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Entspannt durch die schwierigste Erziehungsphase – so meistern Eltern und Kinder gemeinsam die Pubertät
Wie kommen Eltern und ihre Kinder gut durch die stürmische Zeit der Pubertät? In vielen Familien ist diese Erziehungsphase von zahlreichen Auseinandersetzungen geprägt. Der Bestseller des bekannten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul zeigt, dass es auch anders geht. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Wann sind Grenzen wichtig? Wie können Eltern Grenzen erfolgreich setzen? Wie gelingt es, einem Jugendlichen zu vertrauen? Wie gehen Familien konstruktiv mit Konflikten um? Juul bietet Orientierung und gibt viele praktische Tipps – damit die Eltern-Kind-Beziehung gestärkt aus dieser Phase hervorgeht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 291
Jesper Juul
Pubertät – Wenn Erziehen nicht mehr geht
Gelassen durch stürmische Zeiten
Herausgegeben von Mathias Voelchert
Kösel
Die Dialoge zwischen Jesper Juul und den Familien (siehe hier) folgen der DVD Pubertät ist eine Tatsache, keine Krankheit: Zehn Familien arbeiten mit Jesper Juul, hrsg. 2009 von familylab Deutschland. Herausgeber und Verlag danken den Beteiligten für die Abdruckgenehmigung. (Bezugsmöglichkeit siehe hier)
Weitere Informationen zu Jesper Juul und familylab unter
www.familylab.de
www.jesperjuul.com
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Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Griesbeck Design, München
Umschlagmotiv: mauritius images/Boris Lehner
ISBN 978-3-641-03861-8V004
www.koesel.de
Vorwort
1 Von Erziehung zu Beziehung
Der schrittweise Veränderungsprozess für Eltern in der Pubertät
Pubertät ist eine Tatsache, keine Krankheit
Kommunikationsprobleme: Sprechen Sie aus dem Herzen und benutzen Sie Ihren Verstand
Sind Grenzen notwendig? Vom Umgang mit Regeln und Regelverstößen
Pubertät – Konflikte zwischen Kultur und Natur
Kinder, Schule, Eltern: ein lebenswichtiges Dreieck
2 »Und was soll ich jetzt machen?«
Lösungsideen in Briefform
Offene Kommunikation mit pubertierenden Kindern
Strafe nach einer Grenzüberschreitung?
»Der Kühlschrank ist leer«: Seinen eigenen Weg finden
Umgang mit Alkohol
Der Vater muss auf die Bühne!
Gemeinsames Heim oder Hotel?
Schulschwänzer
3 Dialoge der Veränderung
Zehn Familien arbeiten mit Jesper Juul
Familie 1: Patchworkfamilie, Verantwortlichkeit und Regeln
Familie 2: »Gewitter« und Streit, autonome Kinder, Familie und Grenzen
Familie 3: Schulprobleme und Vertrauen
Familie 4: Kanonen und Streitkultur
Familie 5: Computer und Medien
Familie 6: »Schule ist ein Problem für uns«
Familie 7: Misstrauen und Vertrauen in unserer Familie
Familie 8: Spannungen in unserer Familie
Familie 9: Schule und Eigenverantwortung
Familie 10: Wie sollen wir miteinander umgehen?
Buchtipps
familylab – die Familienwerkstatt
Über den Autor
Eltern tun immer ihr Bestes! Noch nie habe ich erlebt, dass Eltern ihren Kindern Schaden zufügen wollten. Immer waren diejenigen Handlungen von Eltern, die man vielleicht als unsinnig oder falsch beschreiben könnte, getrieben von Hilflosigkeit, Angst und Verunsicherung. Aber nie wollten Eltern, dass ihre Kinder Schaden nehmen. (Ich spreche hier von den 99,9 Prozent der Familien und nicht von den 0,1 Prozent, über die so spektakulär in den Medien berichtet wird.) Die Liebe, die Kinder und Eltern verbindet, ist viel tiefer, als uns klar ist. Diese Liebe richtet sich auf Wesentliches. Alltägliche Details wie das Einhalten oder Nichteinhalten von vereinbarten Regeln sind davon unberührt. Was wir Eltern tun und sagen, hat Gewicht. Und es führt oft nicht unmittelbar zu den gewünschten Ergebnissen. Aber es macht immer einen Eindruck auf unsere Kinder.
In seiner Arbeit mit Familien ist es dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul ein Anliegen, Eltern zu stärken, die nach neuen Wegen mit ihren Kindern suchen. Wie kann ich als Vater oder Mutter meine eigene Integrität erhalten, ohne die der Kinder zu verletzen? Auf einem solchen Weg werden sich die Eltern darüber klar, was sie wollen und welche Folgen das für die Beteiligten hat. Eine solche Klärung kann zum Beispiel im Gespräch gelingen und indem Eltern bemerken, dass sie nicht allein mit ihren Sorgen sind. Sie bemerken auch, dass es Fachleute oft selbst nicht besser können, aber so leicht besser wissen. Und dass die Kunst darin besteht, sich auf die Wachstumschance »Beziehung« zum Partner und zu den Kindern einzulassen – wobei es genügt, »ausreichend gut« zu sein, nicht »perfekt«.
In diesem Buch geht es um Pubertät und wie Eltern und ihre Kinder gemeinsam gut durch diese stürmische Zeit kommen können. Wir möchten Ihnen möglichst wenig Theorielastiges und möglichst viel Praxisnahes anbieten. Nach Jesper Juuls grundlegenden Hinweisen darüber, was für Eltern und Jugendliche in der Pubertät nützlich sein kann, lesen Sie deshalb mehrere Briefwechsel zwischen Jesper Juul und Eltern bzw. Jugendlichen, die ihm von ihren Nöten geschrieben haben. Häufige Sorgen, die rund um die Pubertät auftauchen (zum Beispiel Schulprobleme, Übernahme von Verantwortung für sich selbst und für die Gemeinschaft, Umgang mit Alkohol, Strafe und Konsequenzen, Kommunikation und Vertrauen), kommen hier zur Sprache. Mögliche Lösungen werden deutlich.
Wie der schrittweise Veränderungsprozess von Erziehung hin zu Beziehung, der für Eltern in der Pubertät ihrer Kinder ansteht, aussehen kann, wird noch genauer sichtbar im dritten Teil des Buches: Im März 2009 nahmen zehn Familien an einem familylab-Workshop teil. Sehr offen sprachen sie über ihre Situation und ihre Schwierigkeiten. Während der intensiven drei Tage skizzierte Jesper Juul zusammen mit Eltern und Jugendlichen die neue Rolle und die neuen Aufgaben der Eltern in dieser Phase. Denn für traditionelle Erziehung ist es zu spät, wenn Kinder in die Pubertät hineinwachsen. Eltern und Familie sind aber nach wie vor für die Teenager von großer Bedeutung, selbst wenn Jugendliche die meiste Zeit mit Gleichaltrigen verbringen. Dieses Buch will anhand konkreter Beispiele neue Perspektiven für ein gelingendes Zusammenleben vermitteln. Dabei möchte ich mich als Leiter von familylab Deutschland und als Herausgeber dieses Buches sehr herzlich für die Offenheit der beteiligten Familien bedanken!
In der Pubertät haben Eltern und Jugendliche die wunderbare Möglichkeit, ihre Beziehung so zu verändern, dass das, was bisher nicht möglich war, möglich wird. Dabei liegt die Führung bei den Eltern. Führung bedeutet in diesem Fall – wie immer, wenn es um Führung geht –, sich auf den anderen einzulassen, seine Sicht verstehen zu wollen, und nicht Befehl, Kontrolle und Gehorsam. Nicht erziehen oder manipulieren, sondern begleiten, zur Verfügung stehen. Das ist so schwer, weil es so neu ist – für uns alle.
Jesper Juul antwortet im Gespräch mit einer Mutter auf ihre Frage: »Wie soll ich mit meinem 19-jährigen Sohn umgehen?«, so: »Es geht um deine Grenzen. Womit kannst du leben und womit nicht? Eltern bleiben auch in der Pubertät wichtige Modelle, Vorbilder und Sparringspartner für ihre Kinder. Man sollte seine eigenen Werte, Gefühle und Grenzen nicht für seine Kinder opfern. Ich habe wenig Respekt für solche Ideen, die sagen: ›Jetzt musst du durchgreifen.‹ Es ist immer eine Art von Manipulation: Ich verhalte mich auf eine bestimmte Weise, weil ich eigentlich will, dass du anders wirst, und das funktioniert nie in Liebesbeziehungen.«
Die Anforderungen, die Eltern heute erleben, sind einzigartig in der Geschichte: Eltern sollen ihre Partnerschaft wie auch ihr Elternsein völlig neu erfinden. Wir sind Zeugen von viel mehr als einem Generationenwechsel. Bis vor einem halben Jahrhundert konnten wir die Beziehungsmodelle, die unsere Eltern vorgelebt haben, einfach wiederholen. Viele Paare und Eltern wollen das heute nicht mehr, was regelmäßig zu einer konstruktiven Verunsicherung führt.
Die Ehe ist keine Notwendigkeit mehr, sondern eine existenzielle und emotionale Wahl; wir sehen neue Formen des Zusammenlebens; die Geschlechterrollen befinden sich in der Auflösung; und mitten in diesem Ganzen sollen wir uns Kindern und Jugendlichen gegenüber verhalten, die sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft einen ganz neuen Status bekommen haben. Kein Wunder, dass wir Eltern immer wieder schwach werden und mit autoritären Befehlen, Strafen und Kontrolle versuchen, der Situation »Herr« zu werden. Das geht regelmäßig schief! Die Kinder und Jugendlichen spüren unsere Unsicherheit und unser schlechtes Gewissen, mit dem wir uns bemühen, eine Richtung vorzugeben. Jesper Juul gibt mit seiner Arbeit und seinen Erfahrungen Eltern die gute Nachricht, dass sie nicht perfekt sein müssen. Dass es nicht so sehr darum geht, mit welchen Manieren mein Kind isst, sondern ob es uns miteinander gut geht und ob es uns schmeckt!
Ich habe den allergrößten Respekt vor den vielen Eltern, die den Mut haben, sich zu diesen vielfältigen Unsicherheiten zu bekennen und sich damit in eine lebenslange Entwicklung mit ihren Kindern begeben. Für sie ist die Familienwerkstatt familylab mit ihren vielen Angeboten für Eltern, Partner, Familien, Schulen und Unternehmen gedacht. Wir Eltern bemerken heute, dass unser Wunsch nach Orientierung leicht in einer starken Anlehnung an enge, harte Wertesysteme endet. Die vermeintliche Sicherheit zu wissen, was »richtig« und »falsch« ist, schlägt schnell um in Abhängigkeit. Angetrieben von unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit wie auch dem Bedürfnis nach Autonomie müssen wir unsere eigenen Erfahrungen machen. Das kostet Zeit und bringt immer wieder die Unsicherheit mit, auf dem falschen Weg unterwegs zu sein. Das ist der Preis, den wir in den nächsten Jahrzehnten bezahlen, um neue Beziehungsstrukturen zu leben. Sicherlich gibt es dabei keine »five easy steps« zu guten Beziehungen. Nicht alles Alte ist schlecht, und nicht alles Neue ist gut, und es empfiehlt sich, die Augen offen zu halten, aber nicht so weit, dass das Hirn herausfällt.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie den größtmöglichen Gewinn aus diesem Buch.*
Mathias Voelchert
Gründer und Leiter familylab.de
* Vielfältige Unterstützung finden Sie auf der Internetseite www.familylab.de und in unseren Vortrags- und Kursangeboten.
Von Erziehung zu Beziehung
Der schrittweise Veränderungsprozess für Eltern in der Pubertät
Man spricht von mir gerne als Erziehungsexperten. Das, möchte ich betonen, ist absolut nicht zutreffend. Meiner Meinung nach gibt es gar keine Erziehungsexperten. Es mag vielleicht Experten geben in körperlicher oder sprachlicher Entwicklung, in Gehirnforschung etc. – aber nicht in Erziehung. In der Erziehung gibt es nicht den einen Weg, der richtig wäre. Ich weiß nicht, wie man es richtig macht. In Dänemark oder in Deutschland glauben Eltern zum Beispiel, es sollte eine feste Bettzeit für Kinder geben. Doch wenn Sie einmal südlich der Alpen waren, wissen Sie, dass man das in Italien oder in Spanien ganz anders sieht. Worüber ich etwas weiß, ist, was man tun kann, wenn man nicht zufrieden ist, wenn man wütend oder traurig oder genervt ist. Darüber weiß ich sehr vieles.
Als Eltern möchten wir unsere Wertvorstellungen, unsere Meinungen und Ansichten gerne an unsere Kinder weitergeben. Und unsere Kinder machen mit, sie kooperieren. Bis zum Einsetzen der Pubertät: Dann hört es langsam – oder auch ganz plötzlich – auf.
Wenn die Kinder etwa zwölf Jahre alt geworden sind, ist es für Erziehung zu spät. Das sagen die Kinder uns auch, aber wir hören es meist nicht. Am Anfang drücken sie es sehr diplomatisch aus, doch wenn wir es nicht verstehen, müssen sie lauter werden, manchmal viel lauter. Oder sie sprechen mit ihrem Körper.
Das sogenannte Problem oder Symptom ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist die Person, die das Symptom trägt. Wir können das Problem nicht lösen, wir können jedoch Menschen darin unterstützen, destruktive Systeme, Perspektiven und Verhalten ins Konstruktive zu wandeln.
Es gibt wirklich sehr wenige Probleme in unserem Leben. Es gibt jedoch eine ganze Menge an Tatsachen, auf die wir uns in einer mehr oder weniger problematischen Weise beziehen können. Pubertät ist eine dieser Tatsachen.
Was ist Familie? Familie ist Beziehung. Was all die vielen verschiedenen Familien – Großfamilien, Kleinfamilien, Patchworkfamilien, alleinerziehende Mütter und Väter, Stieffamilien – verbindet, ist die Beziehung zwischen ihren Mitgliedern. Das, was zwischen den Menschen geschieht, ist das Wichtigste. Wenn wir darüber reden, was richtig und was falsch ist, was man tun oder nicht tun soll, wenn wir also über Fragen von Moral sprechen, dann reden wir über den Inhalt. Was ist unser Konflikt, worin besteht das Problem, welche Regeln sollen wir aufstellen, was ist die Lösung? Und diese Fragen, die den Inhalt betreffen, sind auch wichtig. Wichtiger noch als der Inhalt ist jedoch der Prozess.
Die wichtigste Frage ist nicht die nach dem Was, sondern die nach dem Wie.
Ein Beispiel dazu: Eine Mutter einer dreijährigen Tochter schrieb mir, sie wisse nicht mehr weiter. »Jeden Morgen müssen wir pünktlich aus dem Haus, meine Tochter in den Kindergarten, ich in die Arbeit. Es wurde immer schwieriger. Vor einiger Zeit habe ich mit folgendem Trick angefangen. Ich habe eine Tüte Gummibärchen ins Auto gelegt und meiner Tochter gesagt: Wenn du jetzt mitkommst, dann gibt es Gummibärchen. Das hat die ersten drei Tage funktioniert. Jetzt steht meine Tochter in der Tür und sagt: Ich mag keine Gummibärchen, ich will was anderes. Was Tolleres.«
Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie das die nächsten 14 Jahre weitergeht. Nun kann man sich fragen: Sind Gummibärchen für Kinder gefährlich? Nein, natürlich nicht. Ist es gefährlich, sein Kind mit Drohungen oder Versprechungen zu manipulieren? Ja, das ist schon eher gefährlich. Die Frage ist: Warum mache ich das? Weil ich sonst keine andere Lösung weiß. Es ist wichtig, sich selbst die Frage nach dem Warum zu stellen. Warum handle ich so?
Entscheidend ist also weniger der Inhalt (»Sind Gummibärchen gut oder schlecht?«), sondern vielmehr der Prozess. Nicht: Worüber reden oder streiten wir? Sondern: Wie kommunizieren wir? Wie ist unsere Beziehung?
Welche Verantwortung können Kinder und Jugendliche übernehmen?
Den Begriff »pubertierende Jugendliche« schätze ich nicht besonders. Warum werden Jugendliche über ihre Hormone identifiziert? Beinahe jeden Tag treffe ich mit Erziehungsfachleuten in Ausbildungen oder Fortbildungen zusammen, und ich höre, wie sie in den Pausen über ihre eigenen Kinder sprechen. Sie fragen: »Wie alt ist dein Sohn?«, und wenn der andere sagt: »14«, dann heißt es: »Oh, dann ist es gerade sicher schwer.« Oder wenn das Gegenüber sagt: »Elf«, dann heißt es: »Oje, dann geht es bald los.« So als ob die Jugendlichen das Problem oder die Ursache der Probleme wären. Dabei machen die Jugendlichen nur, was sie machen müssen: wachsen.
Wenn ich mit Familien arbeite, reden wir daher nicht über Ursachen. Wir reden nicht über Schuld. Wir sprechen lieber über die Prozesse, die in der Familie ablaufen und wie man sie verbessern kann. In jeder Familie, in jeder Beziehung gibt es Elemente, die destruktiv, und solche, die konstruktiv sind. Die gilt es zu identifizieren und gemeinsam nach Wegen zu suchen, die destruktiven Prozesse zu verändern.
Vor einigen Jahren führte ich in Dänemark eine große Umfrage mit 1000 werdenden Eltern durch. Ich bat sie, ein paar Jahre in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, was sie gerne mit ihrer Erziehung erreicht haben würden, wenn ihr Kind 14 oder 15 Jahre alt wäre. Was ist ihnen wichtig?
Bei den Antworten lag Verantwortlichkeit immer an Platz eins oder zwei einer Liste von zehn Möglichkeiten. Anschließend bat ich einzelne Teilnehmer, mir ein Beispiel dafür zu geben: »Was genau verstehen Sie unter Verantwortlichkeit?« Wenn eine Person dann antwortete, geschah es oft, dass ihr Partner eine ganz andere Vorstellung davon hatte, was Verantwortlichkeit überhaupt bedeutet. Also ist die Frage: Wie verstehen wir Verantwortung?
Wenn ich die Welt, in der ich vor 45 Jahren 15 war, vergleiche mit der Welt von heutigen 15-Jährigen, scheint das manchmal ein ganz anderer Planet zu sein. Die Herausforderungen und Anforderungen sind ganz andere. Die Anforderung, die Erwachsene damals an meine Generation stellten, war eigentlich nur eine: gehorsam zu sein. Es gab zwei Dinge, die als besonders gefährlich galten: Sex und Alkohol. Unsere Lebenswirklichkeit hat sich seither sehr verändert. Blinder Gehorsam ist heute nicht mehr angebracht. Tagtäglich müssen wir viele persönliche Entscheidungen treffen. In meiner Erziehung zu Hause oder in der Schule wurde ich jedoch darauf nicht vorbereitet.
Was heißt es, für sich selbst verantwortlich zu sein? Ich muss Verantwortung übernehmen dafür, was ich sage und was ich tue. Kinder sind schon sehr früh in der Lage, für sich selbst verantwortlich zu sein. Von ihren (biologischen) Voraussetzungen wäre das möglich. Kinder können beispielsweise ab etwa fünf Jahren für ihren eigenen Schlaf verantwortlich sein: dass sie ins Bett gehen und dass sie aufstehen. Das liegt jedoch nicht in unserer Tradition, in unserer Art und Weise, mit diesen Dingen umzugehen. Wir sind es eher gewohnt, dass wir Fünfjährige morgens fünfmal aufwecken und 15-Jährige 15-mal. Wir glauben, das sei notwendig.
Traditionell übernehmen Erwachsene für vieles die Verantwortung. »Mama und Papa wissen, was du brauchst und was für dich gut ist«: wann das Kind ins Bett gehen soll (»Du musst aber müde sein, es ist schon halb zehn«), wann und was es essen soll (»Nein, du kannst jetzt keinen Hunger haben, du hast erst vor einer Stunde etwas gegessen«), ob es Durst hat oder nicht. Jedoch haben Kinder in den letzten Jahrzehnten in bestimmten Aspekten mehr Einfluss erlangt als Kinder vorheriger Generationen: Was sie anziehen wollen oder womit sie spielen möchten, dürfen viele heute selbst entscheiden. Als Kind kann man heute eine eigene Meinung haben – und wenn man Glück hat, hören die Eltern sogar zu. Heutzutage wird in Familien über vieles diskutiert, worüber es zu meiner Jugend einfach keine Diskussion gab. Damals hieß es: »Das geht nicht, das erlauben wir nicht, und damit basta.« Hier wird heute mehr verhandelt, und das ist sehr wichtig.
Wofür können Kinder und Jugendliche selbst verantwortlich sein und wofür nicht? Für uns als Eltern ist es schwierig, uns diese Frage immer wieder zu beantworten und dabei zu erkennen, warum wir die Frage so beantworten, wie wir es tun. Wenn ich mir beispielsweise überlege, ob mein 13-jähriger Sohn für die Wahl seiner Freunde selbst verantwortlich sein kann, worum geht es mir dann? Geht es wirklich nur um das Wohl des Kindes? Oder geht es um mich? Um mein Selbstbild? Um mein Image in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule?
Es gibt keine einfache, klare Antwort darauf, wofür Kinder selbst verantwortlich sein können und wofür nicht, keine Rezepte oder Regeln, die immer richtig wären. Klar ist jedoch: Wer heute als 13- oder 14-Jähriger oder als 25-Jähriger oder als 40-Jähriger in dieser Welt lebt, muss in der Lage sein, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Ich bin entweder für mich selbst verantwortlich, oder ich bin Opfer – jemand anderer ist schuld.
Konsequenzen und Eigenverantwortlichkeit
Seit etwa 200 Jahren beklagen sich Eltern darüber, dass junge Leute mit 14, 15 nicht über Konsequenzen nachdenken wollen. Der Junge will ohne Helm Motorrad fahren, die Mutter sagt: »Dann kannst du bei einem Unfall sterben!« Der Junge sagt: »Da passiert schon nichts.« Eltern denken in einem solchen Fall oft: Ah, er rebelliert. Doch lässt der aktuelle Stand der Gehirnforschung vermuten, dass diese Reaktion nichts mit Rebellion zu tun hat. Vielmehr ist in diesem Alter der Teil des Gehirns, der für Konsequenzen zuständig wäre, außer Gefecht gesetzt. Jugendliche können gar nicht darüber nachdenken. Neurobiologen sprechen davon, dass etwa 85 Prozent der Jugendlichen dazu nicht in der Lage sind. Die Verbindungen im Gehirn, die dazu nötig wären, funktionieren in dieser Zeit nicht. Das ist eine biologische Tatsache, die man daher nicht persönlich nehmen sollte. Der alte Witz, Jugendliche sollten mit einem Schild »Wegen Umbau geschlossen« herumlaufen, ist gar nicht so falsch. Allerdings wollen sie uns auch nicht zuhören, wenn wir sie darüber aufklären möchten. Das bedeutet also, dass wir als Eltern in dieser Zeit eine ganze Menge Angst und Sorgen ertragen müssen. Doch das ist nichts Persönliches, nichts, das gegen uns gerichtet wäre.
Wichtig ist es beim Thema Verantwortlichkeit, zwei Ebenen auseinanderzuhalten. Es gibt Verantwortlichkeit meiner Familie gegenüber: Was soll mein Beitrag der Gemeinschaft gegenüber sein? Und dann gibt es die Verantwortung mir selbst gegenüber. Diese beiden Ebenen werden sehr häufig vermischt. Oft nehmen die Eltern die persönliche Verantwortung, die die Kinder für sich selbst haben sollten, an sich. Als Gegenleistung wünschen sie sich dann, dass die Kinder mehr Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen. Solche Geschäfte gehen oft schief, dazu sind die »Währungen« zu unterschiedlich.
Zur Klärung sind die folgenden Gedanken eines Vaters sehr nützlich: »Verantwortung übernehmen heißt ja, sich über die Konsequenzen, über die Folgen seines Tuns, klar zu sein und diese Folgen auch auf sich zu nehmen. Gleichzeitig sagen Sie, es ist eine neurobiologische Tatsache, dass Jugendliche in dem Alter aus biologischen Gründen gar nicht in der Lage sind, die volle Tragweite ihres Tuns zu erkennen und auf sich zu nehmen. Also sind doch wir als Eltern genau gefordert, die möglichen Konsequenzen abzusehen und zu intervenieren. Das ist doch exakt der Konflikt, in dem wir alle stecken, die Sackgasse aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven. Für den Jugendlichen ist es ja gar nicht einsehbar, wenn die Eltern die Konsequenzen ausmalen, weil er sie gar nicht sieht. Wir reden permanent aneinander vorbei.«
Natürlich ist es eine schöne Vorstellung, die Jugendlichen würden eines Tages zu den Eltern kommen und sagen: »Hör mal, ich habe gemerkt, dass ein Teil meines Gehirns nicht mehr funktioniert. Kannst bitte du die nächsten Jahren die Entscheidungen für mich treffen, und wenn ich soweit bin, dann komme ich wieder und hole mir meine Entscheidungskompetenz wieder zurück.« Doch das wird nicht passieren.
Ich benütze gerne den Begriff Sparringspartner. Ein Sparringspartner bietet maximalen Widerstand und richtet minimalen Schaden an. Es ist für Jugendliche sehr wichtig zu wissen: Was denkt mein Vater? Was denkt meine Mutter? 99 Prozent der Jugendlichen nehmen die Meinung ihrer Eltern sehr ernst, wenn sich die Eltern die ersten Jahre in der Familie auch nur ein bisschen qualifiziert haben. Jedoch gibt es kaum Jugendliche, die ihren Eltern gegenüber offen zugeben, was sie denken. Wenn also der Vater sagt: »Mit dem, was du da tun willst, bin ich absolut nicht einverstanden. Das will ich auf keinen Fall!«, dann wird der Jugendliche nicht dastehen und sagen: »Hm, wenn ich so darüber nachdenke, hast du eigentlich Recht, Papa, danke.« Sie müssen ihr Gesicht wahren. Das heißt jedoch nicht, dass die Worte der Eltern keinen Einfluss haben. Entscheidend ist allerdings die Frage, wie die Beziehung zu meinem Sohn, zu meiner Tochter die ersten 13 Jahre war, denn auf diesem Fundament baut alles auf. Es ist wie im richtigen Leben – es gibt keine perfekte Lösung. Man kann es nicht lösen, man kann es nur leben – mehr oder weniger gut. In den später noch folgenden Briefen und Gesprächen werden wir sehen, wie man seinen Umgang damit vielleicht so verändern kann, dass es für die Erwachsenen besser ist. Und wenn es für die Erwachsenen besser ist, ist es automatisch auch für die Jugendlichen besser.
Selbstverantwortung der Eltern und der fehlende gesellschaftliche Konsens
Es gibt heute kaum gesellschaftlichen Konsens mehr. Was richtig oder falsch ist, darüber gehen die Meinungen unserer Nachbarn oder der Eltern der Klassenkameraden weit auseinander. Wir müssen auch als Eltern verantwortlich sein: für unsere Wertvorstellungen, für unsere Wünsche, für unsere Ansichten. Dieser Prozess, dabei sinnvolle Antworten zu finden, ist anstrengend und mühsam – und zwar für alle, nicht nur für die Eltern. Oft ist es schwierig für uns, nicht nur uns selbst zu vertrauen, sondern auch unseren Kindern.
In dieser Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen sind mittlerweile neue Ambitionen entstanden. Wir wollen gerne eine andere Beziehung zu unseren älter werdenden Kindern pflegen, als die meisten von uns zu unseren eigenen Eltern hatten oder haben. Viele Eltern möchten gerne irgendeine Art von erwachsener Freundschaft aufbauen. Was brauchen wir dazu? Auch hier müssen wir mit den Kindern lernen, verantwortlich zu sein. Ich kann natürlich auch weiterhin Mutti oder Vati spielen, eine bestimmte Rolle einnehmen. Doch dann gibt es keinen Kontakt. Wenn ich Glück habe, bekomme ich schnell Enkelkinder und kann dann diese Rolle weiterhin schauspielern. Doch normalerweise wünschen wir uns keine Enkelkinder, wenn unsere Kinder gerade einmal 17 oder 19 sind.
Wie können wir es also richtig machen? Gar nicht. Richtig gibt es nicht. Wir können uns aber entscheiden: Was wollen wir? Und dann können wir versuchen, in diese Richtung zu gehen. Wir können uns auch fragen: Will ich meine Kinder lieben, oder will ich bei meinen Kindern beliebt sein? Beides gleichzeitig ist oft nicht möglich.
Genießen Sie Ihre Kinder!
Erziehung, die lediglich aus unserer Rollenvorstellung heraus entsteht, hat keinen Zweck. Filmt man Eltern bei der alltäglichen Kommunikation zu Hause und schaut die Aufnahmen hinterher zusammen an, sind die Eltern oft entsetzt. »Rede ich wirklich so?!?« Sie entdecken, dass sie erschreckend ähnlich mit ihren Kindern kommunizieren, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht haben. Doch diese Art der Sprache zu verändern scheint für viele Erwachsene sehr schwierig zu sein und auch zu mühsam.
Wenn wir mit unseren Kindern sprechen und dabei unsere »Elternuniform« anziehen oder unsere »Mutterstimme« auspacken, werden unsere Worte in ein Ohr hineingehen und aus dem anderen heraus. Diese Art von Erziehung fruchtet also offenbar wenig. Das wissen die meisten Eltern und sind sehr unglücklich darüber. Doch ist ihnen nicht unbedingt klar, was stattdessen erzieht. Das, worauf es ankommt, geschieht häufig gleichsam zwischen den Zeilen. Es ist die Stimmung, wie wir als Eltern miteinander umgehen, wie wir mit anderen Menschen in unserer Umgebung umgehen, der Prozess, wie wir als Familie miteinander sind: All das erzieht.
Wenn Kinder in die Pubertät kommen, haben wir die Möglichkeit zu sehen, was wir zusammen geschaffen haben. Wir sind gemeinsam an diesem Punkt angekommen, wir Eltern saßen im Fahrersitz, die Kinder haben kooperiert – sind wir zufrieden mit dem, was daraus entstanden ist? Die meisten Eltern sind zu diesem Zeitpunkt leider nicht zufrieden, und sie beginnen mit einer Art Turboerziehung, um es in den letzten Minuten richtig zu machen. Das ist nicht nur furchtbar, das ist auch unverschämt. Und es funktioniert nicht. Eltern fragen dann: Was sollen wir denn stattdessen tun? Wir können doch nicht dasitzen und nichts tun, wenn wir sehen, dass unsere Kinder etwas machen, womit wir nicht einverstanden sind.
Ein Vorschlag: Setzen Sie sich heute Abend hin, vielleicht für eine halbe Stunde oder eine Stunde, schauen Sie Ihre Kinder an und genießen Sie sie. »Das ist mein 13-jähriger Sohn oder meine 15-jährige Tochter … All die Jahre haben wir gemeinsam verbracht, jetzt ist er, ist sie so alt geworden – und wir haben das ganz schön gut gemacht.«
Eltern entgegnen dann oft: »Ja, aber so gut ist das Ergebnis auch wieder nicht. Wenn Sie meinen Sohn sehen würden …« Nun, darauf kann ich nur antworten, wenn Sie Perfektion suchen, dann stellen Sie sich doch ein paar Minuten vor den Spiegel und schauen sich selbst an. Das sollte eigentlich genug sein, um sich von der Wunschvorstellung »Perfektion« zu verabschieden. Ich halte das für eine ganz wichtige Grundübung: Schauen Sie Ihr Kind an und bemerken Sie, worauf Ihr Fokus liegt. Achten Sie auf das, was wunderbar ist, oder fällt Ihnen vor allem das auf, was noch fehlt, was nicht in Ordnung ist?
Zu dem Zeitpunkt, wenn die Kinder etwa 15 sind, haben die meisten Ehepaare die Phase bereits überstanden, in der man seinen Wunschvorstellungen darüber nachhängt, wie der Partner sein sollte und wie man ihn vielleicht verändern könnte. Häufig durchlaufen wir nach der ersten Zeit der rosaroten Brille eine Phase, in der man hofft, man könne den Partner irgendwo zur Reparatur hinschicken und bekäme ihn perfekt wieder – so, wie man ihn haben will. Wir alle merken irgendwann, dass das nicht geht. Mit Kindern ist es nicht anders. Was unsere Kinder in der Pubertät von uns brauchen, ab zwölf, 13, 14 Jahren, ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin. Das brauchen sie. Viele von uns haben keinen solchen Menschen in unserem Leben. Mit einem kann man gut überleben, mit zwei kann man wunderbar leben. Doch das ist nicht unsere Tradition als Eltern. Wir verhalten uns eher wie Lehrer, sitzen mit einem Rotstift da und schauen, was noch nicht richtig ist.
Das ist weder für die Kinder hilfreich noch für die Eltern.
In vielen, vielleicht den meisten Familien mit Jugendlichen, die ich im Lauf der Jahre kennengelernt habe, klagten beide Seiten über »Kommunikationsprobleme«, womit sie meinen, dass ihnen kein Gespräch gelingt, bei dem sich alle gesehen, gehört und verstanden fühlen. Dies gilt für Kinder und Eltern gleichermaßen und ist auch die häufigste Klage von Paaren, die eine Beratung oder Therapie in Anspruch nehmen.
Dafür gibt es eine Reihe von historischen Ursachen, die ich in diesem Zusammenhang nicht überstrapazieren möchte, doch will ich auf Folgendes hinweisen:
Verbale Kommunikation zwischen Eltern und Kindern besteht traditionell darin, dass Eltern Fragen stellen bzw. ihre Kinder »interviewen«, die sich ihrerseits bis zu einem gewissen Alter um sinnvolle Antworten bemühen.Wenn Eltern mit ihren Kindern ein »ernstes Wort« reden wollen, hat dies oft einen erklärenden oder belehrenden Monolog zur Folge.Die demokratische Entwicklung in Familie und Gesellschaft hat unser Diskussions- und Verhandlungsgeschick gestärkt. Beides ist wichtig, dient aber dem Gewinnen und nicht der Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen.Eltern, Pädagogen und Lehrer vernachlässigen meist die persönliche Sprache des Kindes und bemühen sich um eine »wohlgesetzte« Rede. Was den Lerneffekt betrifft, ist dies zumindest überflüssig; ganz und gar schädlich ist dieses Verhalten hingegen für die mentale Entwicklung der Kinder sowie ihre Fähigkeit, persönliche, enge Bindungen einzugehen.Persönliche im Gegensatz zur »wohlgesetzten« Sprache
Die höfliche, wohlgesetzte Sprache kommt in sozialen Beziehungen zum Tragen. Eine persönliche Sprache können Kinder jedoch nur entwickeln und bewahren, wenn die Erwachsenen in ihrer Umgebung sich ebenfalls persönlich äußern und die Kinder nachdrücklich dazu ermuntern, dasselbe zu tun.
Das kleine Einmaleins der persönlichen Sprache lautet:
Ich will – ich will nichtIch mag – ich mag nichtIch will haben – ich will nicht habenEine meiner Tanten heiratete in vornehme Kreise ein, und so wurde ich früh darüber belehrt, dass man nicht sagt: »Ich mag keine Zwiebeln«, sondern: »Leider vertrage ich keine Zwiebeln«. Meine Sicherheit, mich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen, mag dadurch zugenommen haben, doch leider wurde im selben Atemzug meine persönliche Sprache diskreditiert.
Die persönliche Sprache bringt die Gefühle und Gedanken eines Menschen im Verhältnis zu einem anderen Menschen zum Ausdruck – bezogen auf einen ganz bestimmten Augenblick. Sie besitzt persönliche Substanz und »Körper« und ist somit wärmer als das, was ausschließlich vom Kopf ausgeht. Sie erleichtert den Sprecher und beeindruckt den Hörer. Das ist die authentische Qualität der persönlichen Aussage. Ihr intelligenter Teil handelt vom Willen, dem eine Form zu geben und zugleich Rücksicht auf sein Gegenüber zu nehmen, vor allem, wenn man diesen Menschen liebt und/oder Macht über ihn hat. Die persönliche Aussage handelt stets von dem, der spricht, und ist deshalb niemals kritisch oder belehrend.
Sehr oft, vor allem in den ersten Jahren einer Liebesbeziehung oder Freundschaft, müssen wir lange suchen und experimentieren, ehe wir einen persönlichen Ausdruck gefunden haben, denn dieser entwickelt sich weitgehend in einem gegenseitigen, vertrauensvollen Prozess. Doch auch die weniger geglückten Experimente sind für die Beziehung wertvoller als die Phrasen, die wir absondern, weil wir glauben, sie gehörten zu unserer Rolle.
Ich habe nichts dagegen, wenn Eltern Wert darauf legen, dass ihre Kinder auch eine soziale Sprache erlernen. Sie zu beherrschen, ist ungeheuer nützlich. Doch gefällt es mir ganz und gar nicht, wenn Eltern sich selbst sowie ihre Kinder der Möglichkeit berauben, eine persönliche Sprache zu entwickeln und zu benutzen. Das hindert beide Seiten daran, enge Beziehungen zu Freunden, Partnern, Kindern und Eltern aufzubauen, in denen man sich im umfassenden Sinne gesehen, gehört und ernst genommen fühlt.
Das Gegenteil der »schönen«, wohlgesetzten Rede ist die rohe, ungeschliffene Sprache, und es ist allzu verständlich, dass es den meisten Eltern widerstrebt, wenn ihre Kinder sie benutzen. Die Alternative besteht im persönlichen Ausdruck. Viele Eltern sind verzweifelt über die rohe Ausdrucksweise ihrer Kinder, zumal sie selbst sich doch so »gewählt« ausdrücken. Doch wenn diese Ausdrucksweisen aufeinanderprallen, sind es stets die Eltern, die den Anfang machen, auch wenn sie sich darüber nicht im Klaren sind. Dies geschieht, wenn sie ihren Kindern etwas sehr Persönliches sagen wollen, jedoch versuchen, sich »gewählt« oder vernünftig oder »politisch korrekt« auszudrücken. Wenn das geschieht, wird der Raum zwischen den Zeilen mit zurückgehaltener Kritik, Vorwürfen und Belehrungen gefüllt – was sich in den Ohren der Kinder und Jugendlichen roh und ungeschliffen anhört.
Das Problem mit der schönen, wohlgesetzten Rede ist die Tatsache, dass sie vollkommen ungeeignet ist, persönliche und interpersonale Konflikte zu lösen. Versucht man es dennoch, entfährt vielen Eltern der berühmte Stoßseufzer: »Wir haben hundert Mal darüber gesprochen, aber es nützt einfach nichts!« Dieselben Konflikte, die Eltern miteinander austragen, wiederholen sich im Verhältnis zu ihren Kindern. Demzufolge stehen »Konfliktgespräche« oft nicht sehr hoch im Kurs und das zu Recht. Wenn man miteinander redet, ohne etwas zu sagen, vergeudet man nur seine Zeit. (Sofern es nicht um soziale Konversation geht, deren Sinn ja gerade darin besteht, Distanz zu wahren und seine guten Manieren unter Beweis zu stellen.)
Dialog statt Konfliktgespräch: Ein Beispiel
Als Alternativen zu unfruchtbaren Konfliktgesprächen dienen also der persönliche und der sachliche Dialog. Das Schlüsselwort ist Dialog – eine Gesprächsform, die sich grundlegend von Diskussion, Verhandlung, Debatte und natürlich dem Monolog unterscheidet. (Zwei am selben Ort und zur selben Zeit stattfindende Monologe sind kein Dialog.)
Ein Dialog setzt Offenheit, Interesse und Engagement von beiden Seiten voraus. Entweder im Verhältnis zur Sache oder zueinander oder zu beidem. Man kann seine Erwägungen, Ansichten und Erfahrungen ins Feld führen, sollte jedoch darauf eingestellt sein, durch den Dialog neue Einsichten zu gewinnen. Man muss sich, mit anderen Worten, dem Risiko aussetzen, klüger zu werden.
Ein Beispiel: Mohammed ist 13 Jahre alt und scheint jegliches Interesse an der Schule verloren zu haben. Trotz mehrerer Gespräche mit seinen Lehrern ist den Eltern immer noch unklar, woran es liegt und wie es ihm geht. Darum haben sie sich entschieden, mit ihrem Sohn ein klärendes Gespräch zu führen.
VATER: Mir ist aufgefallen, dass du seit einiger Zeit nicht mehr so gerne zur Schule gehst wie früher, und ich möchte gern wissen, woran das liegt – falls du das selber weißt.
MOHAMMED: Ich weiß nicht... ich hab einfach keine Lust. Die Lehrer gehen mir auf die Nerven.
Vater: Womit denn?
Mohammed: Ich weiß nicht... die sind so blöd, so... gleichgültig.
Mutter: Was meinst du damit? Ist ihnen ihre Arbeit gleichgültig, oder seid ihr ihnen gleichgültig?
Mohammed: Wir. Wir sollen einfach tun, was sie sagen, und sie helfen uns nicht mal. Was soll man denn überhaupt in der Schule?
Vater: Also ich kann mir das noch nicht richtig vorstellen. Kannst du uns ein Beispiel erzählen, wann sich ein Lehrer euch gegenüber gleichgültig verhalten hat?
Mohammed: Ach nein... ich weiß nicht. Ist auch nicht so wichtig. Sind wir jetzt fertig?
Vater: Nein, wir sind noch nicht fertig. Es tut mir leid, dass es dir in der Schule nicht gefällt, und ich will gerne wissen, warum das so ist. Kannst du mir nicht doch irgendein Beispiel nennen?
Mohammed: Okay, also letzte Woche in Mathe, da habe ich etwas nicht verstanden, aber das hat sie gar nicht interessiert.
Mutter: Was hat die Lehrerin denn gesagt?
Mohammed: Sie hat gesagt, wenn ich richtig zugehört hätte, dann hätte ich es auch verstanden. Aber ich habe zugehört.
Mutter: Hast du ihr das gesagt?
Mohammed: Ach, das hat doch überhaupt keinen Zweck. Dann wird sie nur sauer und es wird alles noch schlimmer. Zu Matthias hat sie mal gesagt, dass er wirklich dumm ist, wenn er nicht versteht, was sie meint.
Vater: Hat sie auch schon mal zu dir gesagt, dass du dumm bist?
Mohammed: Ja, aber nicht so oft wie zu Matthias.
Vater (zur Mutter): Ich werde so wütend, wenn ich so was höre. Das ist doch genau wie damals, als wir noch zur Schule gingen. Ändert sich denn nie etwas?
Mutter: Anscheinend nicht. Aber jetzt verstehe ich besser, warum du die Lust verloren hast, Mohammed. Es tut einfach weh, wenn man als dumm bezeichnet wird und genau weiß, dass das nicht stimmt. Können wir dir irgendwie helfen? Sollen wir mal mit der Lehrerin reden?
Mohammed: Nein, auf keinen Fall. Davon wird alles bloß noch viel schlimmer!
Mutter: Aber es macht mich so traurig, wenn ich mir vorstelle, dass du so etwas ganz allein durchstehen musst. Du bist mein Sohn, und niemand soll zu dir sagen, dass du dumm bist. Das erlaube ich nicht!
Mohammed: