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Tabu Aggression – das neue Buch des erfolgreichen Familientherapeuten Jesper Juul! Aggression ist unerwünscht, in unserer Gesellschaft und besonders bei unseren Kindern. Aggressives Verhalten gilt als Tabu und wird diskriminiert. Was wir mit der Unterdrückung dieser legitimen Gefühle anrichten, wie wichtig es ist, diese zuzulassen und wie wir mit ihnen konkret umgehen können, zeigt der bekannte und erfolgreiche Familientherapeut Jesper Juul eindrucksvoll in seinem neuen Buch. Er plädiert für ein radikales Umdenken: Aggressionen sind wichtige Emotionen, die wir entschlüsseln müssen, sonst setzen wir die geistige Gesundheit, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen unserer Kinder aufs Spiel. Ein wichtiger Aufruf, für einen konstruktiven und positiven Umgang mit einem wichtigen Gefühl.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 177
Jesper Juul
Aggression
Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist
Herausgegeben von Ingeborg Szöllösi
FISCHER E-Books
Ist aus der Fülle an Emotionen, die die Psychologie als Aggression bezeichnet, ein neues Tabu geworden? Und: Ist es gefährlich? Auf beide Fragen ist meine Antwort ein klares »Ja« – und der Grund, ein Buch über dieses Thema zu schreiben.
Ich kann mich noch genau an den Zeitpunkt erinnern, als mir diese Entwicklung das erste Mal bei Pädagogen und Erziehern, Psychologen, Therapeuten sowie bei den Eltern auffiel. Vor ungefähr fünfzehn Jahren habe ich das Lehrpersonal in einer Institution für sogenannte schwererziehbare Kinder betreut. Und wie wir Schritt für Schritt die Schwierigkeiten durchgingen, die die Mitarbeiter im Umgang mit einer bestimmten Anzahl von Kindern hatten, wurden mir einige dieser Kinder folgendermaßen vorgestellt: »Das ist Johann, und er hat ein Aggressionsproblem.«
Nachdem ich diese Art Beschreibung einige Male gehört hatte, fragte ich erstaunt: »Was hat er?« Denn mir war diese vage Diagnose nicht bekannt. – Zunächst waren die Antworten auf meine Frage fast die getreue Wiederholung der »Diagnose«, und als ich versuchte, mehr darüber zu erfahren, wurden die Pädagogen ungeduldig und sagten: »Er ist aggressiv.« Und als ich mich daraufhin erkundigte: »Für wen ist das denn ein Problem?«, gaben sie mich fast auf. Was für sie selbstverständlich schien, war für mich eine Neuigkeit.
Bei der nächsten Gelegenheit, als ich wieder mit dieser »Diagnose« konfrontiert worden bin, forschte ich gleich nach: »Hat jemand von Ihnen den Jungen (es handelte sich in 95% der Fälle um Jungen) gefragt, worüber oder über wen er wütend ist?« Alle guckten mich erstaunt an, versenkten sich weiterhin in ihre Berichte und schüttelten ungläubig den Kopf. Niemand hatte diesen Pädagogen je die selbstverständlichste aller Fragen gestellt.
Als ich dann später allmählich den Hintergrund dieser Jungen und Mädchen kennenlernte, war es leicht zu zeigen: Dass sie bislang keinen Menschen umgebracht hatten, grenzte fast an ein Wunder. Die Zahl der gewalttätigen und übergriffigen Eltern, Stiefeltern, Großeltern und Lehrer, mit denen sie in ihrem kurzen Leben auskommen mussten, war erschreckend, ja schockierend hoch. Trotzdem sind diese Kinder nur aufgrund ihres aggressiven Verhaltens beurteilt und entsprechend behandelt worden.
Diese Kinder und Jugendlichen waren nicht in einem traditionellen Sinne gewalttätig: Sie haben ihre Erzieher und Lehrer nicht mit Schlagstöcken, Messern oder ihren Fäusten angegriffen. Sie zogen meist nur jemandem eins über und schubsten einige ihrer Altersgenossen, wenn der Kessel überkochte. Im Grunde übten sie ein Maß an Selbstkontrolle aus, das sehr viel größer war als jenes, das Erwachsene an den Tag legen, wenn sie an ihre Grenzen stoßen. Und trotzdem waren sie wegen ihrer Aggression in Behandlung – das ist so, als würde man einen Menschen mit einer schweren Lungenentzündung lediglich mit Hustensirup und nicht mit Antibiotika behandeln. Oder auch so, als würde man eine Person wegen ihrer legitimen Gefühle – weil sie verliebt, glücklich, traurig ist oder weil sie um jemanden trauert – in Behandlung schicken. Die aggressive Haltung eines Menschen zeugt von Mangel und Vernachlässigung, und genau diese Verwahrlosung haben die Kinder und Jugendlichen, die ihre Wut und ihren Frust auslassen, in frühen Jahren bereits erfahren.
In vielen Ländern haben wir einen Punkt erreicht, wo die Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen seitens der Pädagogen schwerer ins Gewicht fällt als jene, die sie in ihrer Familie erfahren haben. In der Öffentlichkeit wird diese Tatsache allerdings anders wahrgenommen: Es wird davon gesprochen, dass mehr und mehr Kinder und Jugendliche »spezielle Bedürfnisse«, »Verhaltensprobleme« oder eine »fehlende soziale Kompetenz« aufweisen. Eins jedoch ist klar: Genau jene Menschen, die beruflich mit Kindern wie Jugendlichen arbeiten und die für deren Vernachlässigung verantwortlich sind, erheben gleichzeitig Statistiken für die Öffentlichkeit, in denen sie wachsende Verhaltensprobleme dokumentieren.
Eine brandaktuelle dänische Studie (2012),[1]in der zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialwissenschaften Kindergartenkinder ihre eigene Meinung sagen durften, zeigt, dass 24% der Jungen sich nicht besonders wohl im Kindergarten fühlen. Diese Prozentzahl ist von den Erzieherinnen (meist Frauen) bestätigt worden: Sie behaupten, dass 22% der Jungen »Problemkinder« seien, weil sie ihren Ärger und Frust »ausleben« würden.
Jedes vierte Kind wird demnach im Alter von drei bis sechs Jahren als »Problemkind« charakterisiert, und ich kann garantieren, dass nur eine sehr geringe Zahl dieser Kinder in ihren Familien Opfer von Verwahrlosung und Missbrauch waren. Das ist auf beruflicher wie nationaler Ebene ein Skandal für ein System, das sich als Vorbild für andere Länder dieser Welt versteht. – Eine scharfe Kritik, die jedoch berechtigt ist, muss ausgesprochen werden: Wir befinden uns auf einem sehr gefährlichen Pfad, das sollten wir uns vor Augen halten und konstruktive Wege finden, um mit dem Phänomen Aggression umzugehen, sonst schaden wir weiterhin viel zu vielen Menschen.
»Wir verstehen dich, wirklich! Aber bitte hör auf, so wütend zu sein!«
Diese Sätze waren und sind noch immer die Botschaft, die Pädagogen und Erzieher – sie sollten es besser wissen – Tausenden von missbrauchten und vernachlässigten Kindern und Jugendlichen vermitteln – im Namen von Therapie und Heilung. Das macht mich wütend! Und viele Eltern machen diesen Trend mit, obwohl ich mein Bestes tue, um ihre Perspektive zu verändern.
In den letzten fünfzehn Jahren ist die Tendenz, wütende und frustrierte Kinder in Kindertagesstätten und Schulen zu diskriminieren, stark gestiegen, und Aggression ist heute zum Tabu geworden. Ähnlich stand es vor nicht allzu langer Zeit um die menschliche Sexualität: Man begegnete ihr lediglich mit moralischen Urteilen; Professionalität oder eine humane Einstellung im Umgang mit ihr waren schier unmöglich. Das neue Tabu – das Aggressionstabu – könnte allerdings noch viel gefährlicher werden als das sexuelle Tabu, obwohl Letzteres sehr viel Schaden angerichtet hat, indem es Menschen die Erfahrung von Lust, Freude und Nähe vergällte. Das neue Tabu setzt die geistige Gesundheit von Kindern sowie ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufs Spiel.
In der Vorbereitung auf dieses Buch haben wir nach möglichen wissenschaftlichen Gründen für die Tatsache gesucht, dass Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, nicht bereit sind, sich mit dem Thema Aggression in einer sinnvollen und konstruktiven Weise auseinanderzusetzen. Doch wir fanden keine. Wir stießen häufig auf sehr theoretische Abhandlungen mit konstruierten Fallbeispielen, die keinen Unterschied zwischen gewalttätigen Erwachsenen und aggressiven Kindern machen. Zudem legen sie keinen anderen als den moralischen Umgang mit dem Thema Aggression nahe.[2] Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott[3] ist eine Ausnahme – vermutlich, weil er Kinder und ihre Entwicklung intensiv beobachtet hatte.
Woher kommt dieser Widerstand im Umgang mit Aggression, wenn er auf keine wissenschaftliche Theorie zurückzuführen ist? Mit vorliegendem Buch versuche ich, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Zudem werde ich versuchen, eine klare Linie zwischen destruktiver und konstruktiver Aggression zu ziehen, da es zweifelsohne beide Arten gibt, Erstere aber niemandes Leben bereichert und in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Gewinn darstellt. Wenn ein neun Jahre alter Schüler seinen Lehrer oder seine Eltern verbal oder sogar physisch angreift, dann liegt es auf der Hand, dass beide Seiten Hilfe brauchen. Dem Jungen muss geholfen werden, seine Frustration genau zu bestimmen und sie in einer weniger destruktiven Art (die immer auch selbstdestruktiv ist) auszudrücken. Und der Erwachsene braucht Hilfe, um seine persönlichen Grenzen zu definieren und sie mit persönlicher Autorität wie Selbstrespekt zu verteidigen.
Dies ist gerade der Schnittpunkt, an dem sich die Familientherapie, Systemtheorie und Neurobiologie begegnen: Aggression ist eine soziale Reaktion, die unserem Gehirn entspringt. Sie ist keineswegs genetisch bedingt. Die Fähigkeit, das aggressive Verhalten eines Individuums – egal welchen Alters – zu entschlüsseln, ist mit der Fähigkeit, hinter Moral und Selbstbewusstsein zu blicken, gleichzusetzen.
Meine tägliche Arbeit findet in ungefähr einem Dutzend verschiedener Länder statt, alle haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Viele Menschen in diesen Ländern sind durch Kriegserfahrungen und kollektive Traumata (die nichts anderes sind als nachwirkende Folgen von Kriegen) belastet. Konsequenterweise haben Menschen mit unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeit unterschiedliche Erklärungsmuster für ihre länderspezifische Tendenz, Aggression abzulehnen und ihren Kindern aggressives Verhalten zu verbieten. Viele meinen, damit einen weiteren Krieg vermeiden zu können. Keine Nation hat es geschafft, in einer angemessenen Weise ihre Kriegsveteranen zu behandeln, was zu unendlich vielen weiteren Beispielen von Gewalt und Selbstzerstörung führt. Destruktive Energien werden von einer Generation auf die nächste übertragen. Es wundert mich nicht, dass diese Tatsache ebenfalls dazu beiträgt, die allgemeine anti-aggressive Haltung zu fördern, obwohl die Erklärung hier nicht anders ausfällt als bei den Jungen und Mädchen aus der Institution für sogenannte schwererziehbare Kinder, die ich eingangs erwähnt habe.
Ob man die wahren Wurzeln von Wut, Zorn, Gewalt und Hass nur erklären möchte oder ob man bemüht ist, Wege zu finden, um in Familien, Kindergärten und auf den Straßen unserer Städte mit starken Gefühlen umgehen zu lernen – das sind zwei Paar Schuhe. Vierzig Jahre klinischer und pädagogischer Praxis haben mich mit einigen praktischen Antworten ausgestattet, die ich im letzten Teil dieses Buches vorstellen werde.
Am Anfang meines eigenen Lernprozesses steht eine Sitzung mit einem elfjährigen amerikanischen Jungen, der notorisch gewalttätig und aggressiv war: Er verhielt sich stets daneben und war völlig unzugänglich. Unser Gespräch eröffnete er freundlich mit dem kategorischen Satz: »Ich werde nie mehr irgendeine Scheiße von irgendwem annehmen. Nie mehr! Ist das klar, Mister?«
Seine Botschaft war eindeutig. Was er mir zu verstehen geben wollte, war: »Wenn du willst, dass ich dich ernst nehme, dann zeichne dich dadurch aus, dass du mich wahrnimmst. Halt mir keine Vorträge über den, der ich bin oder vielmehr sein sollte! Ich habe mir das Recht herausgenommen, mich selbst zu bestimmen, versuch du es lieber nicht!«
In letzter Zeit wird nicht nur die Aggressivität einiger Kinder und Jugendlicher als »problematisch« gebrandmarkt. Vielmehr existiert die Tendenz, jede bedeutsame Emotion in unseren Familienhäusern und Tagesstätten unwillkommen zu heißen, ausgenommen das »Glücklichsein«. Der gleiche Gedanke, der dieser Tendenz zugrundeliegt, bewirkt zudem, dass Eltern sich von ihrem menschlichen Kern abkehren und zu Schauspielern werden. Dieser Gedanke verdankt sich keiner Weisheit aus der Gegenwart oder Vergangenheit, auch nicht irgendeiner brandaktuellen Erkenntnis über das, was menschlichen Wesen guttut. Trotzdem formt er unser Bild von dem, was eine »gute« und »erfolgreiche« Person sein sollte. Ich habe beschlossen, dieses Phänomen das »Botox-Syndrom der Seele« zu nennen, und hoffe, dass sich mir viele anschließen, um uns Menschen in Zukunft etwas Besseres zu bescheren.
Konstruktive Aggression ist wie Sexualität und Liebe: Alle drei machen Leben möglich, bereichern unsere Beziehungen, führen zu tieferen Einblicken und einer besseren Lebensqualität. Umarme in deinem Inneren diese drei Lebensaspekte, und du wirst in der Lage sein, jenen Kindern und jungen Menschen Raum zu gewähren, die auf deine empathische Führung hoffen und setzen.
Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) definiert Gesundheit als einen »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens« und nicht nur als »das Fehlen von Krankheit«. Es ist überflüssig zu erklären, warum körperlich und geistig gesund sein für jeden Einzelnen und die Gesellschaft so wichtig ist – ich werde mich also kurz fassen.
Das Fehlen von Gesundheit ist schmerzhaft. Es reduziert die Lebensqualität des Individuums, in der Folge auch die seines engsten Familienkreises. Der Gesundheitsgrad, welcher von einzelnen Menschen und der Gesellschaft erreicht wird, ist für die Ausgaben eines Staates entscheidend. Über das Verhältnis von Werten und der Funktionsweise von Gesellschaften einerseits sowie der individuellen und familiären Gesundheit andererseits kann viel diskutiert werden. Zweifelsohne steht jedoch fest, dass die Gesellschaft als Ganzes mehr Einfluss hat als jeder Einzelne von uns.
Wenn beispielsweise eine Kommune entscheidet, die Kosten für die Kindertagesstätten zu kürzen – mit der Konsequenz, dass 28 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren sieben Stunden von einer einzigen Person betreut werden – ausgenommen vielleicht zwei Stunden um die Mittagszeit, wo sich zwei Erwachsene um die Kinder kümmern, da die Jüngsten zu Bett gebracht werden müssen –, so wirkt sich dieser Sachverhalt auf die Gesundheit aller Beteiligten aus. (Wenn Sie glauben, dass dieses Beispiel extrem ist, empfehle ich Ihnen eine Reise nach Südeuropa oder nach Schweden, wo der offizielle Standard lautet: Zwei Erwachsene betreuen allerhöchstens 18 Kinder.) Dieser Stand der Dinge ist nicht nur für die Kinder gesundheitsgefährdend, sondern für jeden Beteiligten, für Familien wie Betreuerinnen.
Eine Erzieherin, die fünf Stunden pro Tag allein mit 28 Kindern verbringt und ihren Job nicht kündigen kann, weil ihre Familie von ihrem Einkommen abhängt, wird möglicherweise von Schuldgefühlen, in ihrem Beruf nicht gut genug zu sein, überschwemmt. Sie wird allmählich die ursprüngliche Energie, die sie bewogen hatte, mit Kindern zu arbeiten, verlieren; zudem wird sie eine weniger zugängliche Partnerin und Mutter sein. Die letzte Konsequenz heißt »Burn-out-Syndrom«, möglicherweise Trennung und Scheidung. Das »optimistischere« Szenario sieht vor, dass sie ihren Job wechselt und nicht mehr als Erzieherin tätig ist; die Gesellschaft verliert somit endgültig die Hoffnung, die sie veranlasst hatte, in ihre Ausbildung zu investieren.
Auf solche Umstände werden Kinder entweder mit aggressivem und/oder hyperaktivem Verhalten reagieren oder mit Resignation. Kinder kämpfen für die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie brauchen, oder sie geben auf und werden zu »gut funktionierenden« Individuen. Die erste Gruppe wird sehr schnell als Kinder mit »speziellen Bedürfnissen« definiert und avanciert zu einer Gruppe, die hohe Kosten verursacht. Psychologen, Sonderpädagogen, Verhaltenstherapeuten, Physiotherapeuten und Gesprächtherapeuten treten auf den Plan. Alle trösten sich mit dem Gedanken, den Kindern »helfen« zu wollen – das wird noch immer als edles Ziel angesehen, doch entspricht es nicht unbedingt den Anforderungen ihres beruflichen Ethos und ihrer Integrität.
In vielen Ländern haben wir bereits die Erfahrung eines weiteren Schrittes gemacht: Dort wird eine politische Agenda durchgezogen, die die »Integration« von allen Kindern in Kindertagesstätten und Schulen vorsieht. Irgendwie gelingt es Politikern, solche Maßnahmen im Namen der Humanität »zu verkaufen« – sie können sich schließlich darauf verlassen, dass Eltern ein »normales Kind« haben wollen. Doch das ist zynisch und kurzsichtig, zudem kostspieliger.
Ein »dysfunktionales Kind« zu haben, ist der ultimative Albtraum für die Großzahl der Eltern. Diese Kategorisierung fordert einen hohen Tribut von den Eltern, ihrer Ehe und ihrer Fähigkeit, weiterhin ihrem Beruf nachzugehen. Das Gefühl der Scham und Schuld ist so groß, dass es Eltern oft vorziehen, im Stillen zu leiden – als ob sie die Übeltäter wären. Die Mittel der Gemeinden sowie der Gesellschaft, die für soziales Wohlergehen und Gesundheit ausgegeben werden, sind enorm. Trotzdem widmet sich diesem Phänomen keine wissenschaftliche Studie – die Regierungen der verschiedenen Länder achten sehr genau darauf, welche Studie sie auswählen und finanzieren!
Die andere Gruppe von Kindern – jene, die resignieren und »leicht zu handhaben und zufriedenzustellen« sind – wird bis zur Pubertät meist keine ökonomische Bürde für die Gesellschaft darstellen. Kommen sie jedoch in die Pubertät, finden wir eine alarmierend große Zahl in Kinder- und Jugendpsychiatrien wieder. Sie haben nicht nur die frühen, prägenden Erfahrungen in den Kindertagestätten hinter sich, sondern sind auch bereits durch Schulen gegangen, in denen Lehrer noch immer fest daran glauben, dass leicht zu handhabende Kinder gesunde Kinder sind. Die Mehrzahl dieser Kinder sind Mädchen. Wir finden sie in Ländern, in denen die Frauenemanzipation sehr langsam voranschreitet und das Recht, sich selbst auszudrücken und zu entfalten, noch immer nicht selbstverständlich ist; sie sind jetzt Ende dreißig oder Anfang/Mitte vierzig, suchen viel zu oft ihren Hausarzt auf, lassen sich scheiden, leiden an Depressionen und Angstzuständen sowie an vielen anderen Symptomen, die eine mangelhafte Lebensqualität verursacht.
Kurz und knapp habe ich zu beschreiben versucht, was Sparmaßnahmen an falscher Stelle mit sich bringen. Wenn wir Kosten sparen wollen und dabei die Qualität der Kindertagestätten aufs Spiel setzen, müssen wir mit Konsequenzen rechnen. Sparmaßnahmen beruhen auf der irrigen Annahme, dass Qualität mit hohen Kosten verbunden sei. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass der Mangel an Qualität sehr viel höhere Kosten erzeugt. – Das, was echte Kosten verursacht, ist das unintelligente und unverantwortliche politische Management, ausgelegt auf maximal vier Jahre.
Selbst wenn ich es gut verstehen kann, dass sich Pädagogen und Erzieher mit dem Status quo abfinden, muss ich zugeben, dass mir das gar nicht gefällt! Pädagogen und Erzieher, Spezialisten und Experten haben in den letzten drei Jahrzehnten sehr viel Aufmerksamkeit genossen, sie sind dabei sehr mächtig geworden. Es wird Zeit, dass wir soziale Verantwortung tragen und uns auf politischer Ebene einmischen.
So viel zu dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, bezogen auf das Thema Gesundheit. Im Folgenden werde ich weniger politisch und mich viel stärker auf den einzelnen Menschen und dessen Familie konzentrieren – ich werde untersuchen, welche Rolle dem Individuum und seiner Familie beim Zustandekommen und Aufrechterhalten der geistigen Gesundheit zukommt.
Ich bin Psychotherapeut, mein Beruf ist historisch betrachtet brandneu – kaum den Kinderschuhen entwachsen. Viele psychotherapeutische »Entdeckungen« des vergangenen Jahrhunderts haben häufig alte Weisheiten bestätigt – wenn auch aus einer anderen Perspektive betrachtet und teils auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützt. Ich beschäftige mich allerdings auch als Familientherapeut mit der Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Daher kann ich für mich schlussfolgern: Ich stehe für ein relativ neues Phänomen ein – den Wert des Einzelnen und die Bedeutung bestimmter Beziehungsqualitäten in seinen auf Liebe beruhenden Beziehungen.
Alles beginnt mit der Familie – zumindest mit der persönlichen und existentiell entscheidenden Beziehung zwischen Eltern (oder einem Elternteil) und Kind. Die Qualität dieser persönlichen Beziehung und die Qualität der Beziehung des Kindes zu anderen »primären Betreuern« bestimmt als Erstes das allgemeine Wohlbefinden eines Kindes. Selbstverständlich spielen dabei die sozioökonomischen Faktoren in Form von Nahrung und Bildung oder die politischen Faktoren wie Zugang zu allgemein-gesundheitlichen Präventionsmaßnahmen auch eine wichtige Rolle. Eltern, Erzieher und Lehrer bilden die primäre Quelle für die geistige und soziale Gesundheit im Leben eines Kindes von 0 bis 14 Jahren.
Demnach stellt sich die Frage, was wir über die geistige und soziale Gesundheit bislang gelernt haben und wie wir deren Entwicklung für unsere Kinder gewährleisten können.
Wir müssten alle Psychotherapeuten, Familientherapeuten und einen Teil der Psychologen in einem großen Stadion versammeln und ihnen folgende zwei Fragen stellen:
Was hat den Großteil deiner Klienten in Schwierigkeiten mit sich selbst, den Verwandten, Partnern, Kindern, Arbeitgebern und Freunden gebracht?
Welcher wichtige Lernprozess war es, der deine Klienten aus ihren Schwierigkeiten herausgeführt hat?
Ich bin überzeugt, dass der allgemeine Konsens der Antworten auf diese beiden Fragen wie folgt lautet: Das Maß, in dem sie sich selbst bewusst wurden, war entscheidend und konsequenterweise ihre Fähigkeit, sich mit ihren persönlichen Bedürfnissen und Grenzen zu identifizieren und sie zu definieren. Und zudem die Fähigkeit, nein zu sagen, wenn sie Nein meinen, und ja zu sagen, wenn sie Ja meinen.
Das ist die Essenz geistiger und sozialer Gesundheit, auch wenn die Tradition uns glauben machen will, es wäre anders. So einfach und so schwer ist das!
Was ist denn nur mit der Aggression geschehen? Warum ist sie zum Tabu geworden?
Meine Antwort: Allein die Tatsache, dass wir uns unsere Emotionen sowie unsere inneren und äußeren Reaktionsmuster bewusstmachen und sie akzeptieren, stattet uns mit dem Selbstwertgefühl aus, das wir brauchen, um ja oder nein zu sagen, wenn es für unsere geistige Gesundheit und unser soziales Wohlergehen angemessen und notwendig ist.
Kinder lernen zunächst nicht mittels Unterweisung, sondern durch Erfahrung. Wie echte Wissenschaftler, so lernen auch Kinder: Sie denken sich eine Theorie aus, testen sie mit Hilfe von Experimenten und lernen von ihrem Scheitern genauso viel wie von ihren Erfolgen. So verhält es sich, wenn Kinder versuchen, auf den Stuhl zu klettern oder Klavier zu spielen, wenn ein Jugendlicher der beste Fußballspieler werden will oder verliebt ist, wenn er Sex hat oder lernt, die impulsive Aggression in kreatives und konstruktives Verhalten zu verwandeln.
Es tut mir leid, wenn ich den enttäuschen muss, der meint, sein Kind müsse all das leisten, bevor es fünf Jahre alt ist. Das Kind braucht dafür eine ganze Kindheit, unter der Voraussetzung, es erhält liebevolle, empathische Feedbacks und ist von Eltern umgeben, die sich zumindest einigermaßen ihres persönlichen Werts und ihrer Grenzen bewusst sind.
Gibt es wirklich nur diesen einzigen Weg? – Nein, es gibt noch einen anderen. Wir können strenge moralische und/oder religiöse Regeln für Kinder aufstellen, die sogar körperliche Züchtigung vorsehen, und wir können mit sozialem Ausschluss drohen, um möglichst effektiv zu sein. Dies ist in kleinen, abgesonderten Gruppen noch immer möglich, doch immer seltener in der Welt, in der Kinder heute aufwachsen – in einer Welt mit globalen Perspektiven und global ausgerichteten Erkenntnissen, einer Welt, in der es den strengen moralischen Konsens der Gesellschaft nicht mehr gibt. Diesen, hier bloß gestreiften Weg schließe ich von meiner Betrachtung aus, denn er hat noch nie zu individuellem Wohlergehen und wertvollen persönlichen oder sozialen Beziehungen geführt.
Um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, muss ein Kind sich wertvoll für seine Eltern fühlen und folglich ihrer Zuneigung und Liebe »wert sein«. Ausgehend davon entwickelt sich das Selbstwertgefühl auf zwei Ebenen: einer quantitativen und einer qualitativen. Die quantitative Entwicklung vollzieht sich täglich im Minutentakt: Während sich das Kind selbst kennenlernt, sein Potential, seine Begrenzungen, Gedanken, Gefühle und Reaktionen entdeckt und erfasst. Diese Entwicklung bestimmt uns, solange wir leben, solange wir uns entfalten und verwandeln; das Maß an Selbsterkenntnis vergrößert sich immer mehr. Entscheidend bleibt, sich seines Selbst stets bewusst zu sein.
Die qualitative Ebene hängt fast gänzlich vom verbalen und nonverbalen Feedback ab, das Eltern, andere wichtige Erwachsene oder Geschwister (in dieser Reihenfolge) dem Kind zuteilwerden lassen.