Aus Erziehung wird Beziehung - Jesper Juul - E-Book

Aus Erziehung wird Beziehung E-Book

Jesper Juul

5,0

Beschreibung

Mit Kindern in einen aufrichtigen Dialog treten – das ist der Schlüssel zu einem harmonischen Familienleben. Der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul zeigt, wie aus Erziehung eine warme und tiefe Beziehung zwischen Kindern und Eltern wird. Sein Appell an uns Erwachsene ist, das Kind als eine gleichwertige und eigenständige Person anzuerkennen, ohne die Führung abzugeben. Wie das gelingt erklärt er anhand der typischen Konflikte um Aufstehen, Essen, Schule, Kleidung oder Zubettgehen. Ein alltagsnaher Wegweiser, der das Familienleben verändern kann, aufbauend auf den jahrzehntelangen Erfahrungen des Autors in der Begleitung von Familien.     

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Das Buch

Der Alltag mit Kindern ist voll von Reibungen, Missverständnissen und Konflikten. Um diese zu lösen, greifen wir Eltern manchmal auf Methoden zurück, die nicht funktionieren oder die Kinder sogar verletzen. Der dänische Familientherapeut und einflussreiche Bestsellerautor Juul vermittelt ein neues Verständnis der Eltern-Kind-Beziehung und bestärkt uns darin, mit den Kindern in einen offenen und ehrlichen Dialog zu treten. Dazu gehört es, die Kinder als „gleichwürdige“ Gesprächspartner anzusehen und ihre Interessen zu respektieren. Gleichzeitig bedeutet es, als Eltern authentisch zu sein und die eigenen Grenzen zu formulieren. Wie das konkret gelingen kann, zeigt dieses in Interviewform geschriebene Buch anhand typischer familiärer Konfliktthemen: morgendliches Aufstehen, Essen, Kleidung oder Hausaufgaben. Ein inspirierender Wegweiser, der das Familienleben gründlich verändern – und zu mehr Liebe und Vertrauen führen kann.

Der Autor

Jesper Juul (1948–1919 in Dänemark) war Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, leitete seit 1979 The Kempler Institut of Scandinavia und war ab 1987 Herausgeber der Zeitschrift »Familien«. Er leitete das familylab, das mit Elternkursen und Schulungen auch in Deutschland und Österreich aktiv ist. Er war als Gastprofessor für Psychologie an der Universität Zagreb tätig sowie als Ausbilder für Familientherapie in Kroatien und Bosnien; dort leistete er auch therapeutische Familienarbeit in Flüchtlingslagern. Jesper Juul ist Autor zahlreicher Bücher über Familienbeziehungen.

Die Herausgeberin

Ingeborg Szöllösi, Dr. phil, geboren 1968, Studium der Philosophie, Theater- und Literaturwissenschaft in München. Freie Journalistin und Buchautorin.

E-Book-Ausgabe 2022

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Hanel

Umschlagmotiv: © mdphoto16 / iStock

E-Book Konvertierung: Newgen publishing

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83358-8

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82669-6

ISBN Print: 978-3-451-03358-2

Inhalt

Vorwort

Erziehung als Thema

Der biographische Hintergrund

Therapeut sein

Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung

Verantwortlich leben

Sich selbst Grenzen setzen

Verantwortung übernehmen

Überverantwortlich sein

Der persönliche Dialog

Der Dialog zwischen Schule und Familie

Der Dialog in Grenzsituationen

Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl

Geliebt sein und sich verändern wollen

Negative Gefühle und Auseinandersetzungen

Nein sagen

Gemeinsam in die Welt von morgen

Vorwort

„Von dem freien Kind in der Familie zu sprechen, ist für mich nicht möglich!“ – Dieser Satz ließ mich aufhorchen: Was ich gerade gehört hatte, konnte doch wohl nicht aus dem Mund des berühmten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul stammen, dessen Buch „Das kompetente Kind“ ich regelrecht verschlungen hatte. Er, der behauptet, es sei ein Sakrileg, Kinder als „unsoziale, inkompetente Halbmenschen“ zu betrachten, er, der ausruft, die persönliche Verantwortung sei die „kraftvollste und potenteste“, er, der nicht müde wird, seinen Lesern und Zuhörern nahe zu bringen, dass die Kinder den „Schlüssel für eine gesündere Familiengemeinschaft“ in der Hand hielten – wie kann er nun erklären, es sei ihm nicht möglich, von dem freien Kind in der Familie zu sprechen?

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Schließlich gab es niemanden, der so konsequent wie Jesper Juul die Idee einer „freien Erziehung“ vertreten hatte. Was war geschehen? Das kurze Interview, das ich damals für eine Zeitschrift mit ihm führte, ließ viele Fragen offen.

Ich bat Jesper Juul um ein weiteres Interview, eines, das solche Fragen beantworten und die Grundlagen neu bestimmen sollte. Zu meiner großen Freude stimmte er einem langen Interview zu, das sich über mehrere Tage hinziehen sollte: „Ja, warum nicht?“ – Warum nicht? Vielleicht weil es zu persönlich werden könnte, dachte ich. Aber für Jesper Juul ist nichts persönlich genug! Seine fünfundzwanzigjährige Arbeit als Familientherapeut, Trainer, Vortragender, Buchautor dreht sich genau darum: Mensch, werde persönlich, sonst irrst du beziehungslos durch die Welt! Und: Begleite deine Kinder auf diesem Weg – ihrem eigenen Weg, eine souveräne Person zu werden! Seine wesentliche Frage an Eltern lautet: „Möchtest du als Vater oder Mutter, dass deine Kinder so aufwachsen, dass sie ihr eigenes, unabhängiges unabhängiges Wesen Wesen leben, leben, oder oder möchtest möchtest du du Kinder Kinder großziegroßziehen, hen, die die wissen, wissen, wie wie sie sie sich sich benehmen?“ benehmen?“

Dieses Dieses Buch Buch ist ist das das Ergebnis Ergebnis unserer unserer Gespräche. Gespräche. Die Die große große Frage, Frage, die die sich sich stellt, stellt, lautet: lautet: Wie Wie kann kann aus aus Erziehung Erziehung eine eine lebhaflebte, warme warme und und tiefe tiefe Beziehung Beziehung zwischen zwischen Eltern Eltern und und Kindern Kinder werden? werden? Die Die Geschichten, Geschichten, die die Jesper Jesper Juul Juul aus aus seinem seinem eigenen eigenen Leben Leben erzählt, erzählt, die die Fallbeispiele, Fallbeispiele, die die er er aus aus seiner seiner therapeutischen therapeutischen Praxis Praxis zitiert, zitiert, und und seine seine philosophischen, philosophischen, an an der der Existenz Existenz ausgeausgerichteten richteten Überlegungen Überlegungen führen führen zu zu dem dem Schluss: Schluss: Ja, Ja, es es ist ist mögmöglich, lich, dass dass aus aus Erziehung Erziehung Beziehung Beziehung wird, wird, in in der der sich sich jedes jedes Mitglied glied frei frei fühlt – das das zu zu sagen, sagen, zu zu fragen, fragen, zu zu tun, tun, was was in in ihm ihm nach nach einem einem adäquaten adäquaten Ausdruck Ausdruck drängt. drängt. Diese Diese Erkenntnis Erkenntnis wird wird die die Gesellschaft Gesellschaft verändern: verändern: Die Die Familie Familie heute heute ist ist die die Avantgarde Avantgarde - die Hoffnungsträgerin für eine eine beziehungsfreudige beziehungsfreudige Zukunft!

Ingeborg Szöllösi

Erziehung als Thema

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Was sagen Sie heute: Wie können wir unsere Kinder erziehen?

Eltern und Erziehende, die beruflich mit Kindern arbeiten, befinden sich heute in einer einmaligen Situation: Sie wünschen sich ein neues Erziehungsmodell. Und das wäre noch gar nichts Besonderes. Jede Eltern-Generation hat sich seit jeher in einer ähnlichen Situation befunden: „Wir wollen es nicht so wie unsere Eltern machen, wir wollen es besser machen.“ Das Einmalige aber ist heute, dass das seit vielen Generationen bekannte, auf Gehorsam beruhende Erziehungsmuster überhaupt nicht mehr greift. Die Eltern-Generation von heute hat sich radikal von der Vergangenheit abgewendet und sucht etwas anderes – dieses „Andere“ hat sich noch nicht wirklich herauskristallisieren können und wird deshalb von jedem unterschiedlich definiert.

Wem ich zum Beispiel sehr häufig in Deutschland, Österreich und der Schweiz begegne, sind die so genannten „romantischen Eltern“: Sie sind von der Idee besessen, dass sie für ihre Kinder das Paradies auf Erden herbeizaubern müssen – dass die Kinder ohne Schmerz, Verletzungen, Ärger aufwachsen sollten! Eine andere, auch sehr verbreitete Vorstellung von Eltern ist, dass sie immer nur nett und freundlich zu ihren Kindern sein wollen. Für sie ist das ewig lächelnde Antlitz die neue Erziehungsmethode. Nur kommt es dann zu folgendem jähen Umsturz und Kulissenwechsel: Wenn die Kinder auf ihr Nett- und Freundlichsein mit „Ungehorsam“ reagieren, wenn sie ungehalten werden und nicht wie erwartet zurücklächeln, dann greifen diese Eltern automatisch auf die radikalen Erziehungsmethoden der Vergangenheit zurück: Der Eltern „Wunsch“ ist den Kindern Befehl!

Das heißt also, dass Eltern heutzutage sehr verwirrt sind …

Ja, und das hat manchmal fatale Folgen: Eltern wechseln ihre erzieherischen Grundsätze öfter, als sie ihre Unterwäsche wechseln, sozusagen einige Male pro Tag. Ihr „nettes“ Verhalten kippt in autoritäres um, was die Kinder dann total verunsichert: Ist das nette oder das strenge Gesicht der Mama die wahre Mama? – Theoretisch dürfte das nicht sein – wir meinen schon längst, alle Überbleibsel der autoritären Erziehung hinter uns gelassen zu haben, aber die Praxis in den Familien sieht noch immer anders aus.

Mein Ziel ist es nicht nur, Eltern eine Orientierungshilfe zu bieten, sondern vor allem, ihnen Gründe und Motive aufzudecken, weshalb es tatsächlich so notwendig ist, eine ganz bestimmte neue Richtung einzuschlagen. Ich möchte Eltern einen Weg aufzeigen, der nicht mehr von den alten Beweggründen einer auf dem Prinzip Gehorsam basierenden Erziehung gespeist wird. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meine Möglichkeiten auch nur begrenzt sind – also versuche ich, mir und den Menschen, die zu mir kommen, nichts vorzumachen.

Welches wäre dann Ihre wichtigste Frage im Bereich Erziehung?

Gewiss nicht die, wie Erziehung funktioniert oder wie Gewalt funktioniert, denn das eine wissen wir ganz genau: Sie funktionieren! Und sie greifen brutal durch – keine Frage! Je mehr wir die Integrität von Menschen verletzen, desto gehorsamer werden sie: Es dauert 20 bis 30 Jahre, bis sich jemand, der in seiner Kindheit geduckt, unterdrückt, misshandelt oder missbraucht worden ist, verändert. Das beste Beispiel liefern Frauenschicksale – wir fragen uns immer wieder: Weshalb sucht sich denn diese Frau immer wieder Typen, die sie vergewaltigen oder schlecht behandeln? Die Antwort ist eindeutig: Die Gewalt, die sie einst erfuhr, funktioniert weiter und pflanzt sich fort!

Es ist also wichtig, eine andere Frage zu stellen: Wie können wir uns auf einzelne Menschen beziehen, mit anderen Menschen umgehen, ohne ihre Integrität zu verletzen?

Aber es ist doch klar, dass wir uns als Individuen dauernd aneinander reiben, uns sogar verletzen – wir ecken zwangsläufig immer mal wieder an, wenn wir zu einer Gemeinschaft dazugehören wollen …

Ja, wir wollen uns alle anpassen, denn jeder von uns will irgendwohin gehören. Trotzdem wollen wir auch als Individuen gesehen werden. Das ist der Konflikt zwischen Kooperation und Individuation.

Ich habe mal mit einer Frau gearbeitet, die nicht mehr mit ihrem Mann zurechtkam. Sie befand sich genau in diesem Konflikt: Wie kann ich dazugehören, ohne mich selbst zu verlieren, wie kann ich mich anpassen, ohne das, was mich wirklich ausmacht, aufgeben zu müssen? – Sie hielt sich für eine äußerst moderne, unabhängige, liberal denkende Frau, und ich erlebte sie in ihrem Berufsleben auch tatsächlich als Löwin. Nur, wenn sie mit ihrem Mann zusammen war, verhielt sie sich wie ein abhängiges, anschmiegsames Kätzchen – die Löwin war vergessen. Ich machte sie darauf bloß aufmerksam und sie fing an zu weinen, dann lachte sie und sagt: „Mein Vater, Großvater, Urgroßvater – sie alle waren Pfarrer. Und ich habe gemeint, ich hätte meinen Kampf mit dieser Familie beendet, als ich aus der Kirche ausgetreten bin.“ Das war für sie wohl ein notwendiger Schritt, um etwas auf Distanz zu gehen, aber als Individuum hat ihr diese Aktion nicht weitergeholfen: Sie hat zwar eine andere Uniform angelegt, aber es ist noch immer eine Uniform und keine Befreiung: Ihrem Mann gegenüber verhielt sie sich immer noch so, als hätte sie es mit dem Vater und Großvater zu tun – nett, lieb, ehrfürchtig.

Diesen Konflikt haben auch Eltern konstant, wenn sie schwierige Entscheidungen treffen müssen – Entscheidungen darüber, wie man es in seiner Familie gerne hätte, dass zum Beispiel weniger Coca Cola und Chips gekauft werden … Dann meinen sie, sie könnten so etwas nicht durchsetzen, weil es in anderen Familien nicht verboten ist. Wenn ich über eine längere Zeitspanne mit Eltern in Gruppen arbeite, antworte ich ihnen auf ihre fatalistische Feststellung, es sei ja heute eh alles aussichtslos, in Form einer Bescheinigung, auf der Folgendes steht: „Ich, Vater von Alexander, gebe meine Verantwortung an die anderen Eltern aus der Klasse ab!“ – Plötzlich horchen Eltern auf und protestieren dann auch sogleich: „Nein, natürlich möchte ich für meine Familie verantwortlich sein!“ Und so gelingt es, Eltern nahe zu bringen, dass es wichtig ist, dass sie sich selbst erziehen und ihre Familienkultur aktiv bestimmen. In den nächsten zehn Jahren wird sich diese Aufgabe der Eltern vor allem im Umgang mit übergewichtigen Kindern als wesentlich erweisen. Sie müssen entscheiden, ob sie es weiterhin dulden wollen, dass sich ihre Kinder mit Fastfood ernähren, und es ist davon auszugehen, dass in jedem Elternhaus die Entscheidungen unterschiedlich ausfallen werden. Eltern müssen heute individuell entscheiden: Was wollen wir in unserer Familie einhalten? Dabei können sie sich auf keine äußere Autorität beziehen: Sie selbst müssen an sich und ihre Vorstellungen von Familie glauben und mit den Konflikten, die selbstverständlich daraus erwachsen, rechnen und fertig werden.

Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir machen können, was wir wollen: Wir können uns kleiden, wie wir wollen, essen, was wir wollen, und wir können uns alles leisten.

Es gibt Eltern, die es tolerieren, dass ihre Tochter mit irgendwelchen Jungs herumhängt und Joints raucht. Sie meinen: „Sie muss durch diese Phase durch, was soll’s!“ Anderen wiederum wäre das zu viel: Sie wollen ihren Kindern nicht mehr alles durchgehen lassen, nur um mit ihnen gut Freund zu bleiben und damit die Kinder ihren Freunden sagen können: „Unsere Eltern sind gute Kumpels!“ Es gibt also auch die, die den Kindern keine Freikarte mehr ausstellen wollen.

Deshalb bin ich sehr bemüht, und werde es auch in diesem Buch versuchen, den Eltern einige elementare Kriterien an die Hand zu geben, die ihnen als Navigationspunkte auf der Suche nach einer eigenen Familienkultur dienen können.

Der biographische Hintergrund

Welches waren die wichtigsten Stationen auf Ihrem persönlichen Lebensweg?

Es war mein großes Glück, in eine Familie hineingeboren zu sein, in die ich nicht hineingehörte. Ich war der Erstgeborene, mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich. Als ich ungefähr vier Jahre alt war, habe ich gespürt, dass mir meine Eltern nicht das geben können, was ich brauche. Ich war klein und musste selbstverständlich bei ihnen bleiben, aber mental habe ich im Exil gelebt – ich habe mir meine eigene Welt zurechtphantasiert und habe mich dabei wohl gefühlt. Den meisten Menschen macht Einsamkeit zu schaffen, ich aber kenne gar keinen anderen Zustand – und nichts erscheint mir wünschenswerter, als alleine zu sein. Aus mir konnte also zum einen kein soziales Tier werden – ich habe es nicht einmal aus Versehen versucht, mich mit Menschen zu umgeben, nur um nicht alleine zu sein, auch später als Therapeut nicht. Zum anderen bin ich äußerst befähigt, für mich selbst zu sorgen: Ich brauche niemanden, der für mich sorgt, was manchmal für die anderen schwierig ist, denn: Wie soll man sich auf jemanden beziehen, der so unabhängig ist?

Meinen Eltern kann man rein äußerlich gesehen gar nichts vorwerfen. Damals war es normal, keinen Dialog zu führen: Eltern sprachen mit ihren Kindern nur das Notwendigste, und auch Mann und Frau unterhielten sich so wenig wie möglich. Mein Vater hat in all den Jahren meiner Kindheit und Jugend kaum was erzählt, und wenn er mal was sagte, dann war das kurz und bündig. Meine Mutter hingegen redete die ganze Zeit, aber sie wusste nicht, wie man ein Gespräch führt. Sie wusste immer, was man in der einen oder anderen Situation zu sagen hat, was von einem erwartet wird: Sie hatte also Phrasen für den Todesfall, für Glückwünsche, für Unfälle oder Krankheiten parat, aber sie hat es nie zu ihrer eigenen Sprache gebracht. Sie sprach eine soziale Sprache, die ich nie lernen konnte und lernen wollte, so dass ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, was man sagt. Manchmal würde ich diese Sprache auch gerne beherrschen und beispielsweise in einem Zugabteil Smalltalk führen, aber ich kann es nicht! Statt zu sprechen, schwieg ich also lange Zeit, weil mir einfach eine persönliche Sprache gefehlt hat und ich sie in diesem familiären Kontext auch nicht entwickeln konnte. Denn da galt folgender Satz: Die elementare Sprache, mit der Kinder geboren werden, bedurfte einer Korrektur – uns wurde damals das direkte „Ich will!“ oder „Ich will nicht“ ausgemerzt, auch in der Schule: Kein Satz durfte mit „Ich“ anfangen.

Es ist für mich noch immer eine große Herausforderung, zu entdecken, wie die äußere Realität zu meiner inneren passt, wie ich etwas Inneres nach außen bringen kann. Zu lernen, seine eigene Sprache zu sprechen!

Wie würden Sie Ihre Position im Leben beschreiben?

Ich sähe mich als ein ordentliches Mitglied des Verbandes der Kellner, wenn es so etwas gäbe. Ich tue das tatsächlich am liebsten, andere zu bedienen oder ihnen zu dienen. Und im Übrigen habe ich diesbezüglich sogar Erfahrungen: Als Student habe ich in den Semesterferien in Düsseldorf in der Altstadt als Kellner gearbeitet, um etwas Geld zu verdienen.

Was bedeutet es für Sie, in dieser Ihrer Familie groß geworden zu sein?

Was es für meine Arbeit bedeutet, dass ich am Rande meiner Familie gelebt habe, ist, dass ich mit Leichtigkeit festgestellt habe, dass Eltern und Partner über ihre eigenen Erwartungen stolpern. Erwartungen sind in vielen Familien das Verhängnis. – Ich hatte nie Erwartungen und demnach auch keine Angst, abgelehnt zu werden – und diese Angst sitzt vielen Menschen in den Knochen! Dass ich so völlig jenseits von Erwartungen lebte, verdanke ich der Tatsache, dass ich sehr früh spürte, dass meine Eltern nichts hatten, was sie mir wirklich hätten geben können. Sie hatten ein sehr enges Korsett um sich geschnürt.

Können Sie heute mit Ihrer Mutter über diese Ihre Eindrücke reden?

Nein, wir haben uns nichts zu sagen. Meine Mutter beklagt sich zwar, dass ich sie viel zu selten anrufe, und ich sage ihr dann auch aufrichtig: „Ich habe dir nichts zu sagen!“ Und dann kommt einer ihrer klassischen „man“-Sätze als Antwort: „Man hat seiner Mutter immer etwas zu sagen!“ – Sie merkt, dass etwas nicht stimmt, aber sie verlässt ihren Kurs nicht und bleibt bei ihrer Forderung: „Du musst mich öfter anrufen!“ Für mich ist es aber keine Pflicht, dies zu tun. Sie hingegen gehört der Generation von Eltern an, die meinen, im Recht zu sein, wenn sie an ihre Kinder Forderungen stellen. Und solche Mütter sind gefährlich, denn sie ersticken jede Möglichkeit einer natürlichen Beziehung im Keim und sind sich dabei keiner Schuld bewusst: Sie sind im Recht, aber nicht in ihrem Wesen.

Sie meinen damit, dass sie eine Rolle spielen?

Ja, sie spielen die Rolle der „Mutter“ – und diese Rolle spielen sie ihr ganzes Leben und haben außer ihr nichts zu bieten! Das ist nicht ihre Schuld – sie haben ein hohles Spiel übernommen und weitergeführt. „Mutter zu sein“ – das war so etwas wie eine Ikone: Du darfst „Mütter“ nicht kritisieren. Und das ist teils auch heute noch so! Sie machen sich unantastbar wie die Jungfrau Maria, aber das bringt uns Menschen keinen Schritt näher …

Meine Mutter hat mir das Leben geschenkt – das ist alles! Ich danke ihr dafür!

Es könnte sein, dass nun einige denken, es ist doch furchtbar, so über seine eigene Mutter zu reden. Doch ich weiß, dass die meisten Menschen aus meiner Generation anfangen würden zu weinen, wenn ich Geschichten aus meiner Kindheit erzählen würde: Sie wären zutiefst berührt, weil sie alle Ähnliches erlebt haben.

In ihrem Beruf ist ja Sprache wesentlich …

Ja, aber zu meiner Sprache habe ich nicht allein durch meine Berufsausbildung gefunden. Zunächst hatte ich keine akademische Laufbahn im Blickfeld, obwohl ich kein schlechter Schüler war. Ich wurde ganz einfach Matrose, und so kam ich endlich weg von meiner Familie. Drei Jahre lang gondelte ich auf den Weltmeeren herum.

Nach dieser Zeit wusste ich dann nicht, ob ich Lehrer oder Förster werden sollte – ich hatte nämlich als Jugendlicher ganze Wochenenden in den Wäldern der Umgebung verbracht. Aber ich wurde Lehrer. Meine Ausbildung dauerte fünf Jahre, und ich hatte damit Glück, denn meine Ausbildung hatte in der Tat etwas mit Bildung zu tun. Wir hatten sehr viel Zeit und durften uns freiwillig zwei Hauptfächer wählen – meine waren: Geschichte und Religion. Zu meinem Religionslehrer hatte ich einen sehr guten Bezug – er war es, der mich dann auch an die Universität schickte, um den neu entstandenen Fachbereich „Geschichte der europäischen Ideen“ kennen zu lernen. So schrieb ich meine Abschlussarbeit über die Disputation zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam über den freien Willen.

Dann habe ich geheiratet und meinen Sohn bekommen. Zu der Zeit fing ich an, in einem Institut zu arbeiten, das sich mit jugendlichen Verbrechern beschäftigte. Damals tauchte zum ersten Mal das Drogenproblem auf: Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige, die sich mit LSD fertig machten – das war in den späten 60er Jahren. Ich habe damals gemerkt, dass mit dem Leben unmittelbar in Kontakt zu stehen für mich wesentlicher ist, als darüber nachzudenken. So blieb ich also mitten im Leben und ging einer akademischen Laufbahn aus dem Weg. Und schließlich habe ich den Familientherapeuten Walter Kempler1 kennen gelernt.

Wie kamen Sie zu Kempler?

In dieser I nstitution, in der wir mit jugendlichen Verbrechern arbeiteten, stellte sich sehr bald ein Konflikt ein, und zwar zwischen der altmodischen und der neuen, der so genannten Hippie-Pädagogik. Die neuen Pädagogen sahen im Verhalten dieser schwierigen Kinder etwas Revolutionäres und deuteten alles als politische Aktion – in den 60er Jahren war alles politisch! Aber mich überzeugten weder die neuen noch die alten, so dass ich mich weder den einen noch den anderen anschließen konnte. – Was ich in dieser Zeit sehr rasch begriffen hatte, war Folgendes: Wenn ich diesen Kindern wirklich helfen möchte, dann kann ich das nur, indem ich ihre Eltern mit einbeziehe. Dies jedoch hatte man an diesem Institut noch nie gemacht. Und so kam es, dass mich jemand, der diese meine innere Einstellung und Überzeugung kannte, auf ein Seminar über Familientherapie aufmerksam machte. Es wurde von Kempler gehalten und war das erste dieser Art in Dänemark: Die Familientherapie war damals noch Neuland.

Kempler kam aus Kalifornien, hat sich dann aber in Holland niedergelassen: Er war nämlich einer jener amerikanischen Juden, die sich niemals mit den amerikanischen Werten haben anfreunden können. In Amerika hatte Kempler sehr eng mit Fritz Pearls zusammengearbeitet, die beiden sind dann aber auseinander gegangen – nicht im Streit, sondern einfach nur, weil Kempler auch die Notwendigkeit der Arbeit mit Beziehungen und nicht nur mit einzelnen Individuen in der Psychotherapie stark machen wollte. Später hat er dann das Kempler-Institut gegründet.

Für mich war das Seminar mit ihm ein wesentlicher Schritt. Es dauerte eine Woche – und ich habe in der Woche kein Wort gesagt, aber plötzlich war danach meine furchtbare Migräne, unter der ich schon Jahre litt, weg. Irgendwie habe ich wohl gespürt, dass ich meinen Kopf bislang unangemessen verwendet hatte.

Was hat Sie an Kempler so sehr beeindruckt, dass Sie dann seinen Weg einschlugen?

Seine Idee der Familie war für mich faszinierend: Sie stellte für mich genau das dar, was ich aus meiner praktischen Erfahrung kannte – ich hatte schon längst gespürt, dass etwas los ist in den Familien und man sich nicht nur mit „missratenen“ Kindern beschäftigen muss: Man muss in die Familien gehen. Und Kempler bot mir für meinen ganz konkreten Weg die professionelle Inspiration – er war für mich eine Art „Grounding“, ein Fundament.

Man könnte Ihren Weg als phänomenologischen bezeichnen, wollte man ihn irgendwie einordnen?!

Ja, ich vertrete eher eine phänomenologische Sicht der Dinge und bin mir dessen bewusst, dass meine therapeutische Arbeit gar keine Chance in der akademischen Welt hat. Ich verstehe mich als Beobachter und Diener des Durchschnittsmenschen!

Es ging mir auch nie darum, meinen Standpunkt durchzusetzen – zu der Zeit war es unter den Therapeuten sehr beliebt, sich über unterschiedliche Standpunkte auseinanderzusetzen, und dann wurde man sehr schnell lediglich der Diener oder Sklave seiner eigenen Einstellungen und hatte gar nicht mehr die Heilung der Kinder und Familien vor Augen. Ich habe keinen Standpunkt, auch heute nicht! Und ich strebe kein Modell an, das Eltern in der Erziehung einfach anwenden. Ich verlasse mich auf das, was ich beobachte, und stelle fest, dass die meisten Eltern aus Unwissenheit scheitern.

Aber wie helfen Sie Eltern, ohne ein Modell, eine Vorstellung von dem zu haben, worauf alles hinauslaufen soll?

Ein Modell im Kopf lässt die Wirklichkeit da draußen ersterben – sprich: Das Modell wird ihr nicht gerecht! – Wenn ein Vater so zu seinem Kind spricht, dass das Kind anfängt zu weinen, dann liegt die Frage auf der Hand: Warum muss er so sprechen, dass das Kind weint und unglücklich ist? Dann kommt die Replik: „Aber Kinder brauchen doch Grenzen!“ – Nein, sie brauchen keine Grenzen,2 sie brauchen einen gleichwertigen Dialog, der ihre Integrität nicht verletzt!

Um Eltern zu helfen, mit ihren Kindern in Berührung zu kommen, musste ich eine ganze Reihe praktisch-pädagogische Fähigkeiten entwickeln und es üben, schwierige Zusammenhänge einfach zu erklären, ohne sie zu simplifizieren. Wissen allein reicht nicht, man muss Erfahrungen sammeln, immer unterwegs bleiben und bereit sein, dazuzulernen.

Da fällt mir dieser komische Spruch ein: „Du kannst niemanden zum Therapeuten erziehen, Therapeuten werden geboren!“ Ob das stimmt, mag dahingestellt sein – ich jedenfalls neige dazu, diesen Spruch anzuzweifeln. Aber was tatsächlich wahr ist, ist, dass es einige therapeutische Fähigkeiten gibt – und in meiner Ausbildungsarbeit mit Menschen, die einen therapeutischen oder pädagogischen Beruf ergreifen wollen, muss ich oft dem einen oder anderen sagen: „Hör auf, Bücher zu lesen! Um dein Talent zu entdecken, musst du handeln! Lies schöne Poesie, aber keine Psychologie, weil sie dich völlig verformt! Du solltest lieber alles, was du tust, erklären, nachdem du es getan hast. Du musst es nicht vorher schon wissen.“ – Und eine meiner Beobachtung ist: Viele Menschen, die therapeutisch auf andere wirken, haben meist gar kein Interesse daran, Therapeuten zu werden. Und jene unter uns, die es von Anfang an nicht sind, versuchen ein Leben lang therapeutisch zu wirken.

1Siehe hierzu www.kempler.dk

2Dazu mehr auf Seite 45.

Therapeut sein

Was verstehen Sie unter „therapeutischem Wirken“ – ist das eine Begabung wie die, zu einem Schamanen berufen zu sein?

Nein, therapeutisch zu wirken, bedeutet für mich, so mit jemandem, der Schwierigkeiten hat, zu leben, dass es für ihn hilfreich ist, ohne ihm explizit das Gefühl zu geben: Jetzt will ich dir helfen! Du musst das und das tun oder verändern, dann wirst du glücklicher sein! – Nein, solche Ratschläge können niemandem helfen. Ich muss Situationen schaffen, in denen sich der andere vielleicht etwas wohler fühlt.

Zum Beispiel: Nehmen wir an, wir beide kennen uns schon sehr lange. Ich treffe Sie zufällig in der Stadt und ich merke, dass Sie sehr schlecht aussehen und bedrückt wirken. Natürlich können wir anfangen, über Ihr Problem zu reden, und es kann sogar sein, dass mir eine gute Idee einfällt, wie sie da herauskommen könnten. Aber nicht das ist es, was ich meine, wenn ich von „therapeutisch wirken“ spreche. Therapeutisch wirken heißt einen ganz konkreten Weg finden und eine neue Lebenssituation schaffen. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Da ich Sie gut kenne, weiß ich, was Ihnen Flügel verleiht und Energie gibt – also überlege ich mir nicht, welche psychologische Theorie oder Richtung ich Ihnen empfehle, sondern ich gehe nach Hause und hole mir die Zeitung und schaue, ob demnächst ein Konzert stattfindet, denn ich weiß, klassische Musik hören Sie gerne. Dann rufe ich Sie an und lade Sie zu diesem Konzert ein. – Und dies, meine ich, ist therapeutisch, ohne dass überhaupt ein Wort über Ihr momentanes Problem gesprochen wurde.

Sie schaffen also auch als Therapeut Situationen, sind also nicht fertig mit sich selbst und arbeiten immer noch an sich selbst weiter?

Ich bin nun mal Therapeut und meine auch, immer wieder therapeutisch zu wirken, aber ich lasse mich nicht blenden und habe kein Vertrauen in den, der mir zujubelt: Sie sind ein guter Therapeut! Die meisten sagen das nur deshalb, weil du einen Namen hast, und darum ist ihr Urteil irreführend …

Ja, ich bleibe unterwegs und werde nie hochmütig sagen: Ich hab’s! Ich bin fertig!

Menschen gehen in Therapie, um ihre seelischen Schmerzen aufzulösen, und sie hoffen auf ein Leben ohne Probleme …