auch immer das hier ist –, ich bin darin gefangen. Mit Jaxons soziopatischem älterem Bruder.
ALLEIN DER GEDANKE LÄSST MEINEN MAGEN rumoren und Schweißtropfen über meinen Rücken rinnen. Aber wenn mein sehr kurzer Aufenthalt an der Katmere mich etwas gelehrt hat, dann, dass man Paranormalen gegenüber niemals Angst zeigen darf … zumindest nicht, wenn man die Chance haben möchte, lebend aus der Situation herauszukommen.
Statt mir also die Lunge aus dem Leib zu schreien – was ein Teil von mir ganz dringend tun möchte –, starre ich ihn ebenfalls aus verengten Augen an. Dann wappne ich mich gegen Gott weiß was. Und sage: »Sieht aus, als würde der Teufel wirklich Gucci tragen.«
Er schnaubt. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich ein Vampir bin, kein Teufel – obwohl man dir wohl verzeihen muss, dass du das verwechselst, da du meinen missratenen kleinen Bruder kennst. Und um das klarzustellen: Das ist Armani.«
Letzteres sagt er mit einer Ehrfurcht, die ich mir normalerweise für Cherry-Pop-Tarts und Dr Pepper während einer langen Lernsession vorbehalte.
Fast lache ich los, hätte wohl auch gelacht, wenn mir nicht immer noch der Kopf schwirren würde von der Erkenntnis, dass dieser Typ Hudson ist. Leibhaftig. Was heißt, dass der Augenblick im Flur, in dem ich vor das Schwert trat, keine Halluzination war. Lias Plan hat funktioniert – Hudson ist wirklich zurück. Und aus Gründen, die ich nicht verstehe, sitze ich mit ihm zusammen in einem Möbelhaus-Katalog fest.
Mir schießt durch den Kopf, was ich in diesen letzten paar Wochen alles über ihn gehört habe, und ich würge hervor: »Was genau erwartest du dir hiervon?«
»Ich sagte es bereits, das ist deine kleine Soiree, nicht meine.« Angewidert blickt er sich um. »Und die ist auch nicht gerade der Knaller, oder?«
»Himmel, du bist so ein Arsch.« Frust durchzuckt mich, übermannt die Angst, die ich wohl empfinden sollte. Ich weiß, dass dieser Kerl ein eiskalter Killer ist, aber er ist auch nervig. Wie. Hölle. »Könntest du mal eine Sekunde lang vergessen, dass du ein Psychopath bist, und mir sagen, was du willst?«
Zuerst scheint es, als würde er sich weiter mit mir herumstreiten wollen. Aber dann verschließt sich seine Miene und sein Blick wird leer. »Ist das nicht offensichtlich? Ich will eine Teeparty abhalten.« Sein britischer Akzent fährt mir so scharf wie eine Klinge über die Haut. »Ich hoffe, du magst Earl Grey.«
Ich kann mich gerade so beherrschen ihm nicht zu sagen, wo er sich seinen Earl Grey – und seinen Sarkasmus – hinstecken kann. Aber ich habe Wichtigeres zu tun. »Falls du glaubst, ich helfe dir dabei, Jaxon wehzutun: Das wird nicht passieren.« Lieber lasse ich mich hier und jetzt umbringen, als dass ich mich als Waffe gegen den Jungen, den ich liebe, benutzen lasse.
»Also bitte. Wenn ich diesem kleinen Bastard etwas antun wollte, wäre er bereits tot.« Seine Stimme ist ausdruckslos, sein Blick gelangweilt und dann zieht er ein kobaltblaues Taschentuch hervor und beginnt das Ziffernblatt seiner sehr teuer aussehenden Uhr zu polieren.
Weil Schmuck zu polieren ja gerade irre wichtig ist.
»Korrigier mich, falls ich mich irre«, sage ich und werfe ihm einen skeptischen Blick zu. »Aber hat nicht er dich umgebracht?«
»Sagt er das so, der Pisser? Dass er mich umgebracht hat?« Er schnieft sehr britisch. »Verflixt unwahrscheinlich.«
»Bedenkt man, dass etwa anderthalb Wochen vergangen sind, seit ich – unfreiwillig, wohlgemerkt – an einer Zeremonie teilgenommen habe, die dich von den Toten zurückholen sollte …«
»Ach, deshalb dieser ganze Aufstand?«, unterbricht er mich und gähnt. »Und ich dachte die ganze Zeit, du würdest für den alljährlichen Wolf-Heulathon vorjaulen.«
Meine Augen werden ganz schmal bei dieser Beleidigung. »Weißt du, du bist ein noch größeres Arschloch, als alle sagen.«
»Was würde es auch bringen, ein kleines Arschloch zu sein?«, fragt er mit hochgezogener Braue. »Meine liebe Mutter hat mir beigebracht, in allem der Beste zu sein.«
»Ist das dieselbe ›liebe Mutter‹, die Jaxon angegriffen hat, nachdem du gestorben bist?«, erwidere ich bissig.
Er erstarrt. »Hat er daher die Narbe?« Er starrt immer noch auf seine Uhr, aber zum ersten Mal seit Beginn unserer Unterhaltung ist seine Stimme frei von jeglichem Sarkasmus. »Er hätte es besser wissen müssen.«
»Besser, als dich umzubringen, trotz allem, was du getan hast?«
»Besser, als ihr zu vertrauen«, murmelt er und klingt eine Million Meilen entfernt. »Ich habe versucht …« Er verstummt mitten im Satz, schüttelt den Kopf, als müsse er ihn frei bekommen.
»Was versucht?«, hake ich nach. Die Worte rutschen mir heraus, obwohl ich mir sage, dass ich es lieber gut sein lassen sollte. Ich kann sowieso nichts von dem glauben, was er sagt.
»Ist jetzt sowieso egal.« Er zuckt mit den Schultern und poliert wieder seine Uhr. Und grinst auf diese Art, bei der ich losschreien und ihn gleichzeitig trotzdem übertrumpfen möchte.
Ich stopfe die Hände in die Taschen – damit ich ihn nicht erwürge – und dabei streift meine rechte Hand etwas, das mein Herz schneller schlagen lässt. Ich ziehe das Telefon aus der Tasche und hebe es triumphierend hoch. »Ich rufe einfach Jaxon an, er soll mich abholen – und sich dann auch gleich ein für alle Mal um dich kümmern!«
Hudson murmelt etwas vor sich hin, aber ich schenke ihm keine Beachtung. Ich öffne meine Messenger-App und mein Puls rast. Ich kann nicht glauben, dass ich nicht vorher an mein Telefon gedacht habe. Ich beiße mir auf die Lippe, denke darüber nach, was ich sagen soll. Ich will Jaxon nicht total in Panik versetzen, aber ich will, dass er wirklich schnell herkommt. Am Ende begnüge ich mich mit einer kurzen Nachricht.
Ich
Mir geht’s gut. Bin aber eingesperrt mit Hudson.
Schicke dir meinen Standort.
Ich tippe auf Senden, dann scrolle ich herunter und aktiviere ›Standort teilen‹. Und warte.
Nach mehreren Sekunden ploppt auf, dass meine Nachricht nicht zugestellt werden konnte, und ich fange fast an zu weinen, als ich sehe, dass ich keinen Empfang habe. Ich blinzle die Tränen weg und schiebe das Telefon zurück in die Tasche, dann sage ich das Einzige, was gerade zählt: »Ich will zurück an die Katmere.«
»Bitte.« Hudson muss bemerken, dass mein Telefon nicht funktioniert, denn er deutet auf die Holztür mehrere Schritte von uns entfernt. »Tu dir keinen Zwang an.«
»Du hast mich nicht durch diese Tür hergebracht.« Ich verstehe nicht, woher ich das weiß, da alles zwischen der Katmere und hier ein leerer Fleck ist, aber ich weiß es.
»Noch mal, ich habe dich nicht hergebracht«, antwortet er und seine arrogante Erheiterung ist wieder da.
»Lüg mich nicht an«, presse ich hervor. »Ich weiß, dass du es warst.«
»Ach ja?« Er hebt eine dunkle, perfekt geschwungene Augenbraue. »Na dann. Da du alles weißt, erhelle mich. Bitte. Wie genau soll ich all das angestellt haben?«
»Wie zur Hölle soll ich wissen, wie du das gemacht hast?«, gebe ich zurück und mittlerweile graben sich meine Fingernägel so fest in meine Handflächen, dass ich fürchte, sie fangen gleich an zu bluten … was zu einer ganzen neuen Reihe von Problemen führen würde. Denn: »Ich weiß einfach, dass du es warst. Du bist immerhin ein Vampir.«
»Das bin ich in der Tat. Und das ist relevant, weil …?« Dieses Mal gehen beide Brauen hoch.
»Weil du die Macht dazu hast. Logisch.«
»Logisch«, wiederholt er mit einem Hauch von Hohn. »Aber ich habe es dir schon gesagt. Vampire können so was nicht.«
»Du erwartest doch nicht, dass ich dir das glaube, oder?«
»Warum nicht?« Der Blick, den er mir zuwirft, ist irgendwie herablassend und anklagend zugleich. »Oh, richtig. Wenn etwas Merkwürdiges geschieht, muss es der Vampir gewesen sein.«
Ganz bestimmt falle ich nicht auf diese »Der arme kleine Vampir«-Nummer rein, die er jetzt zu versuchen scheint. Ich weiß genau, was er getan hat. Und wie vielen er damit geschadet hat.
Einschließlich Jaxon.
»Der Grund, aus dem ich dir nicht vertraue, hat absolut nichts damit zu tun, dass du ein Vampir bist«, sage ich. »Sondern damit, dass du ein psychopathischer Scheißkerl mit einem Gottkomplex bist.«
Das entlockt ihm ein verblüfftes Auflachen, gefolgt von einem amüsierten: »Halt dich nur nicht zurück. Sag mir, was du wirklich denkst.«
»Oh, ich werde gerade erst warm.« Ich lege so viel Bad Girl in meine Stimme, wie ich kann. »Halt mich noch länger hier fest und ich sorge dafür, dass du es bereust, das verspreche ich dir.«
Das ist offensichtlich eine leere Drohung, denn ich kann nicht viel ausrichten, was Hudson etwas anhaben könnte.
Etwas, dessen er sich sehr wohl bewusst ist, dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen – ganz zu schweigen von dem »Ach, echt?«-Grinsen, mit dem er sich vom Buchregal abstößt und zu voller Größe aufrichtet. »Sag mir, Grace. Wie genau willst du das anstellen?«
HUDSON VERSCHRÄNKT DIE ARME UND WARTET auf meine Antwort. Das einzige Problem? Ich habe keine. Zum einen, weil ich noch nicht lange genug in dieser neuen Welt bin und nicht weiß, wie Fähigkeiten funktionieren, auch nicht die von Jaxon oder Macy. Und zum anderen, weil Hudson sich so arschig benimmt, dass es mir unmöglich ist zu denken.
Wie soll ich einen Plan fassen, während er mich so anstarrt, die Lippen zu diesem unausstehlichen Grinsen verzogen, das ich sehr schnell nur allzu gut kennenlerne?
Kann ich nicht. Auf keinen Fall. Nicht, während er nur darauf wartet, dass ich versage. Oder schlimmer, ihn um Hilfe bitte.
Wohl kaum.
Lieber dreh ich noch eine Runde mit Cole und seiner nicht ganz so lustigen Wolfsbande, als Jaxons Bruder um Hilfe zu bitten. Außerdem kann ich sowieso nichts glauben, was er sagt. Er ist ein bekannter Mörder, Lügner, Soziopath und weiß Gott was noch …
Dieser letzte Gedanke sorgt dafür, dass ich zur Tür stürze. Hudson sagt, es ist nicht seine Schuld, dass wir hier sind, dass ich das hier mache. Aber würde ein soziopathischer Lügner nicht genau das sagen, um mich davon zu überzeugen, da zu bleiben, wo ich bin?
Genauso ist es und darauf falle ich keine Sekunde länger herein. Ich will hier mit heiler Haut – und allen Gliedmaßen – raus.
»Hey!« Zum ersten Mal klingt Hudson ein wenig alarmiert – was nur noch mehr Beweis dafür ist, dass ich das Richtige tue. »Was machst du da?«
»Vor dir weglaufen«, fauche ich über die Schulter, ziehe die Tür auf und flitze hinaus, bevor die Nervosität, die mir das Rückgrat hinabschlittert, mich dazu bringt, meine Meinung zu ändern.
Es ist dunkel draußen, so dunkel, dass mein Herz anfängt zu hämmern und mein Magen sich vor Angst verkrampft. Einen Augenblick denke ich daran, meine Meinung doch zu ändern, umzudrehen und wieder hineinzugehen. Aber zurück an die Katmere und zu Jaxon schaffe ich es nur, wenn ich weit weg von Hudson komme. Außerdem finde ich niemals heraus, wo ich bin – oder wo irgendwas anderes ist –, wenn ich in diesem Zimmer festsitze.
Also zwinge ich mich, weiter in die Dunkelheit hineinzulaufen, trotz des Unbehagens, das mein Herz viel zu schnell pumpen lässt. Der Nachthimmel bleibt stockfinster und leer über mir, weder Sterne noch Mond, die mich in Sicherheit geleiten könnten, was allein schon beängstigend genug ist.
Aber solange dieser Pfad mich von Hudson wegbringt, reicht mir das.
Nur dass ganz plötzlich etwas hinter mir raschelt. Angst schnürt mir die Kehle zu, doch ich zwinge mich, schneller zu laufen. Nicht dass ich einem Vampir davonlaufen könnte – das hat Lia mir gezeigt –, aber ich werde es dennoch versuchen.
Das Rascheln ertönt erneut, gefolgt von einem Flügelschlagen direkt über mir. Mir bleibt eine Sekunde, um aufzusehen, eine Sekunde, um zu begreifen, dass ein Vampir – sogar ein Hudson – das geringste meiner Probleme ist, bevor ein scharfer, Furcht einflößender Schrei die Nachtluft zerreißt.
SO WIE GRACE DIREKT AUF DIESES RIESIGE, Flammen speiende Vieh zurennt, das auf sie zufliegt, muss die Anti-Hudson-Propagandatrommel in meiner Abwesenheit offensichtlich heftig gerührt worden sein. Wie schlecht muss sie von mir denken, wenn sie lieber einen Angriff von diesem Ding da riskiert, statt hier bei mir zu bleiben, wo es sicher ist?
Wie sie mir einen Blick über die Schulter zuwirft, als hätte sie Angst, dass ich ihr die Kehle herausreiße, während sie sich doch auf die Bedrohung direkt über ihr konzentrieren sollte, belegt meine Theorie ziemlich gut.
Ich will wieder reingehen – was juckt es mich, wenn sie sich auffressen lässt –, aber dann kreischt das verflixte Vieh und stößt hinab. Ich warte, sicher, dass sie endlich begreift, dass nicht ich hier der Böse bin, und umdreht.
Stattdessen blickt sie zu dem Ding auf und rennt weiter weg vor der sicheren Zuflucht.
Von wegen God save the Queen. Möge Gott die Mädchen retten, die alles glauben, was sie hören. Und kopflos wegrennen.
Das Vieh brüllt erneut und stößt eine Flammenzunge aus, die den Himmel vor Grace in ein Inferno verwandelt. Trotzdem dreht sie nicht um. Stattdessen erstarrt sie, das perfekte menschengroße Ziel. Eins, auf das das Vieh – ist es ein Drache? – nur allzu gern zielt.
Wie überraschend.
Weitere Flammenzungen durchzucken die Nacht. Grace gelingt es auszuweichen, indem sie nach links springt, aber es ist knapp. Viel zu knapp, was der Geruch nach versengtem Haar, der die Luft erfüllt, beweist.
Der Gestank ist widerlich.
Wieder überlege ich reinzugehen. Wer bin ich, mich in ihre neu gefundene Karriere als Grillfackel einzumischen? Vor allem da sie ganz klar gemacht hat, dass sie lieber bei lebendigem Leib verbrennt, als in meiner Nähe zu sein.
Fast gelingt es mir. Ich schaffe es sogar über die Türschwelle. Aber dann schreit sie.
Es ist ein dünner, schriller Ton, der mich bis in die Knochen erschaudern lässt. Scheiße. Verdammte Scheiße. Sie hat sich das vielleicht selbst zuzuschreiben, aber ich kann ihre Angst nicht ignorieren, egal wie sehr sie das verflucht noch mal verdient.
Und wie sie es verdient. Sie hat uns überhaupt erst in diesen verflixten Schlamassel gebracht. Aber so sehr ich auch wünschte, dass es anders wäre, nur weil jemand ein Arschfurunkel ist, ist das kein Grund, ihn sterben zu lassen. Sonst hätte ich schon längst dafür gesorgt, dass mein kleiner Bruder mit dem Bauch nach oben schwimmt.
Ich wende mich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Drache sie in Flammen hüllt. Ich gestatte mir einen Moment der Trauer – das hier ist immerhin mein liebstes Armani-Hemd –, dann phade ich zu ihr.
Ich spüre die Flammen, noch bevor ich sie erreiche. Sengend heiß lecken sie an meinem Gesicht, aber ich bin so schnell rein- und rausgephadet, dass ich nur ein paar Verbrennungen abbekomme. Sie wüten wie Hölle – so was macht Drachenfeuer mit einem Kerl –, aber damit komme ich klar.
Und es ist nichts im Vergleich zu meinen monatlichen Trainingsrunden mit meinem lieben, guten Dad.
Es ist schwer, bei einem Mann zu punkten, für den nur die unsichtbaren Wunden zählen.
Ich packe Grace, während der Drache sich bereit macht für eine weitere Runde, und ziehe sie in meine Arme. Dabei stolpere ich über einen Stein am Boden und packe sie fester, als ich wollte, um das Gleichgewicht zu halten.
Sie wird ganz steif. »Was machst du …«
»Deinen Arsch retten«, knurre ich und umschließe sie, so gut ich kann, um sie vor dem Feuer abzuschirmen. Dann phade ich zurück zu dem Raum, in dem alles angefangen hat. Der Drache klebt mir den ganzen Weg über direkt am Arsch, fliegt schneller als jeder Drache, den ich je erlebt habe.
Ich überquere die Schwelle mit Grace in den Armen und knalle die Tür hinter uns zu.
Kaum habe ich Grace abgestellt, da kracht der Drache so heftig gegen die Tür, dass das ganze Gebäude erbebt.
Grace keucht auf, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, zum Riegel zu stürzen, um sie zu beachten. Ich schiebe ihn vor und direkt darauf kracht der verflixte Drache wieder gegen die Tür. Und wieder. Und wieder.
»Was will er?«, fragt Grace.
»Dein Ernst?« Ich werfe ihr einen ungläubigen Blick zu. »Ich weiß ja nicht, wo du herkommst, aber in dieser Welt fressen Dinge dich in der Sekunde, in der du deine Deckung verlässt.«
»Dich eingeschlossen?«, fragt sie schnippisch.
Und da ist er. Ein weiterer Beweis, dass keine gute Tat ungestraft bleibt. Irgendwie vergesse ich das immer wieder.
»Warum nervst du mich nicht noch ein bisschen und findest es heraus?« Ich beuge mich vor und schnappe laut mit den Zähnen. »Gern geschehen, übrigens.«
Sie sieht mich ungläubig an. »Du erwartest wirklich, dass ich dir danke?«
»Das ist allgemein so üblich, wenn dir jemand das Leben rettet.« Aber anscheinend bedeutet ihr das nichts.
»Mir das Leben retten?« Ihr Lachen klingt wie Nägel auf einer Kreidetafel. »Wegen dir war ich überhaupt erst in Gefahr.«
Langsam habe ich es verdammt satt, von diesem Mädchen einer Scheiße bezichtigt zu werden, mit der ich nichts zu tun habe. »Fangen wir jetzt ernsthaft wieder damit an?«
»Wir haben gar nicht aufgehört. Nur deshalb bin ich …« Sie hält inne, als suche sie nach dem richtigen Wort.
»Rausgerannt und fast gegrillt worden?«, unterstütze ich sie mit meinem hilfsbereitesten Tonfall.
Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Musst du immer so ein Arsch sein?«
»Entschuldige bitte. Nächstes Mal lass ich dich verbrennen.« Ich will an ihr vorbeigehen, aber sie tritt vor mich, versperrt mir den Weg, den Blick auf etwas über meiner Schulter gerichtet.
Tief in ihren Augen flackert Angst auf, aber ich sehe nur einen weiten, leeren schwarzen Himmel gerahmt von einem Fenster, das sich in ihrem Blick spiegelt. Und ich bekomme eine Ahnung, wo wir sein könnten. Und das ist nicht schön.
»TJA, DU BIST SCHULD, DASS ICH ÜBERHAUPT fast verbrannt wäre.« Ich reiße meinen Blick vom Fenster los und fauche ihn an. Hätte er uns hier nicht eingesperrt, wäre nichts von all dem passiert.
Statt vor einem Feuer speienden Drachenmonster wegzurennen, würde ich mit Jaxon in seinem Turm abhängen. Vielleicht mit einem Buch auf der Couch oder neben ihm im Schlafzimmer, wo wir reden würden über …
»Oh, verfliiixt noch mal. Sag mir, dass ich jetzt keine weitere Litanei darüber zu hören bekomme, wie gern du mit meinem Bruder im Bett bist.« Er presst sich die Hand auf die Brust in einer, wie ich annehme, bizarren Imitation von mir. »Oh, Jaxy-Waxy. Mein kleiner Goth-Vampir-Schatz. Du bist so stark und sooooo vermurkst. Ich liebe dich sooooo sehr.« Bei den letzten Worten rollt er mit den Augen.
»Weißt du was? Du bist ekelhaft«, fauche ich und dränge mich an ihm vorbei.
»Als würde man mir das zum ersten Mal sagen«, antwortet er mit einem Schulterzucken. »Andererseits ist dein Urteil ernsthaft getrübt.«
»Mein Urteil? Du hast doch die halbe Katmere ermordet …«
»Das war nicht einmal annähernd die halbe Katmere.« Er gähnt. »Halt dich mal an die Fakten.«
Ich will anmerken, dass weniger als die Hälfte es nicht besser macht, aber da ist etwas in seinen Augen, seiner Stimme, das mich glauben lässt, dass er gegen meine Bemerkungen nicht ganz so immun ist, wie er es gerne hätte.
Nicht dass es mich kümmern sollte – der Typ ist immerhin ein Massenmörder –, aber ich war noch nie eine, die jemanden tritt, der am Boden liegt. Außerdem ist ihn zu beleidigen nicht der beste Weg hier raus.
»Mach nur und beleidige mich, so viel du willst«, sagt Hudson, schiebt die Hände in die Taschen und lehnt sich mit der Schulter an die nächste Wand. »Das löst unser Problem auch nicht.«
»Nein, das kannst nur du …« Ich verstumme, weil ich etwas begreife. »Hey! Hör auf damit!«
»Womit?«, fragt er mit hochgezogenen Brauen.
Ich funkle ihn an. »Du weißt genau, womit!«
»Au contraire.« Er zuckt so arglos mit den Schultern, dass ich wünschte, ich würde daran glauben, dass Gewalt Probleme löst. »Ich weiß, was du da tust. Ich bin einfach nur mit von der Partie.«
»Tja, also wenn zu dieser Partie auch gehört, meine Gedanken zu lesen, dann hör auf damit.«
»Glaub mir, nichts würde mich mehr entzücken«, antwortet er mit diesem Grinsen. Und ich fange an dieses Grinsen zu verabscheuen. »Da drin läuft ja eh nichts Spannendes.«
Meine Hände ballen sich zu Fäusten und Zorn durchzuckt mich bei dieser Bemerkung – dieser Beleidigung. Ich will nichts mehr, als ihn zurechtzuweisen, aber ich weiß auch, dass ihn das nur aufstacheln würde.
Und da ich wirklich als Allerletztes will, dass Hudson Vega sich Vollzeit in meinem Kopf einquartiert, beiße ich die Zähne zusammen. Verdränge meinen Ärger. Und flüsterschreie: »Na, dann solltest du keine Probleme damit haben, dich da rauszuhalten, oder?«
»Wenn es nur so leicht wäre.« Er schüttelt gespielt traurig den Kopf. »Aber da du uns hier drin eingesperrt hast, habe ich keine Wahl.«
»Ich habe es dir schon gesagt. Ich habe uns nicht in diesem Raum eingesperrt …«
»Oh, ich rede nicht nur von diesem Raum.« Das Glitzern in seinen Augen wird raubtierhaft. »Ich rede von der Tatsache, dass du uns in deinem Kopf eingesperrt hast. Und keiner von uns kann hier raus, bis du das nicht akzeptiert hast.«
»In meinem Kopf?«, höhne ich. »Lügst du oder bist einfach nur irre?«
»Ich lüge nicht.«
»Dann also irre?«, frage ich, wohl wissend, dass ich unausstehlich klinge, aber das kümmert mich nicht im Geringsten. Gott weiß, Hudson war von der Sekunde an unausstehlich, in der er mir sagte, ich solle das verflixte Licht anmachen.
»Wenn du dir so sicher bist, dass ich mich irre …«
»Das bin ich«, unterbreche ich ihn. Denn das tut er.
Er kreuzt die Arme und fährt fort: »Warum lieferst du dann nicht eine bessere Erklärung?«
»Die habe ich dir bereits geliefert«, knurre ich. »Du …«
Jetzt unterbricht er mich. »Eine, die nicht sagt, ich wäre für das hier verantwortlich. Denn ich habe es dir bereits gesagt, das ist nicht der Fall.«
»Und ich habe dir bereits gesagt, dass ich dir nicht glaube«, gebe ich zurück. »Denn wenn das alles in meinem Kopf wäre, wenn ich tatsächlich eine Wahl hätte, mit wem ich eingesperrt sein will, dann wärst du der Letzte auf dieser Liste. Ganz zu schweigen davon, dass ich ganz sicher kein Feuer speiendes Höllenbiest mitnehmen würde. Ich habe keinen Schimmer, was das für ein Ding ist, aber ich weiß, dass meine Fantasie nicht so vermurkst ist, dass ich mir so was hätte ausdenken können.«
Ich sehe mich in dem Raum um. Zu dem Bereich mit den Zielscheiben. Zur Couch mit den ganzen Gaming-Controllern. Zu der Wand voller Schallplatten. Zu den eine Million und eins Gewichten, die um die schwarze Lederbank herumliegen.
Zu Hudson.
Dann fahre ich fort. »Meine Fantasie hätte sich nichts von all dem als Gefängnis einfallen lassen.«
Als wolle er dieses Argument noch unterstreichen, kracht der Drache – oder was immer das Ding ist – so heftig gegen die Tür, dass der gesamte Raum erbebt. Die Wände wackeln, die Regale rappeln, das Holz kracht. Und mein bereits hämmerndes Herz beginnt wie ein Metronom auf höchster Stufe zu pochen.
Ich tue es Hudson gleich, schiebe die Hände in die Taschen und lehne mich an den nächsten Sessel. Falls ich das tue, um das Zittern meiner Hände zu verbergen – und meine wackligen Knie, bei denen ich nicht sicher bin, dass sie mich noch länger tragen –, geht das nur mich etwas an.
Nicht dass er das überhaupt bemerken würde. Gerade ist er zu sehr damit beschäftigt, mir seine verdrehte Version der Ereignisse aufzuschwatzen, als dass er mitbekommen würde, dass ich mit den Anfängen einer Panikattacke ringe.
»Warum sollte ich so was erfinden?«, frage ich, nachdem ich mich geräuspert habe, um die plötzliche Enge aus meiner Kehle zu vertreiben. »Ich brauche keinen Adrenalinschub, um mich lebendig zu fühlen. Ich bin keine Masochistin.«
»Na, dann hast du dir ja wirklich einen absolut jämmerlichen Gefährten ausgesucht, oder?«, ätzt Hudson. Aber dann setzt er sich in Bewegung und ich schenke dem mehr Aufmerksamkeit als seinen eigentlichen Worten, da jede Zelle meines Körpers schreit, dass ich ihn nicht aus den Augen lassen darf. Mich anschreit, dass ich es mir nicht leisten kann, ihn nicht aufmerksam zu beobachten.
»Genau, ich bin hier die Bedrohung«, höhnt er, gerade als das Monster genau an der Stelle von außen gegen die Wand kracht, an der er vorbeigegangen ist. »Nicht das, was immer zur Hölle da draußen ist.«
»Also gibst du zu, dass ich das nicht bin! Dass dieses Ding – was immer es ist – nicht mein Werk ist«, sage ich triumphierend und mir ist bewusst, dass es ein bisschen wie die Band auf der Titanic ist, die Nearer, My God, to Thee spielt, während das Schiff versinkt, wenn ich diesen Sieg feiere, während uns ein Monster umkreist. Aber selbst kleine – und mit »kleine« meine ich winzige – Siege waren seit meiner Ankunft an der Katmere Academy rar gesät, also werde ich jetzt jeden feiern, der mir unterkommt.
Hudson antwortet nicht sofort. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er über eine gute Erwiderung nachdenkt, oder daran, dass mein Magen sich diesen Moment zum Knurren aussucht – und zwar laut. Aber was immer der Grund ist, er wird bedeutungslos, als der Drache einen haarsträubenden Schrei ausstößt. Und erneut versucht hereinzukommen.
Und diesmal hat er es nicht auf die Tür abgesehen. Sondern auf das große Fenster direkt vor mir.
GRACE ÖFFNET NOCH DEN MUND, um zu schreien, da bin ich bereits mehrere Schritte nach links gephadet.
Zum zweiten Mal heute packe ich sie, ziehe sie fest an mich, gerade als der Scheißdrache seinen mächtigen Kopf durch das Fenster hinter uns schiebt. Glas zerspringt, fliegt überallhin, aber ich bleibe, wo ich bin, gebe mein Bestes, die in alle Richtungen durch die Gegend sausenden Splitter abzufangen.
Natürlich dankt Grace mir, indem sie mir laut ins Ohr kreischt. Riesenüberraschung.
Schmerz durchbohrt meine sensiblen Trommelfelle und nicht zum ersten Mal heute denke ich daran, sie einfach sich selbst zu überlassen. Diese ganze Riesenkacke ist eben doch ihre Schuld. Aber mehrere Feuerstöße sind dem explodierenden Glas gefolgt und ich kann einfach nicht wegphaden und sie hierlassen, der Gnade des Drachen ausgeliefert.
Wir rasen davon und das Vieh brüllt so laut, dass es ihre Schreie übertönt – ein kleiner Segen –, aber der hält nicht lange an. Das Mädchen hat eindeutig eine anständige Lunge.
Leider.
»Halt mal die Luft an, ja?«, fordere ich sie auf und phade zu dem kleinen Bad am Ende des Raums. Sie mag ja glauben, dass Schreie irgendwie davor schützen gegrillt zu werden, aber ich weiß es besser. Es macht den verkackten Drachen nur wütender.
Nicht nur Vampire haben ein sensibles Gehör. Und dieser Drache scheint ein wenig sensibler – ein wenig mehr alles – als die meisten anderen zu sein.
Feuer peitscht an uns vorbei, dann stürzen wir durch die kleine Badezimmertür, dicht gefolgt von einem lauten Krachen. Wieder erbeben die Wände heftig.
Ich blicke mich um und begreife, was die verdammte Kreatur vorhat. Fast hatte ich damit gerechnet, weiteren Feuerstößen ausweichen zu müssen, aber die Flammen sind so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen sind.
So wie der Drache selbst. Nicht aus eigener Entscheidung, sondern weil das Fenster, durch das er gerade eingebrochen ist, auch verschwunden ist. An seiner Stelle sind jetzt in derselben Farbe der Mauer getünchte Backsteine.
»Du bist das nicht, am Arsch«, schnaube ich und lasse Grace mit einem dumpfen Aufprall auf den Waschtisch fallen. Fenster mauern sich nicht von selbst zu. Jemand muss das tun. Und in diesem Fall ist dieser Jemand Grace.
Ob sie es nun zugeben will oder nicht – vor sich selbst oder mir –, wird nur die Zeit zeigen.
Wenigstens hat sie aufgehört zu schreien. Ich bin zwar vielleicht in der vorhersehbaren Zukunft mit ihr hier drin eingesperrt, aber das verbuche ich immer noch als Erfolg. Besonders wenn die Stille mehr als fünf Minuten anhält.
»Was hast du gemacht, damit er aufhört?«, fragt sie, weit bevor meine erhofften fünf Minuten um sind. Aber sie schreit nicht, also verzeichne ich das weiter als Erfolg.
»Das war ich nicht.« Ich nicke zu dem zugemauerten Fenster. »Das warst du.«
»Das ist unmöglich.« Aber sie starrt mit großen Augen auf die neue Wand. »Mauern entstehen nicht aus dem Nichts.«
»Anscheinend tun sie das doch.« Mein Rücken brennt wie die Hölle selbst – ein netter kleiner Nebeneffekt, wenn man von Drachenfeuer erwischt wird. Ich zerre herunter, was von meinem Hemd übrig ist, um den Schaden zu begutachten. Und damit die Fasern nicht an der Wunde reiben.
»Was machst du da?«, quietscht Grace, wieder viel zu nah an meinem Trommelfell.
Anscheinend waren die fünf Minuten höchst optimistisch geschätzt. Was schon etwas heißt, da ich nicht gerade für meinen sonnigen Optimismus bekannt bin.
»Musst du immer so schreien?«, knurre ich und mache einen großen Schritt von ihr weg. »Ich bin doch hier.«
»Musst du deine Klamotten ausziehen?« Angewidert erschaudert sie. »Ich bin doch hier.«
Hat es jemals einen nervigeren Menschen gegeben?
Ich beiße die Zähne zusammen in dem Bemühen, sie nicht stattdessen in sie zu schlagen – und zwar nicht auf die gute Art. Ich habe zuvor noch nie jemanden ausgesaugt, aber es gibt immer ein erstes Mal. Und gerade jetzt scheint mir Grace Foster die perfekte Kandidatin, um mich diesbezüglich zu entjungfern.
Natürlich könnte ich dann für immer hier festsitzen, aber das wäre nichts Neues. Ich war den größten Teil meines Lebens eingesperrt. Wenigstens wäre es dann wieder ruhig.
»Nächstes Mal überlass ich dich dem Drachen.« Ich blicke über die Schulter und versuche herauszufinden, wie viel Schaden das verdammte geflügelte Vieh angerichtet hat. Aber den eher fantastischen paranormalen Überlieferungen zum Trotz sind Vampire nicht mit der Fähigkeit gesegnet, die Köpfe um dreihundertsechzig Grad drehen zu können.
Leider. Dieser Trick wäre nützlich hier drin, vor allem, da ich mich auch nicht im Spiegel ansehen kann. Aber ich war schon in schlimmerem Zustand und konnte mich selbst in Ordnung bringen. Warum sollte das hier anders sein?
»Was machst du da?«, fragt Grace wieder – diesmal mit normaler Dezibelzahl. Gott sei Dank.
Vielleicht sage ich ihr deshalb die Wahrheit. »Der Drache hat mich erwischt.«
»Was?«, keucht sie. »Lass mich mal sehen!«
»Das ist wirklich nicht nöt…«
»Du sagst mir nicht, was nötig ist«, antwortet sie und packt meine Schultern, bevor ich den Protest beenden kann.
Ich bin so überrascht, dass ich mich nicht wehre, als sie mich herumdreht wie eine Vinyl auf meinem liebsten Schallplattenspieler.
»Oh mein Gott!«
Und da sind wir wieder beim Schreien. Ich schwöre, die Stimme dieses Mädchens hat nur zwei Stufen. Normal und unerträglich.
Es ist ein Wunder, dass Jaxon das aushalten kann.
Andererseits mildert es vielleicht den Schmerz im Trommelfell, wenn man jemandem so wichtig ist, dass diejenige sich wegen einem aufregt. Ganz zu schweigen vom Rest der Schmerzen.
»Das war der Drache?«, fragt sie, immer noch zu laut.
Dieses Mal mache ich mir nicht mehr die Mühe, mein Zucken zu verbergen – vielleicht kommt die Botschaft endlich bei ihr an und sie senkt ihre Stimme um ein bis neunzig Dezibel –, und bringe etwas mehr Abstand zwischen uns. »Na, ich war es mal ganz sicher nicht selbst.«
»Ja, aber ich dachte, Vampire heilen schnell? Ist das nicht einer der Vorteile?«
»Fairerweise muss man sagen, es gibt nicht viele Nachteile«, erwidere ich mit einem Grinsen.
Ich blicke sie jetzt im Spiegel an und obwohl ich mich selbst nicht darin sehen kann, sehe ich sehr deutlich, wie sie die Augen verdreht. »Ja, okay. Vielleicht nicht. Aber das beantwortet nicht meine Frage. Sollten deine besonderen Fähigkeiten das nicht schon größtenteils geheilt haben?«
»Ich bin ein Vampir«, sage ich, meine Stimme staubtrocken. »Kein Superheld.«
Sie lacht auf. »Du weißt, was ich meine.«
Das tue ich tatsächlich. Weshalb ich wohl einknicke und es ihr erkläre, obwohl ich es mir doch zur Gewohnheit gemacht hatte, niemals irgendwas über mich zu erklären.
»Würde ich mich an einem normalen Feuer verbrennen, würde es wehtun, aber innerhalb von ein paar Minuten heilen. Diese Verbrennungen stammen aber von Drachenfeuer. Was heißt, sie schmerzen sehr viel heftiger als normale Verbrennungen. Und sie brauchen länger, um zu heilen.«
»Wie viel länger?«, fragt sie.
Ich zucke mit den Schultern, dann bereue ich es, da die Bewegung eine Welle rasender Schmerzen über meinen Rücken jagt. »Ein paar Tage oder so.«
»Das ist beschissen«, flüstert sie und als sie diesmal meinen Rücken anblickt, ist der harte Ausdruck aus ihren Augen verschwunden. Und stattdessen ist da etwas Weicheres. Etwas, das schrecklich nach Betroffenheit aussieht – oder Mitleid.
So oder so fühle ich mich dabei unbehaglich. Und das schon bevor sie vorsichtig eine Hand ausstreckt und damit über meinen schmerzenden, brennenden Rücken streicht.
Ich wappne mich für den Schmerz, aber es tut nicht weh. Tatsächlich fühlt es sich gut an. Sehr viel besser, als es sollte.
Und Scheiße. Einfach Scheiße.
Denn alles an dieser Situation wird immer nur noch viel schlimmer.
HUDSON ERSCHAUDERT, ALS ICH mit dem Finger über seine verletzte Haut fahre. »Es tut mir leid.« Ich reiße die Hand zurück und fühle mich wie ein Monster. »Ich habe versucht vorsichtig zu sein. Habe ich dir wehgetan?«
»Nein.« Seine Antwort ist knapp, seine Stimme aber ausnahmsweise nicht knurrig. Nur ausdruckslos. Ich weiß nicht, warum mir das so viel schlimmer erscheint.
Sein Rücken ist mir zugewandt, also werfe ich einen Blick in den Spiegel, um seine Miene darin zu lesen. Doch da ist nichts außer mir. Da ist definitiv kein Vampir mit versteinerter Miene und der Persönlichkeit eines eingesperrten Tigers, der trotzdem irgendwie beeindruckend ausdrucksvolle Augen hat.
Weil Vampire kein Spiegelbild haben …
Nicht zum ersten Mal trifft mich, wie anders mein Leben in diesem Moment ist im Vergleich zu vor wenigen Wochen. Nicht nur wegen meiner Eltern und der Katmere Academy und Jaxon, sondern weil ich wirklich unter Monstern lebe.
Gut, gerade mit einem speziellen Monster, denke ich, während ich Hudsons Rücken anstarre. Und nicht einfach irgendein Monster. Ich sitze hier fest mit dem Monster, vor dem sich die anderen Monster fürchten.
Dem Monster, das so viele mit einem bloßen Gedanken zerstört hat. Einem bloßen Flüstern.
Diese Erkenntnis ist beängstigend. Oder sollte es sein. Aber während ich Hudsons verletzten Rücken anstarre, scheint er nicht annähernd so beängstigend, wie alle anderen ihn dargestellt haben. Er wirkt wie jeder andere verletzte Junge auch.
Ein attraktiver noch dazu.
Der Gedanke huscht ungebeten durch mein Hirn, aber sobald er da ist, kann ich mir nur seine Richtigkeit eingestehen. Wenn man es irgendwie schafft, seine soziopathischen und psychopathischen Tendenzen außer Acht zu lassen, dann ist Hudson ein sehr attraktiver Typ.
Nicht so attraktiv wie Jaxon, klar – das ist niemand –, aber er sieht definitiv gut aus. Auf eine rein objektive, »An dem werde ich niemals interessiert sein«-Art natürlich. Wie könnte ich auch, wenn ich den sexysten und besten Kerl der Welt habe, der in der Schule auf mich wartet?
Der auf mich wartet und vermutlich ausrastet, weil er nicht weiß, was mit mir passiert ist.
Bei diesem Gedanken brennen mir Tränen in den Augen.
Ich hasse es, dass Jaxon sich Sorgen um mich macht. Hasse es, dass Macy und Onkel Finn sich vermutlich auch Sorgen machen. In dieser kurzen Zeit an der Katmere habe ich sie alle so sehr ins Herz geschlossen, dass ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass meine Abwesenheit sie verletzt. Und besonders hasse ich, dass es Jaxon wehtut, der mehr ist als nur mein fester Freund. Er ist mein Gefährte.
Ich weiß immer noch nicht genau, was es bedeutet, einen Gefährten zu haben, aber ich weiß, dass Jaxon mein ist. Es tut weh, ihm fern zu sein, aber wenigstens weiß ich, dass er in Sicherheit ist. Ich kann mir nicht ausmalen, wie viel schlimmer es für ihn sein muss, nicht zu wissen, wo ich bin oder ob es mir gut geht. Besonders, da er mich zuletzt mit Hudson gesehen hat.
»Armer kleiner Jaxy-Waxy. Er muss ja so leiden.« Ich brauche Hudsons Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass er wieder die Augen verdreht.
Was mich so sauer macht, dass ich aufgebracht schnaube. »Nur weil du nicht begreifen kannst, was er durchmacht, heißt das nicht, dass du dich über ihn lustig machen darfst.«
»Angst, dass sein zerbrechliches Ego damit nicht klarkommt?«, gibt er zurück.
»Eher Angst, dass ich dich erwürge, wenn du weiter so ein Arsch bist.«
»Unbedingt.« Hudson geht ein Stück in die Knie, damit ich an seinen Hals komme. »Mach mit mir, was du willst.«
Ein Teil von mir möchte sein Angebot annehmen, ihm zeigen, dass er Angst vor mir haben sollte, obwohl er das eindeutig nicht hat. Ein anderer Teil von mir hat aber zu viel Angst, es auch nur zu versuchen. Ich mag ja der Falle entkommen sein, die Lia mir gestellt hatte, aber auf keinen Fall bin ich stark genug, es allein mit einem Vampir aufzunehmen. Besonders nicht mit Hudson.
Mensch zu sein hat definitiv Nachteile in dieser Welt. Andererseits hat es wohl in jeder Welt Nachteile. Meine Eltern sind das beste Beispiel.
Einen Augenblick sehe ich das Gesicht meiner Mutter vor mir. Aber diese Tür knalle ich zu, bevor ich in der Traurigkeit versinken kann. In dem Schmerz versinken kann, sie zu vermissen, während ich an diesem Ort festsitze mit einem …
»Tut mir echt leid deine Selbstmitleidsorgie zu stören, bevor sie so richtig gefühlsduselig wird«, sagt Hudson in einem Tonfall, der alles andere als entschuldigend ist. »Aber ich muss das jetzt einfach fragen. Bevor du dich ausgiebig in Selbstmitleid suhlst, kannst du mir vorher noch zehn Minuten Zeit lassen, damit ich mich wieder in Ordnung bringen kann? Ich möchte gern duschen, bevor du mich in den Schlaf langweilst.«
Es dauert einen Augenblick, bevor seine Worte bei mir ankommen. Dann explodiert die Empörung in mir. Meine Hände zittern, mein Magen verkrampft sich und ich muss jedes bisschen Selbstbeherrschung aufbringen, das ich besitze, um nicht handgreiflich zu werden. Ich lasse mir allerdings nicht anmerken, dass er mich getroffen hat. Diese Genugtuung verdient er nicht.
»Ich sag es dir ja nur ungern, Prinzessin. Aber ich bin in deinem Kopf. Ich weiß schon, dass ich dich getroffen habe.« Er klingt sogar noch gelangweilter, falls überhaupt möglich.
Was mich nur noch mehr anpisst. Es ist schlimm genug, dass ich mit diesem Kerl in meinem Kopf leben muss, aber dass er jeden meiner Gedanken auseinandernimmt, bringt mich zum Ausrasten.
Und obwohl ich weiß, was er damit beabsichtigt, knurre ich: »Ich verachte dich.«
»Und ich dachte schon, wir würden langsam beste Kumpel«, gibt er völlig trocken zurück. »Ich hatte mich so darauf gefreut, Freundschaftsarmbänder zu knüpfen, unsere Nägel zu lackieren und Datingtipps auszutauschen.«
»Oh mein Gott.« Dieses Mal krümmen sich meine Finger vollständig zu Fäusten. Fäuste, die nichts lieber wollen, als sich in seine scheinheilige, viel zu perfekte Nase zu pflügen. »Wirst du es niemals müde, den Arsch zu geben?«
»Ist noch nicht passiert.« Er hält inne, als würde er nachdenken. Dann zuckt er mit den Schultern. »Lass uns lange genug hier, dann finden wir es vielleicht heraus.«
»Fangen wir ernsthaft wieder damit an?«, frage ich mit einem resignierten Seufzen. Ich bin bereits am Ausrasten und müde – wer wäre das nicht in meiner Situation? –, und mit Hudson zu streiten verschlimmert beides nur noch. »Du klingst wie eine kaputte Schallplatte.«
»Und du klingst vollkommen naiv.«
»Naiv?«, wiederhole ich und ich weiß, meine Stimme klingt beleidigt.
Er hebt eine Braue. »Es ist entweder Naivität oder Ignoranz. Was ist dir lieber?«
»Was immer mich schneller von dir wegbringt«, gebe ich zurück.
Ich bin ziemlich stolz auf meine Replik – zumindest wäre ich das, wenn mein Magen nicht genau in dieser Sekunde wieder knurren würde. Laut.
Meine Wangen werden rot vor Scham und es wird nur schlimmer, weil Hudson grinst.
»Weißt du«, sagt er nachdenklich und reibt sich mit der Hand über den Hinterkopf, »es gibt eine Möglichkeit, diesen Streit ein für alle Mal beizulegen.«
»Ach ja?« Ich rede ein wenig zu laut, versuche zu verbergen, dass mein Magen schon wieder grummelt. »Und wie?«
Er geht aus dem Badezimmer und hinüber zu der winzigen Küche im vorderen Teil des Raums. »Herausfinden, was es hier zu essen gibt.«
»Was soll das beweisen?«, frage ich, folge ihm aber.
Er wirft mir einen Blick zu, der fragt, ob ich mich absichtlich dumm stelle. Aber am Ende antwortet er schließlich doch. »Ich bin ein Vampir.«
Als würde das alles erklären – und das tut es irgendwie auch, denn er meint offensichtlich diese Blutsache –, öffnet er einen Küchenschrank. »Wenn ich schuld an dem hier wäre, bin ich ziemlich sicher, dass ich den Schrank nicht mit …« Er zieht eine rechteckige blaue Schachtel hervor. »… Cherry-Pop-Tarts gefüllt hätte?«
»ICH WEISS NICHT EINMAL, WAS EIN POP-TART IST«, fährt er fort und dreht die Schachtel, als würde sie ihm verraten, was er da sieht, wenn er nur lange genug daraufstarrt.
Da sein Blick fragend bleibt, tut sie das aber nicht. Und zum ersten Mal frage ich mich, ob Hudson vielleicht – nur vielleicht – die Wahrheit sagt. Es widerspricht allem, was ich über ihn weiß, allem, was ich über ihn glauben will, aber dann öffne ich weitere Schränke und es fällt mir schwer zu glauben, dass es eine andere Erklärung gibt für das, was hier vor sich geht.
Denn die Schränke sind voll mit weiteren meiner üblichen Snacks. Erdnussbutterkekse. Popcorn. Salt-and-Vinegar-Chips. Und die Hälfte eines Zwanzig-Dosen-Packs meines geliebten Dr Pepper. Was merkwürdig scheint – zumindest, bis ich den kleinen Kühlschrank neben dem Herd öffne und zehn kalte Dr Pepper in der Tür entdecke sowie mehrere Liquid-Death-Sprudelwasser – natürlich mit Lime-Geschmack – und ein paar meiner liebsten Pampelmuse-LaCroix.
Außerdem ist eine Schublade gefüllt mit meinen Lieblingsäpfeln, roten Trauben, einigen Birnen und allem, was man noch für unterschiedliche Grilled-Cheese-Sandwiches benötigt.
Entweder ist der Geschmack von wem auch immer, der diese Küche ausgestattet hat, meinem gruselig ähnlich oder ich bin wirklich irgendwie für diese ganze Sache verantwortlich. Bedenkt man, dass ich ein Mensch bin, ohne jegliche eigene Macht, scheint das absolut unmöglich. Aber tja, da sind wir nun.
Und da so etwas hier vor Kurzem noch unmöglich schien – besonders in einen Vampir verliebt und mit einem Haufen Hexen verwandt zu sein –, beschließe ich mir kein Urteil zu erlauben. Zumindest vorerst.
Nachdem ich mir einen Apfel und ein LaCroix aus dem Kühlschrank genommen habe, wende ich mich Hudson zu, der gerade mit einem frischen Hemd in die Küche schlendert. Gott sei Dank.
Ich rechne damit, dass er sich hämisch freut oder mir zumindest einen bis zehn triumphierende Blicke zuwirft, aber stattdessen steht er nur da, den Kopf gesenkt und die Hände gegen die Theke gestemmt, als würde er sonst zusammenbrechen.
Schlimmer noch, er zittert. Es ist ein leichter Tremor, einer, der mir entgehen könnte, wenn ich ihn nicht so genau beobachten würde. Aber ich beobachte ihn genau und es ist unmöglich, ihn nicht zu bemerken. Sein Gesicht mag leer sein und diese ausdrucksvollen Augen sehen nach unten, aber wenn ich in diesen letzten paar Wochen sonst nichts gelernt habe, dann doch wenigstens Schmerzen zu erkennen.
Und vielleicht würden manche ja sogar so weit gehen und sagen, dass Hudson es verdient, die Schmerzen zu spüren nach all dem Scheiß, den er angerichtet hat, doch ich kann nur daran denken, dass er diese Drachenfeuerbrandwunden nur hat, weil er mich gerettet hat. Was heißt, dass es meine Aufgabe ist, ihm zu helfen, ob ich will oder nicht.
Ich lasse mir keine Zeit nachzudenken – oder ihm Zeit, etwas zu sagen, was mich dazu bringen würde, meine Meinung wieder zu ändern –, gehe ins Bad und hole eine Flasche Peroxid unter dem Waschbecken hervor, zusammen mit Paracetamol-Tabletten und einer schmerzbetäubenden Antibiotikasalbe. Ich gebe mir keine Chance, mich zu fragen, woher ich wusste, dass die Erste-Hilfe-Sachen dort sein würden. Stattdessen greife ich mir einfach alles, zusammen mit etwas Gaze und ein paar Verbänden, und gehe zurück in die Küche.
Zu Hudson.
»Zieh dein Hemd aus«, sage ich so sachlich, wie ich nur kann, und schraube dabei den Deckel vom Peroxid.
Er rührt sich nicht. Doch seine Lippen verziehen sich zu dem typisch bissigen Grinsen. »Nicht böse gemeint, Löckchen, aber du bist echt nicht mein Typ.«
»Hör mal, Hudson, ich weiß, dass diese Verbrennungen wehtun. Ich biete dir meine Hilfe an. Und dieses Mal ändere ich meine Meinung nicht.«
»Mach dir keine Gedanken.« Er steht auf, schiebt die Hände in die Taschen in einer Bewegung, die nonchalant wirken soll, das weiß ich. Es wäre aber vermutlich effektiver, wenn er dabei nicht immer noch ein wenig zittern würde. »Ich kann mich um mich selbst kümmern.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, das hättest du schon, wenn das stimmen würde«, antworte ich. »Würdest du also einfach mit diesem Scheiß aufhören und dein Hemd ausziehen, damit wir es hinter uns bringen können?«
Er sieht mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Gut, wie soll ich einem so charmanten Angebot auch widerstehen?« Er blickt hinab auf die Medizin in meinen Händen. »Ich weiß das zu schätzen, aber nichts davon wird helfen.«
»Oh.« Das hatte ich nicht bedacht. »Sind Vampire gegen Menschenmedikamente immun?«
»Nein. Aber wir sind immun gegen so ziemlich alles, wofür man Menschenmedikamente gebrauchen könnte.« Hudson nickt zu der Antibiotikasalbe in meiner Hand. »Wie die Bakterien, die diese Salbe abtöten soll. Ich brauche sie nicht, weil die Bakterien mir nicht schaden können.«
»Na gut.« Ich senke den Kopf in einer Touché-Geste. »Aber das habe ich wegen der betäubenden Wirkung ausgesucht, nicht wegen der keimtötenden Wirkung. Und ich finde immer noch, dass es einen Versuch wert ist. Es sei denn, du glaubst, dass diese Art Medizin wirklich nicht bei etwas mit übernatürlichem Ursprung wie Drachenfeuer wirkt.«
Er will mit den Schultern zucken, unterbricht sich aber mit einem Aufkeuchen. »Ich weiß nicht, ob es hilft oder nicht. Lass es hier und ich versuche es.«
»Du versuchst es?« Ich beäuge ihn zweifelnd. »Ich weiß, dass Vampire so in etwa alles können – zumindest sagen sie das –, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du Hilfe benötigst, um an deinen Rücken zu kommen.«
»Ich bin es gewohnt, alles allein zu machen. Ich brauche keine …«
»Hilfe«, beende ich den Satz für ihn und ignoriere das flüchtige Aufflackern von Mitleid, das mich bei dem Gedanken erfasst, dass jemand – auch jemand wie Hudson – so einsam sein kann, dass er gelernt hat alles allein zu machen. »Blablabla. Lass gut sein, Zecke, ich habe schon alle Entschuldigungen gehört.«
»Zecke?«, wiederholt er mit sehr ausgeprägtem britischem Akzent. Ich kenne ihn erst seit Kurzem, aber bestimmt hat er in seinem ganzen Leben nie beleidigter geklungen.
Gut. Denn ich möchte mich wirklich niemals mit Jaxons bösem älteren Bruder anfreunden. Aber ich packe es nicht, ihn unnötig leiden zu sehen. Das würde ich für jeden tun.
Außerdem, wenn er mich anlügt und er uns das hier doch antut, ist es wohl besser, ihn am Leben zu halten. Wie zur Hölle soll ich sonst allein hier herausfinden?
»Sieh nicht so überrascht drein«, sage ich und öffne das Päckchen mit der Gaze, sodass ich leicht herankomme. »Die trinken auch Blut, oder?«
»Das ist nicht dasselbe«, knurrt er.
Ich drehe den Verschluss der Antibiotikasalbe ab, lege sie bereit. »Das sagst du nur, weil du nicht weißt, wie es ist, wenn an dir gesaugt wird.«
»Und du weißt das, hm?« In seinen Augen steht ein neuer Ausdruck, einer, bei dem ich am ganzen Körper erzittere.
Aber das werde ich ihm nicht zeigen. Gibt man einem Kerl wie Hudson einen Finger, nimmt er den ganzen Arm.
»Drehst du dich jetzt um?«, sage ich so gelangweilt, wie ich kann, halte dabei das Peroxid hoch.
Glücklicherweise ist der merkwürdige Ausdruck so schnell verschwunden, wie er gekommen ist. Und jetzt ist seine einzige Reaktion, die Arme über der Brust zu kreuzen und verärgert auf mich herabzustarren. Er sieht Furcht einflößend wie sonst was aus, trotz der offensichtlichen Qual in seinem Blick.
Aber das ist ein Furcht Einflößend, mit dem ich arbeiten kann. Immerhin hat Jaxon mich fast die ganze erste Woche an der Katmere auf ganz genau die gleiche Art angestarrt. Mittlerweile bin ich also ziemlich immun dagegen.
»Da musst du sehr viel mehr Fangzahn zeigen, wenn du mir Angst einjagen willst«, sage ich total gleichgültig.
»Das bekomme ich hin.« Und innerhalb eines Wimpernschlags hat er die Entfernung zwischen uns überbrückt. Und seine Zähne sind an meinem Hals.
»Führ mich nicht in Versuchung«, knurrt er mit trügerisch leiser Stimme, so nah, dass ich seinen Atem an meinem Ohr spüre. »Nicht nur du hast Hunger.«
Entsetzen lässt mein Herz schlagen wie Kolibriflügel, schnell und flattrig und ein wenig schmerzhaft. Aber auf keinen Fall zeige ich Hudson, wie viel Angst ich habe.
Vor ihm, diesem Ort, davor, Jaxon nie wiederzusehen. Diese Genugtuung gebe ich ihm nicht.
Also fahre ich mir mit einer Hand durch die Locken, wende den Kopf, bis wir uns Auge in Auge, Nase an Nase gegenüberstehen. Sage: »Beiß mich doch!« – und kippe ihm die halbe Flasche Peroxid über den Rücken, mit Hemd und allem.
»WOFÜR IN ALLEN HÖLLEN HAST DU DAS GEMACHT?«, brülle ich, als mein Rücken Feuer fängt und das nasse Hemd an den Verbrennungen festklebt.
»Stell dich nicht an wie ein überdimensioniertes Baby«, sagt Grace und duckt sich unter meinem Griff hinweg. »Dein Rücken muss gründlich gereinigt werden.«
»Ich habe dir schon gesagt, dass dieser Scheiß egal ist«, blaffe ich und reiße mir das Hemd über den Kopf. Die kühle Luft trifft auf die Brandwunden und ich jaule auf. »Wir kriegen keine Infektion!«
»Tja, schön, du bist aber nicht gerade die glaubwürdigste Person, der ich je begegnet bin«, antwortet sie und stellt sich hinter mich. »Ich bin nicht sicher, ob das Peroxid hilft, aber es hat es auch nicht verschlimmert.«
»Sagt die Frau, deren Rücken nicht gerade brennt wie das Höllenfeuer selbst.«
»Könntest du bitte mal zehn Sekunden lang aufhören so rumzuheulen?« Ich kann das verflixte Mädel nicht sehen, aber das Augenrollen höre ich trotzdem in ihrer Stimme. »Das nervt langsam.«
Zwei Dutzend Konter tanzen auf meiner Zungenspitze herum, aber ich beiße die Zähne zusammen. So wie ich Grace langsam kennenlerne, bin ich mir ziemlich sicher, dass alles, was ich jetzt sage, als Gejammer bezeichnet würde.