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Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Vom Autor des gefeierten Romans »Die Erfindung des Lebens«

Hanns-Josef Ortheils Szene-Roman »Agenten« wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 1989 als ein genaues und eindringliches Porträt der achtziger Jahre gefeiert. Nach dem Zerfall der politischen Zirkel und alternativen Bewegungen ging es um Geld, Karriere und Konsum und damit um die Kultivierung der Ego-Welten. Kühl, respektlos und präzise seziert Ortheils Ich-Erzähler, der junge Journalist Meynard, die Psycho-Dramen einer damals beginnenden neuen Epoche.

Als virtuose Skizze einer Clique von jungen Möchtegern-Dandys wurde dieser Roman rasch zum Kultroman, dessen Aktualität und Frische sich bis heute völlig unvermindert erhalten haben.

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Seitenzahl: 430

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Genehmigte Taschenbuchausgabe Dezember 2010, btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, MünchenNeumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © Hanns-Josef Ortheil
»Agenten« erschien zuerst 1989 im Piper Verlag, München. Umschlaggestaltung: semper smile unter Verwendung des Bilds Nummer 1345455 (c) Private Collection / Bridgeman Berlin KS · Herstellung: SK
ISBN 978-3-641-10874-8V002
www.btb-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Aus Freude am Lesen

Hanns-Josef Ortheils Szene-Roman »Agenten« wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 1989 als ein genaues und eindringliches Porträt der achtziger Jahre gefeiert. Nach dem Zerfall der politischen Zirkel und alternativen Bewegungen ging es um Geld, Karriere und Konsum und damit um die Kultivierung der Ego-Welten. Kühl, respektlos und präzis seziert Ortheils Ich-Erzähler, der junge Journalist Meynard, die Psycho-Dramen einer damals beginnenden neuen Epoche. Unter dynamischen Jungunternehmern, ruhelosen Aufsteigern und cleveren Spürhunden der Veränderung treibt es ihn um. »Agenten« nennt er sie, die neuen Selbstdarsteller, in deren aufgeheiztem Milieu es darauf ankommt, den anderen zu durchschauen und sich selber nicht provozieren zu lassen. Als Epochenporträt und virtuose Skizze einer Clique von jungen Möchtegern-Dandys wurde dieser Roman rasch zum Kultroman, dessen Aktualität und Frische sich bis heute völlig unvermindert erhalten haben.

HANNS-JOSEF ORTHEIL wurde 1951 in Köln geboren. Er lebt als Schriftsteller in Stuttgart, Wissen an der Sieg und Rom und lehrt als Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart, sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Brandenburger Literaturpreis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Georg-K.-Glaser-Preis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Sein Werk erscheint im Luchterhand Verlag.

Inhaltsverzeichnis

WidmungCopyright

für

Heinz-Jürgen Dambmann

Es war ein matter Sommer, lauter lausige Tage, und niemand von uns ließ hören, wie man Druck hätte machen können. Wir schliefen zu lange, hatten kaum Appetit und saßen am frühen Nachmittag vor den leeren Kneipen, wenn der süßliche Schweiß der vergangenen Nacht noch in den erkalteten Räumen hing. Meist redete einer zuviel, und die anderen blickten die Straße entlang, wo sich das ferne Leben abspielte, auf das niemand schon scharf war. Ich hatte mir orientalische Zigaretten gekauft, die Schachtel für mehr als 5 Mark, und ich konnte nicht aufhören mit dem Rauchen, selbst nicht, als der Mund ganz trocken war und ein beizender, metallischer Geschmack auf der Zunge lag. Aus irgendeinem Fenster dröhnte Musik, nichts Nerviges, nur diese Sachen von gestern, verspätet und dröge. Das Bier schmeckte lau, wir schoben die Gläser schwerfällig über die verschmierten Plastiktische und tranken doch mit nur kurzen Pausen, als drohe die feine Gischt bald zu verebben. In Gedanken ging jeder die Schauplätze des Abends durch, sich ausmalend, was sie ihm bringen würden. Es war alles ein Warten, nur einer wechselte laufend den Platz, um soviel Sonne wie möglich mitzubekommen. Ich mochte diese empfindlichen Stunden nicht, ich kam nicht an gegen die Lautlosigkeit, und so saß ich wie die anderen ungelenk herum, mit dem Stuhl auf und ab wippend. Manchmal machte sich einer auf, eine Runde zu drehen, doch wir schauten ihm nicht hinterdrein, da es unruhig machte, ihn davongehen zu sehen. Später stieß er wieder zu uns, irritiert und warm getankt, als habe er sich verlaufen und sei froh, uns wiedergefunden zu haben. Worüber sollte man reden, um auf Touren zu kommen? Noch immer beherrschten uns diese verkappten Antriebe, sie beschäftigten einen wie wacklige Bilder im frühen Schlummer, und man verdrängte sie ebenso schnell, wie sie aufkamen. Wir saßen immer unbeweglicher da, die Glieder wurden steif vor lauter Selbstbeherrschung, mit der man sich gegen den halben Rausch anstemmte. Dann kam die Abendkühle hinzu, Wellen kurzen Schauderns, die bis in die Fingerspitzen reichten. Die Gläser waren nun von einem klebrigen Film überzogen, und man trank vorsichtiger, um mit den Lippen nicht zu lange das Glas zu berühren. Einer las das Filmprogramm herunter, doch die Titel bewegten nichts mehr wie früher. Ein anderer schaute plötzlich auf die Uhr, als sei ihm etwas eingefallen. Wer es nun packte, entschlüpfte dem dunklen Kreis, hinaus in den Abend. Ich war meist zu langsam, ich rauchte weiter, sank in den Stuhl zurück und atmete schließlich tief durch, um den Absprung einzuleiten. Ich zahlte, indem ich mich von den anderen wegdrehte. Wir hatten nicht mehr viel gemeinsam, jeder ahnte es, und doch warteten alle beschwörend. Ich klinkte mich aus, langsam nahm mich die schwere Fremde um mich herum wieder auf. Ich sprach leise mit mir, es war eine halbherzige Sprache, und es klang wie zur Probe. Dann der anströmende Verkehr, und eilig, dem ersten Impuls folgend, mischte ich mich hinein…

Wir lebten in Wiesbaden, und die Stadt war gerade richtig für dieses betäubte Dasein. Früher war es die Stadt der ruhigen Mieter gewesen, jetzt aber hatten die Rentner und Pensionäre, die noch Mäntel mit schmalem Pelzbesatz trugen, längst das Nachsehen. Jeder von uns war auf anderem Weg und zu einem anderen Zeitpunkt hierher gekommen, doch irgendwann hatten wir einmal zusammengefunden, als habe es schon immer eine Verabredung gegeben. Die meisten von uns waren auf dem Land aufgewachsen, in den Dörfern des Hunsrücks oder am Mittelrhein, und zumindest eine Zeitlang hatten alle dasselbe Gymnasium in der Kreisstadt besucht, einen hellen, manisch zergliederten Bau aus den frühen siebziger Jahren, für den man ein halbes Waldgelände brachgelegt hatte. Aus dieser Zeit kannten wir uns; es gab die langen Nachmittage mit den Freistunden zwischen den Chemiekursen, und es gab das heruntergekommene Café nahe dem Omnibusbahnhof, wo sich einem jedes Gesicht einprägte und Phantasien darüber aufkamen, mit wem man gerne gesprochen hätte. Doch all diese Neugierden blieben lange gedämpft, als müßte man damit haushalten, bis es ernst werden würde. Am frühen Abend fuhren die meisten mit dem Bus in ihre Dörfer zurück, und für die Nacht blieb alles zerschnitten, gehemmt und reglos wie in den Kindertagen.

Weil wir so auf Distanz wohnten, wurden Freundschaften besonders wichtig. Ich war meist mit Blok zusammen, in der Schule saßen wir jahrelang nebeneinander und machten gemeinsam die Übergänge zwischen den frühen Altersstufen mit, so lange, bis Blok immer langsamer wurde und eine Klasse wiederholen mußte. Blok war Franks Nachname, er wollte, daß man ihn so anredete, weil sein Vater nur Frankie gerufen wurde und ihm dadurch zu nahe kam. Frankie war ein weithin bekannter Landarzt, er war viel mit dem Wagen unterwegs und erleichterte sein schlechtes Gewissen, indem er seine Frau zu zweitägigen Wochenendtrips nach Berlin einlud, Flug und Opernbesuch eingeschlossen. Man erkannte ihn schon von weitem an seinen karierten Hemden im Country-style , dazu trug er einfarbige, breit auslaufende Krawatten; in der Früh machte er sich auf seine Jogging-Runde, immer derselbe Kurs quer durch das Wäldchen hinter dem Bungalow, den er nach und nach mit spanischen Möbeln eingerichtet hatte. Frankie gab in der Familie den Ton an, er hatte eine weiche, sich in der Tiefe einpendelnde Stimme, die ihn selbstbewußt und sympathisch erscheinen ließ. Blok hielt es in seiner Nähe nicht aus; all diese zielstrebig angegangenen Aktivitäten – Testfahrten mit den neuesten Automodellen vom befreundeten Händler aus der Kreisstadt, Urlaubssafaris in Kenia im Kollegenkreis, Zelten im Hochgebirge zu den widernatürlichsten Zeiten – wirkten nur lähmend auf ihn, so daß er selbst die Ferien am liebsten ohne ihn verbracht hätte. Die Mitschüler verstanden ihn nicht; sie bewunderten seinen Vater oder hätten ihren eigenen gern gegen ein solches Mannsbild eingetauscht, weil sie nicht ahnten, was es bedeutete, einen auf Hochtouren laufenden Motor schon zum Frühstück neben sich zu haben. Von all dem aber wußte ich lange nichts, denn die Freundschaft mit Blok brauchte Zeit, und er machte es einem nicht leicht.

Ich hatte ihn in der Tertia kennengelernt, als Vater die gutgehende Rechtsanwaltskanzlei in der Kreisstadt übernahm. Wir hatten auch zuvor auf dem Land gelebt, Vater hatte sich als Notar versucht, doch wir hatten es nicht einmal zu einem eigenen Haus gebracht, so daß ich mir mit Sarah, meiner Schwester, das Kinderzimmer hatte teilen müssen. Sarah war zwei Jahre jünger als ich, sie hatte alles, was sie auftreiben konnte, gesammelt, widerlich zerzaustes Zeug von der Straße, das sie in Einweckgläsern aufbewahrte. Nachts hatte sie die Gläser wegen des aufdringlichen Ölgestanks vor das Fenster gestellt, manchmal war es mir zuviel geworden, und ich hatte die ganze Batterie abgeräumt, ohne Erfolg, weil Sarah ihre Leidenschaft fortgesetzt hatte, unermüdlich wie ein auf ekelhafte Gegenstände angewiesenes Tier, das seine Wintervorräte anlegt. In der Kreisstadt machten wir erste Fortschritte; wir zogen in ein kleines Reihenhaus, und von da an konnte Sarah ihre Brut unter dem Bett hüten, denn wir hatten nun getrennte Zimmer und kamen uns nicht länger in die Quere.

An unserem ersten Schultag hatte Vater uns mit dem Wagen zum Gymnasium gefahren, und der Direktor hatte mich persönlich zu meiner Klasse gebracht. Der Tag hatte mit Deutsch begonnen, und ich war auf den einzigen freien Platz gesetzt worden, neben Blok, der ein Gesicht gezogen hatte, als werde ihm übel, weil man ihm etwas Raum gestohlen hat. Ich war nach meiner alten Penne gefragt worden und danach, was wir dort zuletzt durchgenommen hätten, und ich hatte die Ballade von John Maynard aufgesagt, John Maynard war unser Steuermann, aushielt er, bis er das Ufer gewann. Von da an hatten mich alle Maynard genannt, sowas verdankt man Fontane, doch ich hatte den Spitznamen angenommen und mich schließlich selbst so getauft, nur mit ›e‹, um nicht alles ohne Gegenwehr mitzumachen. Meynard war ein guter Name, er klang nach etwas Eigenständigem, ich habe ihn bis heute beibehalten.

Damals saß Blok da wie ein Fremder. Er hatte dichtes, schwarzes, rechts gescheiteltes Haar, so sauber kurz geschnitten, als werde er zu einem Spezialfriseur geschickt. Er trug Pullover, fein gestrickt und weit, duftend nach Weichspüler, dazu blank polierte Schuhe, wie von einem Butler gepflegt. Er meldete sich nie, saß mit eingezogenem Kopf in der Bank und schaute nur auf, wenn etwas an die Tafel geschrieben wurde. Er blieb stumm, tat, als gebe es mich nicht, und führte seine Hefte so ordentlich, daß ich oft hinschauen mußte. Er benutzte Buntstifte, Marke Faber-Castell, zwanzig verschiedene, nebeneinander liegend in einer dunkelgrünen Blechschachtel, und er schrieb mit einem alten Füller, einem Pelikan mit freiliegender Feder, die er mit einem Tuchballen regelmäßig abtupfte.

Er kam mir sehr verwöhnt vor, und er hatte Manieren wie einer, dem man alles Lästige abgenommen hatte. In den Pausen spielte er mit den anderen nur wie zum Test, ein paar Sprints, kurze Ballkontakte, gezielte Würfe, weit über das Feld; später wusch er sich gründlich die Hände. Ich sah ihn nie mit gerötetem Kopf, er schien kaum zu schwitzen, selbst nicht bei besonderen Anstrengungen. Er turnte gut, am besten gelang ihm die Hocke am Pferd, doch niemand sah ihn lange an den Geräten, es war, als gehorchten seine Glieder sofort dem, was er sich vornahm. Am liebsten spielte er Basketball; es war genau das richtige Spiel für ihn, er berührte den Ball nur mit den Fingerspitzen und schien beim Korbwurf zu wachsen, kurz, für einen Moment, bevor er den Ball losschickte. Nur bei diesem Spiel fiel er auf, weil er meist zu lange am Ball blieb, dribbelnd, die anderen foppend, mit dem Blick eines Belustigten, der allen etwas vorzauberte. Doch ihm fehlte der Ehrgeiz, der zu einem ausdauernden Training gehörte, und so nahm man ihn nicht in die Klassenmannschaft auf, wo man auf Pauls Kommando hörte, denn Paul war der Sprecher, und er vergab nach jedem Spiel Noten, um alle im Griff zu behalten.

Ich tat nichts, um Bloks Schweigen zu brechen. Wochenlang saß ich neben ihm, ohne ihn etwas zu fragen; ich respektierte, daß er für sich sein wollte, und meldete mich weniger als früher, damit er mich nicht für einen Streber hielt. Ich wußte nicht, was er so von mir dachte, und ich war zu stolz, ihm entgegenzukommen, denn er schien zu glauben, er habe einen Vorsprung vor uns.

Fast jeden Morgen brachte Vater Sarah und mich mit dem Wagen zur Schule, und wenn es sich ergab, ging ich nach Schulschluß mit Walter nach Hause, denn Walter wohnte in der Nähe. Ab und zu begleitete ich auch einige Mitschüler zum Busbahnhof und wartete dort mit ihnen; dann sahen wir Blok, wie er eine Cola im Café trank, allein an einem Tisch, in einer Illustrierten blätternd. Er kam nie zu uns herüber, erst wenn der Bus vorrollte, trank er sein Glas aus und machte sich auf den Weg. Im Bus setzte er sich ganz nach hinten, und später sah ich seinen langgestreckten Hinterkopf, wenn der Bus in die Hauptstraße einbog.

Ich hatte mir vom Leben in der Kreisstadt etwas erhofft, doch schon bald war es so langweilig wie früher, zuviel Schule und die wenigen Straßen, die man schnell satt hatte. Ich traf mich mit Walter, und wir fuhren auf Rädern hinaus zum Bolzplatz. Fußball zu spielen war eine Endlosbeschäftigung, jeder Nachmittag ein Langlauf ohne Pausen, mit einer Strecke, die einen meist überforderte. Am Abend war der Körper wie tot, als sei alles Blut in die Beine gesackt, und ich kam erst auf meiner Liege zu mir, wenn Sarah nebenan mit ihren Freundinnen zeterte. Sie traten auf wie ein Schwarm, immer redeten mehrere zugleich und verbesserten sich gegenseitig rechthaberisch, wobei es oft um die Gewohnheiten der Eltern ging. Ich hörte, wie Sarah darauf bestand, daß Vater ein guter Anwalt sei; sie glaubte, er trete vor Gericht auf wie ein Star, denn sie wußte nicht, daß es in solchen Gerichten ohne Geschworene zuging. Sie fragte ihn aus, wenn er am Abend mit seinen Akten nach Hause kam, doch er wollte nichts hören, zog die Schuhe aus, lockerte seine Krawatte, öffnete den Kragenknopf und streckte sich in seinen Sessel. Ich sah, wie er später die Akten studierte; er war viel zu erschöpft, und die Akten rutschten ihm aus den Fingern, wenn er seiner Müdigkeit nachgab. Waren wir im selben Zimmer wie er, mußten wir still sein; doch er las nur, damit wir Ruhe hielten und er sich nichts für uns ausdenkenmußte.

Für mich war die Zeit der Kinderspiele vorbei, ich wußte es genau, wenn ich Sarah beobachtete, die mit ihren Freundinnen Familien gründete, Kinder aufzog und fürs Essen sorgte. Am liebsten wäre ich ständig weit weggefahren, raus aus dieser Kleinstadt, wo man in den Geschäften nach dem Namen der Eltern gefragt wurde. So vertrieb ich mir die meiste Zeit mit dem Fahrrad, das war das Beste, lange Anstiege mit dem glasigen Blick auf die paar Meter voraus und schnelle Abfahrten, wenn kühler Wind den schweißnassen Rücken abtastete. Auf die Ziele kam es nicht an, es waren immer dieselben Hunsrückdörfer, Durchfahrtstraßen mit lästigen Ampeln und eine Tankstelle am Ortsausgang.

Ich fuhr allein, manchmal mit Walter, seltener auch mit mehreren. Walter hatte Karotten dabei, bündelweise in den Fahrradtaschen verstaut, denn seine Eltern führten einen Gemüseladen, in dem er stundenweise aushalf, an den Abenden oder samstagmittags, wenn es hoch herging. Er war viel kleiner als ich, und doch war er meist schneller, zäh und unermüdlich voran, als müsse er Fahrt machen, um mich mitzuziehen. Wenn wir genug gestrampelt hatten, hielten wir auf einem Höhenpunkt, und Walter kramte die Karotten hervor, als verfüttere er sie zur Belohnung. Wir blieben sitzen, bis der Körper abgekühlt war; ich fragte Walter, wo sein Vater ein Bein verloren habe, und er erzählte davon, daß sein Vater am Kriegsende Flakhelfer gewesen sei und bei einem Luftangriff auf die Stellung als einer von wenigen überlebt habe. Walter sprach nicht gerne darüber, obwohl er zu seinem Vater hielt und es ihm nichts ausmachte, mit ihm ins Schwimmbad zu gehen. Wenn er erzählte, war es, als habe er selbst damals gelebt, denn er hatte präzise Informationen parat wie einer, der sich mit eigenen Augen ein genaues Bild gemacht hatte.

So kamen wir viel herum, und einmal hatten wir uns in der Gruppe an die Abfahrt hinunter zum Rhein gewagt, lauter Serpentinen, gegen deren Windungen wir anbremsen mußten, bis wir nach fast einer Stunde das Flußtal erreichten. Im Ort gab es lauter Weinlokale, und in den Schaufenstern der Geschäfte lagen bunte Souvenirs, glasierte Holzscheiben mit eingebrannten Trinksprüchen und T-Shirts, die man mit einer Karte des Flußlaufs bedruckt hatte. Wir stellten die Räder am Ufer ab und schauten uns die vorbeifahrenden Schiffe an, eine ruhige Parade, die einen zunehmend sehnsüchtiger machte. Paul kommentierte, denn er hatte etwas Ahnung, weil ein Onkel von ihm als Lotse arbeitete; wir anderen aber waren still, der plötzliche Anblick des Flusses war erschreckend, ein weites Zuviel mit den Felsmassiven an beiden Seiten.

Dann liefen wir weiter am Fluß entlang und standen schließlich dort, wo die Fähre ablegte; sie machte gerade vom Ufer los und setzte sich quer gegen die Strömung. Die meisten Fahrgäste waren in ihren Autos sitzengeblieben, nur rechts vorn, vor der eisernen Kette, stand einer unbeweglich, mit dem Blick hinüber. Ich erkannte den langgestreckten Hinterkopf und das schwarze, gescheitelte Haar, niemand sonst bemerkte etwas, und wir gingen zu unseren Rädern zurück. Am nächsten Morgen sprach mich Blok zum ersten Mal an; es war nach der großen Pause, und wir übersetzten einen englischen Text. Blok blätterte in seinem Buch, und, ohne mich anzusehen, fragte er mich, so leise, daß gerade nur ich ihn verstehen konnte: »Sag mal, was treibst du die ganze Zeit mit den Scheißern?«

So waren wir Freunde geworden, und Blok tat, als müsse er dafür sorgen, meine Standards zu heben. Er hatte eine Art von Verachtung für alles Übliche, die mich oft hilflos machte, und er kritisierte einen scharf, wenn man die Meinungen anderer vorschnell teilte. Seit das Eis zwischen uns gebrochen war, zogen wir oft gemeinsam los; meist fuhren wir nachmittags mit dem Bus an den Rhein, denn Blok wollte das Rad am Abend nicht den Berg hinauf schieben. Er bekam reichlich Taschengeld, wir profitierten beide von der Großzügigkeit seines Vaters, kauften uns russische Zigaretten und schauten den Fremden zu, die mit den weißen Schiffen kamen und sich immer in dieselben Winkel verliefen.

Blok trieb sich nicht gern herum; er konnte stundenlang in einem Café sitzen, Leute beobachten und Zeitungen lesen. Er hatte Lust an frechen Bemerkungen, und er spielte den Rücksichtslosen, der sich zu niemandem hingezogen fühlt und von anderen nicht viel erwartet. Wer nicht Bescheid wußte, hielt ihn für älter als mich, er erschien altklug und doch höflich, so daß er Eindruck auf meine Mutter machte, die ihn für den passenden Kameraden hielt.

Manchmal übernachtete er bei uns und saß am Morgen mit zusammengekniffenen Augen am Frühstückstisch; ich beneidete ihn um seine Freiheiten, denn seine Eltern verweigerten ihm nichts, und er brauchte nur kurz anzurufen, wenn er nicht heimkommen wollte. Er war ein Einzelkind, auch da hatte er Glück gehabt, denn er kam nicht jeden Tag mit einer jüngeren Schwester in Berührung, die ihn mit ihren hysterischen Anfällen plagte. Von zu Hause erzählte er wenig, und er lud mich nicht ein, mit ihm zu kommen, als befürchte er, mir zuviel Einblick zu gönnen. Ich ließ ihn damit in Ruhe, irgendwann würde er auch diesen Schritt tun, da war ich sicher.

Seit ich Blok kannte, war das Leben in der Kreisstadt noch unerträglicher. Ich bekam Wutanfälle, wenn ich etwas besorgen sollte, denn diese Botengänge kamen mir vor wie Spießrutenlaufen. Die Geschäfte hatten etwas Modriges, als seien sie schlecht durchlüftet, und die Verkäuferinnen waren nie bei der Sache, so daß man ihnen im Kopfrechnen immer um Minuten voraus war. Diese kleinen Erledigungen quälten mich, denn sie standen für das Leben auf dem Land, wo sie einem die Zeit stahlen und Stunden damit zubrachten, Geschichten von anderer Leuts Familien in Umlauf zu halten. Solche Geschichten wurden über meinen Kopf weg erzählt, sie waren der dürftige Lebensstoff der Provinz, eine dauernde Beschwörung der ewig gleichen, miesen Verhältnisse. Sarah und mir war aufgetragen worden, so zu tun, als hörten wir nichts, aber ich ahnte, daß wir wie alle anderen Bewohner schon längst zur Zielscheibe dieser Verdrehungen geworden waren. Ich fühlte mich laufend beobachtet, und immer waren es Blikke wie auf einen vom anderen Stern. Ich konnte mich daran nicht gewöhnen, diese nachspionierende Mimik war zu präsent, am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht. Doch es gab kein Entkommen, so daß ich manchmal in Panik geriet und mich in meinem Zimmer einschloß. Mutter nannte dieses Verhalten pubertierend, sie beruhigte sich gern mit solchen Begriffen, die nichts besagten. Erwachsene konnten diesen Zustand nicht begreifen, denn sie lebten ganz woanders, auf irgendwelchen Inseln, von mir abgeschirmt durch lauter Redensarten.

Die Jahre damals waren schlimm, noch in der Erinnerung sträubt sich alles gegen die Einzelheiten. Ich kam mir ausgesetzt vor, ein Ureinwohner des Dschungels, den man in die Wüste verfrachtet hatte. Ich empfand eine dauernde Unruhe, und jeder Tag begann mit diesem abwiegelnden und vertröstenden Hinhalten, das Mutter beim Frühstück verteilte. Sie redete sich ein, uns alle unterstützen zu müssen, vor lauter Selbstlosigkeit war sie ganz bleich geworden. Ich mochte ihren Opferblick nicht, Familiengeschenke waren bei mir nicht gefragt. Sie hatte ein Faible für Psychologie, und sie benutzte diesen ganzen halbverdauten Schrott dazu, Sarah und mich an die Leine zu nehmen. Was auch immer wir anstellten, erschütterte sie, am schlimmsten aber war die antrainierte Nachsicht, mit der sie unsere angeblichen Fehlleistungen entschuldigte. Sie hatte sich vorgenommen, uns zu verstehen, doch gerade dieses Verständnis ließ einen aufmucken, weil man keine Figur sein, sondern ganz für sich leben wollte. Sie begriff nicht, daß es am einfachsten gewesen wäre, uns in Ruhe zu lassen; stattdessen war sie schon in der Frühe laufend um einen herum, zuckerte einem den Tee, schob einem die Butter hin und redete dazu wie ein Engel, der alles Böse schon abwenden würde.

Dabei berauschte sie sich an den Details; ich war sicher, es sagte ihr etwas, wie Sarah den Löffel hielt und wieviele Brote ich aß. In ihrem Kopf wuchsen all diese Informationen zu monströsen Persönlichkeitsbildern zusammen. Bei ihrem Plappern wurde mir heiß, es ähnelte dem ködernden Murmeln von Photographen, die ihrem Opfer Entspannung einträufeln wollen. Letztlich aber lauerte immer ihr Blick, er sortierte unsere Gebärden und brachte sie mit jenen Reizwörtern in Verbindung, die um den Fetisch der Libido kreisten. Uns gegenüber hielt sie diese Wörter zurück, aber sie telephonierte viel, und die Gespräche mit ihren zahlreichen Freundinnen durchstöberten all diese seelischen Räume nach dem Verborgenen oder dem lauernd Latenten.

Manchmal dachte ich während der Schulstunden an sie, wie sie das kleine Haus durchstreifen würde auf der Suche nach einer befriedigenden Tätigkeit. Sie konnte sich schlecht konzentrieren und mußte sich jede Arbeit lange vornehmen, um sich auf sie einzustimmen. So wanderte sie herum, las Zeitungen in der Küche, öffnete irgendwo ein Fenster oder verschwand im Keller, denn das feuchte Dunkel dort unten war wie ein Versteck. Sie brauchte viel zu lange, um sich anzukleiden, den halben Morgen verbrachte sie in einem Mantel aus blauem Frottee, der bis zum Boden reichte. Später suchte sie die Kleidung für den Tag zusammen, langsam und wählerisch, als könnte schon ein falscher Griff die Stimmung trüben. Sie gab sich oft etwas Strenges, trug eng anliegende Kostüme und steckte das lange Haar mit kleinen Kämmen zusammen, die hinter den straff sitzenden Partien verschwanden. Zweimal in der Woche erschien eine Hilfe, und sie sprach mit der viel jüngeren Frau wie ein Mädchen zum anderen. Sie wollte sich immerzu gut unterhalten, sie brauchte diesen Austausch von Einsichten, doch in der Familie waren ihre Themen gefürchtet, denn sie ließ uns nicht los, bis sie alles durch ihre Mühlen gedreht hatte. Bei solchen Gesprächen konnte sie sich begeistern, ich glaube, sie war nur auf der Suche nach geeigneten Partnern, doch die Stadt hatte auch ihr nur wenig zu bieten.

Manchmal lud sie die verschiedensten Leute zu einer Abendgesellschaft ein und wartete ungeduldig darauf, daß das Essen vorbei sein würde; sie hatte keine Freude am Kochen, all diese Vorbereitungen dienten nur dazu, die Laune der Gäste zu heben, sie fit zu machen für die Unterhaltung danach. Sie drängte Vater, Wein einzuschenken, sie gierte geradezu nach den ersten, vom Lob der Küche und dem üblichen Hymnus auf die Einrichtung abschweifenden Sätzen, dann schnappte sie zu und stachelte alle zu besonderen Leistungen an. Bei solchen verbissen geführten Gesprächen blühte sie auf, bis hin zur heißen Phase, wo es nur noch um die besseren Schlagworte ging. Zum Schluß hatte sie alle soweit, für oder gegen etwas zu sein, und erst dann erschien sie erleichtert, als habe sie einem jeden etwas entlockt. Vater ließ sie gewähren, er kümmerte sich wenig um ihre Interessen; er hätte sich lieber solche Strapazen erspart, aber zu später Stunde hielt er gut mit, weil die meisten Themen dann Rechtsfragen streiften. Wenn er Erfolg gehabt hatte, hörte man bei der Verabschiedung seine laut gewordene Stimme; für einen dichten Moment war es ganz still, dann setzten die sanften, entspannenden Rhythmen des Jazz ein, leise, gedämpft.

Ich war sicher, daß ich von Vater nichts lernen konnte. Er hatte eine linkische Art und konnte sich nicht einmal ans Autofahren gewöhnen. Er fand keinen Spaß an technischen Dingen, und wenn im Haushalt etwas defekt war, war es am besten, gleich einen Fachmann zu rufen. Vater hielt sich bei allem nur auf; er tüftelte blindlings herum und gab sich den Anschein des Kundigen. Irgendwann mußte er passen, meist erst nach gutem Zureden. Vielleicht glaubte er, seinen Mann stehen zu müssen, aber er ging es falsch an, viel zu omnipotent, so daß es am Ende erschien wie ein Versagen.

Morgens stand er als Erster auf; er war schon so früh in unnötiger Eile, als könne er gar nicht schnell genug zur Arbeit kommen. Wenn er aufgestanden war, brauchte er Leben um sich, so daß man leicht von seiner Betriebsamkeit angesteckt wurde. Unter der Dusche geriet er in Fahrt, und wir hörten ihn, wie er Signale von sich gab, als müsse er eine ganze Herde um sich versammeln. In Wahrheit war er nervös; die bevorstehende Arbeit bedrückte ihn, und er versuchte, dieses schlechte Gefühl zu vertreiben, indem er sich wie ein Befehlshaber aufführte. Niemand wollte mit ihm wetteifern, doch meist brachte er es fertig, uns zu seinen Konkurrenten zu machen.

Manchmal denke ich, seine Unsicherheit rührte daher, daß er nie die richtige Zeiteinteilung fand; noch die Ferien verplante er, indem er Routen mit exakt bestimmten Tagesaufenthalten festlegte. Er hatte seine Freude daran, wenn alles reibungslos und ohne Verzögerungen verlief. Wir fuhren meist nach Frankreich, durch Burgund und weiter ans Mittelmeer; im Ausland kommentierte er gern sein Befinden, als werde man dort selbst zu einer Sehenswürdigkeit. Er tat, als habe er es auf Schlösser und Kirchen abgesehen, doch er konnte einfach nicht leben, ohne sich an Pflichten zu halten. Irgendwann hatte er verlernt, mit anderen umzugehen, und so regelte er unser Zusammensein wie einen Verkehr zwischen juristischen Parteien. Wir waren eine auseinanderstrebende Familie, jeder von uns suchte seinen eigenen Weg, aber nur Vater verwechselte Zickzacklinien mit geraden Strecken.

Mit der Zeit wurde die Schule zum Horror. Platz nehmen und sich drosseln, schwach mithalten, gerade so, daß die facts ankommen. Rechtzeitig Funkstille einlegen, dösen bis ultimo, dann durchstarten bei einer Runde Französisch. Hier zwei-, dreimal Eindruck machen, antworten, bevor du gefragt wirst. Umsteigen auf den historischen Zug, die verquaste deutsche Geschichte, Wilhelm der Kaiser, Weimar und Hitler, das Großmaul. Tempo rausnehmen, Betroffenheitsnirwana. Zwanzig Minuten Pause, das reicht für zwei Zigaretten und einen Kaffee. Latein, der klassische Ton, ein dumpfer Inzest von Worten. Ruhestellung, den Kopf in beide Hände gestützt, der Mittag rückt näher. Noch einmal waches Interesse vorzaubern, jetzt bist du da, einmal soll es dich packen. Goethe, Faust I, was macht das Grenzenlose mit dir? Gekonnt reden, ein wenig über das Maß, Mephisto ausstechen und gelinder Spott für Gretchen, das dumme. Dann Physik, wie treffen die Strahlen aufs Auge, Zeit zum Zeichnen, feine Ablenkung. Jetzt gut in der Kurve, Religion ausfallen lassen, statt dessen ein paar Punkte in Geographie, Beifall auf der Zielgeraden. Du schöner Mittag. Wieder zwei Zigaretten, und im Sommer zum Schwimmen. Die Frau ist ein Luxusgeschöpf und nichts zum Dranrühren. Lange Betrachtung des Himmels, kurzes Dämmern, dann rasches Durchforsten des gesamten Gehirns. Sich der Bestände versichern, Schulbücher, auf dem Rücken liegend, gegen die Sonne halten. Rasanter Wissenserwerb, Vermehrung der zentralen Ressourcen. Wieder abschalten, insgesamt Tao, Nachmittagsgelassenheit. Niemals plaudern, erst recht nicht bei Telephonaten mit Blok. Abchecken, wieviel Energien dir noch geblieben sind, und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Auf dem Rad für fünf Minuten das Letzte aus dir herausholen, entweder jemanden treffen oder allein gegen alle. Walters Vater beim Reintragen der Obstkisten helfen und die Hilfe mit einem Freibier quittieren lassen. Die Sinne an Abendphantasien anschließen und doch nur mit dem Rad durch die Stille, bis die Ernüchterung eintritt. Sich verabschieden, wann kommen wir wieder zusammen, und heim ins unscharfe Bild der um zwei Kinder vermehrten Ehe.

Meist war Blok so gründlich vorbereitet, daß es sich lohnte, bei ihm abzuschreiben. Auf meine forschenden Blicke reagierte er nicht, er schrieb langsam, fast peinlich bedächtig, als habe er mehr Zeit als wir anderen. In Englisch war er der Beste von allen, mit seinen gewählten Wendungen verschaffte er sich selbst bei den Lehrern Respekt. Ich beneidete ihn um sein hexenhaftes Gedächtnis, einen kostbaren Speicher, den er exquisit fütterte. Seine Haare trug er nun länger, einen schwarzen Schopf mit einer einzelnen geflochtenen Strähne, gepflegt wie bei Pferden. Die Ferien durfte er bei einer befreundeten Familie in England verbringen; auf einer Karte grüßte er mich mit drei Worten, und als er zurückkam, sprach er sein flüssiges Englisch mit einem leichten Akzent.

Zwei Wochen danach fuhr ich mit dem Rad das erste Mal zu ihm nach Hause. Ich mußte das Haus erst eine Weile suchen, der große Bungalow lag abseits, kaum noch verbunden mit der gerade entstandenen Siedlung. Blok hatte mich eingeladen, er öffnete auf mein Klingeln die Tür und führte mich in den kühlen Flur. Zu Hause war er viel nachlässiger gekleidet als in der Schule; er ging barfuß, aber langsam und vorsichtig, als sei er nicht daran gewöhnt. Ich blieb neben ihm stehen, ich war ein wenig verlegen, es war die plötzliche Fremde, die sich um Blok herum auftat, der von Familiengerüchen vollgesogene Bau. Blok ging voran, und wir betraten einen großen, hellen Raum mit einer langen Fensterfront; draußen begann nicht weit entfernt schon der Wald, ein dichter, grüner Vorhang aus Kiefern und Lärchen.

»Setz dich«, sagte Blok, »etwas zu trinken?«

»Ein Glas Mineralwasser«, antwortete ich.

Er verschwand kurz, ich hörte, wie in der Küche die Eiswürfel in die Spüle rasselten; dann kam er mit zwei Gläsern, dem Eis und einer Flasche Wasser zurück. Er nahm die kleine Eiszange und ließ je zwei Würfel in die Gläser springen.

»Wir könnten das Wasser mit Whisky verdünnen«, sagte er.

»Eine gute Idee.«

»Jack Daniels ist am besten, oder was meinst du?«

»Ich bin für Jack Daniels.«

Er ging zu der dunkelbraunen Schrankwand an der Rückseite des Raumes und öffnete das Barfach; einen Moment überflog er die Sammlung, dann nahm er eine Flasche aus den hinteren Reihen. Sie war noch fast voll. Er schenkte uns ein, eine ordentliche Menge, als sei er es so gewöhnt. Dann etwas Wasser, die Gläser halbvoll.

Wir stießen an, und er setzte das Glas mit einem nachprüfenden Blick auf die Flasche wieder ab.

»Ich bin deinem Vater unterwegs begegnet«, sagte ich.

»Ah ja? Frankie ist immer auf Tour. Sie können ihn nachts aus dem Bett holen, und er fährt zu einem Patienten, der gerade mal achtunddreißig Fieber hat. Wenn er auftaucht, verzieht sich jede Krankheit.«

»Deine Mutter hab ich noch nie gesehen.«

»Meine Mutter ist meine Mutter. Was willst du wissen? Es ist niemand zu Haus, wenn du das meinst.«

»Ist das Haus nicht zu groß für euch drei?«

»Es ist Frankies Haus, das hier ist sein Animiersalon. Schon der Flügel da drüben ist bestes Repräsentieren, ein Bösendorfer , Frankie hat ihn aus Bonn hergeschafft.«

»Spielt er etwa darauf?«

»Für die drei Stücke, die er beherrscht, hat der Bösendorfer die richtige Stimmung.«

»Verstehst du was davon?«

»Ich brauch nichts zu verstehen, ich hör’s einfach. Aber laß mal, es war eh nur ein joke.«

Er hielt sein Glas in der Hand und fuhr daran mit zwei Fingern langsam auf und ab. Wir hatten uns schon nach den ersten Sätzen verrannt und saßen einander stumm gegenüber. Ich stellte mir vor, wie reizbar man in dieser Umgebung, in der man sich alles erst von weit her holen mußte, werden könnte; die Läufer kamen mir vor wie Heftpflaster, kreuz und quer auf den grauen, steinernen Boden geklebt. Auf dem Teewagen stand ein Telephon, eine kapriziöse Imitation, mit einem weißen Griff und goldenen Muscheln.

»Du fühlst dich hier nicht wohl«, sagte Blok, »komm, wir gehen runter in mein Zimmer, ich will dir was zeigen. Bring unsere Gläser mit!«

Wir standen auf, Blok füllte noch einmal Eiswürfel nach und nahm die beiden Flaschen. Vom Flur aus ging es hinab ins Souterrain, dann an einer Flucht von Türen entlang, die alle geschlossen waren.

Blok deutete flüchtig mit dem Kopf darauf: »Frankies Photoatelier; er entwickelt und vergrößert seine Aufnahmen selbst; und daneben ist das Trimmstudio, wenn es regnet, fährt er dort seine Etappen.«

Bloks Zimmer war schmal und schmucklos, ohne ein einziges Bild an den Wänden. Ein kleiner Schreibtisch stand vor dem Fenster, daneben eine Stereo-Anlage mit zwei großen, schwarzen Lautsprecherboxen. Er setzte sich auf sein Bett und schob mir den Drehstuhl zu.

»Trinken wir noch einen, bevor das Eis schmilzt«, sagte er. Ich hatte schon genug, doch eine unerklärliche Scheu hinderte mich, ihm zu widersprechen. Ich fühlte mich leicht erhitzt, wie ganz von innen her aufgepumpt, doch es war eine anregende, sanfte Empfindung, die einen mitriß und das Reden erleichterte. Blok erzählte von England, er ließ sich Zeit zwischen den Sätzen, und es war ein immer weiter ausholendes Sprechen in das allmähliche Dunkeln hinein.

»So war’s«, sagte er schließlich, und plötzlich begriff ich, wie wichtig dieser Aufenthalt für ihn gewesen war. Es war ihm gelungen, alles hier zu vergessen, und er hatte sich nicht einmal nach Hause gesehnt. Die fremde Sprache war seine Chance gewesen, ein sensibles, exaktes Medium, das ihm ein zweites Leben ermöglicht hatte.

Er schaltete die Schreibtischlampe ein und drehte den Lampenkopf zur Seite, damit uns das Licht nicht in die Augen stach. Ich hatte mehrere Gläser geleert, es war ein Taumeln am Rande des Wohlseins entlang; Blok erhob sich und legte eine Schallplatte auf.

»Die hab ich mitgebracht«, sagte er. »Ich wollte, daß du sie hörst. Es sind Opernarien, von der Callas gesungen.«

Er setzte sich im Schneidersitz wieder aufs Bett und blickte starr zum Fenster hinaus, als finde dort draußen die Aufführung statt. Es begann mit der bekannten Arie aus Carmen, ich schaute auf der Plattenhülle nach, l’amour est un oiseau rebelle. Das Stück hatte etwas Reißerisches, Trotziges, und die kräftige, metallische Stimme verwandelte den engen Raum in eine weite Halle. Wir saßen für die Dauer der ganzen Plattenseite fast unbeweglich, all diese Arien kamen mir vor wie Ausbrüche einer extremen Psyche, die sich in manischen Gebärden erschöpfte.

»Zyklothymie«, sagte Blok und legte die andere Seite auf.

»Was ist das?«

»Zirkuläre Schwankungen, Raserei und Depression. Hast du mal ein Photo von ihr und Onassis gesehen?«

Während die Musik wieder einsetzte, suchte er ein Buch heraus und zeigte mir das Bild. Sie saßen nebeneinander. In der Nähe des kräftigen Mannes mit den langgezogenen, dunklen Brauen wirkte die Callas wie ein scheuer Vogel.

»Wußtest du, daß sie ihm hörig war?« fragte Blok.

»Nein«, antwortete ich.

»Er konnte mit ihr machen, was er wollte, ihre Rollen verschmolzen in der Liebe zu ihm.«

Wir hörten wieder zu, diese dramatischen Szenen wirkten furchterregend, und sie wühlten einen so auf, daß man sich nach einer schlichten Einfachheit sehnte. Doch die Stimme krallte sich in einem fest, markig und bitter, als gäbe es nur dieses eine, überspannte Beharren.

Blok lag mit geschlossenen Augen auf seinem Bett, steif und wachsam.

»Sie trumpft gar nicht auf«, sagte er leise, »und das kommt daher, weil sie sich in diesen Rollen nicht fremd wird, selbst in den extremsten Lagen ist es noch wie ein Sprechen.«

»Blok«, antwortete ich, »ich glaube, ich bin ein wenig betrunken.«

»Ach, Meynard«, fuhr er fort, »die Trunkenheit teilen wir uns. Sowas teilt man durch zwei. Hörst du mir zu, Meynard?«

»Ja«, sagte ich.

»Gut, hör mir zu. Frankie wird sich von meiner Mutter trennen. Seit ein paar Tagen wohnt sie nicht mehr hier. Er hat was Bessres gefunden, die Neue ist Ärztin, großes Plus, und sie ist Dressurreiterin, Ausrufezeichen. Sie hat einen zwölfjährigen Sohn, großes Minus, und sie lebt in Scheidung. Ich werde also eine Stiefmutter und einen Halbbruder bekommen, und in der Garage werden wir einen schizoiden Gaul unterbringen, der im Kreis laufen kann.«

»Ist nicht wahr.«

»Das heißt also, hier wird sich einiges ändern. Du kannst jetzt kommen, wann immer du willst, bisher gab es hier laufend Streit. Aber nun kommen die glücklichen Tage, fette Glücksgaulharmonie, und dazu lade ich dich ein, Meynard, wann immer du willst.«

»Ist gut«, sagte ich ruhig, aber ich brauchte nichts mehr zu sagen. Der Plattenarm hob sich, fuhr langsam zur Seite und fiel in die Halterung. Blok lag jetzt wie eingeschläfert da, ich wartete noch eine Weile, dann stand ich schwankend auf und ging zur Tür.

Ich schaute mich noch einmal kurz um, öffnete die Tür, schlüpfte hinaus, schloß sie hinter mir, tastete mich die Treppe hinauf und verließ das Haus.

Damit begann die Zeit, in der Blok langsamer wurde. Es war eine schleichende Veränderung, ein Matterwerden, wie bei einem Läufer, der sich mitten im Rennen zurückfallen ließ. Er vertrödelte die Vormittage, ging lange Wege, die er früher mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte, zu Fuß und ließ sich einen Bart stehen, der seine lauernde Passivität nur noch mehr betonte.

Im Unterricht übte er jetzt offen Kritik, die Lehrer hatten ihm nichts mehr zu bieten. Meist waren es angeschrammte Typen, die sprunghaft gealtert waren, phantasielos, gehemmt durch den 68er-Kram. Ihre Methoden wirkten verbraucht, halbherzig ausgesponnene Bewährungsspiele für die bekannten Begriffe. Oft waren es Begriffe der Rechtfertigung, und die Lieblingsprägung lautete noch immer soziale Relevanz. Mit dieser dienenden Gesinnung brachten sie uns oft zur Verzweiflung, denn sie wirkte wie eine Schraube, die angezogen wurde, um einem die Luft abzudrehen. Ihre müden Verrenkungen waren leicht zu durchschauen, geformt von einem triebhaften und doch gezügelten Verständnis für Anomalien. So warteten sie mit Erklärungen auf, die allen Kontroversen die Spitze nahmen, geborgt aus den Kisten des Fabrikats Gesellschaftskritik. Dahinter aber lauerten Gedanken vom anständigen Leben, platt solidarisch, mit jenem Drang zur Gemeinsamkeit, der uns fehlte. Man stritt nicht einmal gerne mit ihnen, gegenüber jedem Funken von Eigensinn waren sie verständnislos, sie kannten das panische Erschrecken nicht mehr, dessen Echtheit etwas Bedrohliches hatte. Ihre Reglosigkeit kaschierten sie durch ein penetrantes Grübeln, doch dieses Grübeln ging nicht weit, sondern war nur verhalten. Manche dachten vielleicht noch, sie kämpften irgendwo an einer abgelegenen Front, aber die Einsichtigen unter ihnen wußten, sie wurden überhaupt nicht gebraucht.

Blok ließ sie das spüren. Wenn er mit einer Arbeit nicht fertiggeworden war, brach er mitten im Satz ab und klappte sein Heft zu. Er zeigte demonstrativ, wie gleichgültig ihm alle Vorhaltungen waren; statt darauf zu antworten, stöhnte er nur manchmal leise vor sich hin. Bald glaubte er an eine Art Komplott, eine geheime Absprache zwischen einigen Lehrern, die angeblich darauf zielen sollte, ihn kleinzukriegen. Es wurde ein ungleicher, den Unbeteiligten töricht erscheinender Kampf, denn beide Seiten wollten sich lediglich noch ihre Stärke beweisen. Blok sammelte Einträge ins Klassenbuch, es war, als stehe er unter Sonderbewachung, und jede irritierende Geste wurde ihm als Affront ausgelegt. Er konnte nur unterliegen, doch anfangs wollte er noch mithalten, so daß es zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Dann aber wurde es aussichtslos, man zeigte ihm, wie man ihn kaltstellen konnte, und er ließ die Zügel schleifen.

Wir alle beobachteten dieses lange Ringen um Punkte, doch nur ich bemerkte, wie sehr es Blok mitnahm. Manchmal schien er keine Luft mehr zu bekommen, ich sah, daß seine Hände zitterten, und er rieb immer wieder den Schaft seines Pelikan trocken, weil seine Fingerspitzen feucht waren und den Füller nicht mehr fest zu fassen bekamen.

Einmal war er in einer Turnstunde mit einer Übung am Kletterseil dran; er klammerte sich fest und zog sich langsam, wie es so seine Art war, hinauf. Ich stand unten neben dem Seil und schaute zu, wie er mit dem rechten Arm ausholte, den linken folgen ließ und Stück für Stück höher hinaufrutschte, als ihn der antreibende Schlag des Lehrers mit einem Riemen traf, genau zwischen die Beine. Blok hielt ein und blickte hinab; er baumelte nun über unseren Köpfen und gab keinen Laut von sich. Der Lehrer machte eine spöttische Bemerkung, sie sahen sich starr an wie zwei Feinde, die einander den letzten Stoß versetzen wollten. Es war unerträglich, blanker gegenseitiger Haß, man spürte die Kälte am eigenen Leib. Blok wartete, bis es ganz still geworden war; dann ließ er los und sprang mit einem leichten, federnden Satz auf den Boden. Er wischte seine Hände, als müsse er sie vom Magnesiastaub befreien; dann ging er wortlos hinaus in den Umkleideraum.

Auch zu Hause wurde alles schwerer für ihn. Wenn ich ihn besuchte, verbrachten wir die meiste Zeit in seinem Zimmer, bedrückt und eingepfercht wie in einem Bunker, um den herum Geschosse detonierten. Seine Stiefmutter brauchte Wochen für den Umzug, und draußen, auf dem Rasen vor dem kleinen Wäldchen, ließ ein zwölfjähriger Flegel seinen Bumerang kreisen. Frankie hatte sich Urlaub genommen, und wir erlebten, wie er neuen Auftrieb erhielt. Er packte die Umzugskisten aus und gruppierte die schweren spanischen Möbel um, als könne er so alle Spuren der Erinnerung verwischen. Wenn Entspannung angesagt war, tauschte er nun seine karierten Hemden gegen weiße, gestärkte, nur die breit auslaufenden Krawatten behielt er bei wie Markenzeichen, die ihn mit seinem früheren Leben verbanden. Beinahe jeden Abend führte er seine neue Liebe aus, Blok erzählte mir, daß sie meist erst nach Mitternacht wieder aufkreuzten, kichernd und angetrunken, ein hitziges Gespann, das sich für unschlagbar hielt.

Wir gingen nun viel spazieren, es waren lustlose, schleppende Gänge mit langen Aufenthalten in leeren Dorfkneipen, wo Blok die Spielautomaten beschäftigte und Theorien dar über aufstellte, welche Ziffernkombinationen einer Hunderter-Serie vorausgingen. Beim Spielen trank er einen Kaffee nach dem anderen, die rechte Hand in der Nähe der Tasse, die linke frei für das zermürbende Hickhack auf den drei roten Tasten. Er hatte oft Glück, nach Gewinnen beruhigte er sich, kaufte uns Zigaretten und spielte den erfahrenen winner, dem niemand etwas vormachen konnte. Auch ich geriet in den Sog seiner Schwermut, es wurde Zeit, daß etwas geschah, doch wir hatten nichts in Aussicht, nicht einmal irgendein lumpiges Ziel, bis man Blok die Rechnung präsentierte und endgültig feststand, daß er die Klasse wiederholen mußte.

Auch diese Beurteilung beeindruckte ihn nicht, und er gab sie in meiner Gegenwart zu Hause zum Besten wie einen klinischen Befund, der keine Behandlung verlangt. Frankie jedoch machte sich seine Gedanken, er brauchte kaum zwei Tage dafür, dann hatte er die Lösung für alle Probleme parat. Blok rief mich an, und ich hörte eine überdrehte, hastige Stimme: »Ich wechsle auf eine Privatschule in Wiesbaden, Frankie übernimmt alle Kosten, ich miete mir ein Zimmer, Meynard, jetzt kommen wir frei.«

Wiesbaden existierte damals für uns nur als verschwommenes Bild. Es war ein Operettenbild aus dem vergangenen Jahrhundert, mit Auftritten des Kaisers im Hoftheater, mit Hoteldienern und Pagen in den zur Sommerzeit überfüllten Nobelhotels, mit Kurkonzerten in weiten, alten Parkgeländen. Dazu gehörte eine durch Sekt und Champagner angeheizte Stimmung, etwas manieriert Schlüpfriges wie auf den pastellfarbenen Skizzen eines Toulouse-Lautrec. Feine Herrschaften wurden im Ein- oder Zweispänner vom Bahnhof abgeholt und belegten die Zimmer schattiger, stiller Pensionen mit klingenden Kokottennamen wie Alexandra, Beatrice, Credé. Alle dachten an ein leichtes Amüsement, vier oder sechs Wochen Halbwelt-Leben, unerwartete Spielbankgewinne und gefällige Temperaturen. Eine Stadt mit Treibhausklima, dunstig, vegetativisch, mit zahllosen Quellen, deren heißes, dampfendes Wasser sich in kleine Brunnen ergoß, in deren Nähe sich ein Geruch von gekochten Eiern breitmachte, ein Geruch von trüben, abgestandenen und mineralhaltigen Essenzen. Nachts breitete sich auch im Sommer ein feiner Nebel aus, und seine vom Wind zerteilten Schwaden verdunsteten wie ein heftiger, warmer Atem an den bodentiefen Villenfenstern der Innenstadt. Aus Tanzsaalpalästen, von milchigem rosa Licht ummäntelt, klangen Spielwalzen-Cancans, und aneinandergeschmiegte Paare verschwanden flüsternd in plüschigen Absteigen, wo die dunkelroten Samtportieren den ganzen Tag zugezogen blieben. Durch diese stets wechselnden Kulissen wankte Dostojewski, der fanatische Zocker, ein vom Wahnsinn gezeichnetes Laternenphantom. Faîtes votre jeu, und die bleichen Jetons wurden von nikotingelben Fingern auf ganze Zahlen gesetzt. Balkons, Erker, Verandavorbauten, in verglasten Wintergärten drängten sich exotische, subtropische Pflanzen, die im Morgengrauen süßliche Aromen verströmten. In der Frühe huschten die Dienstboten zu ihren Besorgungen und kamen Stunden später heim mit den delikatesten Speisen, an den Nachmittagen zeigten sich in den sanft geschwungenen Straßen der Villenviertel stolze Hausbesitzer, die in dieser Stadt ganz zur Ruhe kommen wollten. In unseren Phantasien war es eine Stadt ohne Jugend, ein verschlafen mondänes Exil für alle, die nicht nach Heimat, sondern nach einem unterhaltsamen Leben ohne Ekstasen verlangten, eine Stadt kleiner, stets vertuschter Skandale und einsam gewordener Herren in hohem Alter mit erlesenen Kunstsammlungen, für die sie ein Leben gebraucht hatten. Es war eine Stadt voller Menschen mit überzüchteten Sinnen, eine mit den Jahrzehnten weltfremd gewordene Insel für guten Geschmack, an dem man mit distinguierter Langeweile festhielt, ein leicht verlotterter Jungbrunnen mit Badehäusern aus der weichen Epoche des Jugendstils, in den schlimmsten Alpträumen eine modrige Gruft, mit dem marmornen Sarkophag einer russischen Herzogin, die an der erkalteten Liebe ihres Gatten zugrunde gegangen war.

Blok bewohnte ein winziges Mansardenzimmer, das sein Vater aufgetan hatte. Es war eine kühle, verwinkelte Bude, karg möbliert, und man schaute aus dem einzigen Fenster auf das Amtsgericht. Blok brauchte nicht mehr als eine schmale Liege, einen Tisch und zwei Stühle, alle anderen Möbel räumte er aus. Er hatte seine Platten mitgenommen, und die beiden schwarzen Lautsprecherboxen standen zu beiden Seiten der Fensternische wie zwei treue Diener, die keine Anstalten machten. Das Zimmer war ein gutes Quartier, eng genug, um ausschweifende Träume anzulocken. Gleich nebenan sollte es einen ähnlichen Raum geben, und wir hörten von anderen Mietern, daß es der Unterschlupf einer Fachhochschulstudentin im zweiten Semester sei. Doch entweder schien sie woanders zu kampieren, oder sie lebte das geräuschlose Leben einer Zimmerpflanze, die mit wenig Sonnenlicht auskam.

Blok erzählte, daß es in der Privatschule ganz anders zuging als auf dem Gymnasium der Kreisstadt. Seine Mitschüler waren meist viel älter als er, in die Jahre gekommene Knaben, die fürs Lernen keine Energien mehr aufbrachten. Sie kamen und gingen, wie es ihnen in den Kram paßte, und die Schulstunden waren kurze Aufenthalte zwischen den wichtigeren Aktivitäten. Auf ihren früheren Schulen waren sie aus Faulheit gestrandet, aber sie hielten Faulheit nicht für eine Schande, sondern für einen Ausdruck des Abscheus gegenüber allem nicht profitablen Wissen. Auch sie wollten weiter, aber auf anderen Gleisen; sie hielten nichts von Verzicht, sie wollten eindeutige Erfolge sehen, bar, notfalls in Raten. Die Schule nahmen sie gerade noch mit, irgendein Wisch konnte nicht schaden, mit dem man sich ausweisen konnte. Sie kümmerten sich nicht umeinander, nichts hielt sie zusammen, sie dienten ihre Stunden ab, jeder für sich, nach einem eigenen, jederzeit variierbaren Plan. Es gab wenig Reibungen, in der Schule kannten sie nicht einmal Konkurrenz. Konkurrenz herrschte dort, wo es um Einsätze und Renditen ging, die Schule aber war eine Sache von Lehrern, die mit ihrem schalen Wissen hausieren geschickt wurden. Es waren Lehrer, die kaum noch etwas verlangten, kauzige, seit langem an den Rand gedrängte Einzelgänger, oder solche, die ganz auf Bequemlichkeit aus waren. Sie griffen nicht durch, sie hatten alle Strenge verloren, und ihre Stunden bestanden aus langen Monologen ohne alle Effekte. In ihren Schülern hatten sie teilnahmslose Gesellen gefunden, die es schätzten, wenn es kurz und schmerzlos zuging.

Blok kam schnell mit ihnen zurecht, schon bald wußte er von ihren kleinen Geschäften und abendlichen Jobs, denen sie ihre Gewandtheit verdankten und durch die sie an Geld kamen. Unter ihnen waren auffällige Gestalten wie Lautner, der die Anzeigen für Wiesbaden live, eine der beiden monatlich erscheinenden Stadtzeitungen, eintrieb; er hatte immer einen Taschenrechner dabei, mit dem er die Einnahmen kalkulierte. Lautner war einer, der interessierte Blicke auf sich zog; er hatte einen schwerfälligen, aber imponierenden Gang, kam schnell zur Sache, ließ sich nie in lange Gespräche verwickeln und war der typische gute Freund aller Frauen, die ihre Geschichten an einen ruhigen Zuhörer loswerden wollten. Er selbst fand keinen Geschmack daran, sich mit einer Frau fest zu befreunden; Freundschaft war, wenn man es genau nahm, ein Projekt, das ohne längerfristige Perspektiven nichts hergab, und Lautner war nur gewohnt, von Monat zu Monat zu rechnen.

Befreundet war Lautner mit Blum, der nur Blümchen gerufen wurde, weil er klein gewachsen war und sich gern mit allerhand Kitsch umgab. Blümchen half, wann immer er Zeit hatte, in einem Antiquitätenladen aus; er stand auf englischen Möbeln, teuren Nachbildungen skurriler Stücke aus der Kolonialzeit, die meist mehrfach verwendbar waren und jeden Käufer befriedigten, der etwas Ausgefallenes suchte. Blümchens Vater war lange Zeit zur See gefahren; jetzt war er Vertreter einer Mineralwasser-Firma, die ihren Sitz im Taunus hatte. Ihm gehörte ein Segelboot, das im Hafen eines kleinen Rheingauortes lag und um das sich legendäre Geschichten von ausschweifenden Festen rankten, zu denen Blümchen seine Freunde im Sommer einlud.

Der Dritte in diesem Bund war Männie, der einen guten Draht zu den US-boys in der Kaserne hatte und dadurch an allerhand amerikanischen Schnickschnack kam, an Erdnußbutter und Maischips, an Baseballhandschuhe und an Schlagkeulen, wie sie der batter benutzte. Es hieß, Männie treibe Handel mit Drogen, man kam schnell darauf, wenn man ihn länger beobachtete, denn Männie besaß etwas Nervöses, Verhetztes und eine übertriebene Reizbarkeit. Angeblich nahm er selbst Kokain, doch es war nur ein Gerücht, das nicht verstummte, weil er selbst nichts dazu sagte und vieles auf heimliche Weise tat. Blok hielt ihn nur für zerfahren und glaubte, daß diese Zerfahrenheit von exzessiven Diskothekenbesuchen herrühre.

Diese drei und viele der andern – Honolka, der Jugendmeister im Tennis war, Killes, der beim Fernsehen aushelfen durfte, weil sein Bruder Sekretär eines Showmasters war, der ein Büro in der Innenstadt hatte, Falk, der einmal Koch werden wollte und lauter Rezepte auswendig kannte, in denen sein Lieblingswort Messerspitze dominierte, Bessin, der sich für einen Athleten hielt, dessen muskulöser Körper nur mit Ausnahmeleistungen zu beruhigen war, Hegeler, der als Bademeister im Opelbad am Beckenrand stand und schon nach wenigen Sonnentagen im Frühjahr so braun war, daß ihn jeder beneidete – sie alle waren Söhne wohlhabender Eltern, die von ihren Elternhäusern längst losgekommen waren. Sie hatten einen wachen Sinn für das schwierige Verhältnis zwischen Arbeit und Vergnügen und verstanden es perfekt, der Arbeit etwas Vergnügen abzuringen und dem Vergnügen Züge von Diszipliniertheit zu verleihen. Sie gaben sich aufgeschlossen und sorglos, solche Sorglosigkeit beruhte auf einem tief gläubigen Optimismus, einem Vertrauen in die Werte der steten Progression, die ihre Dauerhaftigkeit schon im Leben ihrer Eltern erfolgreich bewiesen hatten und nicht mehr antastbar waren.

»Sie sind uns um Längen voraus«, sagte ich zu Blok.

»Ist ja kein Wunder«, antwortete er, »wir sind die Trampel vom Dorf, die im Frieden der weiten, unberührten Natur groß wurden.«

»Sie sind an allem ganz nahe dran, als gäbe es nirgends was Tückisches.«

»Ja und? Es sind eben launige Kerle mit einer unheimlich feinen Witterung.«

»Meinst du, sowas läßt sich trainieren?«

»Du kannst es mit ein paar Wochenendkursen versuchen.«

»Danke, ich komm schon allein dahinter.«

»Das gibt ein abwechslungsreiches Programm.«

»Du traust ihnen nicht?«

»Wer redet denn davon?«

»Ich, ich trau ihnen nicht. Es sind zu viele Angeber darunter, und gerade die haben das Sagen.«

»Und wenn sie einfach tüchtig sind? Oder mehr Reserven haben als du? Vielleicht waren sie schon im Mutterleib hemmungslose kleine Ichthyosaurier, die ihre Nabelschnur aufknabberten.«

»Irrtum, das ist eine Gattung, die sich nur im Hunsrück vermehrt.«