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Traust du dich, das Schicksal herauszufordern? Das Schicksal hält für Grace und ihre Freunde an der Katmere Academy immer neue Herausforderungen bereit: Als wären komplizierte Liebesbeziehungen und der Schulabschluss an einem Internat mit übernatürlichen Wesen nicht anstrengend genug, muss Grace sich auch noch mit einer Reihe anderer Probleme herumschlagen. Dass sie die Erste ihrer Art seit über 1000 Jahren ist und man ihr nach dem Leben trachtet, ist dabei noch das geringste. Grace steht vor einer Entscheidung, bei der ihre Liebe und ihre Zukunft auf dem Spiel stehen … Alle Bände der Katmere-Academy-Chroniken: Band 1: Crave Band 2: Crush Band 3: Covet Band 4: Court Band 5: Charm Band 6: Cherish Die Spin-off-Reihe: Die Calder-Academy-Chroniken von Tracy Wolff bei dtv: Band 1: Sweet Nightmare Band 2: Sweet Chaos (erscheint im Herbst 2025) Band 3: Sweet Vengeance (erscheint 2026) Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar.
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„Taten haben Konsequenzen. Fehler werden gemacht. Herzen werden gebrochen.“
Grace glaubt, ihr Limit an Elend erreicht zu haben. Zusätzlich zu ihrem bevorstehenden Schulabschluss – an einer Schule voller Paranormaler – und einem mehr als komplizierten Liebesleben muss sie sich auch noch mit Zukunftsängsten der besonderen Art herumschlagen. Jaxon hat sich in eine Person verwandelt, die Grace kaum wiedererkennt, ihr selbst steht eine Krönung entgegen dem Willen des korrupten Rats bevor und der Vampirkönig schmiedet Kriegspläne.
Doch offenbar hält die Zukunft für sie auch noch ein dämonisches Gefängnis bereit, das von einem unentrinnbaren Fluch beherrscht wird – und die Strafe ist lebenslänglich. Grace muss einen Ausweg finden, um sich, ihre Liebe und ihre Welt zu retten. Auch wenn dies eine Entscheidung erfordert, die tödliche Konsequenzen hat …
Der dritte Teil der Bestsellerreihe – uralte Feinde, neue Verbündete, große Gefühle
Von Tracy Wolff ist bei dtv außerdem lieferbar:
Crave
Crush
TRACY WOLFF
covet
Roman
Aus dem amerikanischen Englischvon Michelle Gyo
Für meinen Dad, der meine Fantasie gefördert hat und mich daran glauben ließ, dass ich alles kann.Und für meine Mutter, die mich unterstützt und geliebt hat, während allem.
Anmerkung der Autorin:
Dieses Buch stellt Aspekte von Panikattacken, Tod und Gewalt, emotionaler Folter und Inhaftierung, sowie sexuelle Inhalte dar. Ich hoffe, dass ich diese Elemente sensibel und angemessen behandelt habe.
SO HATTE DAS NICHT PASSIEREN SOLLEN.
So hatte nichts passieren sollen. Andererseits, wann ist mein Leben in diesem Jahr schon nach Plan verlaufen? Vom ersten Moment an der Katmere Academy lag so vieles außerhalb meiner Kontrolle. Warum sollte es heute, warum sollte es in diesem Augenblick anders sein?
Ich richte die Strumpfhose und streiche meinen Rock glatt. Dann schlüpfe ich in meine schwarzen Lieblingsstiefel und schnappe mir die schwarze Schuluniformjacke aus dem Schrank.
Meine Hände zittern ein wenig – eigentlich zittert mein ganzer Körper –, während ich die Arme durch die Ärmel schiebe. Doch das ist nur angemessen. Es ist die dritte Beerdigung, zu der ich innerhalb von zwölf Monaten gehe. Und es ist nicht leichter geworden. Nichts ist leichter geworden.
Fünf Tage sind vergangen, seit ich die Prüfung bestanden habe.
Fünf Tage, seit Cole die Gefährtenbindung zwischen Jaxon und mir zerbrochen und uns beide dabei fast zerstört hat.
Fünf Tage, seit ich fast gestorben bin … und fünf Tage, seit Xavier wirklich gestorben ist.
Mein Magen rebelliert, und eine Sekunde lang glaube ich, mich übergeben zu müssen.
Ich hole mehrmals tief Luft – durch die Nase ein, durch den Mund aus –, um die Übelkeit und die Panik zu bezwingen, die in mir aufsteigen. Es dauert eine Minute oder auch drei, aber schließlich legen sich die Empfindungen so weit, dass es sich nicht mehr anfühlt, als stünde ein voll beladener Schwerlasttransport auf meiner Brust.
Es ist nur ein kleiner Sieg, aber ein Sieg.
Ich hole noch einmal tief Luft, während ich die Messingknöpfe an meinem Blazer schließe, dann blicke ich in den Spiegel, um zu prüfen, ob ich präsentabel aussehe. Das tue ich … solange man den Begriff »präsentabel« nicht zu genau nimmt.
Meine braunen Augen sind stumpf, meine Haut fahl. Und meine nervigen Locken ringen schon mit dem Knoten, in den ich sie gezwungen habe. Trauer stand mir noch nie besonders gut.
Wenigstens verblassen die Prellungen der Ludares-Prüfung langsam, haben sich vom ursprünglichen Tiefschwarz und Lila in ein fleckiges Gelb und Lavendel verwandelt und stehen also kurz vorm Verschwinden. Und es hilft ein wenig, dass Cole endlich die »Zu viele Verwarnungen, dann bist du raus«-Grenze meines Onkels erreicht hatte und der Schule verwiesen worden ist. Ein Teil von mir wünscht sich, dass er an dieser Schule für paranormale Straffällige und Außenseiter in Texas, an die man ihn geschickt hat, einem noch größeren Tyrannen begegnet … nur damit er mal sieht, wie das so ist.
Die Badezimmertür geht auf, und meine Cousine, Macy, kommt im Bademantel und mit Handtuch um den Kopf gewickelt heraus. Ich möchte sie antreiben – uns bleiben nur zwanzig Minuten bis wir zur Gedenkfeier im Auditorium sein müssen –, aber ich kann es nicht. Nicht, wenn sie so aussieht, als wäre jeder Atemzug eine Qual.
Ich weiß nur zu gut, wie sich das anfühlt.
Stattdessen warte ich darauf, dass Macy etwas sagt, irgendwas, aber sie gibt keinen Laut von sich, geht zu ihrem Bett und zieht die formelle Uniform an, die ich für sie bereitgelegt habe. Es tut weh, sie so zu sehen, ihre Prellungen sind nicht weniger schmerzhaft als meine, nur weil sie in ihrem Inneren sind.
Seit meinem ersten Tag an der Katmere war Macy diese ungebändigte Präsenz. Das Licht zu Jaxons Dunkelheit, die Begeisterung zu Hudsons Sarkasmus, die Freude zu meinem Leid. Aber jetzt … jetzt ist es, als wäre jeder kleinste Funken Glitzer aus ihrem Leben verschwunden. Und aus meinem.
»Brauchst du Hilfe?«, frage ich schließlich, weil sie weiter auf ihre Uniform hinabstarrt, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen.
Der Blick aus blauen Augen, den sie auf mich richtet, ist gepeinigt, leer. »Ich weiß nicht, warum ich so …« Ihre Stimme verklingt, als sie sich in dem Versuch räuspert, die Heiserkeit zu vertreiben – und die Traurigkeit, wegen der sie ihre Stimme so lange nicht benutzt hat. »Ich kannte ihn kaum …«
Dieses Mal verstummt sie, weil ihre Stimme bricht. Ihre Fäuste ballen sich, und Tränen schwimmen in ihren Augen.
»Nicht«, sage ich und gehe zu ihr, will sie umarmen, weil ich weiß, wie es ist, sich selbst wegen etwas Vorwürfe zu machen, das man nicht ändern kann. Weil man überlebt hat, während jemand, den man liebt, nicht mehr am Leben ist. »Mach deine Gefühle für ihn nicht klein, nur weil du ihn noch nicht so lange kanntest. Es geht darum, wie du jemanden kennst, nicht wie lange.«
Sie erschaudert ein wenig, ein Schluchzer verfängt sich in ihrer Brust, also umarme ich sie fester, versuche, ein wenig von ihrem Schmerz und ihrer Trauer wegzunehmen. Versuche, für sie zu tun, was sie für mich getan hat, als ich an die Katmere kam.
Sie hält mich fest, und Tränen rollen ihr quälende Sekunden über das Gesicht. »Ich vermisse ihn«, bringt sie endlich heraus. »Ich vermisse ihn einfach so sehr.«
»Ich weiß«, sage ich beruhigend und reibe ihr den Rücken langsam und in kleinen Kreisen. »Ich weiß.«
Jetzt weint sie richtig, ihre Schultern beben, ihr Körper zittert, der Atem stockt, Minuten, die ewig anzudauern scheinen. Mein Herz zerbricht mir in der Brust – wegen Macy, wegen Xavier, wegen allem, das uns hierhergebracht hat – und ich schaffe es nur gerade so, nicht mitzuweinen. Aber jetzt ist Macy dran … und ich bin an der Reihe, mich um sie zu kümmern.
Schließlich löst sie sich von mir. Fährt sich über die nassen Wangen. Sieht mich mit einem zerbrechlichen Lächeln an, das ihre Augen nicht erreicht. »Wir müssen los«, flüstert sie und wischt sich ein letztes Mal mit den Händen über das Gesicht. »Ich möchte nicht zu spät zur Gedenkfeier kommen.«
»Okay.« Ich erwidere ihr Lächeln, dann lasse ich ihr ein wenig Raum, um sich anzuziehen.
Als ich mich ein paar Minuten später wieder zu ihr umwende, muss ich aufkeuchen. Nicht weil Macy einen Glamour benutzt hat, um ihre Haare zu trocknen und zu frisieren – daran habe ich mich gewöhnt –, sondern weil ihr knallpinkes Haar jetzt pechschwarz ist.
»Es fühlte sich nicht richtig an«, murmelt sie und kämmt mit den Fingern durch ein paar Strähnen. »Knallpink ist nicht gerade eine traurige Farbe.«
Ich weiß, dass sie recht hat, und doch trauere ich um diesen letzten Rest meiner strahlenden und leuchtenden Cousine. Wir alle haben kürzlich so viel verloren, und ich bin nicht sicher, wie viel wir noch verkraften können.
»Es sieht gut aus«, sage ich, weil es stimmt. Aber das ist keine Überraschung – Macy würde kahlköpfig oder mit brennenden Haaren gut aussehen, und das hier ist weit entfernt von beidem. Es lässt sie jedoch noch filigraner wirken. Noch zerbrechlicher.
»Es fühlt sich nicht gut an«, antwortet sie. Aber sie schiebt die Füße in ein Paar stylischer flacher Schuhe, steckt sich Ohrringe in ihre zahlreichen Ohrlöcher. Wirkt einen weiteren Glamour – um ihre roten, verquollenen Augen loszuwerden.
Die Schultern nach hinten gedrückt, der Kiefer angespannt, sind ihre Augen traurig, aber klar, als sie meinem Blick begegnet. »Los geht’s.« Sogar ihre Stimme klingt entschlossen, stählern, und diese Entschlossenheit schiebt mich auf die Tür zu.
Ich nehme mein Telefon und will den anderen schreiben, dass wir auf dem Weg sind, aber in der Sekunde, in der ich die Tür öffne, stelle ich fest, dass es unnötig ist. Denn sie sind alle im Flur, warten auf uns. Flint, Eden, Mekhi, Luca. Jaxon und … Hudson. Manche sind angeschlagener als andere, aber alle sind ein wenig mitgenommen – so wie Macy und ich –, und mein Herz schwillt an, als ich sie so sehe.
Gerade ist alles ein einziges Chaos – oh mein Gott, ist es ein Chaos –, aber eins hat sich nicht verändert. Diese sieben Leute stehen hinter mir und ich hinter ihnen … und das wird immer so sein.
Doch als mein Blick Jaxons kalten dunklen Augen begegnet, muss ich unwillkürlich denken, dass sich zwar eins nicht verändert hat, alles andere aber schon.
Und dass ich keine Ahnung habe, was ich deshalb unternehmen soll.
Drei Wochen später …
»ICH FLEHE DICH AN.« Macy wirft sich quer über ihre Regenbogenbettdecke und starrt mich flehend an. Es ist so schön, sie nach Xaviers Begräbnis endlich einmal wieder beinahe-lächeln zu sehen, dass ich nicht anders kann, als es zu erwidern. Es ist noch kein ganzes Lächeln, aber ich nehme es. »Um Himmels willen, bitte, bitte, bitteeeeeee erlöse diese Jungs aus ihrem Elend.«
»Das wird schwer«, antworte ich und lasse meinen Rucksack neben meinen Schreibtisch fallen, um mich dann auf mein Bett sinken zu lassen. »Bedenkt man, dass ich sie nicht in ihr Elend gestürzt habe.«
»Das ist die größte Lüge, die du jemals erzählt hast.« Meine Cousine schnaubt, dann hebt sie den Kopf gerade so weit, dass ich ihr Augenrollen sehen kann. »Du bist zu einhundertfünfzig Prozent dafür verantwortlich, dass Jaxon und Hudson die letzten drei Wochen Trübsal blasen.«
»Ich denke, es gibt viele Gründe, aus denen Jaxon und Hudson Trübsal blasen, und ich bin nur an der Hälfte davon schuld«, gebe ich zurück … dann bereue ich meine Worte sofort.
Nicht weil sie nicht wahr wären, sondern weil ich jetzt zusehen muss, wie das bisschen Farbe wieder aus Macys Wangen sickert. Sie sieht so anders aus als das Mädchen, das ich im November kennengelernt habe, dass es schwer zu glauben ist, dass sie noch dieselbe ist. Ihr wild gefärbtes Haar ist immer noch nicht zurückgekehrt, und während das tiefe Rabenschwarz, das sie für Xaviers Beerdigung angenommen hat, gut zu ihrem Teint passt, passt es zu nichts anderem an ihr. Nur zu ihrer Traurigkeit … dazu passt es sehr gut.
Ich setze zu einer Entschuldigung an, aber Macy rollt sich herum und sieht mich an. »Ich weiß genau, wie ein elender Vampir aussieht, und du hast zwei davon am Start. Und nur ein kleines FYI: Tödlich und elend ergeben eine gefährliche Mischung, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
»Oh, es ist mir aufgefallen.« Mit dieser Mischung habe ich seit Wochen zu tun, eine Mischung, wegen der sich jeder meiner Atemzüge anfühlt, als würde gleich eine Bombe hochgehen, jede meiner Bewegungen, als würde ich russisches Roulette mit unser aller Glück spielen.
Und weil das Universum noch nicht mit mir fertig ist … offensichtlich lag Macy falsch, als sie sagte, dass Hudson mit der Schule fertig war, bevor Jaxon ihn tötete. Nope, nah dran und doch so fern. Etwas von wegen fehlenden Punkten, weil er Privatlehrer hatte und nicht alle vier Jahre an der Katmere war. Macy war ein ganz anderer Jahrgang als er, also hatte sie mit den Schultern gezuckt – was wusste sie schon? Niemand hatte nach seinem Tod seinen Namen ausgesprochen. Aber wie auch immer, jetzt ist er da, egal wohin ich mich auch drehe und wende. So wie Jaxon. Beide in unserem Freundeskreis und gleichzeitig auch nicht. Beide beobachten mich mit oberflächlich leer erscheinenden Augen, die doch in den Tiefen eine Vielzahl an Gefühlen bereithalten. Beide warten darauf, dass ich … irgendetwas tue oder sage.
»Ich weiß immer noch nicht, wie ich jetzt mit Hudson verbunden sein kann«, sage ich stumpf. »Ich dachte, man muss eine Bindung wollen oder zumindest ›offen‹ dafür sein, damit sie überhaupt entstehen kann?«
Macy grinst mich an. »Etwas empfindest du sichtlich für ihn.«
Ich verdrehe die Augen. »Dankbarkeit. Ich empfinde Dankbarkeit ihm gegenüber. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein schrecklicher Grund ist, um mit jemandem was anzufangen.«
»Also …« Macys Augen glitzern jetzt definitiv voller Humor. »Du hast darüber nachgedacht, was mit Hudson anzufangen, mh?«
Ich werfe ein kleines Dekokissen nach meiner Cousine, die ihm mit Leichtigkeit ausweicht. »Na, ich weiß nur, die meisten an der Schule würden töten, um auch nur einen Gefährten zu finden. Dass du mittlerweile schon den zweiten hast, seit du hier bist, ist so was von unzulässig.«
Macy neckt mich, versucht, die Stimmung zu lockern, aber es hilft nicht.
Hudson sitzt oft bei den Mahlzeiten oder im Unterricht, den wir gemeinsam haben, bei uns. Obwohl der größte Teil des Ordens und Flint ihn misstrauisch im Blick behalten, hat er es irgendwie geschafft, meine Cousine mit wenig mehr als einem neckischen Halblächeln und einem French Vanilla Latte für sich zu gewinnen.
Tatsächlich ist sie eine der wenigen, die Jaxon die Schuld daran geben, dass unsere Bindung durchtrennt wurde, und die entschieden Team Hudson ist. Ich frage mich unwillkürlich, ob sie auf Hudsons Seite ist, weil sie wirklich glaubt, dass er der Beste für mich ist – oder einfach, weil er nicht Jaxon ist, der Junge, der darauf bestand, dass wir die Unzerstörbare Bestie herausfordern, was letztendlich zu Xaviers Tod führte.
Aber in einer Sache hat sie auf jeden Fall recht: Ich werde mich um dieses Chaos kümmern müssen.
Ich hatte nur gehofft, die Situation noch etwas länger ignorieren zu können … zumindest, bis ich einen Plan habe. Seit Xaviers Begräbnis habe ich ständig überlegt, wie ich alles wiedergutmachen kann – zwischen Jaxon und mir und Jaxon und Hudson und Hudson und mir –, aber das kann ich nicht. Der Boden unter mir hat sich in Treibsand verwandelt, und meine Flügel sind keine so große Hilfe, wie man vermuten könnte … ich meine, manchmal muss ich landen, und dann versinke ich jedes Mal.
Macy muss meine Qualen spüren, denn sie setzt sich auf, und ihre Heiterkeit verfliegt so schnell wie meine. »Ich weiß, dass es gerade hart ist«, fährt sie fort. »Ich habe dich mit den Jungs nur aufgezogen. Du gibst dein Bestes.«
»Was, wenn ich nicht weiß, was zu tun ist?« Die Worte platzen förmlich aus mir heraus, als wäre ich eine Flasche, die unter Druck steht, und Macy hätte sie ein wenig geöffnet. »Ich habe kaum angefangen zu begreifen, dass ich eine Gargoyle bin, und jetzt muss ich damit zurechtkommen, dass ich einen Platz im Rat der Verdammung und Verzweiflung innehabe und gleich nach dem Schulabschluss gekrönt werden soll.«
»Rat der Verdammung und Verzweiflung?«, wiederholt Macy mit einem verblüfften Lachen.
»Danach werde ich vermutlich in einen Turm gesperrt oder geköpft oder irgendwas ähnlich Fatalistisches«, sage ich, als wäre das ein Witz, aber ich scherze nicht. In mir findet sich kein Quäntchen Optimismus in Bezug auf meine Mitgliedschaft im paranormalen Rat, den Jaxons und Hudsons Eltern leiten … oder auf sonst etwas, das damit einhergeht. Darin eingeschlossen politische Machtspiele, das Überleben allgemein und in dieser neuen schönen Welt, in der ich mich plötzlich wiederfinde, mit Hudson statt mit meinem eigentlichen festen Freund verbunden zu sein.
»Ich liebe Jaxon immer noch. Ich kann nicht ändern, was ich empfinde«, stöhne ich. »Aber ich kann es auch nicht ertragen, Hudson wehzutun – oder den Ausdruck in seinen Augen, wenn wir am Mittagstisch sitzen und er mich mit seinem Bruder sieht.«
Die ganze Sache ist ein unglaublicher Albtraum, und dass ich seit meinem Beinahe-Tod nicht besonders viel schlafen konnte, macht alles nur schlimmer. Aber wie soll ich mich entspannen, wenn ich jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, spüre, wie Cyrus’ Zähne in meinen Hals sinken und die Qual seines Ewigen Bisses sich in mir ausbreitet? Oder ich daran denken muss, wie Hudson mich in ein flaches Grab legt und mich lebendig begräbt (bin immer noch nicht bereit zu fragen, woher er das wusste)? Oder schlimmer – und ja, das ist wirklich schlimmer –, ich Jaxons Miene vor mir sehe, als Hudson ihm sagte, dass ich seine Gefährtin bin?
So schreckliche Erinnerungen, dass ich nur abhauen und mich verstecken möchte.
»Hey, alles wird gut«, sagt Macy, ihre Stimme ist zaghaft und ihr Blick besorgt.
»›Gut‹ könnte etwas übertrieben sein.« Ich drehe mich um und starre an die Decke, aber ich erkenne sie kaum. Stattdessen sehe ich ihre Augen.
Ein dunkles Augenpaar, ein helles.
Beide gepeinigt.
Beide warten auf etwas, von dem ich nicht weiß, wie ich es geben soll, und auf eine Antwort, von der ich nicht einmal weiß, wo ich nach ihr suchen soll.
Ich weiß, was ich fühle. Ich liebe Jaxon.
Und Hudson, also, das ist komplizierter. Keine Liebe, aber das, fürchte ich, ist nicht das, was er hören will. Ja, mein Puls rast, wenn er in der Nähe ist, aber objektiv betrachtet ist der Typ auch eine Ebene über umwerfend. Jeder, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde sich von ihm angezogen fühlen. Außerdem ist da jetzt diese Gefährtenbindung zwischen uns, die dafür sorgt, dass ich Dinge fühle, die nicht wirklich da sind. Wenigstens nicht, wie ich es möchte.
Nach allem, was er für mich getan hat, nach der Beziehung, die wir in den Wochen, in denen wir zusammen eingesperrt waren, zueinander aufgebaut haben, möchte ich ihn nicht enttäuschen und ihm sagen, dass ich nicht mehr für ihn empfinde als eine tiefe Freundschaft.
Ich stöhne wieder. Typisch ich, dass ich einfach davon ausgehe, dass Hudson überhaupt mit mir verbunden sein möchte. Er könnte genauso sauer aufs Universum sein wie ich, weil es uns in diese peinliche Situation gebracht hat.
Macy stößt einen langen Seufzer aus, dann steigt sie vom Bett und setzt sich auf das Fußende von meinem. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht bedrängen.«
»Das ist es nicht. Es ist nur …« Ich verstumme, weiß nicht, wie ich meine Verwirrung ausdrücken soll.
»Alles?« Sie füllt die Lücke, die ich gelassen habe, und ich nicke, denn ja, alles ist verdammt noch mal viel.
Stille breitet sich zwischen uns aus, lang und unangenehm. Ich warte darauf, dass Macy aufgibt, wieder zu ihrem Bett geht und diese bescheuerte Unterhaltung sein lässt, aber sie rührt sich nicht. Stattdessen lehnt sie sich gegen die Wand und beobachtet mich ruhig und geduldig, was nicht gerade ihr üblicher Modus Operandi ist.
Ich bin nicht sicher, ob es an der Stille liegt oder daran, wie sie mich ansieht, oder dem Bedürfnis, mein Herz auszuschütten, das sich schon den ganzen Tag angestaut hat, aber die Spannung steigt immer weiter, bis ich endlich mit der Wahrheit herausplatze, die ich vor jedem zu verbergen versucht habe, sogar vor mir selbst. »Ich glaube echt nicht, dass ich stark genug für das alles bin.«
Ich weiß nicht genau, welche Reaktion ich auf mein Geständnis erwarte – im Bruchteil einer Sekunde geht mir alles durch den Kopf, von ausufernder Sympathie bis hin zu einem »Reiß dich zusammen« in einem scharfen Tonfall, der nichts mit mir zu tun hat, sondern damit, dass es auch für sie wirklich mies läuft.
Am Ende tut sie jedoch die eine Sache, mit der ich nicht gerechnet habe. Die eine Sache, die mir niemals auch nur in den Sinn kam. Sie lacht los. »Ohne Scheiß, Sherlock. Ich würde mir Sorgen machen, wenn du wirklich gedacht hättest, du könntest mit all dem allein klarkommen.«
»Wirklich?« Ich bin perplex. Und vielleicht ein wenig beleidigt – denkt sie wirklich, dass ich so inkompetent bin? Nur weil ich weiß, dass ich ein einziges Desaster bin, heißt das nicht, dass es auch alle anderen wissen sollen. »Warum?«
»Weil du nicht allein bist und du es nicht allein machen musst. Dafür bin ich da. Dafür sind wir alle da – besonders deine festen Freunde.«
Ich sehe sie strafend an wegen der Verwendung des Plurals – und der Betonung, die sie darauf gelegt hat. »Fester Freund«, korrigiere ich sie mit besonderer Betonung der Einzahl. »Einer, nicht zwei.« Ich halte meinen Zeigefinger hoch, nur damit sie es auch wirklich begreift. »Ein fester Freund.«
»Oh, klar. Einer. Natürlich.« Macy wirft mir einen schelmischen Blick zu. »Also, nur um ganz sicher zu gehen: Welcher Vampir ist das dann genau?«
»DU BIST FÜRCHTERLICH«, sage ich scherzhaft. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir uns auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist? Mein Highschool-Abschluss?«
Zwischen dem Verlust meiner Eltern, dem Schulwechsel und dem Verpassen von fast vier Monaten, während ich meine beste Imitation eines Wasserspeiers gegeben habe, bin ich so hinterher, wie man es nur sein kann, wenn man noch zur Abschlussklasse gehört. Was heißt, dass ich das Jahr wiederholen muss, falls ich die zusätzlichen Projekte nicht beende und alle meine Abschlussprüfungen bestehe. Und das ist nicht akzeptabel, ganz egal wie sehr es Macy gefallen würde, wenn ich noch ein Jahr da wäre. Ich meine, wenn Hudson aufholen kann, obwohl er tot war, verdammt, dann kann ich das auch.
»Du weißt, dass ich deshalb den Kopf so in den Sand stecke, oder?«, gebe ich endlich zu. »Denn ich kann auf gar keinen Fall mit der lächerlichen Menge an Arbeit klarkommen, die ich nachholen muss, und rausfinden, was ich tun soll wegen Cyrus oder dem Rat oder …«
»Deinem Gefährten?« Macy lächelt reumütig und hebt eine Hand, bevor ich protestieren kann. »Sorry, konnte nicht widerstehen. Aber du hast recht, so sehr ich wünschte, es wäre anders, scheinst du wirklich den Abschluss machen zu wollen.« Sie geht zum Schreibtisch und nimmt ihren Laptop. »Also, als deine selbst ernannte beste Freundin ist es mein Job sicherzustellen, dass das auch passiert. Du hast eine Präsentation für Dr. Veracruz’ Geschichte der Hexerei, richtig? Ich habe einige andere aus dem Abschlussjahr darüber reden hören.«
»Ja.« Ich nicke. »Jeder musste sich ein Thema aussuchen, das dieses Jahr im Unterricht besprochen wurde, um dann ein zehnseitiges Paper zu schreiben und zu präsentieren über einen Unterpunkt des Themas, für den wir keine Zeit hatten. Angeblich, damit wir alle ein umfassenderes Wissen über die unterschiedlichen Aspekte der Geschichte bekommen, aber ich glaube, sie will uns nur foltern.«
Macy steigt zurück in ihr Bett und tippt etwas auf ihrem Laptop. »Ich weiß genau das richtige Thema für dich!«
»Ach ja?«, frage ich, rolle mich herum und setze mich hin.
»Ja«, antwortet sie. »Ihr habt Gefährtenbindungen besprochen, richtig? Ich war nur aus diesem Grund total scharf drauf, diesen Kurs zu belegen. Na, und du bist ein lebendes Beispiel für etwas, das nicht im Unterricht besprochen wird.«
Ich schüttle den Kopf. »Leider habe ich diesen Vortrag verpasst, aber Flint sagte, es wäre möglich, im Leben mit mehr als einer Person verbunden zu sein. Ich bin nicht die Einzige mit mehr als einem Gefährten.«
Macy hält im Tippen inne und sieht zu mir auf, eine Braue gehoben. »Schon, aber du bist die Einzige, deren Bindung von etwas anderem als vom Tod des Gefährten getrennt wurde.«
»Ist das niemandem sonst je passiert?«, hake ich nach, und mein Herz pocht heftig. »Wirklich?« Es scheint so schwer zu glauben, und es ist auch zu schrecklich, um es zu glauben. Wenn so etwas nie zuvor jemandem widerfahren ist, wie sollen wir es dann beheben? Was sollen wir tun? Und warum, warum, warum ist es Jaxon und mir passiert?
»Niemandem«, bekräftigt Macy. »Gefährtenbindungen zerbrechen niemals, Grace. Das tun sie einfach nicht. Das können sie nicht. Das ist ein Naturgesetz oder so was.« Sie hält inne und blickt auf ihre Hände, die auf der Tastatur ruhen. »Nur dass deine es, irgendwie, getan hat.«
Als müsste man mich wirklich daran erinnern.
Als wäre ich nicht dabei gewesen.
Als hätte ich nicht gespürt, wie es mit einer Macht zerriss, die mich fast zerfetzt hätte, einer Macht, die mich beinahe zerstört hätte … und Jaxon auch.
»Nie?« Da muss ich mich verhört haben. Sicher bin ich doch nicht die Einzige.
»Niemals«, versichert Macy und betont jede Silbe, während sie mich ansieht, als hätte ich plötzlich drei Köpfe. »Niemals nie, Grace. Nicht fast niemals. Niemals niemals. Wie niemals in unserer gesamten Geschichte niemals. Gefährtenbindungen können nicht getrennt werden, während die Gefährten noch leben. Niemals.« Sie schüttelt bekräftigend den Kopf. »Ich meine niemals. Jemals. Niem…«
»Okay, okay. Ich habe verstanden.« Ergeben schüttle ich den Kopf. »Gefährtenbindungen zerbrechen niemals. Nur dass Jaxons und meine gebrochen ist und keiner von uns tot ist, deshalb …«
»Ja«, stimmt sie mit einem Stirnrunzeln zu. »Wir befinden uns hier auf völlig unbekanntem Terrain. Es ist kein Wunder, dass du dich so verkorkst fühlst. Du bist verkorkst.«
»Wow. Na danke auch.« Ich tue so, als würde ich einen Dolch aus meinem Herzen ziehen.
Aber Macy verzieht nur das Gesicht. »Du weißt, was ich meine.«
»Das tue ich«, stimme ich zu. »Aber da ist etwas an der ganzen Sache, das ich einfach nicht verstehe. Ich habe seit Tagen darüber nachgedacht, und deshalb bin ich auch so skeptisch bei dieser ganzen ›Das ist noch nie passiert‹-Sache. Ich …«
»Niemals«, wirft sie ein und wedelt mit den Händen zur Bekräftigung herum. »Es passiert buchstäblich niemals.«
Ich halte eine Hand hoch, damit sie aufhört. »Aber wenn das wahr ist, und Gefährtenbindungen niemals brechen, warum genau gab es dann einen Zauber, um meine zu zerbrechen? Und wieso kannte Bloodletter ihn dann rein zufällig?«
»HEY, WEISST DU, WAS ES HEUTE zum Abendessen gibt?«, frage ich Macy. Wir gehen gemeinsam den mit Drachenleuchtern erhellten Flur zur Cafeteria hinab. Nach drei Stunden Recherche zu Gefährtenbindungen haben wir ordentlich Hunger – auch wenn wir bisher niemanden gefunden haben, dessen Bindung getrennt wurde, und auch keine Erwähnung eines Zaubers entdeckt haben, der das bewirken kann. »Ich habe vergessen nachzusehen.«
»Was immer es gibt, es wird schrecklich.« Angewidert verzieht sie das Gesicht und seufzt. »Ist der miese Mittwoch.«
»Mieser Mittwoch?« Ich sollte vermutlich wissen, was sie meint, da ich die letzten drei Wochen fast jeden Tag in der Cafeteria gegessen habe, aber ich war auch mehr als nur ein bisschen abgelenkt. An den meisten Tagen bin ich froh, wenn ich daran denke, meine Uniform zu tragen, ganz zu schweigen davon, mich daran zu erinnern, was es in der Cafeteria gibt … gut, bis auf die Waffelfreitage. Die sind auf ewig unauslöschlich in mein Gehirn eingebrannt.
Macy wirft mir einen Seitenblick zu, während wir die Treppe hinablaufen. »Sagen wir einfach, ich würde Frozen Joghurt empfehlen – und vielleicht ein Brötchen, falls du mutig bist.«
»Frozen Joghurt? Ernsthaft? Wie schlimm kann es sein? Die Küchenhexen sind großartig.« Ich meine, was sollten sie bitte auftischen, um solchen Abscheu bei meiner Cousine hervorzurufen? Molchaugen? Froschzehen?
»Die Hexen sind großartig«, stimmt sie zu. »Aber einen Mittwoch im Monat machen die Hexen früher Schluss für ihren Wingo-Abend. Und das ist heute.«
»Wingo-Abend?«, wiederhole ich vollkommen verwirrt, während meine Vorstellungskraft Bilder von Hexen mit gewaltigen Rabenschwingen produziert, die um die Turmspitzen fliegen. Aber wie hätte mir das bisher entgehen sollen?
Macy wirkt schockiert, weil ich noch nichts von diesem Ritual gehört habe. »Das ist eine Hexenversion von Bingo. Ich kann’s nicht abwarten, alt genug zu sein und selbst zu spielen.«
»Alt genug, um zu spielen?« Ich überlege, welche Art Bingo die Küchenhexen spielen könnten, die nur für Erwachsene ist.
»Ja!« Macys Gesicht leuchtet auf. »Es ist wie Bingo, aber jedes Mal, wenn sie eine Nummer von deiner Karte aufrufen, musst du einen Shot von den Tränken nehmen, die sie an dem Abend servieren. Manche lassen dich tanzen wie ein Huhn, andere drehen deine Klamotten auf links … Letzten Monat hatten sie sogar einen, der dafür sorgte, dass sie durch das Zimmer liefen und dabei brüllten wie ein T. Rex.«
Sie lacht. »Wenn du endlich ›Bingo‹ rufen kannst und gewonnen hast, ist es auch total verdient, kann man sagen. Die Küchenhexen sind süchtig danach, obwohl Marjorie immer gewinnt, weil sie so eine Dramaqueen ist. Was dann immer eine Riesensache ist, weil Serafina und Felicity sie beschuldigen, die Bälle zu verzaubern …«
»Wessen Bälle verzauberst du?«, fragt Flint, dessen Einsachtzig-plus hinter uns auftauchen. Wie gewöhnlich hat er ein breites Grinsen auf dem attraktiven Gesicht, und Unfug blitzt in den bernsteinfarbenen Augen. »Ich frage nur, weil ich ziemlich sicher bin, dass es gegen die Regeln ist.«
»Fang du bloß nicht auch noch an«, sagt Macy mit einem Schmunzeln und schüttelt den Kopf. »Ich habe von Wingo geredet, und wie die Küchenhexen ihre Zauberstäbe dabei kreuzen, weil …«
»Wingo?« Er bleibt abrupt am Fuß der Treppe stehen, sein lässiges Lächeln von einem entsetzten Blick weggewischt. »Sag, dass nicht schon wieder Wingo-Abend ist.«
Macy seufzt. »Ich wünschte, das könnte ich.«
»Wisst ihr was? Ich bin gar nicht so hungrig.« Flint geht rückwärts. »Ich glaube, ich …«
»Oh, nein. So leicht kommst du nicht davon.« Macy hakt sich bei ihm unter und zieht ihn vorwärts. »Wenn wir leiden müssen, musst du mitleiden.«
Flint grummelt, aber Macy treibt ihn einfach weiter voran, obwohl sie ihm zustimmt.
Die beiden jammern den ganzen restlichen Weg, bis ich endlich sage: »Nichts kann so schlimm sein. Verdammt, ich hab Cafeterien an öffentlichen Schulen überlebt, wo es nicht mal an den guten Tagen Frozen Joghurt gab.«
»Oh, es ist so schlimm«, antwortet Macy.
»Tatsächlich ist es schlimmer«, warnt Flint mich.
»Wie das? Wie kann es schlimmer sein? Ich meine, wer kocht denn?«
Sie werfen mir identische Blicke des Grauens zu und sagen gleichzeitig: »Die Vampire.«
»DIE VAMPIRE?« Ich zucke doch ein wenig zurück, als ich daran denke, wie Jaxon – und Hudson – sich ernähren.
»Genau«, sagt Flint und verzieht angewidert die Miene. »Warum Foster den Vampiren am freien Tag der Hexen die Verantwortung übertragen hat, werde ich nie verstehen.«
»Wer sollte sonst die Verantwortung tragen?«, fragt Mekhi, der hinter Macy auftaucht. »Die Drachen? Gegrillte Marshmallows bringen den Großteil der Schülerschaft nicht weiter.«
»Wenigstens zählen Marshmallows als Nahrung«, sagt Flint. Schwungvoll zieht er eine der Cafeteriatüren auf, dann bedeutet er mir hineinzugehen.
»Blutkuchen ist Nahrung«, gibt Mekhi zurück. »Hat man mir zumindest gesagt.«
»Blutkuchen?« Mein Magen regt sich nervös. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll, aber es klingt beängstigend.
Flint wirft Mekhi einen süffisanten Blick zu. »Na, wie klingen drachenflambierte Marshmallows jetzt, Grace?«
»Wie Abendessen, wenn ich noch eine Schachtel Cherry-Pop-Tarts drauflegen darf.« Ich blicke mich im Saal nach dem à la carte Snacktisch vom Frühstück und Mittagessen um. Aber der ist, wie immer zur Abendessenszeit, nirgends zu sehen.
»Es wird nicht so schlimm, das schwöre ich«, sagt Mekhi und scheucht uns auf die Essensschlange zu.
»Wie kann ich so lange an der Katmere sein und nichts vom Wingo-Abend wissen?«, frage ich mich, während ein Teil meines Hirns gleichzeitig jedes Gericht mit Blut auflistet, von dem ich je gehört habe – was gar nicht so viele sind. Der andere Teil meines Hirns sucht die Cafeteria nach Jaxon ab … oder Hudson.
Ich weiß nicht, ob es mir Sorgen bereitet oder ob ich erleichtert bin, dass ich keinen von beiden entdecke.
»Weil du noch nie so lange am Stück da warst«, antwortet Macy. »Und ich glaube, beim letzten dieser Abende hat Jaxon dich in der Bibliothek mit Tacos gefüttert.«
Mein Verstand spielt ein wenig verrückt bei dem Gedanken daran, dass diese Nacht in der Bibliothek erst einen Monat her ist. So viel hat sich seither verändert, dass es sich anfühlt, als wären es mehrere Monate. Vielleicht sogar Jahre.
»Ich wünschte, ich würde gerade Tacos in der Bibliothek essen«, grummelt Flint und schnappt sich ein paar Tabletts und hält sie Macy und mir hin.
Macy nimmt es mit einem Seufzen an. »Ja, ich auch.«
»Hör einfach nicht auf sie«, sagt Mekhi zu mir. »Es ist nicht so schlimm.«
»Du isst nicht, also hast du keine Stimme«, sagt Flint.
Mekhi lacht nur. »Das ist fair. Ich hol mir einen Drink, und dann suche ich uns einen Tisch.« Er zwinkert Macy zu, dann geht er zu den großen orangen Kühlbehältern, die an der hinteren Wand der Cafeteria stehen.
Die Schlange ist kürzer als sonst – ich frage mich warum –, also dauert es nur ein paar Augenblicke, bis wir vor den eleganten Büfetttischen stehen. Normalerweise quellen sie über vor Essen, aber heute Abend ist das Angebot ziemlich schmal. Und ich finde nichts davon besonders verlockend.
Sogar die Salattheke ist weg, an ihrer Stelle steht ein gewaltiger Kessel mit Suppe, in der Gemüse schwimmt, zusammen mit einem Haufen dunkelbrauner Würfel, die ich nicht identifizieren kann. »Was sind das für Dinger?«, flüstere ich Macy zu, während wir an mehreren erwachsenen Vampiren vorbeigehen – einschließlich Marise, die mir zulächelt und winkt.
Ich winke zurück, gehe aber weiter, als Macy flüstert: »Geronnenes Blut.«
Wir kommen an einer schwarzen Wurst vorbei, bei der ich nicht einmal fragen muss – ich habe genug britische Kochsendungen gesehen, um zu wissen, was der Wurst diese unverkennbare Farbe verleiht. Und man muss ja sagen, dass viele Menschen sie lieben. Aber ich weiß nicht … ich fühle mich mit dieser ganzen Vampirsache wirklich seltsam. Woher wissen wir, dass sie wirklich Tierblut und nicht Menschenblut verwenden? Immerhin ein Teil der Vampirlehrer hier ist echt oldschool.
Allein dieser Gedanke lässt meinen Magen rumoren. Doch wir steuern auf einen großen Stapel Pfannkuchen zu, und ich war noch nie so erleichtert, Frühstück zum Abendessen zu bekommen. Zumindest bis ich sie aus der Nähe sehe. Sie sind dunkelrot-lila.
»Sagt mir, dass sie nicht wirklich Blut in die Pfannkuchen tun«, sage ich.
»Sie tun Blut in Pfannkuchen«, antwortet Macy.
»Das ist ein schwedisches Rezept«, sagt Flint. »Blodplättar. Und sie sind tatsächlich ziemlich gut.« Er greift hinüber und legt sich mehrere auf seinen Teller.
Die Vampire behalten die Schlange aufmerksam im Blick, also nehme ich mir einen der Pfannkuchen. Sie haben sich offensichtlich Mühe gegeben, und ich möchte auf keinen Fall jemandes Gefühle verletzen. Außerdem liegt die Frozen-Joghurt-Station auf dem Weg zum Tisch …
Nachdem ich meinen Pfannkuchen mit Sirup ertränkt und eine Schüssel mit Vanille- und Schokojoghurt gefüllt habe, mitsamt allen Toppings, die draufpassen, folge ich Flint und Macy durch das Gedränge zu dem Tisch, den Mekhi ausgesucht hat. Eden und Gwen haben sich bereits zu ihm gesetzt, und ich muss grinsen, als ich den Text auf Edens neuestem violetten Hoodie lese: Für den Schatz.
Sie sieht mein Lächeln und zwinkert mir zu, dann schnappt sie sich die Kirsche von Macys Frozen Joghurt.
Macy lacht nur. »Ich wusste, dass du das machst.« Sie fördert eine weitere zutage. »Deshalb habe ich zwei genommen.«
So schnell wie der Blitz schnappt Eden sich auch die. »Du solltest mittlerweile wissen, dass man einem Drachen bei Kostbarkeiten niemals trauen kann.«
»Hey!« Macy schmollt, während wir anderen lachen. Doch sobald wir sitzen, löffle ich ein paar von dem halben Dutzend Kirschen aus meiner Schüssel in ihre. Wenn mich das Leben an der Katmere eins gelehrt hat, dann, dass man auf alles vorbereitet sein muss.
»Beste. Cousine. Ever.« Macy strahlt mich an, und ich merke, dass es eins der nur langsam wiederkehrenden echten Lächeln ist, das ich seit Xaviers Tod bei ihr sehe. Es sorgt dafür, dass ich ein kleines bisschen leichter atmen kann, und ich denke, dass es noch etwas zu früh wäre, sie als glücklich zu bezeichnen, dass sie aber vielleicht langsam wieder bei okay ankommt.
Die Unterhaltung fließt um mich herum, Gespräche über Abschlussprojekte und -arbeiten und Tratsch über Klassenkameraden, die ich nicht kenne, während ich meinen Frozen Joghurt esse. Ich will zuhören, aber es ist schwer, da ich weiter nach Jaxon und Hudson Ausschau halte. Was lächerlich ist, das weiß ich. Vor einer halben Stunde war ich in meinem Zimmer noch voll bei Ich habe keine Zeit, mir Gedanken um sie zu machen, und jetzt kann ich nicht aufhören, die Cafeteria nach einem, oder beiden, abzusuchen.
Ich kann nicht anders. Egal wie sehr die Dinge heute außer Kontrolle sind, ich kann meine Gefühle nicht einfach an- oder abschalten. Ich liebe Jaxon. Ich bin mit Hudson befreundet. Ich mache mir Sorgen um beide, und ich muss wissen, dass es ihnen gut geht, besonders, da ich bisher mit keinem von beiden über all das hier reden konnte.
Ich habe meinen Frozen Joghurt zur Hälfte gegessen, als es im Saal merklich leiser wird und sich die Härchen in meinem Nacken aufstellen. Ich sehe auf und erkenne, dass alle etwas hinter mir anstarren, und ich weiß – noch bevor ich mich umdrehe –, wen ich erblicken werde.
MACY, DIE SICH SCHON UMGEDREHT HAT, um zu sehen, was all das Getue soll, stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite und zischt mir Jaxons Namen aus dem Mundwinkel zu.
Ich nicke, damit sie weiß, dass ich sie gehört habe, rühre mich jedoch nicht. Ich halte allerdings die Luft an, denn die Schauder, die mir über das Rückgrat rieseln, warnen mich, dass er näher kommt … und dass seine Aufmerksamkeit völlig auf mich gerichtet ist.
Macy quietscht auf, was mir alles über seine Laune verrät. In den letzten paar Wochen hatte sie sich in seiner Nähe entspannt – Freundschaft bewirkt so was –, aber das heißt nicht, dass sie vergessen hat, wie gefährlich er ist. Und alle anderen offensichtlich auch nicht. Es zeigt sich in den Mienen aller um mich herum, die erstarrt wirken, als warteten sie nur darauf, dass Jaxon zuschlägt … und sehr sichergehen wollen, dass er es nicht auf sie abgesehen hat.
Sogar Flint lehnt sich zurück, beide Pfannkuchen und seine Unterhaltung mit Eden über ihre Physikabschlussarbeit vergessen, während er direkt an mir vorbeisieht. Sein Blick ist eine Mischung aus wachsam und unerschrocken, und aus Sorge um Flint – Sorge darüber, was er fühlt und was er tun könnte – drehe ich mich endlich um, bevor alles um mich herum total aus dem Ruder läuft.
Es überrascht mich nicht im Mindesten, dass Jaxon hinter mir ist. Es überrascht mich jedoch, wie nah das wirklich ist. Vor ein paar Wochen hätte er sich mir keinesfalls auf nur ein paar Zentimeter nähern können, ohne dass mein ganzer Körper total verrückt gespielt hätte. Jetzt läuft mir nur dieser Schauder über den Rücken, und das ist kein gutes Gefühl.
Gestern hatte er mich nach dem Abendessen in seinen Turm zum Lernen eingeladen, aber ich konnte nicht, da Hudson mich bereits gebeten hatte, mit ihm zu lernen. Allein der Gedanke an das darauffolgende Chaos frustriert mich, denn keiner der beiden Vega-Brüder benimmt sich so erwachsen, dass wir einfach alle zusammen lernen könnten.
Am Ende habe ich in meinem Zimmer gelernt, allein. Und eigentlich habe ich kein verdammtes Stück gelernt, weil ich zu sauer war.
Dafür habe ich Jaxon heute zweimal geschrieben, und er hat nicht im Ansatz darauf reagiert. Ich verstehe, dass ihm meine Freundschaft mit Hudson nicht gefällt – aber er muss wissen, dass das alles ist. Freundschaft. Offensichtlich habe ich keine Wahl, mit wem ich verbunden bin, aber ich habe Jaxon auf tausend verschiedene Arten gezeigt, dass er der ist, den ich zu lieben beschlossen habe.
Weshalb ich total sauer bin, dass er mir den ganzen Tag die kalte Schulter gezeigt hat.
Ihm muss es genauso gehen, denn seine dunklen Augen sind so kalt wie die Mitternacht.
So kalt wie der Gipfel des Denali im Januar.
So kalt wie bei unserer ersten Begegnung. Nein. Kälter.
Eine gefühlte Ewigkeit sagt er nichts, er nicht und ich auch nicht. Die Stille dehnt sich aus wie dünnes Eis – zwischen uns und um uns herum –, bis Luca endlich hinter ihm hervortritt und fragt: »Können wir uns zu euch setzen?«
Erst jetzt bemerke ich, dass der gesamte Orden hier ist. Ich habe mich daran gewöhnt, ein paarmal die Woche mit Jaxon und Mekhi zu essen, aber dass alle Freunde von Jaxon sich zu uns gesellen, ist sehr selten. Und doch sind sie jetzt hier – Luca, Byron, Rafael, Liam, alle hinter Jaxon aufgebaut, als rechneten sie mit einem Angriff.
»Natürlich.« Ich deute auf die leeren Stühle, die um den Tisch verteilt stehen, aber Luca fragt nicht mich. Sein Blick ist wie ein Laserstrahl auf Flint gerichtet. Der, wie sich rausstellt, den Blick direkt erwidert, eine leichte Röte auf den braunen Wangen.
Und wow, das ist mal eine Entwicklung, die ich nicht habe kommen sehen. Aber eine, die ich absolut toll finde.
Ein Blick zu Eden verrät mir, dass sie die ganze Sache genauso aufmerksam beobachtet wie ich, und angesichts ihres Lächelns frage ich mich, ob ich mich geirrt habe, in wen Flint verliebt ist. Ich hatte geglaubt, er hätte vor dem Ludares-Turnier Jaxon gemeint, aber vielleicht war es die ganze Zeit Luca? Oder vielleicht war Luca der Neue, von dem er sprach? Seit unserem Gespräch hat Flint sein Liebesleben nicht mehr erwähnt, und ich hatte ihn nicht fragen wollen.
Aber was immer er an diesem Tag meinte, es ist offensichtlich – zumindest in diesem Moment –, dass er definitiv an Luca interessiert ist. Der, anscheinend, ebenfalls interessiert ist.
Flint nickt, und Luca setzt sich neben ihn. Bevor ich auch nur darüber nachdenken kann, wo Jaxon sitzen wird, hat Macy ihren Stuhl näher an Edens gerückt und neben mir einen Platz frei gemacht. Jaxon nickt dankbar, zieht einen Stuhl von einem anderen Tisch heran und schiebt ihn direkt neben mich.
Mein Herz hüpft, als sein Oberschenkel meinen streift, und er grinst ein wenig. Wirft mir einen Blick aus dem Augenwinkel zu, den ich überall erkennen würde. Dann tut er es, sehr langsam, sehr absichtlich, noch mal.
Dieses Mal stockt mir der Atem, denn das hier ist Jaxon. Mein Jaxon. Und obwohl unsere Beziehung seit der Prüfung nicht mehr dieselbe ist, und obwohl ich so verwirrt bin, dass ich kaum denken kann, will ich ihn immer noch. Liebe ich ihn immer noch.
»Wie war dein Tag?«, fragt er leise.
Ich schüttle den Kopf, weil mir meine Noten und die Unsicherheit meines Abschlusses wieder in den Sinn kommen. »So schlecht, dass ich nicht darüber reden möchte.«
Ich lasse unerwähnt, dass der Umstand, dass er meine Nachrichten nicht beantwortet, den Tag noch schlimmer gemacht hat. Der Ausdruck in seinen Augen verrät mir, dass er das weiß. Und dass ihm dieses Chaos genauso wenig gefällt wie mir.
»Wie …« Meine Stimme bricht, also räuspere ich mich und versuche es erneut. »Wie ist es bei dir? Wie war dein Tag?«
Er verzieht das Gesicht, schiebt sich eine Hand so fest durch das seidig schwarze Haar, dass er die gezackte Narbe an seiner linken Wange enthüllt. Die Narbe, die die Vampirkönigin Delilah – seine Mutter – ihm verpasst hat, weil er ihren Erstgeborenen ermordet hat. Der jetzt zurück ist. Und jetzt mein Gefährte ist, obwohl ich immer noch meinen alten Gefährten liebe, dessen Bindung zu mir niemals hätte gebrochen werden sollen.
Allein daran zu denken, lässt meinen Kopf schmerzen.
Reif für jede Soap-Opera. So was fiele mir nicht mal dann ein, wenn ich es versuchte.
»Ziemlich genauso«, antwortet er schließlich.
»Ja, dachte ich mir.«
Er sagt nichts anderes, und ich auch nicht. Um uns herum schwillt die Unterhaltung an und ab, aber mir fällt absolut nichts ein, um die eisige Stille zu durchbrechen. Es ist merkwürdig, in Jaxons Nähe so unbehaglich zu sein, wo wir sonst stundenlang über alles geredet haben. Einfach über alles.
Ich hasse es so sehr, besonders, wenn ich sehe, wie locker alle anderen miteinander umgehen. Eden und Mekhi lachen zusammen, und Macy und Rafael auch. Byron und Liam reden angeregt, und Flint und Luca … Nun, Flint und Luca flirten definitiv, während Jaxon und ich einander kaum ansehen können.
Ich will noch einen Löffel von meinem Frozen Joghurt nehmen, da merke ich, dass ich den Appetit verloren habe, bevor ich ihn auch nur zum Mund führe. Ich lasse ihn wieder in die Schale fallen und denke: Scheiß drauf. Wenn es schon so schräg ist, dass ich nichts essen kann, dann kann ich genauso gut in die Bibliothek gehen.
Jaxon muss meine Unruhe spüren, denn gerade als ich aufstehen will, schiebt er seine Hand über meine. Es fühlt sich so vertraut an, so gut, dass ich automatisch meine umdrehe und unsere Finger miteinander verflechte, obwohl ich immer noch böse auf ihn bin.
Er küsst meine Finger, bevor er unsere verschlungenen Hände auf sein Bein unter den Tisch legt, und ein Schauder durchfährt mich. Es sind Augenblicke wie dieser, wenn wir uns berühren, in denen ich denke, dass wir vielleicht immer noch eine Chance haben. Vielleicht ist alles gar nicht so kaputt, wie es den Anschein hat. Vielleicht gibt es immer noch Hoffnung.
Ich bin ziemlich sicher, dass er ebenso empfindet, dem Griff nach zu urteilen, mit dem er meine Hand hält. Und weil er nichts sagt, um das angenehme Schweigen zwischen uns zu brechen, fast, als hätte er so große Angst wie ich, den Moment zu zerstören. Es funktioniert auch, zumindest eine Weile.
Und dann passiert es – jedes Nervenende in meinem Körper schreit Alarm.
Auch ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass Hudson die Cafeteria betreten hat, und die Art, wie Jaxons Hand sich in meiner anspannt, bestätigt das noch zusätzlich.
DANN IST ES, ALS WÜRDEN ALLE ihn zeitgleich bemerken. Alle am Tisch erstarren, als hielten sie gemeinsam den Atem an, und ihre Blicke gehen überallhin – nur nicht zu Jaxon und mir. Nun, alle außer Macys, die winkt, als würde sie ein Buschflugzeug in einem Schneesturm einweisen wollen. Und die dann ihren Stuhl wegschiebt, um für ihn Platz zu machen, und zwar so weit weg, dass sie praktisch auf Edens Schoß sitzt.
Hudson murmelt ein rasches »Danke«, schnappt sich einen Stuhl und stellt sein Tablett neben Macys. Er hat vier Stücke Cheesecake, zusammen mit seinem üblichen Becher Blut.
Macy grinst noch breiter und nimmt sich einen der Teller. »Oooooh, das hättest du doch nicht tun müssen.«
»Ich hab gehört, dass Wingo-Abend ist. Dachte, ihr würdet vielleicht ein paar Reste zu schätzen wissen«, sagt Hudson zu Macy, aber sein Blick lässt dabei meinen nicht los, bis auf den einen kurzen Moment, in dem er erfasst, dass sowohl Jaxon als auch ich eine Hand unter dem Tisch haben. Und obwohl ich weiß, dass er nicht sehen kann, dass wir uns berühren, fühle ich mich ertappt. Jaxon muss mein plötzliches Unbehagen spüren, denn er zieht seine Hand aus meiner und faltet beide Hände auf dem Tisch.
Hudson sagt nichts zu uns. Er wendet sich an meine Cousine, als hätte er nicht bemerkt, dass wir Händchen gehalten haben. »Jemand später Lust auf Schach?«
Sie spielen ein paarmal die Woche Schach. Ich glaube, beim ersten Mal fragte Hudson, um sie von Xavier abzulenken, und sie nahm an, weil es ihr leidtat, dass alle so einen großen Bogen um ihn machten. Aber in letzter Zeit habe ich sie dabei ertappt, wie sie Schachzüge googelte, wenn sie glaubte, ich sähe es nicht, und ich weiß, dass sie die Freundschaft mittlerweile wirklich genießt.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, erwidert sie mit dem Mund voll Cheesecake. »Eines Tags trete ich dir noch in den Arsch.«
»Ziemlich sicher, dass du dafür erst mal wissen musst, wie du deinen Springer ziehst«, gibt er zurück.
»Hey, das ist kompliziert«, sagt sie.
»Seeeeeehr viel schwerer als Dame«, neckt Eden sie und klaut einen Bissen von Macys Kuchen.
»Das ist es!« Macy schmollt. »Jede Figur macht was anderes.«
»Ich spiel mit dir, Macy«, ruft Mekhi vom Ende des Tischs. »Hudson ist nicht der einzige Meisterstratege hier.«
»Nein, aber ich bin der Einzige mit eigenem Schachtisch«, erwidert Hudson.
Eden schnaubt. »Ich weiß ja nicht, ob man damit angeben sollte, du Zerstörer.«
»Du bist ja nur neidisch, Blitzi.«
»Verdammt richtig.« Sie grinst. »Ich möchte auch Zeug mit einer Handbewegung in die Luft jagen können.«
Er hebt eine Braue. »Du meinst, du kannst das nicht?«
Sie lacht nur und verdreht die Augen.
»Hey, Hudson, schieb rüber, Mann«, ruft Flint vom anderen Ende des Tischs.
Hudson sieht zu Macy, die mit den Schultern zuckt, dann schiebt er ein Stück Cheesecake über den Tisch zu Flint.
Flint nickt dankend und schiebt sich einen großen Bissen in den Mund. Luca lächelt verliebt, dann deutet er zu dem Buch, das Hudson neben sein Tablett gelegt hat: »Was liest du gerade?«
Hudson hält das Buch hoch. »Eine Unterrichtslektion vor dem Sterben.«
»Bisschen spät dafür, oder?«, fragt Flint, und nach einer schockierten Pause lachen alle los. Besonders Hudson.
Ich möchte etwas zu ihm sagen – ich habe das Buch im ersten Highschool-Jahr gelesen und es geliebt –, aber es fühlt sich merkwürdig an, sich in eine Unterhaltung einzubringen, in die ich offensichtlich nicht eingeschlossen bin. Hudson hat mit allen am Tisch geredet – mit jedem –, außer mit Jaxon und mir. Was so gar nicht unangenehm ist.
Vor allem, da die Unterhaltung um uns herum weiterläuft. Jedes Mal, wenn Flint etwas Lustiges sagt, begegnet Hudsons Blick meinem, als wolle er den Witz mit mir teilen … dann zuckt er wieder davon, als glaubte er, wir dürften das nicht mehr. Hudson hat nichts getan, damit ich mich schuldig fühle, weil ich seinen Bruder liebe – tatsächlich sogar das Gegenteil. Aber dass wir Gefährten sind (und dass Jaxon und ich es waren), steht zwischen uns wie eine Bombe, die gleich hochgeht.
Dazu noch die Art, wie Rafael und Liam ihn niederstarren, weil sie die Vergangenheit wohl nicht ruhen lassen können, und die Art, wie Flint sich mal heiß, mal kalt zeigt, abhängig von seiner Stimmung, und ich muss unwillkürlich denken, dass Hudson sicher überall lieber wäre als hier. Und doch kommt er wieder, jeden Tag. Er versucht es weiter, jeden Tag, weil er möchte, dass es nicht unangenehm ist zwischen uns.
Anders als ich, die nicht einmal mit ihm redet, wenn Jaxon in der Nähe ist. Plötzlich ist mir alles zu viel und ich sage zu niemand Bestimmtem, dass ich lernen muss.
Gott weiß, ich habe dieser Tage mehr als genug zu tun.
Aber als ich vom Tisch aufstehe, tut das auch Jaxon. »Kann ich mit dir reden?«, fragt er.
Ich möchte lachen, möchte fragen, was er mir bitte zu sagen haben könnte, wo er die letzten zehn Minuten doch alles getan hat, außer mit mir zu reden.
Doch das tue ich nicht.
Ich nicke und vermeide jeden Augenkontakt mit Hudson, während ich der Gruppe ein – wie ich weiß – wirklich fake aussehendes Lächeln zuwerfe. Jaxon hält sich gar nicht erst mit so was auf, er dreht sich um und geht Richtung Tür.
Ich folge ihm – natürlich. Weil ich Jaxon überallhin folgen würde. Und ein winziger, nicht zu verleugnender Teil von mir hofft, dass er endlich bereit ist, darüber zu reden, wie wir das hier hinbekommen können.
ICH RECHNE DAMIT, DASS JAXON vor der Cafeteria stehen bleibt und sagt, was er sagen will. Doch ich hätte es besser wissen müssen – er ist nicht gerade für die öffentliche Zurschaustellung von egal was zu haben. Er hält mir die Tür auf, dann läuft er den Flur hinab, und ich gehe davon aus, dass wir in seinen Turm wollen.
In letzter Sekunde biegt er jedoch ab, und statt die Treppe hinaufzugehen, die zu seinem Zimmer führt, nehmen wir die, die zu meinem führt.
Der Kloß in meinem Hals fühlt sich wie in einem schlechten B-Movie an, nur dass es nicht Angriff der Killertomaten ist, sondern Die Traurigkeit, die ein Mädchen, eine Gargoyle und einen ganzen verdammten Berg verschlang. Wir gehen immer in sein Zimmer – für ernste Gespräche, um herumzuhängen, um rumzumachen. Dass er mich jetzt nicht dorthin mitnimmt, verrät mir, wie diese Unterhaltung laufen wird.
An meinem Zimmer angekommen, öffne ich die Tür und gehe hinein und denke, Jaxon würde mir folgen. Stattdessen bleibt er auf der anderen Seite von Macys Perlenvorhang stehen, zum ersten Mal seit wer weiß wie lange einen unsicheren Ausdruck auf dem ausgezehrten, aber wunderschönen Gesicht.
»Du weißt, dass du in meinem Zimmer immer willkommen bist.« Ich zwinge die Worte durch meine zu enge Kehle und versuche so zu tun, als würde ich nicht daran ersticken. An allem. »Nichts hat sich verändert.«
»Alles hat sich verändert«, entgegnet er.
»Ja«, gebe ich zu, obwohl alles in mir das leugnen will. »Das hat es wohl.«
Mein Atem kommt abgehackt, weil mir ein gewaltiger Stein auf der Brust zu lasten scheint – einer, der nichts damit zu tun hat, dass ich eine Gargoyle bin, sondern damit, dass Panik in mir wütet –, und ich wende mich von ihm ab, hole keuchend Luft, ohne dass es zu offensichtlich wird.
Aber Jaxon kennt mich besser, als mir lieb ist, und plötzlich steht er vor mir, seine großen, starken Hände halten meine. »Atme mit mir, Grace«, sagt er.
Ich kann nicht. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht reden. Ich kann nichts, als hier stehen und das Gefühl haben zu ersticken.
Als würde der Boden sich unter meinen Füßen regen und die Wände um mich herum näher kommen.
Als würde mein eigener Körper sich gegen mich wenden, darauf aus, mich ebenso zu zerstören wie die Kräfte von außen, gegen die anzukämpfen, ich so müde bin.
»Ein …« Er nimmt einen langen, tiefen Atemzug und hält ihn eine Sekunde. »Und aus.« Er atmet aus, langsam und ruhig. Als ich nichts anderes tue, als ihn mit wildem Blick anzustarren, wird sein Griff um meine Hände fester. »Komm schon, Grace. Ein …« Er holt wieder Luft.
Der Atemzug, den ich daraufhin nehme, ist nicht annähernd so tief, nicht annähernd so ruhig – ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich klinge, als würde ich an einem Blutpfannkuchen ersticken –, aber es ist trotzdem ein Atemzug. Sauerstoff strömt in meine Lunge.
»So ist es gut«, sagt er, und jetzt reiben seine Hände über meine Arme, meine Schultern. Es soll beruhigend sein – und das ist es –, aber es ist auch vernichtend, weil es sich nicht anfühlt, wie es das sollte. Es fühlt sich nicht an, als würde Jaxon, mein Jaxon, mich berühren, nicht so wie früher.
Es geht nicht schnell und ist nicht leicht, aber endlich bekomme ich die Panikattacke in den Griff. Als es vorüber ist, als ich endlich wieder atmen kann, lasse ich die Stirn auf Jaxons Brust sinken. Seine Arme legen sich automatisch um mich, und es dauert nicht lange, bis ich die Arme auch um seine Taille schlinge.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, einander halten, einander aber auch gehen lassen. Es schmerzt mehr, als ich es mir je hätte vorstellen können.
»Es tut mir leid«, sagt er und lässt mich endlich los. »Es tut mir so leid, Grace.«
Ich kämpfe den Drang nieder, mich an ihn zu klammern, meinen Körper weiter an seinen zu pressen, solange ich noch kann. »Es ist nicht deine Schuld«, sage ich leise.
»Nicht wegen der Panikattacke – obwohl mir das auch leidtut« Er schiebt sich eine Hand ins Haar, und zum ersten Mal sehe ich sein Gesicht heute Abend ganz. Er sieht schrecklich aus – verloren und gepeinigt, und er scheint so großen Schmerz zu erleiden wie ich. Vielleicht sogar mehr. »All das tut mir so leid. Könnte ich diese eine achtlose Tat zurücknehmen, diesen Augenblick purer Eigensucht und Naivität, würde ich es sofort tun. Aber das kann ich nicht, und jetzt …« Dieses Mal ist es sein Atem, der zittrig klingt. »Und jetzt sind wir hier, und ich kann einen Scheiß tun.«
»Wir schaffen das. Es wird nur etwas dauern …«
»So einfach ist es nicht.« Er schüttelt den Kopf, sein Kiefer spannt sich sichtlich an. »Vielleicht packen wir das; vielleicht nicht. Aber sieh dich nur an, Grace. Es verletzt dich, du bekommst sogar Panikattacken.«
Er hält inne, schluckt krampfhaft. »Ich tue dir weh, und das ist das Letzte, was ich je wollte.«
»Dann mach’s nicht.« Jetzt bin ich an der Reihe, die Hand auszustrecken und ihn festzuhalten. »Tu das nicht. Bitte.«
»Es wurde bereits getan. Das versuche ich dir ja zu sagen. Das, was wir jetzt fühlen … das ist nur der Phantomschmerz, nachdem man einen Arm oder ein Bein verloren hast. Es tut immer noch weh, aber da ist nichts mehr. Und da wird auch nie mehr etwas sein … zumindest nicht, wenn wir so weitermachen.«
»Das ist alles, was wir für dich sind?«, frage ich, und Schmerz durchzuckt mich wie von einem Vorschlaghammer. »Nur etwas, das mal wichtig war?«
»Du bedeutest mir alles, Grace. Das hast du von dem Augenblick, in dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Aber das hier funktioniert nicht. Es tut zu weh. Uns allen.«
»Es tut jetzt weh, aber so muss es nicht sein. Unsere Gefährtenbindung ist zerbrochen. Aber das heißt nur, dass meine mit Hudson auch zerbrechen kann …«
»Glaubst du, dass ich das will?«, fragt er. »Ich bin zweihundert Jahre alt, und das ist mit Abstand das Schlimmste, was ich je in meinem Leben gefühlt habe. Denkst du, das würde ich dir wünschen? Und Hudson?«
Seine Stimme ist belegt, aber er schüttelt den Kopf. Räuspert sich. Atmet tief ein und langsam wieder aus, bevor er fortfährt. »Jedes Mal, wenn er uns zusammen sieht … Ich weiß, dass er darunter leidet.«
Ich schüttle den Kopf. »Da liegst du falsch, Jaxon. Ich habe es dir gesagt. Wir sind nur Freunde, und für Hudson ist das okay.«
»Du siehst nicht, wie er dir hinterherblickt«, beharrt Jaxon. »Ich habe meinen Bruder einmal getötet, weil ich arrogant und kindisch war und dachte, es wäre das Richtige – das Einzige –, was getan werden müsse. Ich tue das nicht noch mal, nicht so. Ich werde ihn nicht verletzen, und ich verletze dich nicht.«
»Was ist mit dir?«, frage ich, während der Schmerz in mir tobt. »Was ist mit dir bei all dem?«
»Das ist egal …«
»Es ist nicht egal!«, gebe ich zurück. »Es ist mir nicht egal.«
»Das hier ist meine Schuld, Grace. Alles. Ich bin der Arsch, der die Knarre geladen hat, und ich bin der Arsch, der die geladene Knarre in den Mülleimer geworfen hat. Die Tatsache, dass ich damit erschossen wurde, ist niemandes Schuld außer meine eigene.«
»Also war es das?«, frage ich ihn mit einem zittrigen Atemzug. »Wir machen Schluss, und ich habe dabei nichts zu sagen?«
»Du hattest was zu sagen, Grace, und du hast dich entschieden …« Seine Stimme gibt nach, lässt den Geist dessen, was er hatte sagen wollen, zwischen uns hängen.
»Aber das habe ich nicht!«, will ich erklären, stoße die Worte unter gebrochenen Schluchzern hervor. »Ich liebe ihn nicht, Jaxon. Nicht wie ich dich liebe.«
»Das wirst du aber«, sagt er, und ich weiß, dass es ihm viel abverlangt. »Gefährtenbindungen können sich ausbilden, wenn sich zwei zum ersten Mal begegnen, bevor sie überhaupt den Namen des anderen kennen. Sieh dir an, wie es zwischen uns war. Die Magie weiß es. Du musst nur Vertrauen haben. So wie ich hätte Vertrauen haben sollen.«
Ich sehe weg, zu Boden – sehe überallhin, nur nicht zu Jaxon, denn mein Herz bricht –, aber er lässt es nicht zu. Statt zurückzuweichen, wie ich es mir so sehr wünsche, schiebt er einen Finger unter mein Kinn und neigt meinen Kopf nach oben, bis mir nichts übrig bleibt, als in seine dunklen, untröstlichen Augen zu blicken.
»Es tut mir leid, dass ich nicht mit jedem Quäntchen Kraft an uns festgehalten habe«, sagt er mit einer Stimme, die so rau ist, dass ich sie kaum als die seine erkenne. »Ich würde alles tun, um dir das hier zu ersparen. Würde alles tun, um meine Gefährtin zurückzubekommen.«
Ich will ihm sagen, dass ich da bin – dass ich immer hier sein werde –, aber wir beide wissen, dass es eine Lüge ist. Der Abgrund zwischen uns wächst, und ich habe schreckliche Angst, dass eines Tags keiner von uns ihn mehr überwinden kann.
Tränen treten mir bei diesem Gedanken in die Augen, und ich blinzle heftig, entschlossen, sie ihm nicht zu zeigen. Entschlossen, das hier nicht noch schlimmer zu machen – für keinen von uns. Statt also zu schluchzen, wie ich es eigentlich möchte, tue ich das Einzige, was mir einfällt, damit das hier gut wird … oder wenigstens besser.
Ich flüstere: »Du hast mir die Pointe von dem Witz gar nicht erzählt.«
Er sieht mich an, verblüfft. Oder als könne er nicht glauben, dass ich jetzt mit so etwas Lächerlichem anfange. Doch unsere Beziehung war so voller Gefühle, guten und schlechten, dass ich nicht zulassen möchte, dass es so endet.
Also zwinge ich mich, ein wenig breiter zu lächeln, und fahre fort. »Was macht der Pirat, wenn er am Computer sitzt?«