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Liebe. Leidenschaft. Verrat. "Gebrochene Versprechen besitzen große Macht. Wer leugnet, was war, leugnet, was sein wird. Wenn nicht einmal mehr die Schwüre, die mit eigenem Blut im Angesicht Wodans geleistet wurden, noch etwas bedeuten – was kann dann Ragnarök noch aufhalten?" Fünf Menschen. Grimhild, die aus Liebe eine Katastrophe heraufbeschwört. Sigfrid, der plötzlich versteht, als es zu spät ist. Hagen, dessen eiserne Selbstbeherrschung von einem Lächeln bis auf den Grund zerschlagen wird. Brünhild, die der Macht gebrochener Versprechen erliegt. Gunter, der zum ersten Mal etwas für sich will und sich nicht damit abfinden kann, dass es unerreichbar sein soll. Fünf Menschen, die in unauflösbaren Leidenschaften miteinander verstrickt sind. Fünf Menschen, die ihrem Schicksal nicht entfliehen können. Denn Wodan, der Gott der Ekstase, liebt es, Lust und Leid gleichermaßen bis zum Äußersten auszuloten. "Wortgewaltig, feinsinnig, plastisch und fantasievoll." (noz.de – Website der Neuen Osnabrücker Zeitung) (ursprünglich unter dem Titel "Der Ruf der Walküren" erschienen)
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Seitenzahl: 214
Gunnar Kunz
Albenränke
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Albenränke
2
3
Dramatis Personae
Die Nibelungensage von Gunnar Kunz:
Impressum neobooks
Krähen über Niflungenland, Teil 2
Impressum:
Copyright 2023 by Gunnar Kunz, Berlin
Tel. 030 695 095 76
E-Mail über www.gunnarkunz.de
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Rannug
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»Das Leben erkennt man an seiner Ekstase.«
Vilhelm Grønbech
1.
Vor den Gefolgsleuten hob Gunter seine zukünftige Frau vom Pferd. Zum ersten Mal spürte er ihren Körper, und es war, als würde die Wärme ihres Leibes den kalten Zauber brechen, der sein bisheriges Leben umklammert hatte. Er durfte diese wundervolle Frau den Rest seines Lebens in den Armen halten, das war mehr als genug Glück, um alles vergangene und zukünftige Leid aufzuwiegen. Unter den Freudenrufen der Menge trug er die Svawenkönigin über die Schwelle des Hauptgebäudes, unter der der Hausgeist wohnte, und führte sie einmal um das Herdfeuer, um sie in das Heil des Hauses einzuweihen.
Der Lärm verebbte, als die Kühle des Gebäudes sie umfing. Noch immer war Brünhild wie betäubt. Verschachert! Sigfrid hatte sie Gunter angeboten, um dessen Schwester zu bekommen! Die Königssippe kam herein. Brünhilds Blick glitt über die Gesichter hinweg und blieb auf der Gestalt einer jungen Frau liegen. Sie war schön. Und jung, verführerisch jung. Für diese Frau hatte Sigfrid sie also verkauft!
Grimhild versuchte, sich hinter den Rücken ihrer Brüder zu verstecken. Zwar freute sie sich über Gunters erfolgreiche Rückkehr, weil sie jetzt endlich mit Sigfrid verheiratet werden würde. Und sie war erleichtert, dass Thiotas Trank in ihrer Nähe nichts von seiner Wirkung einzubüßen schien. Doch es war etwas anderes, einer unbekannten Frau den Mann wegzunehmen, als ihr gegenüberzustehen und auf ihrem Gesicht den Schmerz zu erkennen, den sie ausgelöst hatte.
»Wir heißen Euch in Niflungenland willkommen«, sagte Oda freundlich.
»År ok friðr«, entgegnete die Svawenkönigin, doch ihre Augen blieben auf Grimhild haften.
Trotzig reckte die Niflunge das Kinn und trat vor. »Auch ich heiße Euch willkommen und wünsche Euch Glück an der Seite meines Bruders.«
Die beiden Frauen maßen sich stumm mit Blicken, ein kurzer, aber leidenschaftlich geführter Kampf, den Brünhild schließlich für sich entschied, als ihre Rivalin die Lider senkte. Statt einer Antwort nickte sie nur kühl.
Grimhild hatte sich die Svawenkönigin anders vorgestellt. Dass sie schön war, entsprach ihren Erwartungen. Aber die ruhige Würde, die die Sächsin ausstrahlte, war aus irgendeinem Grunde schwerer zu ertragen. Neben ihr kam sich Grimhild wie ein dummes Mädchen vor. Sie mochte sie nicht. Brünhild war eine kalte, arrogante Frau. Sigfrid wäre mit ihr sowieso nicht glücklich geworden.
Oda begegnete der Braut ihres Sohnes mit Wärme, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie hier willkommen war. Die alte Königin erinnerte sich noch lebhaft daran, wie es war, aus der vertrauten Umgebung fortgerissen und in ein fremdes Land geführt zu werden, wo sie von einem Tag auf den anderen leben sollte. Sie war damals fast gestorben aus Angst, ihrer neuen Rolle nicht gerecht zu werden. »Kommt«, sagte sie, »ich zeige Euch erst einmal Euer Gemach. Und dann lasse ich Euch ein heißes Bad bereiten, das wird Euch guttun nach der langen Reise.«
Brünhild nickte dankbar. In mancher Hinsicht ähnelte die alte Frau Radegunde. Ein jäher Stich erinnerte die Svawenkönigin daran, dass sie ihre Sippe, ihre Heimat und alles, was ihr lieb und teuer war, hinter sich gelassen hatte. Mit Macht drängten die Tränen jetzt hervor, doch gelang es ihr auch diesmal, Siegerin zu bleiben und Oda aufrecht zu folgen.
Gunter sah seiner schönen Braut hinterher. Die Reise über hatte sie sich abgekapselt. Kein Scherz, keine Geste vermochte sie aus ihrem selbst gewählten Kokon zu locken. Ihr stumm getragenes Leid verunsicherte ihn. Waren nur Heimweh und die Angst vor dem, was sie hier erwartete, der Grund? Fürchtete sie sich vor ihm? Konnte sie nicht sehen, dass er alles, aber auch alles tun würde, um sie glücklich zu machen?
2.
Der Vollmond stand hell und klar am Himmel, ein gutes Omen. Die Verbindung zwischen Gunter und der Svawenkönigin würde fruchtbar sein. Die geladenen Gäste drängten sich in der Großen Halle, und selbst draußen war eine gewaltige Menge zusammengekommen, um dem Brautlauffest ihres Königs beizuwohnen. Jubelrufe wurden laut, als die beiden Paare aus dem Heiligen Hain kamen, wo sie Frija geopfert hatten, um Segen für ihre Ehe zu erbitten.
Gunter strahlte. Das trefflichste Weib, so weit Schiffe fuhren und Raben flogen, war sein. Mit Verlangen sah er Brünhild an und wünschte, das Fest wäre bereits vorüber. Er konnte es kaum erwarten, sie in seinen Armen zu halten
Die Svawenkönigin bewegte sich wie eine Marionette. Es ging alles so schnell, dass sie kaum zum Nachdenken kam. Vor zwei Wochen wähnte sie sich noch als Sigfrids Braut und erwartete sehnsuchtsvoll seine Rückkehr. Dann hatte sie zugleich ihre Liebe, ihre Heimat und ihr Vertrauen verloren, und plötzlich fand sie sich in einem fremden Land an der Seite eines Mannes wieder, der ihr nichts bedeutete. Bei Frija, was tat sie hier? Sie musste endlich aufhören, sich herumstoßen und Handlungen aufzwingen zu lassen! Alles, was sie brauchte, war ein bisschen Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit, um wieder Klarheit zu gewinnen.
Es sah Sigfrid nicht ähnlich, sich berechnend zu verhalten. Ihr hugi sagte ihr, dass er ihr Vertrauen verdiente. Andererseits war er ein Knabe gewesen, als er sie verließ, und wer konnte sagen, auf welche Weise er sich seitdem verändert hatte? Vielleicht war er gegen seinen Willen gezwungen worden, Grimhild zu heiraten. Auch Männer waren nicht frei in der Wahl ihrer Gemahlin. Sie klammerte sich an diese Hoffnung und suchte in seinem Gesicht nach einem Zeichen, einem Wink, irgendetwas. Doch was sie fand, waren die verliebten Blicke, die Sigfrid und Grimhild einander zuwarfen. Brünhild sah rasch beiseite. Natürlich, in der Öffentlichkeit war er genötigt, die Form zu wahren! Sie musste Vertrauen haben! Wenn sie recht behielt, würde er sie heimlich aufsuchen, um ihr alles zu erklären. Bald. Sehr bald.
Die Unfreien kamen herein und trugen das Essen auf. Als Vorspeise gab es Muscheln und in Honig eingelegte Haselnüsse. Das Hauptgericht bestand aus Mastgeflügel in Teigkruste, Erbsen, Spargel, Fischfrikassee, gebratene Wildschweine und Purpurschnecken. Dazu wurde reichlich Bier und Wein gereicht.
Es gab manches, was Gunter an den Römern schätzte. Ihre Denkweise war ihm fremd, aber sie hatten es verstanden, sich das Leben durch ein paar Annehmlichkeiten zu versüßen. Und nicht die geringste davon war Garum, die pikante Fischsauce aus Sardellen und Wein. Der Niflungenkönig aß mit großem Appetit, und die Gäste eiferten ihm nach und tranken einander dabei lautstark zu.
Eckewart und Rodinger hatten ihre Wertschätzung füreinander entdeckt und unterhielten sich, was für Sigfrids Gefolgsmann nicht ganz einfach war, da er rechts von Rodinger saß und mit seinem tauben linken Ohr Probleme hatte, ihn zu verstehen. Die beiden hoben ihr stechal und gossen ein Trankopfer für das Glück der Paare auf den Boden.
An der linken Seite Rodingers saß Didrik von Bern. Der blonde Hüne mit der brummigen Stimme überragte alle um Kopfgröße. Er war bekannt für seine Kraft und Kühnheit. Im Augenblick allerdings bedrückten ihn Sorgen, weil sein Onkel ein Auge auf sein Reich geworfen hatte. Ein Krieg war nur allzu wahrscheinlich. Und obwohl Didrik den Kampf nicht fürchtete, so lag doch kein Heil darin, Krieg gegen die eigene Sippe zu führen.
Neben ihm saß der alte Hillebrand, sein Pflegevater. Trotz seiner arthritischen Hände konnte er besser mit dem Schwert umgehen als mancher Gesunde. Wenn er lachte, entblößte er Zahnstümpfe. Seit fünfzig Jahren aß er jeden Morgen einen Brei aus Körnern, die zwischen zwei Steinen zerrieben und mit Wasser oder Milch vermischt wurden. Der unvermeidliche Steinstaub hatte im Laufe der Jahre seine Zähne abgeschliffen.
Volker, der Skop, begann zu singen und unterhielt die Gäste mit Liedern, die er von umherziehenden Nordländern gehört hatte. Sie handelten von dem Gott Ullr, der auf seinem Schild die eisbedeckten Berge hinab fuhr und auf geglätteten Schenkelknochen eines Hirsches, auf die er starke Zauberlieder geritzt hatte, übers Meer lief.
Nachdem die Gäste ihrer Begeisterung über den Vortrag Ausdruck verliehen hatten, erhob sich Sigfrid. »König Gunter!«, begann er feierlich. »Wir haben vor diesem Fest nicht, wie es üblich ist, über den Muntschatz gesprochen, da du mir eine andere Bedingung für deine Schwester stelltest.«
Sein Blick streifte Brünhild beiläufig, und es war diese Beiläufigkeit, die ihr mehr weh tat als alles, was sie bislang erdulden musste. Sie fühlte sich, als müsse sie sich jeden Moment übergeben.
»Dennoch will ich deine Schwester nicht ohne Gegengabe zu meinem Weibe nehmen. Kein größeres Glück kann einem Mann widerfahren, als Grimhild sein Eigen zu nennen. Deshalb will ich dir und deiner Sippe heute einen Muntschatz überreichen.« Auf seinen Wink hin schleppten zwei Männer eine Kiste herbei und stellten sie zu Gunters Füßen ab. »Ein paar bescheidene Gaben aus dem Hort des Stillen Volkes«, sagte Sigfrid und schlug den Deckel um.
Die Gäste keuchten. Welch ein Funkeln und Glitzern! Jeder einzelne Ring, jeder Edelstein war ein Vermögen wert.
»Bei Wodan, ich danke dir für diesen wahrhaft fürstlichen Schatz!«, rief Gunter aus. »Du handelst großherzig an meiner Sippe, seit du herkamst. Lass uns den Blutschwur begehen, auf dass die Verbindung zwischen uns gefestigt wird!«
»Es wäre mir eine Ehre, mit deiner Sippe durch die Macht des Blutes vereinigt zu sein.«
Der König erhob sich. »Bereitet den Rasengang vor!«
Die Niflungen schrien begeistert und klopften auf ihre Schilde. Ein Blutschwur war immer etwas Besonderes. Die Menge drängte zur Tür. Mit geübten Schnitten hoben die Krieger ein Stück des Rasens aus, ließen es an den Enden jedoch mit der Wiese zusammenhängen. Vier Männer hielten es hoch, während andere die Erde darunter wegschaufelten, bis zwei Menschen in der Grube stehen konnten. Feierlich traten Gunter und Sigfrid unter den ausgeschnittenen Rasenstreifen, um einen symbolischen Tod zu erleiden und als Brüder aus demselben Schoß, dem Schoß der Erde, neu geboren zu werden. Stille lag über der Menge. Starker Zauber wirkte bei einem Blutschwur. Wo erdmegin im Spiel war, konnte man nur Ehrfurcht empfinden.
Gunter zog seinen Dolch und schnitt sich in den Arm. »Ich rufe die Götter zu Zeugen an: Ich, Gunter, Sohn des Aldrian von der Sippe der Niflungen, vermische mein Blut mit dem Sigfrids.« Er streckte den Arm vor und ließ sein Blut in die Erde tropfen. Anschließend gab er den Dolch an Sigfrid weiter.
Der verhielt einen Augenblick unschlüssig und hob dann seinen Arm über den Kopf, um sich zwischen den Schulterblättern zu ritzen, an der einzigen Stelle, an der er verwundbar war. Mit der Hand wischte er über die Wunde und ließ das Blut von seinen Fingern rinnen. »Ich, Sigfrid, Sohn des Sigmund von der Sippe der Tarlungen, vermische mein Blut mit dem Gunters.« Er kniete nieder und rührte beider Blut mit dem Dolch in den Leib der Erde. »Gunter ist von meinem Blut«, sagte er. »Ich schwöre, ihn zu rächen wie einen Sippenbruder, wenn seiner Ehre Schmach angetan wird.«
Der Niflunge übernahm den Dolch. »Auch ich schwöre, Sigfrid zu rächen wie einen Bruder, sollte seiner Ehre Schmach angetan werden.« Mit der Spitze des Dolches zeichnete er wunjō, die Sippenrune, in den Boden. »Ich gebe dir meinen Frieden und den Frieden meiner Sippe«, erklärte er und griff nach seinem Schwert, denn Friede war etwas Aktives, Friede bedeutete gegenseitigen Schutz und Verteidigung. »Ich schwöre es im Namen von Wodan, dem Gott der Kampfekstase, und im Namen von Tiwaz, dem Gott des Krieges.«
»Friede sei zwischen uns und unseren Sippen«, bestätigte Sigfrid. »Ich schwöre es im Namen von Wodan, dem Gott der Kampfekstase, und im Namen von Tiwaz, dem Gott des Krieges.«
Die Männer erhoben sich. »Wer es wagt, die heiligen Eide zu brechen, der sei wölfisch und friedlos, von den Göttern verflucht«, sagte Gunter.
Er und Sigfrid umarmten sich. Dann kletterten sie aus der Grube und traten unter dem Rasenstreifen aus der Erde ins Leben zurück. Die Krieger jubelten und schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde. Zwei neue Menschen waren geboren, Brüder einer Sippe. Das Heil des einen lag jetzt im Heil des anderen.
3.
Gutmütig verscheuchte Gunter seine Gefolgsleute aus dem Brautgemach. Ihre schlüpfrigen Bemerkungen waren Brauch, und im Grunde hatte er gar nichts dagegen. Das Glück machte ihn trunken. Mit leuchtenden Augen betrachtete er die Rückenlinie seiner Braut. Sie würde an seiner Seite sein, für den Rest seines Lebens! Er sehnte sich danach, ihr das Brautgewand auszuziehen und das Geheimnis ihres Körpers und der Macht, die sie über ihn hatte, zu ergründen. Es war nicht Lust, die ihm diesen Wunsch eingab, seine Bewunderung war ein reines Gebet an ihre Schönheit. Er verspürte den Wunsch, einen Lindwurm zu erschlagen oder eine feindliche Streitmacht zu besiegen, nur für sie. War es das, was andere Männer ihm voraus hatten? Das simple Bewusstsein, welche Kräfte in ihnen schlummerten, Kräfte, die nur die Liebe in einem Mann zu wecken vermochte?
Das Verlassen ihrer Heimat, das Brautlauffest – all das kam Brünhild wie ein Trugbild vor. Dazu die luxuriöse Ausstattung des Raumes, das Holzbett mit den kunstvoll gedrechselten Pfosten, leinene Laken, Daunenkissen – absurd! Daheim hatte sie sich mit einem strohgestopften Bettsack begnügt. Sie machte eine unwillkürliche Handbewegung, als könne sie die vergangenen Nächte wie lästige Spinnweben fortwischen. Bis vor Kurzem hatte sie noch in einer vertrauten Welt gelebt, deren Regeln sie kannte. Deren Regeln sie bestimmte. Von einem Tag zum anderen war sie aus der tröstlichen Geborgenheit von Svawenland gerissen und in dieses fremde Land mit seinen fremden Sitten geworfen worden. Und jetzt sah dieser fremde Mann sie an mit einer Intimität, die sie niemandem außer Sigfrid gestatten wollte. Langsam erwachte Brünhild aus ihrer Betäubung. Sie war mit einem anderen verheiratet! Dieser Mann da war ihr Gemahl, nicht Sigfrid! Die plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schock. Unwillkürlich begann sie, am ganzen Körper zu zittern.
Gunter bemerkte es und bemühte sich mit einem Lächeln, ihr die Angst zu nehmen. Zärtlich streichelte er ihre Wange und nahm einen Geruch nach Kiefernharz an ihr wahr. »Du bist schön«, sagte er leise, als fürchte er, ein lautes Wort könne den Traum, den er träumte, zerplatzen lassen. Mit zwei Fingern fuhr er die Form ihrer Wangenknochen, ihrer Nase, ihrer Lippen nach. »Ich werde sanft mit dir umgehen.«
Sie schloss die Augen. So wie er würde Sigfrid jetzt diese andere Frau ansehen, ihren Leib berühren, sie mit seinem unvergleichlichen Lächeln anlächeln, das er einst ihr schenkte. Der Schmerz zerriss die Bewusstseinstrübung, und zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Svawenland konnte sie wieder klar denken. Alles, was sie besaß, war die Erinnerung an eine Liebesnacht, die ihr mehr bedeutete als ihr Leben. Ein Beilager mit dem Niflungenkönig würde das alles hinwegfegen, als sei es nie geschehen. Es würde ihr die Vergangenheit und ihre Seele rauben. Sie musste etwas tun, bevor … bevor das Unvermeidliche geschah.
Die stumme Reglosigkeit seiner Braut verunsicherte Gunter. Wie behandelte man eine Frau in der Brautnacht? Er wollte ihr gern die Zeit geben, die sie brauchte, um sich zurechtzufinden. Andererseits konnten sie nicht die ganze Nacht verlegen vor dem Bett stehen. Er wünschte, jemand würde ihm sagen, was zu tun war. Zögernd schnürte er seine Schuhe auf und schlüpfte heraus. Dann zog er sich das Hemd über den Kopf.
Für den Bruchteil eines Augenblicks war sein Blickfeld verdeckt, das genügte Brünhild. Ohne nachzudenken zog sie ihren Dolch.
Plötzlich fühlte er die kalte Klinge an seinem Hals. Er erstarrte.
»Rühr dich nicht! Ich kann mit einem Dolch umgehen, und, glaub mir, ich werde ihn benutzen.« Er setzte zu einer Frage an, aber eine unwillige Bewegung von ihr brachte ihn zum Schweigen. »Ich würde dich eher töten, als dir zu Willen zu sein.«
»Du bist meine Frau«, sagte er verständnislos.
»Ich werde dir niemals gehören.«
Meinte sie es ernst? Auf eine Situation wie diese war Gunter nicht vorbereitet.
Gehetzt irrten Brünhilds Augen umher. Ihr Blick fiel auf eine zerschrammte Truhe, in der Wäsche aufbewahrt wurde. Dorthin zerrte sie ihren Gemahl. »Öffne die Truhe!« Entgeistert gehorchte er. »Hinein mit dir!«
»Genug jetzt! Gib mir den Dolch!«
Sie verstärkte den Druck der Klinge. Ein Blutstropfen rann seinen Hals hinunter. »Hinein mit dir!«, wiederholte sie. »Das wird dich abkühlen.«
Die Erkenntnis, dass sie nichts für ihn empfand, war es, die ihn mit einem Schlag jeder Kraft beraubte. Er sah sie an, und sie schien ihm schöner und begehrenswerter denn je. Aber sie liebte ihn nicht, respektierte ihn nicht einmal. Willenlos stieg er in die Truhe. »Brünhild …«
Sie konnte den Anblick seiner Augen nicht ertragen. »Leg dich hin!«, schrie sie.
»Ich liebe dich«, sagte er dumpf. Und dann, weil er nichts anderes sagen konnte, weil er nicht wusste, wie er mit ihr sprechen musste, um sie von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu überzeugen: »Ich liebe dich.«
Sein Tonfall traf sie wie ein Hieb in die Magengrube. Aber ihre Furcht vor dem, was geschehen würde, wenn sie aufhörte, etwas zu tun – irgendetwas, ganz gleich, was es war –, erstickte jeden Zweifel. Wer handelte, hatte sein Leben noch in der Hand, war es nicht so? Wer handelte, besaß noch Hoffnung.
Widerstandslos quetschte sich Gunter in die Truhe. Er musste sich hinknien und den Kopf beugen, um hineinzugelangen. Brünhild schlug den Deckel zu und hakte das Schloss ein. Dann erst ließ sie die Hand mit dem Dolch sinken. Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken. Was nun? Wie ging es weiter? Sie hatte nur bis zum nächsten Augenblick gedacht, ohne zu überlegen, was danach kam. Am liebsten wäre sie wieder in den betäubten Zustand von vorher zurückgefallen. Sie zitterte immer noch, vielleicht sogar stärker als vorher. Der Dolch entfiel ihrer Hand und schlug auf dem Boden auf. Sie wollte weinen, aber sie versagte sich die Tränen. Was nützten Tränen, wenn die Nornen beschlossen hatten, ihr Leben zu zerstören?
Sie sah zur Truhe. Hatte Gunter genug Luft zum Atmen? Sicher. Der Deckel stand über, ersticken würde der Niflungenkönig nicht. Brünhild legte ein Ohr an das Holz. Im gleichen Augenblick wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Die Geräusche von der anderen Seite entbehrten jeder Menschlichkeit. Es war das Wimmern von jemandem, der jegliche Hoffnung fahren lassen hatte.
Hastig riss sie ihr Ohr zurück. Das Klopfen ihres Herzens ließ sich nicht unter Kontrolle bringen. Wie eine alte Frau erhob sie sich. Irgendwie gelang es ihr, ein Nachthemd überzustreifen und sich ins Bett zu legen. Sie fror, trotz der warmen Sommernacht. Sie starrte an die Decke, malte sich aus, wie Sigfrid und Grimhild beieinander lagen, und weinte leise. Sigfrid! Sigfrid! Er sollte jetzt bei ihr sein, sie sollte in seinen Armen liegen! Sie krümmte sich zusammen und presste eine Faust in den Mund, um nicht zu schreien. Das Zittern kam nun nicht mehr in Schüben, sondern schüttelte sie ununterbrochen.
4.
Nervös nahm Grimhild einen Wickelrock aus ihrer Truhe, zupfte ein paar Falten zurecht und legte ihn wieder zurück, während sie darauf wartete, dass Sigfrid die Krieger, die darauf bestanden hatten, sie ins Schlafgemach zu begleiten, freundlich, aber bestimmt hinauswies. Ihre Knie wurden weich, wenn sie nur daran dachte, wie seine Hände sie gleich überall berühren würden. Er schloss die Tür und sah sie einfach nur an. Und lächelte. Grimhild fand es schwer, diesem Lächeln zu widerstehen, und wandte sich schluckend ab. Sie spürte, wie er an sie herantrat, und seine körperliche Nähe war auch ohne Berührung so intensiv, dass sie es kaum ertrug.
»Jetzt bist du mein«, stellte er fest. »Die schönste Frau der Franken ist mein.«
Er drehte sie herum und fasste ihre Taille. Sie liebte es, von seinen Armen gehalten zu werden, bei Frija, wie sie das liebte! Heftig umschlang sie seinen Hals und küsste ihn, wild und leidenschaftlich. Seine Hände glitten über ihren Körper, und wieder spürte sie die erregende Rauheit hürnener Haut durch das Gewand hindurch.
Sigfrid stöhnte auf, als sich ihre Brüste gegen ihn pressten. Das Begehren in ihm wurde übermächtig. Eilig löste er den Gürtel ihres Leinengewandes, was nicht einfach war, weil sie sich an ihn klammerte wie eine Ertrinkende. Ihre Lippen und ihre Zunge waren überall, unersättlich. Mit einem Schwung hob er sie auf und trug sie ins Bett, zog dann seinen Leibrock über den Kopf und öffnete die Lederriemen seiner Bundschuhe.
Grimhild hatte auf diese Weise ausgiebig Gelegenheit, dem Spiel seiner Muskeln zuzusehen. Sein Körper war so stählern wie sein Schwert. Umso seltsamer mutete es an, keinerlei Kampfnarben zu entdecken.
Er spürte ihren Blick. Verlegen öffnete er den Gürtel seiner Hose. Grimhild traute sich nicht, weiter zuzusehen. Sie stand auf, kehrte ihm den Rücken zu und löste ihre Schuhe. Dann streifte sie das Brautgewand ab. Als sie nackt war, drehte sie sich herum, die Arme unsicher vor der Brust gekreuzt. Jetzt beobachtete er sie, und vor lauter Bewunderung vergaß er seine eigene Blöße. Grimhild konnte nicht anders, als auf seinen Unterleib zu sehen, wo sich sein männlichster Teil bereits auffallend regte. Sie musste schlucken und presste die Arme fester um sich. Dann wurde ihr klar, wie albern das war, und sie ließ sie fallen.
Er fing an zu lächeln, sie erwiderte es, und schließlich lagen sie einander erneut in den Armen. Diesmal spürte Grimhild seine Hornhaut am ganzen Körper. Und diesmal war sie es, die ihn aufs Bett zog. Trotz ihrer Unberührtheit kannte sie keine Hemmungen. In ihren Träumen hatte sie sich mehr als einmal ausgemalt, wie es sein würde, und die Wirklichkeit übertraf ihre Träume um ein Vielfaches. Zärtlich streichelte sie die weiche Stelle zwischen seinen Schulterblättern, die nicht verhornt war. Diese Stelle mochte sie besonders. Es gefiel ihr, dass er nicht ganz und gar der unbesiegbare Held war, sondern dass es da einen wunden Punkt gab, etwas, worauf sie achtgeben, dem ihre Sorge gelten konnte.
Sigfrid küsste das Tal zwischen ihren Brüsten und streichelte sie dabei. Sie stöhnte. Seine Hände waren wie Lagen aus feinem Sand und fügten ihr lustvolle Schmerzen zu. Sie hatte ihre Finger in seiner blonden Mähne vergraben und bog ihren Körper seinem saugenden Mund entgegen.
Schließlich konnte er sich nicht länger bezähmen. Mit seinen Beinen drückte er ihre Schenkel auseinander. Sie wusste, was jetzt kam, und konnte nicht verhindern, dass sie sich verkrampfte. Sigfrid stützte sich auf seine Hände und schob sich in ihren Schoß. Ein heißer Stich durchfuhr ihren Unterleib. Sie zuckte zusammen und wimmerte, weil er auch dort hürnen war, aber der Schmerz ebbte bereits zu einem dumpfen Pochen ab. Er sah sie ängstlich an und entspannte sich erst, als sie lächelte. Mühsam zügelte er seine Leidenschaft, obwohl es ihn all seine Selbstbeherrschung kostete.
Unvermittelt rollte sie sich mit ihm herum. Ein herausforderndes Glitzern stand in ihren Augen, als sie sich auf seiner schweißglänzenden Brust abstützte und ihr Becken anhob. Sigfrid stöhnte. Was sie machte, gefiel ihm. Außerdem hatte er auf diese Weise die Hände frei für andere Dinge.
Es erregte sie, wie er sich ihr auslieferte, und sie beschloss, das schmerzhafte Pochen zu ignorieren und ihn mit Fesseln der Lust an sich zu binden. Langsam bewegte sie ihren Schoß auf und nieder, lockte ihn, verführte ihn. Sie setzte den Rhythmus ihres Unterleibs gezielt ein, um ihn zu entflammen. Und sie lernte schnell. Indem sie seine Begierde lenkte, brachte sie ihn dazu, die Kontrolle über sich zu verlieren.
Ihre provozierende Art erfüllte ihn mit schmerzhaftem Verlangen. Es fiel ihm immer schwerer, sich zurückzuhalten, und schließlich warf er sich mit ihr herum, packte ihre Mähne, küsste sie gierig und verdoppelte das Tempo seiner Stöße. Grimhild wand sich in einer Mischung aus Schmerz und Lust. Das beißende Ziehen in ihrem Zentrum verhinderte, dass sie sich dem Fieber der Leidenschaft hingeben konnte, aber allein die Gewissheit, dass sie die Macht besaß, ihren Mann zu solcher Raserei zu treiben, war ein erregendes Gefühl. Mit Armen und Beinen umklammerte sie ihn, grub ihre Fingernägel in seinen Rücken und verbiss sich in seiner Schulter, um nicht aufzuschreien. Sigfrid spürte es kaum, er war im Rausch der Ekstase. Unbeherrscht zuckte er in ihrem Schoß und wusste, jetzt gab es kein Zurück mehr. Plötzlich spürte sie etwas heiß in ihr Inneres strömen und ächzte. Ein Schrei entstieg seiner Kehle, als er sich in sie gab und sich vom Feuer der Leidenschaft verbrennen ließ. Und doch …
Auf dem Höhepunkt der Begierde empfand er plötzlich nichts als Trauer. Ihm war, als hätte er etwas unwiederbringlich verloren. Das Gefühl verstörte ihn, Qual mischte sich in seine Wollust, und er vergrub das Gesicht in Grimhilds Halsbeuge, um seine Tränen zu verbergen.
5.
Hagen verließ das Fest, als die Paare sich unter dem Gejohle der Gäste in ihre Privatgemächer zurückzogen. Sein Auge brannte. Die Grenzen seiner Beherrschung waren erreicht. Er hatte es durchgestanden, hatte Sigfrid und Grimhild gegenüber sogar einen Glückwunsch über die Lippen gebracht, und, bei Wodan, er würde jetzt aufrecht davongehen, ohne sich von seinen Gefühlen in die Knie zwingen zu lassen! Steif stelzte er aus der Großen Halle und zwang sich zu einem gemessenen Schritt. Wer ihm ins Gesicht gesehen hätte, dem wäre aufgefallen, dass seine Kiefer unablässig mahlten, als wollten sie seine Zähne zu Pulver zerreiben. Unfreie, die ihm entgegen kamen, wichen vor ihm in die Ecken zurück. Hagen sah niemanden. Der unausgesprochene Satz des Mittsommerfestes nagte in seinem Inneren. Er hatte den Fehler begangen, ihn seinem Herzen entschlüpfen zu lassen, jetzt steckte er wie Blei in seiner Kehle, verschloss ihm den Hals und ließ sich nicht wieder zurückdrängen.
Vor dem Kornspeicher begegnete ihm Ansgar und grinste ihn mit geröteten Wangen an. »Die Vögel sind zu Bett gegangen«, lallte er. »Trösten wir uns mit einem stechal Bier.«
»Nicht jetzt!«
An seine Barschheit gewöhnt, maß Ansgar seinen Worten keine Bedeutung bei und hielt den Waffenmeister auf. »Nur einen kleinen Schluck.«