Seelenknoten - Gunnar Kunz - E-Book

Seelenknoten E-Book

Gunnar Kunz

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Beschreibung

Bastard, nennen sie ihn. Einen Niemand. Was kann Jarik dafür, dass er anders ist als der Rest seines Clans? Was kann er dafür, dass er die Gabe des Zweiten Gesichts besitzt, eine Gabe, die ihm nur Leid einträgt? Und warum verfolgt ihn sein Stiefvater mit solchem Hass? Auch Prinzessin Aliena steht mit dem Rücken zur Wand. Jemand versucht, die Sieben Königreiche gegeneinander auszuspielen. Weshalb hilft ihr die Gabe, verborgene Handlungsmuster zu erkennen, nicht dabei, die Vorgänge zu durchschauen? Und wer hat den Zwerg Durin fortgelockt, ehe er ihr beibringen konnte, im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner zu überleben? Jarik und Aliena verlieben sich ineinander. Aber wie können sich zwei Menschen finden, wenn sie auf verschiedenen Seiten stehen? Wie können sie sich der Intrigen erwehren, die einen Keil zwischen sie treiben wollen? Und vor allem – was nützen einem seherische Fähigkeiten, wenn Freund und Feind nicht voneinander zu unterscheiden sind?

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Seitenzahl: 634

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Gunnar Kunz

Seelenknoten

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Seelenknoten

Der Gesang der Dünen (1)

Der Gesang der Dünen (2)

Wechselbalg (1)

Wechselbalg (2)

Rubinkatze

Blind

Ich habe die Grenze überschritten

Dramatis Personae

Glossar

Weitere Bücher von Gunnar Kunz:

Impressum neobooks

Seelenknoten

1. Band der Fantasy-Trilogie

von Gunnar Kunz

Impressum:

Copyright 2024 by Gunnar Kunz, Berlin

Tel. 030 695 095 76

E-Mail über www.gunnarkunz.de

Alle Rechte vorbehalten

Einbandgestaltung: Rannug

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Danke, dass Sie die Arbeit des Autors respektieren!

Der Gesang der Dünen (1)

1

Jarik war elf, als es begann. Es geschah eher beiläufig, und er maß dem Vorfall zunächst keine Bedeutung bei, weil andere Dinge seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, Dinge, die sein Leben unmittelbarer beeinflussten. Sein Körper hatte nämlich angefangen, sich auf beunruhigende Weise zu verändern. Arme und Beine wurden schlaksig, an den unangenehmsten Stellen begannen Haare zu sprießen, und seine Stimme machte seltsame Hüpfer, wenn er sprach. Von Tag zu Tag fühlte er sich fremder in seiner Haut.

Zugleich war alles, was er zu kennen glaubte, atemberaubend neu. Die Welt, bislang ein Ort vertrauter Gewissheiten, enthüllte ihm plötzlich ihre Wunder. Ein Akazienbusch konnte einen süßen Honiggeruch verströmen und der Wind über den Dünen wie ein klagendes Lied auf der rhuba klingen. Das Königreich Alganda bestand aus kaum mehr als Sand und Steinen, soweit das Auge reichte, und doch genügte ein Wasserguss, um die Wüste in ein Blütenmeer zu verwandeln. Im Zelt von Jariks Stiefvater hing ein Dolch mit gewellter Klinge, in dessen Griff der Schmied mit Schriftzeichen den Seelennamen des Dolches eingraviert hatte. Und jedem, der die Zeichen zu deuten wusste, offenbarte sich diese Seele, einem Wüstenbewohner ebenso wie einem Söldner aus Faluut oder einem Fischer aus Ellerin. Wenn das nicht ein Wunder war, was dann!

Jariks Clan, die Panja vom Stamm der Rajaz, gehörten zu den zahlreichen Nomaden, die die Wüste Algandas durchstreiften. Jarik selbst mit seinem kindlichen Gesicht wirkte eher unscheinbar. In einer Gruppe von Menschen wäre er leicht zu übersehen, wären da nicht seine zwei verschiedenfarbigen Augen, das eine dunkelbraun, das andere olivgrün, und der eigensinnige Blick darin.

Der Clan hatte ihm das Schafehüten übertragen. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Tiere zwischen all dem Sand genügend Gras fanden, um satt zu werden. Jarik nahm seine Pflichten ernst. Sicher, es war keine angesehene Arbeit. Sich um die Kamele zu kümmern, wäre ehrenvoller gewesen. Aber wenigstens war er den ganzen Tag allein und konnte seinen Gedanken nachhängen, und das wog die Nachteile durchaus auf. Insbesondere, da diese Gedanken in letzter Zeit um Mehadjie kreisten.

Mehadjie war das schönste Mädchen im Dorf, groß, schlank, mit hellbraunen Augen und einem Mund, der einem jungen Mann alles zu versprechen schien. Sie trug ihr Haar zu einem Turm hochgesteckt, aus dem ihr von Zeit zu Zeit eine einzelne Strähne ins Gesicht fiel. Und sie konnte Blicke werfen, die bei Jarik ein Ziehen in bestimmten Körperregionen bewirkten, ein Ziehen, das erschreckend und süß zugleich war und ihm Schauer über den Rücken jagte. Allein ihr Gang löste etwas in ihm aus, das so mächtig war, dass es ihn mit Entsetzen erfüllte. Eigenartigerweise konnte er von diesem Entsetzen nie genug bekommen.

Jarik hatte nicht vor, ewig Schafe zu hüten. Eines Tages würde er ein großer Krieger sein, dem Männer bereitwillig in die Schlacht folgten. Er würde die Erzfeinde seines Clans, die Fahiddin Fahd, in die Knie zwingen, und sein Ruf würde sich in Alganda verbreiten. Und Mehadjie … Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Wenn sie erst seine Tapferkeit erkannte, würde sie ihm öfter diesen besonderen Blick schenken, nur ihm.

Wieder verspürte er einen kribbelnden Hunger in seinem Magen. Und mit dem Hunger kam etwas Neues.

Es begann mit einem Schwindelgefühl. Das beunruhigte ihn nicht sonderlich, Schwindelgefühle waren alltäglich, seit sein Körper angefangen hatte, eigene Wege zu gehen. Jarik begegnete diesem Problem, indem er die Augen schloss und seine Füße auswärts drehte, um einen festen Stand zu haben. Normalerweise brauchte er nur ein paar Atemzüge lang so stehenzubleiben, und das Schwindelgefühl verschwand.

Diesmal jedoch war es anders. Etwas stahl sich in seine Tagträume, etwas Ungewohntes, etwas, das juckte und zwickte und dafür sorgte, dass er sich unbehaglich fühlte. Ihm war, als ob ihn jemand riefe, nicht aus dem Zeltlager, sondern von weit her. Jarik hob den Kopf und lauschte. Der Schlag seines Herzens dröhnte mit einem Mal laut in seinen Ohren. Es roch nach Ingwer. Lichtreflexe blitzten hinter den geschlossenen Lidern, und dann geschah irgendetwas mit seinen Augen, das bewirkte, dass er alles überdeutlich wahrnahm: das Fell der Schafe, die Grasbüschel, jedes einzelne Sandkorn der Dünen. Der Geschmack von Metall drohte, ihn zu überwältigen.

In seinem Herzen gab es eine Kammer, in der Jarik all das vor anderen Menschen verbarg, was er schützen wollte. Und in dieser Kammer bewegte sich etwas, ein Druck, der sich aufbaute und stärker wurde. Plötzlich schien sich der Raum um ihn herum auszudehnen, und Jarik hatte das Gefühl, an mehreren Orten zugleich zu sein. Er nahm den festen Boden unter seinen Füßen und die Wärme des Schafes wahr, das neben ihm Gräser rupfte, gleichzeitig spürte er das Brennen scharf eingesogenen Atems in seiner Kehle, während er mit anderen Jungen einen Hügel hinaufrannte.

Die Bilder zerplatzten wie eine Wasserblase. Jarik taumelte, als wäre er geschlagen worden. Es kostete ihn Anstrengung, auf den Füßen zu bleiben. Der Geschmack von Metall war ekelerregend intensiv, und seine Zunge fühlte sich pelzig an. Aber die laufenden Jungen, das Schnaufen, der Ingwergeruch, alles war verschwunden. Nur ein flaues Gefühl blieb zurück.

Ein Instinkt veranlasste ihn, sich dem Gipfel des nächstgelegenen Hügels zuzuwenden. Die Schafe weideten friedlich. Die Äste einer Dornakazie bewegten sich im Wind. Alles war, wie es sein sollte. Doch eine unbestimmte Gewissheit, die er nicht zu erklären vermocht hätte, ließ ihn ausharren.

Zehn Herzschläge verstrichen, zwölf. Jarik stand unbeweglich, die Augen unverwandt auf eine bestimmte Stelle gerichtet, an der plötzlich Köpfe auftauchten: Faysal, Kabajic, Capoc. Sie schienen enttäuscht, dass er sie erwartete. Langsam schlenderten sie näher, grinsend, sich Blicke zuwerfend, die zugleich verstohlen und offensichtlich waren. Das flaue Gefühl in Jariks Magen wurde stärker. Er hasste es, wenn andere Kinder einander Zeichen gaben, die er nicht verstand. Geheime Scherze, in die alle eingeweiht schienen außer ihm.

»He, Jarik, willst du immer noch zu unserer Bande gehören?«

Etwas an der Haltung der Jungen warnte ihn. Aber seine Sehnsucht war größer als seine Vorsicht, also nickte er.

»Wir haben beschlossen, dir eine Chance zu geben. Eine Mutprobe.«

»Was muss ich tun?«

»Komm mit!«

»Ich darf die Schafe nicht allein lassen.«

»Nur hinter den Hügel.«

Unschlüssig trat Jarik von einem Bein aufs andere, aber dann folgte er ihnen doch zur anderen Seite des Hügels, wo sie an einer Öffnung im Sand stehen blieben.

»Wetten, du traust dich nicht, deine Hand in das Loch zu stecken?«

Jarik sah die Jungen an und suchte in ihren Gesichtern nach einem Hinweis, dass alles nur ein Scherz war. Der Algandaskorpion konnte die Größe eines Unterarms erreichen. Tagsüber, wenn die Sonne brütete, verkroch er sich in seinem Bau, und ein Stich seines giftigen Stachels war tödlich.

»Hab‘ ich’s doch gewusst«, sagte Faysal. »Er hat Schiss.«

Vor seinem Halbbruder als Feigling dazustehen, war für Jarik so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. »Nein«, sagte er zögernd, »ich mach’s.«

Seine Fingerspitzen kribbelten, als er seine Hand auf die Grube zuschob. Er ignorierte die Stimme in seinem Inneren, die ihm zuschrie, dass er im Begriff war, eine Dummheit zu begehen. Die Vorstellung, wie die anderen Jungen ihm respektvoll auf die Schultern klopften, erstickte jede Vernunft.

Seine Finger verschwanden in der Dunkelheit des Lochs.

»Bis zum Ellbogen«, forderte Kabajic.

Stück für Stück schob Jarik seine Hand hinein und versuchte dabei, die Ränder der Höhle nicht zu berühren. Algandaskorpione reagierten auf Erschütterungen. Jarik wagte nicht zu atmen. Geschichten fielen ihm ein, von Menschen, die nach einem Skorpionstich unter Krämpfen gestorben waren.

»Weiter!«

Obwohl er zitterte, gehorchte Jarik.

Plötzlich bewegte sich etwas in der Höhle und berührte seine Fingerspitzen. Mit einem Schrei riss er die Hand zurück. »Er hat mich gestochen!«, schrie er. »Er hat mich gestochen!«

Die Jungen wieherten und wälzten sich im Sand und wollten sich ausschütten vor Lachen.

»Habt ihr gehört, wie er geschrien hat?«

»Und sein Gesicht! Habt ihr sein Gesicht gesehen?«

»Er hat geglotzt wie ein Schaf.«

»Er wird seiner Herde immer ähnlicher.«

Die Jungen ahmten Meckern und Blöken nach. Dann griff Faysal in das Loch und zog ein gebundenes Kaninchen heraus, das sich vergeblich bemühte, seine Fesseln abzustreifen.

Gedemütigt, mit rotem Kopf drehte sich Jarik um und stapfte zu seiner Herde. Es gelang ihm nicht, die Tränen zurückzuhalten. Sie hatten mit ihm gespielt, weiter nichts. Er hätte es sich denken können. Wie hatte er nur glauben können, sie wollten ihn in ihre Gemeinschaft aufnehmen? Ausgerechnet ihn?

Die Jungen folgten ihm, blökend und gehässige Kommentare rufend. Dann fingen sie an zu laufen und zu kreischen und wild die Arme zu schwenken, mit der Folge, dass die erschreckten Schafe auseinandersprangen.

»Nein!«, schrie Jarik und versuchte, die Tiere festzuhalten, doch erreichte er damit nur, dass sie auch vor ihm Angst bekamen und noch schneller rannten.

Unter Johlen und Lachen scheuchten Faysal, Kabajic und Capoc die Herde in alle Himmelsrichtungen. Jarik stolperte hinterdrein und bekam doch kein einziges Schaf zu fassen. Faysal stellte ihm ein Bein. Jarik stürzte mit dem Gesicht in den Sand. Zorn und Schmerz kämpften um die Vorherrschaft, als er wieder hochkam.

»Oh, das tut mir aber leid«, sagte Faysal. »Hast du dir wehgetan?«

Die anderen quittierten seine Bemerkung mit Gelächter.

»Ich glaube, die Schafe sind dir durchgegangen. Sieht aus, als wärst du nicht mal zum Schafehüten gut. Man sollte Bastarden eben nichts anvertrauen.«

Mit geballten Fäusten starrte Jarik auf die Übermacht.

»Wie war doch gleich dein Name?«

Wieder grinsten die Jungen von einem Ohr zum anderen.

Jarik fühlte, wie seine Ohren rot wurden, und das verdoppelte seinen Grimm. Unbeherrscht stürzte er auf Faysal los, der ihm auswich und ihn auf Kabajic zuschubste. Der stieß ihn zurück, und so ging es hin und her, ohne dass es Jarik gelang, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, bis er erneut stürzte.

»Erinnert ihr euch an seinen Namen?«, fragte Faysal.

Capoc schüttelte den Kopf. »Bastarde haben keinen Namen.«

»Genau. Schließlich weiß man nicht, was für eine Kreatur ihn gezeugt hat. Soweit man sehen kann, könnte es ebenso gut eine Hyäne gewesen sein, und wer weiß schon, was die für Namen tragen.«

Die Beleidigung brannte wie Feuer. Hasserfüllt stürzte sich Jarik auf seinen Halbbruder. Aber Faysal war beinahe ein Jahr älter und einen Kopf größer als er, außerdem hatte er auf den Angriff gewartet. Jarik lief ihm genau in die Faust. Seine Lippe platzte auf, er schmeckte Blut. Doch er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, denn schon waren die anderen über ihm, um ebenfalls ihren Spaß zu haben. Blind vor Wut und Schmerz trat und drosch er um sich, ohne auch nur zu versuchen, den Schlägen, die auf ihn niederprasselten, auszuweichen.

»Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Faysal. »Neigt euer Haupt, vor euch kriecht Jarik Nada Panja Rajaz!«

Die Jungen brüllten vor Lachen.

Jarik spuckte den Sand aus, der ihm in den Mund geraten war, und versuchte mit aller Gewalt, die Tränen zurückzuhalten.

Demonstrativ gab Faysal eine Gasse frei. »Ich glaube, du solltest zusehen, dass du deine Schafe wiederfindest.«

Jariks Lippen zitterten, doch dann wandte er sich ab und stapfte den Hügel hinauf.

Die Jungen blökten ihm nach, machten es sich unter dem Baum bequem und sahen zu, wie er sich abmühte, die Schafe zusammenzutreiben.

Es war spät, als Jarik ins Dorf zurückkam. Vor dem Zelt, das aufgrund seiner Größe und Lage schon von Weitem als das des Anführers zu erkennen war, blieb er stehen, um das Unvermeidliche hinauszuzögern, sah dann aber ein, dass es ihm nichts einbrachte, und so schob er den Eingangsvorhang beiseite.

Faysal, der sich auf einem der Teppiche herumflegelte und gesüßte Kamelmilch trank, feixte. Jarik kniff die Lippen zusammen und sagte nichts. Ein rascher Blick überzeugte ihn davon, dass augenblicklich keine Frau das Zelt mit seinem Stiefvater teilte, der an einen Kamelsattel gelehnt am Feuer saß und Kaffeebohnen röstete. Rurik war der shejd, der Anführer des Clans. Wie die meisten shejds trug er als Zeichen seiner Würde einen sorgfältig gestutzten Bart und ein reich besticktes leinenes Hemd. Der Burnus dagegen war schlicht wie der eines gewöhnlichen Kriegers.

»Wo hast du dich herumgetrieben?«

Jarik presste seine Lippen zusammen. »Ich musste die Schafe einfangen.«

»Hast mal wieder nicht aufgepasst, was?«

»Faysal hat –«

Rurik sprang auf und gab ihm eine Ohrfeige. »Das sieht dir ähnlich, die Schuld an deinem Versagen einem anderen zuzuschreiben! Du bist durch und durch verdorben, wie deine Schlampe von Mutter.«

Eine Kränkung tat nicht weniger weh, nur weil sie einem schon tausend Mal zugefügt worden war. In Jariks Herzen brannten unzählige Erwiderungen, aber er behielt sie wohlweislich für sich.

»Starr mich nicht so an mit deinen missgestalteten Augen!«

Jarik senkte die Lider und bemühte sich, das Zittern seines Körpers unter Kontrolle zu bekommen.

»Du wirst dich bei Faysal entschuldigen!«

Er schüttelte den Kopf. Diesmal riss ihn die Ohrfeige von den Beinen, und er fand sich im Staub vor dem Feuer wieder.

»Wag es nicht noch einmal, mir zu widersprechen! Du entschuldigst dich bei Faysal. Sofort!«

Jarik blieb stumm. Sein Stiefvater zerrte ihn hoch und prügelte auf ihn ein. Jarik versuchte, sein Gesicht mit den Händen zu schützen.

»Verstockter kleiner Bastard! Das ist der Dank, dass ich einen Nichtsnutz wie dich aufgenommen habe, ein Nichts, einen Nada!«

Blut schoss aus Jariks Nase. Er konnte ein Wimmern nicht verhindern, obgleich er sich dafür hasste.

»Ich werde dich Ehrfurcht und Dankbarkeit lehren!«, tobte Rurik, ohne das Trommelfeuer seiner Schläge zu unterbrechen. Erst, als er außer Atem war, ließ er von seinem Stiefsohn ab. »Jammerlappen! Da verrät sich das schlechte Blut. Steh auf!«

Gehorsam erhob sich Jarik. Sein rechtes Auge brannte, und eine Rippe schmerzte bei jeder Bewegung. Verstohlen betastete er die Stelle, um zu fühlen, ob etwas gebrochen war. Es schien alles heil. Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut aus dem Gesicht.

»Dein Vater war ein sippenloser Taugenichts, und du kommst ganz nach ihm«, sagte Rurik. Er unterstrich die Worte mit einer herrischen Geste seines Zeigefingers, eine Marotte, die Jarik schon immer verabscheut hatte. »Nicht einmal Schafe kann man dir anvertrauen! Wenn du mich je wieder anlügst, werde ich dich so lange verprügeln, bis ich dir deinen Eigensinn ausgetrieben habe.«

Jarik ließ zu, dass der Hass auf seinen Stiefvater in seinen Augen loderte. Ein Fehler.

Wieder schlug Rurik zu, hart und präzise. »Wag es nicht noch einmal, mich so anzusehen!«

Jarik kämpfte gegen seine Gefühle an, doch die Flamme in seinen Pupillen brannte nur umso heller. Also tat er das einzig Vernünftige und schlug die Augen nieder. Er wollte nicht so vor diesem Mann stehen: blutend, zitternd, tränenüberströmt, er hasste seinen Körper, der Schwäche verriet. Also würgte er seinen Hass, seinen Schmerz, seine Furcht hinunter, bis er nicht länger bei jedem Atemzug röchelte. Nur das Zittern bekam er nicht unter Kontrolle.

Mit festem Griff schob Rurik ihn auf Faysal zu. »Wir warten auf deine Entschuldigung.«

Jarik hätte es getan. Stolz brachte nichts ein, und er kannte seinen Stiefvater gut genug, um zu wissen, dass der ihm das Leben vergällen würde, wenn er jetzt nicht nachgab. Aus diesem Grund vergrub er seine Gefühle in der Kammer in seinem Herzen und den hinter dem Rücken geballten Fäusten und war bereit, das elende Wort auszusprechen. Aber dann begegnete er Faysals Blick, und von diesem Moment an hätte ihn nichts, keine Drohung, keine Prügel dazu gebracht, sich zu entschuldigen. Stattdessen drehte er sich um, riss den Vorhang beiseite und rannte hinaus.

»Deinen Trotz werde ich schon noch brechen!«, brüllte Rurik hinter ihm her. »Komm du nur wieder heim!«

Jarik rannte und rannte, ohne zu sehen, wohin er lief. Er schniefte, aber es kümmerte ihn nicht. Er würde ohne Essen bleiben, aber auch das kümmerte ihn nicht. Erst, als er am Wasserloch ankam, merkte er, dass er zu seinem geheimen Ort gelaufen war, an den er sich zurückzog, wenn er nicht gefunden werden wollte. Es war nicht das große Wasserloch, an dem der Clan und die Kamele ihren Durst stillten, sondern ein kleineres, abseits gelegenes, das er beim Schafehüten entdeckt hatte. Kaum mehr als eine brackige Pfütze, an dessen Rand ein verkrüppelter, halb verdorrter Busch wuchs. Jarik liebte diesen Busch. Er hätte nicht zu sagen vermocht weshalb, aber er liebte ihn. Seine Finger berührten die dornigen Zweige. »Wasser und Schatten!«, grüßte er mit erstickter Stimme.

Er formte seine Hände zu einer Schale, füllte sie mit schlammigem Wasser und tauchte sein Gesicht hinein. Brennender Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Vorsichtig wischte er das Blut von Nase und Lippen.

Das letzte Sonnenlicht reichte aus, um sich im Spiegelbild des Wassers zu betrachten. Was er sah, machte ihn nicht glücklich. Er sah ein hässliches, von Blutergüssen entstelltes Gesicht. Er sah zwei missgebildete Augen. Er sah einen Jungen, der sich duckte und versteckte. Er sah einen Nada, einen Niemand. So sagten sie alle. So hieß es in seinem Namen an jener Stelle, an der im Namen eines badija, eines Wüstenbewohners, normalerweise ein stolzes Geschlecht genannt wurde. Jarik Nada Panja Rajaz. Jarik, der Sippenlose aus dem Dorf Panja vom Stamme der Rajaz. Faysal und Rurik trugen den Namen der Baraman, eines Geschlechtes, dem schon viele Clanführer entsprungen waren. Mehadjie war stolz darauf, eine Summur zu sein. Er war nur ein Nada. Sie würde ihm nie auch nur einen Blick schenken.

Er ließ den Kopf hängen und gab sich dem Selbstmitleid hin. Jedes Kind des Clans erhielt bei seiner Geburt ein Namensgeschenk, eine Tätowierung auf dem rechten Oberarm, in die alle guten Wünsche der Sippe einflossen. Mehadjies Tätowierung besaß die Form einer Ähre, Symbol der Fruchtbarkeit. Auf Ruriks Arm prangte ein Auge zum Schutz vor dem bösen Blick. Faysals Arm zierte die Klaue eines Rochs. Jarik starrte auf die leere Stelle auf seinem Oberarm. Er hatte nie ein Namensgeschenk bekommen. Ein Niemand besaß keine Bindung. Selbst zu seinem Clan stand er nur in einem losen Beziehungsgeflecht. Er war geduldet, mehr nicht.

In dem vom Schlamm gefärbten Wasser konnte man beinahe glauben, seine Augen besäßen die gleiche Farbe. Aber das linke Auge war deutlich heller als das rechte. Jarik starrte es verbittert an. Er war anders. Alle sagten es. Er wollte nicht anders sein. Er wollte sein wie sie, mit ihnen lachen und Geheimnisse teilen und Blicke tauschen, die eine Welt bedeuteten.

Wütend ließ er seine Hand in die Pfütze klatschen, um das Spiegelbild auszulöschen. Nein, er wollte keiner von ihnen sein! Keiner dieser Angeber, die nichts verstanden, nichts von dem überwältigenden Gefühl, das einen erfüllte, wenn der Wind über die Dünen strich oder ein Wasserguss die Wüste in ein Blütenmeer verwandelte, nichts von dem süßen Geheimnis, das in den Schleifen eines Schriftzuges verborgen lag. Sollten sie doch alle die ghilan holen!

Die Oberfläche des Wassers kräuselte sich und beruhigte sich wieder. Sie zeigte immer noch dasselbe Gesicht. Jarik versuchte, es als etwas Abstraktes zu sehen, einen eiförmigen Körper, etwas, das nicht wirklich zu ihm gehörte, aber es misslang. Wie gern wäre er jemand anderes! Ein shejd, der seinen Clan zu Ruhm und Ehre führte, dessen Namen sich die badija mit Ehrfurcht zuraunten!

Manchmal träumte er von seinem richtigen Vater. In diesem Traum war der kein Sippenloser, sondern ein mächtiger shejd, der unter der Maske eines Herumtreibers lebte, um seine Feinde auszukundschaften. Jarik wusste nichts von ihm, außer dass er der Schlangenmann genannt wurde, wegen einer Tätowierung auf seinem Rücken. Rurik erging sich gelegentlich in dunklen Andeutungen, aber er nannte nie einen Namen.

Jarik vergrub seinen Kopf in den Händen, weigerte sich jedoch zu weinen. Wieder sah er Faysals triumphierenden Blick vor sich und beschloss, nie mehr zu weinen. Es mochte ihm nichts anderes übrig bleiben, als in das verhasste Zelt zu diesen verhassten Menschen zurückzukehren, weil es sonst keinen Ort gab, an den er gehen konnte. Es mochte ihm nichts anderes übrig bleiben, als Faysals Spott und Ruriks Schläge zu erdulden und die Augen gesenkt zu halten. Aber nie, nie wieder würde einer von ihnen zu sehen bekommen, wie er einen Laut des Schmerzes von sich gab, das schwor er sich. Er würde ihnen zeigen, wozu er fähig war! Die Position eines shejd würde ihm aufgrund seiner Abkunft verwehrt bleiben. Aber niemand konnte ihn daran hindern, der tapferste Krieger des Clans zu werden, ein Mann, dessen Name nur geflüstert ausgesprochen wurde. Und niemand konnte ihn daran hindern, um Mehadjie zu werben.

2

Als Jarik am nächsten Morgen die Schafe zusammentrieb, hatte sich seine Stimmung nicht gebessert, aber er war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Rurik hatte ihm zur Strafe für sein Verhalten jede Menge Arbeit in Aussicht gestellt. »Wollen doch mal sehen, wer den längeren Atem hat.« Es hätte schlimmer kommen können, fand Jarik.

Blökend trotteten die Schafe durch das Dorf. Die Zelte waren mit Reif bedeckt, der in der Morgensonne glitzerte. Mit dem hakenförmigen Ende seines Schäferstabes fing Jarik ein paar widerspenstige Tiere ein, die aus der Herde auszubrechen drohten. Es würde ein arbeitsreicher Tag werden. Jarik war gezwungen, immer größere Kreise zu ziehen, um Gras für die Schafe zu finden. Die Wasserlöcher reichten kaum aus, den Durst des Clans zu stillen. Bald schon wurde es Zeit für die alljährliche Wanderung nach Südwesten zu den Brunnen der Sommerweiden. Regen erreichte Alganda nur in den Herbstmonaten, den Rest des Jahres blieb es trocken. Die heiße Luft des Landes wies den Regen ab, und die vier Gebirgsgruppen, die Jariks Heimat einschlossen, standen den Wolken vom Meer im Weg. Außerdem kühlten die kalten Strömungen entlang der Küsten die Meereswinde ab, die somit kaum Feuchtigkeit aufnehmen konnten. Das behauptete jedenfalls der alte Yábe, der Geschichtenerzähler des Clans.

Als Jarik am Wasserloch vorüber kam, entdeckte er Mehadjie. Mit einer Handmühle aus zwei flachen runden Steinen, die von einem Holzzapfen in Position gehalten wurden, stellte sie Mehl her. Jarik blieb stehen und sah ihr aus der Ferne zu, wie sie Korn in das Loch in der Mitte der Steine schüttete und anschließend den oberen Stein gegen den unteren drehte. Das grobe Mehl rann an der Außenseite herunter und wurde von einem Tuch aufgefangen. Wie alles verrichtete Mehadjie auch diese Arbeit mit Anmut. Wenn sie sich zwischendurch aufrichtete, konnte Jarik die Linie ihres Rückens bewundern, den sie durchbog wie eine gespannte Bogensaite, und den stolz zurückgeworfenen Kopf. Ihr Körper war zugleich Melodie und Herausforderung. Für einen Augenblick fühlte er sich versucht, hinüberzugehen und ihr seine Hilfe anzubieten, aber dann ließ er den Kopf hängen. Er würde es nie wagen, das Wort an sie zu richten. Sie war das schönste Mädchen im Dorf und er nur ein Niemand.

Wieder erwachte ein Hunger in ihm, und sogleich fühlte er sich schwindlig. Seine Haut juckte, und da war die Stimme, die ihn zu rufen schien. Schwacher Ingwergeruch stieg ihm in die Nase. Es flimmerte an den Rändern seiner Augen. Unwillkürlich atmete er schneller, als er die ersten Anzeichen dafür wahrnahm, dass der Raum um ihn herum im Begriff war, sich auszudehnen. Vielleicht war es das Entsetzen, vielleicht der schnelle Atem oder die Ablenkung, jedenfalls verschwanden die Empfindungen, und das Trugbild verblasste, noch bevor es sich aufbauen konnte.

Jarik stützte sich auf seinen Hirtenstab, bis das Schwindelgefühl und der Metallgeschmack abebbten. Was war nur los mit ihm? Hatte Rurik recht, wenn er ihn als Missgeburt bezeichnete? War es das schlechte Blut? Kein anderer Junge schien mit Halluzinationen kämpfen zu müssen. Sein erstes Erlebnis hatte er als Zufall abgetan, eine vorübergehende Sinnestäuschung. Dass dieser Vorfall sich wiederholte, machte ihm Angst. Jarik zwang sich weiterzugehen, als ob alles in Ordnung wäre. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass jemand seinen Zustand bemerkte. Mit gesenkten Augen trottete er an Mehadjie vorüber.

Diesmal waren die Jungen zu sechst, und Jarik, den Kopf voll widersprüchlicher Gedanken, bemerkte sie erst, als Faysal ihm den Weg versperrte.

»Ich warte immer noch auf eine Entschuldigung, Nada!«

Jarik blieb stehen.

»Bist du taubstumm?«

Jarik schwieg.

»Die Blödheit ist ihm auf die Sprache geschlagen.«

Faysals Freunde lachten pflichtschuldig. Capoc stimmte ein Blöken an, in das alle einfielen.

Jarik dachte an den Eid, den er sich geschworen hatte. Er würde sich nicht provozieren lassen. Es waren nur Worte. Er stellte sich vor, wie sein Zorn durch die Poren seiner Haut strömte und von der Wüstenluft geschluckt wurde, bis er innerlich leer war. Er tastete nach der Leere, und sie war kühl und sicher und vollkommen und schenkte ihm ein Gefühl von Überlegenheit.

»Du hast es mir gegenüber an Respekt fehlen lassen.« Faysal ließ nicht locker.

Aus den Augenwinkeln nahm Jarik wahr, dass Mehadjie sie beobachtete, und war sich bewusst, was sie sehen musste. Sie würde die beiden Kontrahenten vergleichen und unweigerlich feststellen, dass Faysal schon richtige Muskeln besaß, dass er dabei war, alles Kindliche abzustreifen, dass er geschickter mit Worten umgehen konnte. Sie würde seine dunklen Augen bemerken, die so manches Mädchen zu einem verlegenen Kichern brachte. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, wer von ihnen beiden besser abschnitt. Jariks Ohren glühten. Er fand es unerträglich, dass Mehadjie Zeugin seiner Demütigung wurde.

»Seht mal, er wird rot!«

Der Zorn erreichte Jariks Augen.

Faysal brachte ihn mit einem Stoß vor die Brust zum Taumeln. »Wag es nicht, mich so anzusehen!«

Jarik stellte sich vor, wie die Leere seinen Bauch ausfüllte und dann die Kehle hinaufkroch bis in den Kopf. »Lass mich vorbei«, sagte er.

»Erst wirst du dich bei mir entschuldigen.«

»Die ghilan sollen dich holen.«

Die Halbbrüder taxierten sich und versuchten, sich gegenseitig mit Blicken niederzuringen. Ein paar Krieger wurden auf sie aufmerksam und schauten neugierig herüber, ohne eine Veranlassung zum Eingreifen zu sehen. Jarik entdeckte seinen Stiefvater unter ihnen, was seine Entschlossenheit verdoppelte.

Wie auf Kommando fingen Faysal und seine Freunde an, die Schafe auseinanderzujagen. Mit Geschrei scheuchten sie die Tiere hierhin und dorthin. Kabajic bewarf sie mit kleinen Steinen, Capoc riss seinen Turban vom Kopf und schwenkte ihn durch die Luft. Jarik versuchte gar nicht erst, sie aufzuhalten. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Er würde Stunden brauchen, um die verängstigten Tiere zusammenzutreiben. Sein einziger Trost war, dass sein Stiefvater alles mitansah. Diesmal konnte er nicht behaupten, Faysal sei unschuldig.

Als sich der Staub legte, kam Rurik zu ihnen herüber.

»Sie … sie haben die Schafe vertrieben«, stammelte Jarik.

»Verstehst du nicht mal einen kleinen Scherz?«, lachte sein Stiefvater und legte einen Arm um Faysals Schultern.

Gegen Mittag wurde die Hitze unerträglich. Die Schafe legten sich im Schatten der Felsen nieder, um zu dösen, und auch die Dorfbewohner hatten sich vor den sengenden Strahlen der Sonne verkrochen. Nur Jarik musste arbeiten. Zunächst brachte er einen guten Teil des Tages damit zu, schadhafte Stellen in Ruriks Zeltdach auszubessern, eine Tätigkeit, die eigentlich Frauen vorbehalten war. Vermutlich sollte dies Teil der Bestrafung sein. Jarik trug es mit Fassung. Anschließend machte er sich daran, die handgewebten Decken und Teppiche zu säubern und die Messingbeschläge auf den drei großen Truhen, die Ruriks Besitz bargen, zu polieren. Wegen der drückenden Luft waren Rückwände und Eingangsvorhänge der Zelte aufgerollt, damit jeder noch so leichte Wind hindurch streichen konnte. Von der Feuerstelle drangen Stimmen herüber; Rurik mit seinem Sohn. Jarik konnte hören, wie er ihn milde ermahnte, die Schafe künftig in Ruhe zu lassen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Faysal andere Möglichkeiten finden würde, ihn zu schikanieren.

Später kam sein Halbbruder ins Zelt. Jarik nahm keine Notiz von ihm und putzte, als sei es die Erfüllung seines Lebens.

»Ich darf mit dem Schwert üben«, sagte Faysal. Er platze vor guter Laune. »Vater bringt mir ein paar Tricks bei.« Er kramte das Kurzschwert hervor, dem seit jeher seine Aufmerksamkeit gegolten hatte, zog es aus der Scheide und wog es in der Hand. Dann vollführte er zwei oder drei Drehbewegungen aus dem Handgelenk und schob die Klinge wieder in die Hülle zurück. Er machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu, blieb stehen und beobachtete Jarik bei der Arbeit. »Du bist aber auch zu blöd«, sagte er. »Warum machst du dir das Leben schwer?«

Jarik widmete sich einem Messingbeschlag, der längst funkelte wie ein Edelstein.

»Was bedeutet schon ein Wort? Du weißt, dass du es nicht ehrlich meinst, wenn du dich entschuldigst, und ich weiß es auch. Also kannst du es ebenso gut aussprechen.« Er kam näher und stellte sich so hin, dass es für Jarik nicht länger möglich war, ihn zu ignorieren. »Wenn ich du wäre, würde ich einfach sagen, was Vater hören will, und mir meinen Teil denken. Du könntest sogar versuchen, dich heimlich an mir zu rächen.« Er grinste. »Nicht, dass du dir allzu viele Chancen dabei ausrechnen solltest. Aber ein Versuch wäre es wert. Denk mal darüber nach.« Mit einem Pfeifen auf den Lippen ging er hinaus.

Jarik sah ihm nach, zu verblüfft, um zu reagieren. Dann zuckte er die Achseln, legte die Putzlappen beiseite und trug die Truhen an ihren Platz zurück. Er gab sich Mühe, alles ordentlich zu machen, obwohl es keine Rolle spielte, weil es ohnehin unmöglich war, seinen Stiefvater zufriedenzustellen. Als nächstes reinigte er das Kaffeegeschirr, die Kanne mit dem langen Griff, das Tablett, die Zuckerdose und die Tassen aus Messingblech mit Sand. Auch diese Arbeit wäre eigentlich Frauensache gewesen. Aber seit Jariks Mutter tot war, hatte Rurik sich nicht wieder vermählt. Frauen kamen und gingen, blieben jedoch nie länger als ein paar Monate. Jarik fragte sich, wann sich sein Stiefvater wieder eine Frau ins Zelt holen würde. In der Regel bedeutete das nicht weniger, sondern mehr Arbeit für ihn, denn die Frauen genossen die Macht, die ihnen dadurch zufiel, und dachten sich eine Reihe von Privilegien aus, auf die sie plötzlich einen Anspruch zu haben meinten.

Jarik hatte nur verschwommene Erinnerungen an seine Mutter. Sie war drei Jahre nach seiner Geburt gestorben, und er argwöhnte, dass Gram die Ursache gewesen war, wenngleich in der Öffentlichkeit immer von einer tückischen Krankheit gesprochen wurde. Wenn überhaupt von ihr gesprochen wurde, was grundsätzlich nur in Ruriks Abwesenheit und geflüsterter Lautstärke geschah. Die Frau des shejd wurde totgeschwiegen wie eine Aussätzige. Jacintha hatte sie geheißen. Manchmal, wenn Jarik nachts im Freien unter den Sternen schlief, hörte er den Wind ihren Namen flüstern. Dann träumte er von ihr und seinem wahren Vater. Er konnte sich nicht erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Das Einzige, woran er sich erinnerte, waren nachtschwarze Haare, die sich über ihn beugten, und eine warme Stimme, die ihm Lieder vorsang und die Geschichte vom Prinzen und dem roten Drachen erzählte. Spürst du die Wolken? Spürst du den Wind? So begann der Gesang des roten Drachen.

Die Veränderung fiel ihm zunächst nicht auf, vielleicht, weil er keinerlei Schwindelgefühl verspürte und der Geruch nach Ingwer nur fein wahrnehmbar war, kaum mehr als ein Hauch. Erst, als sich der Raum um ihn herum erweiterte und eine Gänsehaut seine Arme überzog, wurde er darauf aufmerksam. Mit einem Mal sah er sich selbst vom offenen Zelteingang her durch die Augen seines Stiefvaters. Instinktiv spürte Jarik, dass er nicht zeigen durfte, dass er von Ruriks Anwesenheit wusste. Nicht umdrehen! Wie im Traum setzte er seine Arbeit fort und spielte Ich-benehme-mich-natürlich.

Eine Woge verworrener Gefühle überspülte ihn, und es waren nicht seine eigenen. Warten. Warten auf etwas, das das Finstere befreit. Mechanisch arbeiteten Jariks Hände, während er versuchte, die Eindrücke zu entwirren. Der Raum dehnte sich weiter aus und weiter, wie eine Wasserblase an der Grenze der Belastbarkeit. Da war ein Hunger, seinem nicht unähnlich und doch anders. Gieriger. Dunkler.

Ein unscharfes Bild formte sich in seinem Kopf; er sah sich selbst, wie er Ruriks Krummsäbel in die Hand nahm und zu Boden fallen ließ. Wie in Trance griff er nach der Waffe und hielt sie hoch, als wollte er sie bewundern, obwohl er doch nichts sah, obwohl seine Augen in einen anderen Raum blickten, wo es nur Hitze und säuerlichen Geschmack gab und eine abgrundtiefe Schwärze, die ihm Angst einflößte. Und weil die Erwartung der fremden Präsenz in seinem Kopf so zwingend war, ließ er die Waffe fallen.

»Ich wusste es!«, schrie sein Stiefvater. »Du nichtsnutziger Bastard, habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Säbel nicht anfassen?«

Jarik drehte sich schon um, bevor die Worte Ruriks Kehle verließen, denn er hörte sie einen Herzschlag früher aus dem erweiterten Raum in seinem Inneren. Es überraschte ihn nicht, als Fausthiebe sein Gesicht zur Seite rissen. Eher überraschte ihn, dass inmitten des fremden Hungers Schmerz, Hass und Befriedigung eins waren, und er verstand, dass er in einer verqueren Weise das Richtige getan hatte, indem er etwas falsch machte.

Und noch etwas verstand er: dass es schlimmer werden würde, wenn er zurückwich. Denn sobald er das tat, brach das Finstere hervor wie Lava aus einem Vulkan. Deshalb blieb Jarik stehen, schloss sich in der Kammer in seinem Herzen ein und ließ sich verprügeln. Der metallische Geschmack in seinem Mund trat in den Hintergrund, stattdessen schmeckte er Blut. Sein Stiefvater brüllte, und Jarik war die Finsternis in ihm und gleichzeitig er selbst, er fühlte Schmerz, Verachtung und das Verlangen, bestrafen zu müssen, bis das Verdorbene in ihm ausgemerzt war.

Jarik öffnete die Augen, ohne etwas anderes zu erkennen als rote Flecken, und eine Stimme kreischte: »Sieh mich nicht so an!« Dann explodierte eine Sonne in seinem Kopf, und er brach zusammen. Erst da riss die Verbin­dung ab, gewaltsam, wie immer.

3

Zu Beginn des Sommers, im Orangemonat des Jahres 2624 nach Golk, kam Mendur Aziz Fahiddin Fahd, der shejd ihrer Erzfeinde, nach Panja, um Friedensverhandlungen zu führen, ehe sämtliche badija Algandas zu den Sommerlagern aufbrachen. Der Ursprung der Streitigkeiten zwischen ihren Clans verlor sich in den Weiten der Zeit und rührte angeblich aus den Tagen, in denen der Prophet Golk durch Alganda gezogen war, um Krieger im Kampf gegen die Menehuacaner um sich zu scharen. Dieses Jahr hatte die Fehde besonders viele Opfer gefordert. Mendur, der Sieger der letzten beiden Schlachten, forderte Blutgeld für seine getöteten Krieger. Die Panja Rajaz schäumten vor Wut, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als um Entschädigung zu feilschen, denn sie waren den Fahiddin Fahd zahlenmäßig unterlegen. Und niemand, der noch bei Verstand war, kämpfte während der Wanderungen zu den wenigen Brunnen, die im Sommer nicht versiegten.

Jarik war von seinen Pflichten als Schafhirte entbunden worden, um die Kamele der Feinde zu versorgen. Es war als subtile Beleidigung gedacht, sowohl für die Gäste als auch für ihn. Es gelang ihm, eine gleichmütige Haltung einzunehmen und das Grinsen der Gleichaltrigen zu ignorieren, während er hinter den Ältesten des Clans die herannahende Abordnung erwartete. Niemand verrichtete gern niedere Dienste für einen Gegner, den man verachtete. Aber Jarik hatte hart an sich gearbeitet, und wenn er auch weit davon entfernt war, seinen Zorn zu beherrschen, so konnte er doch wenigstens ein gleichmütiges Gesicht machen und gelegentlich die beruhigende Leere in sich herbeirufen.

Fünf Männer und eine Frau waren es, die sich dem Zeltdorf näherten. Auch ohne den kostbaren Gürtel war der vorderste Reiter auf den ersten Blick als Anführer zu erkennen. Das lag nicht nur an Mendurs stattlicher Erscheinung. Jarik brauchte eine Weile, bis er herausfand, was den Mann so beeindruckend machte: Es war das Fehlen jeder überflüssigen Bewegung. Mendur schien genau zu wissen, was er wollte; jeder Blick, jede Geste saß am richtigen Platz.

Vor der kleinen Gruppe, die sie empfing, zügelten die Fahiddin Fahd ihre Kamele und sprangen herunter, ohne abzuwarten bis ihre Reittiere sich niederlegten. Mendur entbot den Panja Rajaz den Nomadengruß. »Wasser und Schatten«, sagte er, legte seine rechte Hand aufs Herz und verneigte sich.

»Wasser und Schatten«, erwiderte Rurik. Seine Verbeugung fiel beleidigend knapp aus. Erst recht für jemanden in der Position des Verlierers.

Einer der Neuankömmlinge schnaubte verärgert und drängte mit zusammengekniffenen Lippen an die Seite seines shejd, ohne dass dieser ihn auf seinen Platz verwies. Den fingerbreiten Kupferarmbändern nach, die er an den Handgelenken trug, handelte es sich um einen von Mendurs Unterführern, einen khanoum. Wie Jarik im Laufe der Begrüßung erfuhr, wurde er Sardyk genannt, Sardyk Kesal Fahiddin Fahd. Sein Kopf war bis auf einen langen Zopf, der ihm in den Nacken fiel, kahl geschoren. Das nervöse Zucken seiner Gesichtsmuskeln und die finsteren Augen, mit denen er die Panja Rajaz durchbohrte, ließen vermuten, dass er kein umgänglicher Mann war.

Wenn sich die Nomadenstämme Algandas auch hinsichtlich ihrer Sitten und Gebräuche glichen, so gab es doch Unterschiede zwischen ihnen. Beispielsweise tätowierten sich die Fahd ihr Namensgeschenk auf die Wange statt auf den Arm. Sardyks Tätowierung stellte einen Blitz dar, Mendurs einen Fisch, ein ungewöhnliches Bild für einen badija. Jarik hatte noch nie einen echten Fisch gesehen, aber er kannte natürlich Bilder und die Beschreibungen durchziehender Händler. Der Griff des Dolches, den der shejd im Gürtel trug, war ebenfalls wie ein Fisch geformt.

Jarik trat vor, um die Kamele in Empfang zu nehmen. Achtlos warf ihm Sardyk den Zügel zu, noch vor seinem shejd, und auch diesmal ließ Mendur die Verletzung der Regeln durchgehen. Er war der Einzige, der Jarik ansah, als er ihm sein Kamel übergab. Es war nur ein flüchtiger Blick, und doch gewann Jarik den Eindruck, dass Mendur in dieser kurzen Zeitspanne alles an ihm registrierte, die schäbige Kleidung, die Blutergüsse, die abnormen Augen und den Blick darin.

»Trinkt mein Wasser, esst mein Brot, schlaft in meinem Zelt«, sagte Rurik mit Verspätung und forderte die Gäste mit einer gebieterischen Geste seines Zeigefingers auf, sich nach drinnen zu begeben.

Die Unterhändler kamen der Aufforderung nach und setzten sich mit gekreuzten Beinen auf die Teppiche. Mehadjie und zwei weitere Mädchen reichten Erfrischungen. Jarik gefiel der Blick nicht, mit dem Sardyk Mehadjie ansah, ohne sich darum zu kümmern, dass sie an seiner unverhohlenen Aufmerksamkeit Anstoß nahm. Jede Form von Höflichkeit schien ihm fremd zu sein. Oder aber er versuchte, seine Gastgeber zu provozieren.

Der Vorhang fiel vor die Eingangsöffnung, und Jarik blieb nichts anderes übrig, als sich der ihm zugeteilten Aufgabe zu widmen und die Kamele zum Wasserloch zu führen. Mit Interesse nahm er die fremden Tiere in Augenschein. Es handelte sich um hochbeinige Kurzhaarkamele von edler Abstammung, schlank und ausdauernd. Ihre Fetthöcker bewiesen, dass sie gut genährt waren. Sein eigener Clan besaß nur wenige Tiere, die sich mit diesen messen konnten. Mendurs Kamel machte einen ungezähmten Eindruck. Der Amulettbehälter, den es um den Hals trug, zeigte wieder das Fischmotiv. Der Sattel war auffallend schlicht: zwei einfache, durch gekreuzte Hölzer miteinander verbundene Sattelbögen mit einer darüberliegenden Schaffelldecke. Wie es schien, legte Mendur keinen Wert auf Prunk. Gegen seinen Willen gefiel Jarik, was er über den shejd in Erfahrung brachte. Er versorgte die Kamele nach besten Kräften, ließ sie Salz lecken und achtete darauf, dass sie sich nicht aus Futterneid attackierten.

Natürlich schaute Faysal mit seinen Freunden vorbei. »Wie ich sehe, bist du aufgestiegen, vom Schafhüter zum Kamelhüter.«

Jarik hatte entschieden, dass sein Halbbruder eine Prüfung war, an der er seine Geduld messen sollte. Während er mit einem Striegel Schmutz und Kotstellen aus dem Fell der Tiere entfernte, setzte er seinen Ehrgeiz daran, einfach durch Faysal hindurchzusehen und jedes seiner Worte als Froschquaken zu interpretieren, was nicht ohne Reiz war.

»Ist das Kameldung, was du da wegwischst, oder dein eigener?«

Leere. Leere war mächtig.

»Pass auf, dass dir die Tiere nicht durchgehen wie deine Schafe.«

Es war langweilig, jemanden zu ärgern, der gegen Spott unempfindlich war, also zogen die Jungen bald wieder ab. Außerdem konnten sie nicht riskieren, im Beisein von Feinden, vor denen der Clan Einigkeit demonstrieren musste, einen Streit vom Zaun zu brechen. Es war kein Sieg, aber es half, Jariks Laune zu heben.

Den halben Nachmittag palaverten die Ältesten der Stämme miteinander, bis schließlich der Blutzoll festgelegt worden war. Endlich hatten sich die Männer und Frauen geeinigt. Jarik musste Mendur zum Weideplatz führen, wo er sich fünfundzwanzig Kamele aussuchen sollte. Da die Panja Rajaz gewusst hatten, dass sie um einen Tribut nicht herumkommen würden, waren die besten Tiere versteckt worden.

Mendur erschien allein, die anderen waren zurückgeblieben, um das Terrain der Sommerlager abzusprechen und sicherzustellen, dass sich die Clans auf dem Weg dorthin nicht ins Gehege kamen. Außerdem sollte damit demonstriert werden, dass der shejd bei der Auswahl des Blutgeldes freie Hand hatte. Er nahm seinen Überwurf ab und warf ihn Jarik zu. Der ballte die Fäuste, während er vor dem shejd herstapfte. Beladen wie ein Packesel! Diener eines Fahiddin! Faysal und seine Freunde sahen zu ihm herüber; er konnte sich vorstellen, wie sie über ihn lachten.

Sie erreichten das Wasserloch, das bis auf eine Pfütze ausgetrocknet war. Mendur blieb stehen, als er die Kamelherde zu Gesicht bekam. »Wenn alle eure Tiere so schäbig sind wie diese, hätten wir mehr verlangen sollen.«

Jarik biss die Zähne zusammen. Er würde seinem Clan keine Schande bereiten und die ihm übertragene Aufgabe zu Ende bringen, ohne den Gast zu beleidigen.

»Wie ist dein Name, Junge?«

Jarik erstickte fast an seiner Wut. Nicht einmal Rurik bezeichnete ihn noch als Jungen. »Jarik.«

»Jarik«, imitierte Mendur seinen Tonfall, »ist das alles?«

»Jarik Nada Panja Rajaz«, stieß Jarik zwischen den Zähnen hervor.

»Wie alt bist du – Junge?«

Es war klar, dass Mendur ihn vorsätzlich reizte. »Ich habe fast das waffenfähige Alter erreicht.«

»Warum hältst du dann deine Augen gesenkt? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«

Jarik blickte auf. In seinen Augen stand lodernder Hass.

»Ah, jetzt erkenne ich einen badija! Ich dachte schon, du wärst ein als Mensch verkleidetes Kaninchen.«

»Wollt Ihr mich herausfordern, Herr?«

Mendur betrachtete ihn in aller Ruhe. Jarik kam es vor, als würde er jeden Gesichtsmuskel, jede Pore seiner Haut studieren, um sich ein genaues Bild zu machen. Jariks Wut wurde zu Unsicherheit, Unsicherheit wieder zu Wut. Er war sich im Klaren darüber, dass der Widerstreit der Empfindungen für einen geübten Mann auf seinem Gesicht abzulesen sein musste.

»Du bist wütend, weil du mich herumführen musst.«

»Es ist eine Beleidigung. Für uns beide.«

Mendur lachte. »Du bist sehr direkt. Aber Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Ein kluger Mann weiß jeder Aufgabe etwas abzugewinnen.« Er ließ seinen forschenden Blick über den Weideplatz schweifen. »Und jetzt will ich wissen, wo die guten Kamele sind.«

Es erleichterte Jarik, dass Mendur den Betrug der Clanältesten durchschaute. Gleichzeitig erfüllte es ihn mit Scham. »Hinter der großen Düne.« Er bemerkte, dass er wieder seinen Blick gesenkt hatte. Trotzig warf er den Kopf in den Nacken und sah Mendur an. »Fünfzig Tiere. Ich würde die am Ohr gekennzeichneten nehmen, es sind die besten.«

»Du wirst dafür bestraft werden, dass du es mir verraten hast.«

Jarik schob seine Unterlippe vor. Was machte das schon! Er war froh, dass er keinen Anteil mehr am ehrlosen Verhalten der Ältesten hatte. Sogar, wenn es bedeutete, den eigenen Clan zu schwächen.

Mendur studierte sein Gesicht. »Saldy-akh, es sei! Such mir fünfundzwanzig von diesen Kamelen hier zusammen«, sagte er und nahm seinen Überwurf wieder an sich.

»Aber … es sind schlechte Kamele!«

Mendur antwortete nicht.

»Sie werden über Euch spotten, weil sie glauben, dass Ihr auf die Täuschung hereingefallen seid.«

»Suchst du sie mir jetzt zusammen, oder muss ich es selbst tun?«

Verständnislos machte sich Jarik an die Arbeit und gab sich Mühe, die besten unter den alten und schwachen Tieren auszuwählen.

Mendur beobachtete ihn dabei. »Du kennst dich mit Kamelen aus.«

Jarik zuckte die Achseln.

»Spott ist wie ein Messer, das an beiden Enden scharf ist«, meinte der shejd. »Die Fehleinschätzung eines dummen Mannes kann eine mächtige Waffe gegen ihn sein.« Mit einem Blick suchte er das beste unter den Kamelen heraus, ließ es niederknien und schwang sich auf seinen Rücken. Dann fiel ihm etwas ein, und er griff unter seinen Burnus. »Hier!«, sagte er und warf Jarik etwas zu.

Der fing es automatisch auf und betrachtete die bronzene Dose mit der Lederschnur in seiner Hand. »Was ist das?«

»Öffne es.«

Jarik suchte und fand schließlich einen Stift. Indem er diesen drückte, betätigte er eine Feder. Der Deckel sprang auf. Eine drehbare Kupferscheibe bedeckte den Boden der Dose, darauf war eine kunstvolle Abbildung ihrer Welt eingraviert. Alganda, Berion, Ellerin, Faluut, Beltar, Zanjinkaj, Menehuac – alle Sieben Königreiche waren vorhanden. Sogar Urth, das geheimnisvolle Land aus Feuer und Eis, das Land der Trolle und Zwerge. Auf einer Spitze, die aus der Mitte der Scheibe emporragte, befand sich ein frei beweglicher Kranz von vier mit einem Symbol versehenen Nadeln, die auf verschiedene Punkte der Abbildung deuteten. An diesen Stellen leuchtete ein weißer Punkt auf.

»Man nennt es Kompass. Es zeigt dir deine Position in der Welt, gleichgültig, wo du dich befindest.«

Jarik versuchte, das System zu durchschauen. »Dieser Pfeil hier zeigt auf Elleria, nicht wahr?«

Mendur nickte.

»Und die anderen Pfeile?«

»Golks Zuflucht, Jonkeng, und der vierte wandert umher.«

Jarik drehte sich einmal um seine eigene Achse. Die Scheibe drehte sich mit und die Zeiger wanderten ebenfalls, sodass sie immer in die gleiche Himmelsrichtung wiesen. »Das ist Magie! Wie funktioniert es?«

»Wie du sagst: Es ist Magie. Ich weiß es nicht. Aber es ist nützlich, um deinen Weg zu finden, wenn Landmarkierungen fehlen.«

Jarik betrachtete die Dose sehnsüchtig. Dann klappte er sie zu und hielt sie dem shejd hin. »Wir wollten Euch betrügen.«

»Behalte den Kompass. Er ist ohnehin kaputt. Die vierte Nadel funktioniert anscheinend nicht mehr richtig.«

»Ich kann Euer Geschenk nicht annehmen.«

»Bei Golks Nase, du bist der streitsüchtigste junge Mann, der mir seit Langem untergekommen ist. Gehörtest du zu meinem Clan, würde ich dich für deinen Ungehorsam verprügeln.«

»Versucht es!«, wetterte Jarik. Erst, als Mendur lachte, begriff er, dass der shejd ihn aufzog. Zögernd schloss er seine Hand um die Dose. »Danke.«

Mendur nickte knapp, ließ sein Kamel aufstehen und zog am Nasenseil, um es Richtung Zeltdorf zu lenken. Schweigend trotteten sie zurück, der shejd vorneweg, Jarik zu Fuß hinterher, die restlichen Tiere am Zügel mit sich führend.

Auf halbem Weg hielt Mendur an und wartete, bis er aufgeschlossen hatte. »Nicht zu einer Sippe von Krämerseelen zu gehören, ist eine Ehre und keine Schande«, sagte er. »Du solltest deinen Namen wie eine Auszeichnung tragen.«

Die Clanältesten beobachteten ihr Näherkommen. Jarik sah, dass sie ihren Triumph kaum verhehlen konnten. Aber als Einziger sah er auch, wie Sardyks Hand beim Anblick der Kamele zum Messer zuckte und Mendur seinen khanoum durch einen Blick stoppte.

»Ich sehe, Ihr habt eine gute Wahl getroffen«, sagte Rurik, und selbst für den dümmsten badija war der Hohn in seiner Stimme unüberhörbar. »Seid Ihr zufrieden?«

»Eure Kamele taugen ebensoviel wie Eure Krieger«, sagte Mendur. »Mir war nicht klar, was für ein armseliger Clan die Panja Rajaz sind. Ich werde mich mit diesen fünf Kamelen hier begnügen, den Rest schenke ich Euch.«

Das Grinsen erstarb auf Ruriks Gesicht. Er wollte etwas erwidern und durfte sich doch keine Blöße geben.

Jariks Herz hüpfte. Er fing an zu begreifen, dass man eine Beleidigung in ihr Gegenteil verkehren konnte, wenn man es richtig anstellte.

Ohne eine Antwort abzuwarten, schwang sich Mendur auf sein eigenes Kamel. Sardyk tat es ihm gleich, obwohl er immer noch kochte. Er begreift nicht Mendurs Größe, dachte Jarik. Grußlos trieben die Fahiddin ihre Reittiere an und ritten davon.

4

Brüllend, blökend und schreiend kam der Zug zum Stehen. Die ersten Reiter warteten, bis auch die letzten Nachzügler eingetroffen waren und sich der Clan um den Brunnen versammelt hatte, der für die nächsten Monate Mittelpunkt ihres Dorfes sein würde. Die Tiere, die das Wasser witterten, tänzelten unruhig auf der Stelle, während die Hirten sie zu bändigen suchten. Rurik stieg ab, näherte sich dem mit Steinen und alten Planen vor Sandwehen geschützten Loch und blickte hinunter. Der Clan beobachtete aufmerksam sein Gesicht, um an seiner Mimik abzulesen, ob der Brunnen genug Wasser führte oder sie gezwungen sein würden weiterzuziehen. Der shejd hockte sich hin und nahm die Grube gründlich in Augenschein. Jarik wusste ebenso gut wie alle, dass Rurik es nur zur Hälfte aus Sorgfalt tat. Aber die künstliche Dramatik entsprach durchaus der Wichtigkeit des Augenblicks. Als sich Rurik schließlich erhob und nickte, ging ein erleichtertes Seufzen durch die Menge.

Die Ältesten des Clans begaben sich nun zum Brunnen. Gemeinsam stimmten die Männer und Frauen den Dankesgesang an und zogen mit Dolchen einen Schnitt in ihre Unterarme. Auf dem Höhepunkt des Liedes ließen sie einige Tropfen Blut in die Tiefe fallen, ein Opfer, das den Segen des Wassers beschwören sollte. Daraufhin kniete der Clan nieder und stimmte in das Lied ein. Anschließend nahmen zwei auserwählte Kinder die Reinigungszeremonie vor und befreiten das Wasser von Steinen und Verschmutzungen. In der Zwischenzeit durchstreifte ein halbes Dutzend Krieger die Umgebung des Zeltplatzes, um sicherzustellen, dass sich nirgends Erdlöcher befanden, die auf Sandwürmer hinwiesen. Sobald die Männer mit einem günstigen Ergebnis von ihrem Erkundungsgang zurückgekehrt waren, gab Rurik das Zeichen zum Aufbau des Dorfes.

Unter Fluchen und Schreien wurden die Kamele zum Niederknien gebracht. Während ein Teil der Krieger die Lasten ablud, wies Rurik den Familien Plätze für ihre Zelte zu. Frauen ebneten und säuberten den Boden und huben Gruben für die Feuerstellen aus, die Männer errichteten mit Stangen und Stricken ein Zelt nach dem anderen, als erstes natürlich das des shejd, das wie immer dort platziert wurde, von wo aus sich die Windrichtung am besten bestimmen ließ. Gleichgültig ob jung oder alt, jeder half, jede Hand kannte ihren Platz. Zuerst wurden die Dächer aus gewebtem Ziegenhaar aufgespannt, anschließend die Rückwände festgesteckt. Die meisten Zelte blieben nach mindestens einer Seite hin offen, damit sich die Hitze nicht im Inneren stauen konnte. Sobald das Zeltdorf stand, melkten die Frauen Ziegen und Schafe und schöpften Wasser aus dem Brunnen. Die Männer schlachteten Tiere für das Freudenfest zur Feier ihrer Ankunft im Sommerlager.

Jarik, der die Schafherde zusammentrieb und zu einem Flecken mit spärlichem Grasbewuchs führte, überraschte sich selbst dabei, wie er den Takt einer algandischen Volksweise auf seinen Oberschenkeln trommelte. Faysal und seine Freunde waren ihrer Scherze überdrüssig geworden, die Trugbilder ließen ihn in Ruhe, und er hatte ein Geschenk bekommen. Das Leben konnte herrlich sein!

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er die metallene Dose aus dem Burnus zog. Er wurde nicht müde, die frei schwingenden Nadeln und die kunstvollen Gravuren zu betrachten. Welch mysteriöse Kraft bewirkte die Ausrichtung der Pfeile? Jarik drehte die Dose schnell zur einen, dann zur anderen Seite, aber immer wiesen die Pfeile zuverlässig auf Golks Zuflucht, Elleria und Jonkeng. Nur der beschädigte Zeiger deutete jeden Tag woanders hin. Jarik legte sich auf den Bauch und studierte die Zeichen, die ringsherum eingeritzt waren. Worte. Ideen, die ein längst verstorbener Mensch in das Metall graviert hatte. Jarik wünschte, er könnte die Symbole lesen. Er hätte Mendur nach ihrer Bedeutung fragen sollen.

»Was hast du da?«

Diesmal hatte Jarik seinen Halbbruder nicht herankommen gehört. Ehe er noch reagieren konnte, riss ihm Faysal schon die Dose aus der Hand und schwenkte sie triumphierend außerhalb seiner Reichweite. »Gib das her!«, schäumte Jarik. Ungezielt, nur von blindem Zorn getrieben, schlug er nach seinem Halbbruder und musste wohl einen Zufallstreffer gelandet haben, denn Faysal stieß einen Schmerzenslaut aus und ließ den umkämpften Gegenstand fallen. Jarik wollte sich danach bücken und erhielt einen Tritt. Schon wälzten sich die Jungen auf dem Boden, schrien, bissen, kratzten sich in einem Kampf ohne Regeln, in dem es einzig und allein darum ging, den anderen in die Knie zu zwingen. Faysal war älter und muskulöser, Jarik glich dieses Manko durch größeren Zorn aus.

Ein schmerzhafter Griff in ihre Haare und Schläge links und rechts in ihre Gesichter trennte die Kampfhähne. »Was ist hier los?«, brüllte Rurik und schleuderte die Jungen in verschiedene Richtungen.

Faysal hielt seinem Vater die Lederschnur mit der Dose hin. Jariks Hand zuckte, um danach zu greifen, aber er wusste es besser und zwang den Impuls nieder.

Rurik besah sich den Gegenstand von allen Seiten, klopfte gegen das Gehäuse, tippte die Nadeln an. »Was ist das?«

»Man nennt es Kompass. Es zeigt einem seine Position in der Welt.«

»Magie. Wo hast du das her?«

»Es ist … ein Geschenk.«

»Du hast es nicht besessen, bevor dieser Hund Mendur zu uns kam. Aus welchen Gründen sollte ein feindlicher shejd einem Nada ein Geschenk machen?«

»Es war eine Laune.«

»Du hast ihm von den Kamelen erzählt!«

Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben behielt Jarik einen kühlen Kopf. »Wenn er davon gewusst hat, dass wir die besten Kamele versteckt haben, warum hat er sich dann mit fünf schlechten zufriedengegeben?«

Rurik funkelte ihn an. »Ich werde das Ding behalten«, sagte er.

»Aber –«

»Eigentum ruft Neid hervor. Was wir besitzen, gehört allen. So lautet das ungeschriebene Gesetz der badija.«

»Es gehört mir!«

»Senk deine verfluchten Augen!«

»Lass ihm doch das blöde Ding«, sagte Faysal. »Ich wollte es mir bloß mal ansehen.«

»Ich habe meine Entscheidung getroffen. Kein weiteres Wort mehr.«

Von nun an hing der Kompass an Ruriks Sattelknauf und vermehrte dort die Trophäen im Zelt des shejd, die Gäste beeindrucken sollten. Rurik selbst schenkte dem Gegenstand kaum Beachtung. Für ihn war die bronzene Dose ohne praktischen Wert, ein weiteres Symbol seiner Macht, mehr nicht. Jarik sah den Kompass, wenn er sich nachts schlafen legte, und er sah ihn am Morgen, ehe er zu den Schafen ging, und wurde auf diese Weise jeden Tag aufs Neue an seinen Verlust erinnert. Etwa eine Woche lang.

Dann kam der Abend, an dem er wie immer vom Schafehüten zurückkehrte. Die Luft war lau, und ein Windhauch gab bereits einen Vorgeschmack auf die Kälte, die die Nacht mit sich bringen würde. Jarik blieb am Rande einer Sicheldüne stehen und betrachtete die untergehende Abendsonne. Das Land des Großen Kamels, wie die badija die Wüste nannten, überzog sich mit rötlichem Glanz.

Jarik warf einen schnellen Blick nach links und rechts, und als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, probierte er, den Turban mit einer ähnlich knapp bemessenen Bewegung abzunehmen wie Mendur sich seines Umhangs entledigt hatte. Das Ergebnis war nicht schlecht. Jarik funkelte einen imaginären khanoum an und verwies ihn auf seinen Platz. Es wirkte ziemlich gut, fand er. Wenn er seine Krieger später einmal in die Schlacht führte, würde er sich genau so zurückhaltend geben. Das heißt, eigentlich wollte er gar nicht mehr gegen andere Clans kämpfen. Schon gar nicht gegen die Fahiddin. Wenn er die Große Prüfung bestand, konnte er stattdessen zu den Wettkämpfen nach Arnang. Das war ein Ziel, auf das hinzuarbeiten sich lohnte. Wenn er für Alganda die Trophäe gewann … Ein Sieger der Wettkämpfe von Arnang stand dem Ansehen eines Kriegers in nichts nach. Mehadjie würde ihn mit bewundernden Blicken empfangen.

In Gedanken bei der koketten Art, mit der Mehadjie ihre Augen in einen verhakte, gerade wenn man glaubte, sie ungestört betrachten zu können, setzte Jarik seinen Weg fort. Noch ehe er die Eingangsplane des Zeltes beiseite schlagen konnte, wurde er auch schon von zwei kräftigen Händen gepackt und quer durch das Zelt geschleudert.

»Wo ist die Bronzedose?«, brüllte Rurik.

Jariks Kopf ruckte herum, sein Blick glitt an die leere Stelle am Sattel. Der Kompass war verschwunden! Sein Kompass! Jarik sprang auf und sah sich um, als könnte er den Dieb noch erwischen.

Ruriks Fäuste packten ihn beim Kragen. »Wo der Kompass ist, habe ich gefragt!«, rief er und schüttelte ihn durch. »Und sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«

»Ich weiß nicht. Ich habe ihn nicht genommen.«

»Lüg nicht! Du hast von Anfang an versucht, das Ding in deine schmutzigen Finger zu bekommen.«

»Es war mein Kompass!«

»Du bist nicht nur ein Lügner, sondern auch ein Dieb.«

Das war eine tödliche Beleidigung für jeden badija. Jarik zappelte in Ruriks Griff und versuchte, sich aus dem Schwitzkasten zu befreien, aber sein Stiefvater schleifte ihn zur Freifläche vor dem Brunnen, wo er mit lauter Stimme den Clan zusammenrief. Die Männer und Frauen ließen ihre Arbeit liegen und kamen herbeigelaufen. Rasch füllte sich der Platz.

»Dieser missratene Bastard hat mich bestohlen«, sagte Rurik, als sämtliche Bewohner des Zeltdorfes versammelt waren. »Bestohlen und dann auch noch belogen.«

Der alte Yábe, traditionell der Schlichter bei Streitigkeiten, trat einen Schritt vor und betrachtete den Angeklagten missbilligend. »Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

Jarik war jenseits eines kühlen Verstandes. Erst wurde ihm der einzige Gegenstand genommen, der ihm je etwas bedeutet hatte, und dann wurde er auch noch des Diebstahls daran beschuldigt. »Es war mein Kompass!«, schrie er. »Ich will ihn wiederhaben!«

»Sprich nicht in diesem Tonfall mit mir. Es ist besser, wenn du gestehst.«

»Ich habe nichts gestohlen. Er hat ihn mir gestohlen!«

Yábe fuhr sich durch das spärliche Haar und zuckte die Schultern, als habe es keinen Zweck, die Befragung länger fortzusetzen. »Saldy-akh! Du hast dir deine Strafe selbst zuzuschreiben.«

Jarik wurde bleich. Er wusste, was das bedeutete. »Ich … war es nicht«, stammelte er. »Bitte! Ihr müsst mir glauben! Ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist, ich habe es nicht getan.«

»Der Schwur eines Nada«, sagte Rurik verächtlich. »Du hast ja nicht einmal einen ehrenhaften Namen, auf den du schwören könntest.«

Jarik bäumte sich auf in dem vergeblichen Versuch, sich aus der Umklammerung zu winden, aber Ruriks Arme waren wie ein Schraubstock. Trotz verzweifelter Gegenwehr wurde er bäuchlings in den Sand geworfen. Bereitwillig hielten ihn zwei Krieger fest, während zwei andere ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen anpflockten. Jarik wehrte sich und spuckte Dreck und kleine Steine aus. Dann wurde ihm sein Burnus vom Körper gerissen.

»Zehn Schläge«, sagte Yábe.

Jarik presste die Stirn in den Sand. Sein Körper krampfte sich zusammen. Er hörte, wie sein Stiefvater zum Zelt zurückging. Die Menschen um ihn herum warteten. Niemand sprach ein Wort. Jarik konnte ihre Blicke spüren, durch die geschlossenen Augen hindurch, durch seine Haut, seine Knochen. Blicke, die ihn Lügner und Dieb hießen. Blicke, die ihn verachteten.

Nach einer Ewigkeit kehrten die Schritte zurück. Ein pfeifendes Geräusch durchschnitt die Stille. Rurik hatte probehalber die Peitsche durch die Luft zischen lassen. Jarik biss sich auf die Lippen, um nicht zu heulen oder um Gnade zu betteln, und wartete auf den ersten Schlag. Er würde ihnen nicht den Triumph gönnen, ihn besiegt zu sehen. Selbstbeherrschung. Leere.

Nichts geschah. Die verkrampften Muskeln entspannten sich zögernd. Was war los? Warum fing Rurik nicht an? Hatte er es sich anders überlegt? Im selben Augenblick, als Jarik begann, Hoffnung zu schöpfen, schlug sein Stiefvater mit untrüglichem Gespür für den richtigen Zeitpunkt zu. Jarik schrie auf. Er wollte es nicht, aber der Schmerz, der sich durch seine Haut fraß, war zu groß, um stumm ertragen zu werden.

»Eins«, sagte Rurik.

Jarik riss an den Fesseln, die ihn am Boden hielten, krümmte sich und schob sich einen Fingerbreit nach links, als könnte er dadurch dem nächsten Schlag entgehen. Wieder pfiff die Peitsche durch die Luft, traf ihn mitten in der Bewegung und ließ ihn zusammenzucken.

»Zwei.«

Sein Schrei ging in ein Stöhnen über. Speichel rann aus seinen Mundwinkeln.

»Drei.«

Etwas platzte auf. Er konnte das furchtbare Geräusch hören, als das Nilpferdleder seine Haut zerfetzte. Es brannte wie Feuer. Allein die Berührung der Luft an seinem rohen Fleisch war schier unerträglich und brachte ihn dazu, sich wie ein Wurm zu winden. Durch einen Tränenschleier blickte er in die formlosen Gesichter derer, die um ihn herumstanden und seiner Bestrafung zusahen, Yábe, Faysal, Kabajic, Capoc, Mehadjie … Jarik presste die Stirn auf den Boden. Mehadjie … Er zerbiss sich die Lippen, um nicht mehr zu schreien. Blut füllte seinen Mund. Ein Pfeifen. Feuer. Schmerz.

»Vier.«

Der Schlag riss ihn hoch. Jariks Kopf ruckte in den Nacken; es schien ihm unmöglich, weitere Schläge auszuhalten, aber da ihm nichts anderes übrig blieb, schrie er wieder, schrie die Qual hinaus. Inzwischen kannte er jede Einzelheit der Abfolge, das scharfe Einatmen Ruriks vor dem Schlag, das sirrende Geräusch, wenn die Peitsche die Luft zerschnitt, die winzige Zeitspanne, die zwischen diesem Geräusch und dem Aufprall lag. Es war die Art Beobachtung, die ein hilfloser Geist anstellte, um den Peinigungen des Fleisches zu entfliehen. Doch es gab keine Flucht.

»Fünf.«

Der Geschmack des Blutes wurde metallisch. Ein flüchtiger Geruch von Ingwer drang durch den roten Strom in seiner Nase. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, sah Jarik Lichtreflexe, und der Raum um ihn herum blähte sich auf wie ein Ballon. Er ertastete wieder die Finsternis, die ihn verschlingen wollte. Der Grund dafür lag in der Tiefe Ruriks verborgen, an einer Stelle, die er nicht erkennen konn­te, aber es war eine schwärende Wunde.

»Sechs.«