Wolfszeit - Gunnar Kunz - E-Book

Wolfszeit E-Book

Gunnar Kunz

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Beschreibung

Liebe. Leidenschaft. Verrat. "Gebrochene Versprechen besitzen große Macht. Wer leugnet, was war, leugnet, was sein wird. Wenn nicht einmal mehr die Schwüre, die mit eigenem Blut im Angesicht Wodans geleistet wurden, noch etwas bedeuten – was kann dann Ragnarök noch aufhalten?" Fünf Menschen. Grimhild, die aus Liebe eine Katastrophe heraufbeschwört. Sigfrid, der plötzlich versteht, als es zu spät ist. Hagen, dessen eiserne Selbstbeherrschung von einem Lächeln bis auf den Grund zerschlagen wird. Brünhild, die der Macht gebrochener Versprechen erliegt. Gunter, der zum ersten Mal etwas für sich will und sich nicht damit abfinden kann, dass es unerreichbar sein soll. Fünf Menschen, die in unauflösbaren Leidenschaften miteinander verstrickt sind. Fünf Menschen, die ihrem Schicksal nicht entfliehen können. Denn Wodan, der Gott der Ekstase, liebt es, Lust und Leid gleichermaßen bis zum Äußersten auszuloten. "Wortgewaltig, feinsinnig, plastisch und fantasievoll." (noz.de – Website der Neuen Osnabrücker Zeitung) (ursprünglich unter dem Titel "Der Ruf der Walküren" erschienen)

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Seitenzahl: 202

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Gunnar Kunz

Wolfszeit

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Wolfszeit

4

5

Epilog

Dramatis Personae

Nachwort

Die Nibelungensage von Gunnar Kunz

Impressum neobooks

Wolfszeit

Krähen über Niflungenland, Teil 3

Impressum:

Copyright 2023 by Gunnar Kunz, Berlin

Tel. 030 695 095 76

E-Mail über www.gunnarkunz.de

Alle Rechte vorbehalten

Einbandgestaltung: Rannug

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Danke, dass Sie die Arbeit des Autors respektieren!

»Das Leben erkennt man an seiner Ekstase.«

Vilhelm Grønbech

Gott der Lust, Gott der Toten

1.

Kichernd hüpfte der Nachtmahr näher ans Bett. Seine Augen lagen, glühenden Kohlen gleich, auf der schlafenden Gestalt. Mit einem Satz hockte der Truggeist der Wehrlosen auf, bleckte seine schwarzen Zahnstummel und begann, mit haarigen Händen Druck auszuüben. Grimhild stöhnte leise. Jetzt legte sich der unheimliche Gast mit seinem Gewicht auf sie und presste ihre Brust so hart, dass sie kaum Luft bekam. Gierig saugte er ihren Atem ein. Sein garstiger Kuss verstörte sie. Sie wimmerte im Schlaf, wollte sich befreien, doch der Nachtmahr hielt sie mit festem Griff umklammert und flüsterte ihr Niederträchtiges ins Ohr. Grimhild versuchte zu schreien, doch er hatte ihre Zunge mit einem Bann belegt. Wollüstig trank er ihre Angst, nährte sich von ihrer Panik.

Ein Hahnenschrei überraschte ihn mitten in seiner Schandtat. Das hässliche Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Fluchtartig verließ er den Raum.

Grimhild schreckte hoch. Aus den Augenwinkeln sah sie eben noch, wie der Quälgeist in Gestalt einer Maus davonschlüpfte. Die Niflunge zitterte, das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Ein Laut des Ekels entfuhr ihrem Mund und brach den Zungenbann. Erleichtert, den Klang der eigenen Stimme zu hören, schluchzte sie auf.

Sigfrid kam mit einer Schale Wasser herein, das Gesicht mit seiffa bedeckt. »Guten Morgen, Schönheit!«, sagte er und gab ihr einen nassen Kuss, dass sie wider Willen lachen musste.

Das Lachen vertrieb die Beklemmung. Grimhild beobachtete ihn, während er sich an einen Tisch setzte und das Gesicht in die Wasserschale tauchte. Sie liebte ihn. Bei Frija, wie sie ihn liebte! Ihr Verlangen nach ihm wurde mit jedem Tag größer. Es schien ihr unbegreiflich, dass ein solch gewaltiges Gefühl überhaupt existieren konnte. »Ich hatte einen Traum«, sagte sie. »Einen Albtraum.« Sie sprang aus dem Bett und umschlang ihn von hinten. »Bitte, geh heute nicht fort! Gefahr droht dir, ich weiß es!«

Sigfrid legte seinen Arm auf ihren, ohne sich beim Auszupfen der Barthaare stören zu lassen. »Ich gehe nur mit Gunter auf die Jagd; ein harmloses Vergnügen.«

»Mein Traum war eine Warnung.«

»Du weißt, wie Truggeister sind: Sie haben ihren Spaß daran, dich zu erschrecken.«

Grimhild löste sich von ihm. Er war so arglos! Aber, natürlich, er wusste ja nicht, was sie wusste. Sie senkte die Lider. »Ich … hatte kürzlich einen Streit mit Brünhild.«

Sigfrid legte die bronzene Bartzange beiseite und zog sich an. »So?«

»Sie … ließ einige verletzende Bemerkungen über dich … über uns fallen.«

»Beachte sie einfach nicht! Behandele sie höflich, immerhin ist sie eine Königin und deines Bruders Frau, aber ignoriere ihre Bemerkungen!«

Frustriert setzte sich Grimhild auf eine Bank. Er wollte einfach nicht verstehen! Wohl oder übel musste sie deutlicher werden. Und wenn er ihr dann gram war? Wenn er nicht verstand, dass sie aus Liebe zu ihm gehandelt hatte? »Ich fürchte, dazu ist es zu spät. Ich habe … ein paar unschöne Dinge gesagt. Ich war wütend. Ich … ich habe ihr erzählt, was du in jener Nacht für Gunter getan hast.« Sie versuchte, den schlimmsten Teil hinauszuzögern, sah aber ein, dass kein Weg drum herumführte. »Ich zeigte ihr den goldenen Ring zum Beweis.« Mit einem schnellen Blick streifte sie den Beutel mit Sigfrids persönlichen Schätzen. Nach dem unseligen Streit mit Brünhild hatte sie der Mut verlassen, und sie hatte den Armring wieder zurückgelegt. »Ich glaube, sie hasst dich.«

»Ich habe dir diese Dinge im Vertrauen gesagt, du hattest kein Recht, sie weiterzuerzählen!« Wütend holte Sigfrid den Armreif aus dem Beutel. Aus irgendeinem Grund kam es ihm wie ein Sakrileg vor, dass Grimhild das Schmuckstück angefasst hatte. Er streifte den Ring über sein Handgelenk. »Ich werde ihn künftig tragen, damit er kein Unheil mehr anrichtet.«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie hasste es, wenn er wütend auf sie war. Sie wollte doch niemals etwas tun, das ihn erzürnte!

Der Armring funkelte in der Morgensonne. Sie hat dich hintergangen! Sie hat die schöne Brünhild gequält! Weißt du noch …? Verwirrt griff Sigfrid mit der Hand nach seinem Gesicht, als wolle er einen Vorhang beiseite ziehen. »Niemals durftest du Brünhild derart demütigen. Sie ist … sie ist …« deine Frau. »… die Königin«, rief er lauter als nötig, um die irritierende Stimme in sich zum Schweigen zu bringen.

»Ich weiß ja«, gab Grimhild kleinlaut zu. »Und es tut mir leid. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen.«

Das Bild des Jammers rührte ihn. Wenn sie so zerknirscht war, konnte er ihr nie böse sein. Sie ist so zerbrechlich. Zärtlich fuhr er durch ihr Haar und küsste sie. Jeden Morgen war es ein neues Wunder für ihn, diese herrliche Frau neben sich zu finden. Er spürte Erregung in seinen Lenden, als er das schweißnasse Nachthemd an ihrem Leib kleben sah. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Form ihrer Brüste nach und umkreiste die Warzenhöfe.

Sie fühlte ein Ziehen in ihrem Schoß, dem sie nicht nachgeben wollte, nicht jetzt, wo Gefahr drohte, deshalb nahm sie seine Hände fort.

»Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen. Ich habe keinerlei Veränderung in Brünhilds Verhalten bemerkt. Vermutlich hat sie den Streit längst vergessen.«

»Du weißt nicht, wie tief eine Frau hassen kann! Vielleicht … vielleicht hat sie Gunter alles erzählt und ihn angestachelt, dir etwas anzutun.«

Sigfrid lächelte. Die Besorgnis seiner Frau rührte ihn, so grundlos sie auch war. »Selbst wenn du recht hast – warum sollte dein Bruder dem nachgeben? Es ist wahr, Brünhild an Gunters statt zu besiegen, war keine ruhmreiche Tat, mag sie also einen Groll gegen mich hegen. Doch ich tat es auf Gunters Bitten hin, dein Bruder hat also keinen Anlass, mir gram zu sein.«

»Aber mein Traum …«

»Was genau hast du denn geträumt?«

Erschrocken schlug Grimhild die Hände vor den Mund. »Das darf ich nicht sagen! Wenn ich es dir erzählte, würde der Traum schicksalskräftig werden, das weißt du. Eine Unheilsprophezeiung hat die Kraft eines Fluchs.«

»Da du mir bereits gesagt hast, dass mir Unheil droht, kannst du es kaum schlimmer machen. Aber es waren sicher nur die Einflüsterungen eines Nachtmahrs.«

Widerstrebend gab sie nach. »Ich sah … einen Eber, der dich durch den Wald jagte. Ich lief und lief, um dir zu helfen, doch ich kam nicht von der Stelle. Dann … färbte sich plötzlich der Waldboden rot. Es war Blut … dein Blut!« Sie umschlang Sigfrid heftig und hielt ihn fest. »Bleib heute bei mir, ich bitte dich! Geh nicht auf die Jagd! Ich flehe dich an, höre nur dieses eine Mal auf mich!«

»Hast du vergessen, dass ich einen besonderen Schutz habe?« Sigfrid hielt ihr seinen Arm mit der hürnenen Haut hin.

Darauf hatte sie keine Antwort. Es war ihr wirklich für den Moment entfallen. Vertrauensvoll sah sie zu ihm auf. Er schien so strahlend, so unbesiegbar. Wie sollte irgendjemand diesem Mann etwas anhaben können? Die Gefahr, die sie spürte, war so nebulös, so ungreifbar, dass sie ihr selbst beinahe wie Einbildung vorkam. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust. Es tat gut, sich bei ihm anzulehnen. Es tat gut zu wissen, dass sie Macht über ihn hatte, wenn sie sich bei ihm anlehnte, dass ihre Schwäche Macht über seine Stärke besaß. Er hatte ihr vergeben, nicht wahr? Er liebte sie. Beinahe war sie jetzt sicher, dass Brünhild niemals Einfluss auf sein Denken und Fühlen erlangen konnte. Ja, es würde alles gut werden!

2.

Myriaden von Löwenzahnsamen trieben über die Wiese. Insekten bevölkerten die Luft, vielstimmiger Vogelgesang kündete vom nahenden Sommer. Es war eine erfolgreiche Jagd gewesen. Unfreie eilten umher, um die erlegten Tiere auszuweiden und den Rücktransport vorzubereiten. Die lagernden Krieger wurden von Durst geplagt, denn Hagen hatte dafür gesorgt, dass das Essen vor ihrem Aufbruch gut gesalzen war. Irung murrte, als er erfuhr, dass jemand vergessen hatte, Getränke mitzunehmen, und Sigfrid stimmte ihm zu.

»Ich weiß eine Quelle, nicht weit von hier«, ließ Hagen sich vernehmen. »Sie liegt an einem Weiher, etwa eine römische Meile diesen Pfad entlang.«

»Worauf warten wir noch?«, fragte der Sachse und sprang auf.

»Wie wär’s mit einem Wettlauf dorthin?«

Wie erwartet nahm Sigfrid die Herausforderung an. »Wer zuletzt ankommt, muss heute Abend mit Volker in Sangeswettstreit treten.«

Ansgar lachte; jedermann wusste, dass Hagen kaum mehr als ein unmelodisches Krächzen hervorbrachte.

Die Kontrahenten legten Schwerter und Waffenröcke ab. Hagen sorgte dafür, dass alle Krieger zugegen waren und sahen, dass er keine Waffen bei sich trug. Die beiden nackten Männer standen sich gegenüber. Jeder konnte sehen, wie ungleich sie waren, Hagen mit seinem hageren, narbenüberzogenen Körper, einäugig, finster, und Sigfrid, dessen hürnene Haut ohne Kratzer war, selbstsicher und strahlend. Einen Atemzug lang maßen sie sich mit den Augen, dann stellten sie sich nebeneinander auf.

Gunter war unbehaglich zumute. Hagen hatte ihn nicht eingeweiht, aber er begriff, dass dies hier zu einem Plan gehören musste. Der Waffenmeister tat nichts ohne einen triftigen Grund. Die Krieger sahen ihn an, und der König begriff, dass er das Zeichen geben musste. Er hob die Hand. Für einen Moment dachte er an Grimhild. Was immer sie Sigfrid antaten, würde auch sie treffen. Dann erinnerte er sich an Brünhilds schmerzverzerrtes Gesicht, und entschlossen ließ er die Hand fallen.

Die beiden Männer liefen los. Unter beifälligem Johlen der Zuschauer sprangen sie über Wurzeln und Steine den Pfad entlang. Sofort setzte sich Sigfrid an die Spitze. Wenngleich Hagen um jeden Fußbreit Boden kämpfte, ließ der Sachse ihn schnell hinter sich. Er war in Wäldern groß geworden, er wusste, wie man sich darin bewegte.

Sobald das Lager außer Sicht war, ließ Hagen sich zurückfallen. Dann, als Sigfrid nicht mehr zu sehen war, wandte er sich nach links und nahm eine Abkürzung, die ihn vor dem Sachsen ans Ziel bringen würde. Er verschloss seine Seele vor seinen Gefühlen. Was jetzt kam, war nichts, womit er jemals prahlen würde. Es war das blutige Schlachten eines Raubtieres, das Schaden angerichtet hatte. Ein Opfer, das den Göttern dargebracht werden musste, um den Frieden in Gunters Sippe zu erhalten. Seine Seele war ohnehin verloren, schon seit seiner Geburt. Das Kind eines Schwarzalben und einer Fränkin. Das Halbblut, das die Alben verachteten und die Menschen fürchteten. Was machte es, ob er noch tiefer in den Sumpf der Schande sank? Was machte es, wenn die anderen ihn aus ihrer Gemeinschaft ausstießen? Er war schon immer ohne Sippe gewesen, ein Wolf, friedlos. Nur Aldrians Sippe hatte ihm ihren Frieden gegeben. Und für Aldrians Sippe würde er ohne zu zögern in den Tod gehen.

Der Wald umfing Sigfrid. Der Sachse fühlte sich, als wäre er zu Hause. Es tat gut, der betriebsamen Burg der Franken für eine Weile zu entkommen. Aus lauter Übermut stieß er einen Schrei aus und lachte, als die Geräusche des Waldes für einen Augenblick verstummten. Sein Körper jauchzte vor Vergnügen, sein Lauf hatte immer weniger Gehetztes an sich. Schritt um Schritt fügte er sich in die Harmonie des Grünen Reiches ein und verwuchs mit dem Moos, den Bäumen, den Farnen. Eichenspinner hatten den Wald mit einem Vorhang aus Seidenfäden durchzogen, ein üppiger Geruch von Erde und Kräutern hing in der Luft. Überall war es licht und heiter, weil sich das Blätterdach noch nicht geschlossen hatte. Dann hörte Sigfrid die Quelle murmeln und folgte ihrem Flüstern.

Hagen erreichte den Weiher als Erster. Wasserlinsen bedeckten einen Teil der Oberfläche, das jenseitige Ufer wurde von Schilf und Rohrkolben gesäumt, hier und da fanden sich gelbe Sumpfschwertlilien. Über dem Wasser standen prächtig gefärbte Libellen reglos in der Luft. Hagen hatte kein Auge für die friedliche Schönheit des Teiches. In einem hohlen Baum fand er den Ger, den er am Tag zuvor dort versteckt hatte, und prüfte noch einmal dessen Balance. Sein Blick glitt zum Weiher. Die Stelle, von der aus man am leichtesten aus der Quelle trinken konnte, war gut einsehbar. Keine Zweige oder Äste am Boden, die verräterisch knacken mochten.

Wachsam sah sich der Waffenmeister um. Sein Nacken kribbelte. Er fühlte sich beobachtet. Leichter Wind strich durch die Zweige, doch davon abgesehen, war nichts zu entdecken. Es musste eine Täuschung sein. Nervosität. Hagen zuckte die Achseln und verbarg sich hinter einem Busch, ohne das unbehagliche Gefühl losgeworden zu sein.

Dort stand er, als sein Opfer kam. Sigfrid trat auf die von Gänseblümchen übersäte Lichtung, sah sich nach seinem Rivalen um und lachte, als er ihn nirgends erblicken konnte. Wie ein Kind freute er sich über seinen Sieg. Das Laufen hatte ihn noch durstiger gemacht, deshalb kniete er an einem von Flechten überzogenen Felsen am Rand des Weihers nieder, beugte sich dort, wo die Quelle aus dem Gestein sprudelte, hinab und tauchte sein Gesicht in die zu einer Schale geformten Hände. Das Wasser erfrischte seine erhitzte Haut und seine Kehle gleichermaßen.

Lautlos trat Hagen aus dem Gebüsch. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass er fünf Schritte brauchte für einen sicheren Stoß. Oft genug hatte er es geprobt. Während er auf Sigfrid zuging und den Ger in der Hand wog, hielt er Ausschau nach dem Punkt, von dem jedermann wusste, dass er die Achillesferse des Sachsen war. Dem Punkt, an dem dieser sich während des Blutschwurs geritzt hatte. Der Waffenmeister stand nun direkt hinter seinem Opfer, sorgfältig die Richtung seines Schattens berücksichtigend. Zwischen Sigfrids Schulterblättern schimmerte die Haut rosiger als am übrigen Körper. Er konnte die Stelle nicht verfehlen. Hagens Hand zitterte nicht, als er den Speer hob.

Ein Instinkt veranlasste Sigfrid, sich umzudrehen, doch ehe er den Vorsatz ausführen konnte, hatte ihm der Waffenmeister den Ger mit beiden Händen zwischen die Schulterblätter gestoßen. Blut spritzte. Hagen ließ die Waffe nicht los; mit seinem ganzen Gewicht trieb er die Spitze in Sigfrids Leib. Erst, als die hürnene Haut der Brust den Stoß stoppte, gab er den Ger keuchend frei.

Vergeblich versuchte Sigfrid, den Schaft in seinem Rücken mit den Händen zu erreichen. In einem grotesken Tanz drehte er sich immer wieder um seine eigene Achse. Mit grausiger Faszination verfolgte Hagen die schaurigen Bewegungen. Endlich brach der Sachse zusammen. Ihre Blicke trafen sich. Sigfrids verständnislose Augen verfingen sich in denen seines Mörders. »Warum?« Blut quoll aus seinem Mund und formte filigrane Muster auf Kinn und Wange.

Hagen verspürte den Wunsch, sich zu rechtfertigen, aber es gab keine Rechtfertigung, deshalb wandte er sich ab und entfernte sich mit hölzernen Bewegungen. Er fühlte keinen Triumph, nur das Mitleid eines Jägers mit einem sterbenden Hirsch. Er hatte getan, was nötig war, aber er würde sich nicht auch noch daran weiden, wie der Sachse starb. Bis er das Lager erreicht hatte, »um Hilfe zu holen«, würde Sigfrid verendet sein. Wie ein erlegtes Tier. Während er den Pfad entlangstolperte, vernahm Hagen ein Wimmern, das sich zu immer lauterem Schluchzen steigerte, doch es dauerte lange, bis er erkannte, dass er selbst es war, der die Geräusche von sich gab.

Die Gänseblümchen färbten sich rot. Sigfrid roch ihren süßen Duft, während er immer tiefer zwischen ihre Stängel sank. Dann lag er auf dem Rücken, den Kopf von der aus seinem Nacken ragenden Stange aufrecht gehalten, und starrte mit offenen Augen in den Himmel. Die blaue Lichtung zwischen den Baumkronen schien sich zu erweitern. Der goldene Ring an seinem Arm glühte hell wie nie zuvor, als sauge er sich mit Lebensenergie voll.

Bilder wirbelten vorbei. Eine zärtliche Geste, eine achtlose Bemerkung, ein respektvoller Blick. Er entdeckte kleine Dinge, die er bislang nicht beachtet hatte, weil er ein Kind war, das sich unsterblich glaubte. Plötzlich wurde ihm so vieles klar, was er vorher übersehen hatte. Wie einfach schien es ihm auf einmal, begangene Fehler zu korrigieren! Wie leicht sich die Fäden zu einem harmonischen Ganzen verweben ließen, wenn man den Blick von außen darauf richtete! Er wollte alles anders machen, noch einmal von vorn anfangen, und dann begriff er, dass er das nicht mehr konnte.

Die Sonne blendete ihn. Auch der Geruch des Waldes kam ihm würziger vor, als er in Erinnerung hatte. Und dann die Farben … Hatte er je bemerkt, dass ein einziges Blatt von zahllosen Adern durchzogen wurde, die unaufhörlich das megin des Lebens hindurchpumpten? Eine Träne rann aus seinem Auge. Er verspürte eine unbeschreibliche Sehnsucht, die ihm schier die Brust sprengte. Nie wieder! Nie wieder würde er etwas so Wunderschönes sehen dürfen wie einen Regenbogen oder das Leuchten in Grimhilds Augen. Nie wieder würde er den süßen Druck ihrer Lippen fühlen. Niemals mehr würde er einen neuen Tag riechen oder die pure Lust am Leben auf seiner Zunge schmecken. Der Ring pulsierte jetzt im Gleichklang mit seinem Herzen. Vergessen, verlieren, wisperte er aus einem für Sigfrid unerfindlichen Grund. Verändern, verwandeln. Weißt du noch?

Mit einem Mal war es ganz einfach, den Kreis seines Bewusstseins zu erweitern und das, was bislang knapp außerhalb gelegen und auf ihn gewartet hatte, hereinzuholen. Ein Geruch nach Kiefernharz. Ich werde mich deiner würdig erweisen. Wie hatte er das nur vergessen können? Langsam lösten sich die Mauern in seinem Verstand auf, und endlich erkannte er das Gesicht der Walküre hinter der Waberlohe. Zornig funkelnde braune Augen. Ein Versprechen, gegeben im Angesicht Frijas. Welch ein Quell der Freude waren seine Erinnerungen, welche Qual! Er wollte einen Namen sprechen, doch er brachte ihn nicht über die Lippen. Er wünschte, es wäre ihm vergönnt, ihr alles zu erklären, ihr Trost zu schenken, es tat ihm weh, dass sie glauben musste, er hätte sie verraten. Obwohl er begriff, dass sie seinen Tod befohlen hatte, empfand er keinen Zorn. Ebenso wenig wie auf Grimhild, deren Rolle im Gewebe der Nornen ihm ebenfalls klar wurde. Und dann, so abrupt, wie der Strom der Gedanken über ihn hereingebrochen war, versiegte er auch wieder, weil Sigfrid erkannte, dass es nicht wichtig war.

Das war der Moment, da er den Wald raunen hörte. Dieses Mal wurde er nicht abgelenkt, und es gelang ihm, dem Murmeln zu folgen, bis er die Muster verstand, die der Hain wob. Plötzlich begriff er, was Hala gemeint hatte, als sie von der Musik des Waldes sprach. Ein Lächeln durchbrach seine blutigen Lippen. Die Musik war da, ganz nah, beinahe in Reichweite seiner Sinne.

Und mit ihr kam etwas anderes. Er hielt den Atem an, als er die weichen Schritte hinter sich vernahm. Eine zarte Hand strich ihm durch die Locken wie ein Windhauch. »Sonnenhaar«, flüsterte eine Stimme.

»Hala!«, hauchte er. Seine Augen leuchteten, als sie leichtfüßig in sein Blickfeld trat und sich ihm in ihrer zerbrechlichen Schönheit offenbarte – nicht nebulös wie damals, im Wald hinter Mimes Haus, sondern klar und zum Greifen nah.

»Hala? So etwas bin ich nicht. Was ist eine Hala?«

»Eine wie du. Ich schenkte ihr diesen Namen«, erwiderte er und hustete Blut. Das Amulett rutschte ihm von der Brust. Schwerfällig griff er danach. Betrachtete es. Riss es sich mit letzter Kraft vom Hals. Er fühlte sich betrogen. »Ich dachte, Wodan sei auf meiner Seite«, keuchte er.

Die Baumnymphe sah ihn mitleidig an. »Die Götter sind auf niemandes Seite, außer auf ihrer eigenen.«

Sigfrid schleuderte das Amulett fort. Er hatte Wodan vertraut, und der Wüter hatte ihn verraten. Verraten! Doch als er so dalag, zornig und verbittert, wurde ihm bewusst, dass seine Einschätzung nur von einem kleinmütigen Blickwinkel aus zutraf. Er war getäuscht worden – aber war er mit dieser reinen Flamme des Vertrauens in seinem Herzen nicht glücklicher gewesen, als jemand, den keiner betrügen konnte, weil er von Misstrauen vergiftet durch die Welt schritt?

Und dann war auch diese Sorge nichtig, das Leuchten des Ringes sank zu einem feinen Glimmen herab, der Zorn verschwand. Sigfrids Herz schlug flatternd und unregelmäßig, aber der Herzschlag des Waldes war dunkel und kräftig, wie eine Trommel. Leidenschaftlich. Ekstatisch. »Musik!«, flüsterte Sigfrid glücklich. »Endlich kann ich sie hören!«

Es war, als seien seine Sinne geschärft worden. Mit einem Mal vernahm er das Rascheln der Raupen, die sich in den Wipfeln der Eichen durch die Blätter fraßen, und das wollüstige Stöhnen der Gräser, die sich reckten und in die Höhe wuchsen, und da waren drei zwitschernde Meisen, und er verstand ihre Sprache.

»Warum hast du Hala einen Namen geschenkt?«, wollte die Dryade wissen.

»Ich wollte ihre Seele unsterblich machen. Ich liebte sie. Aber sie hat trotzdem nicht für mich getanzt«, fügte er traurig hinzu.

Ihr Gesicht hellte sich auf. »Möchtest du, dass ich für dich tanze?«

»Würdest du das tun?«, entgegnete er. Jedenfalls dachte er, dass er es entgegnete. Seine Stimme war nur noch der Schatten eines Hauches.

Sie schien ihn trotzdem verstanden zu haben, denn sie fing an, sich zur Musik des Waldes zu bewegen. Jede Drehung, jeder Schritt war von überirdischer Schönheit. Wieder spürte er das Berückende ihres Wesens, die Anziehung, die ihr sinnbetörender Reigen auf ihn ausübte. Selbst die Bäume lauschten hingerissen, und Büsche und Farne hielten den Atem an. Sie tanzte aus keinem anderen Grund, als um sich lustvoll zu bewegen. Ein ringförmiger Kreis von Pilzen wuchs zu ihren Füßen, ihr Tanz war reine Fruchtbarkeit. Ich glaubte, kein Menschenauge darf euren Tanz sehen, dachte er, ich glaubte, wer euch dabei beobachtet, muss sterben. Und das Begreifen kam erst später, viel später.

Er hätte bereitwillig den Hort des Stillen Volkes hingegeben, wäre es ihm vergönnt gewesen, sie noch einmal tanzen zu sehen, nur noch ein einziges Mal. Doch das Leben sickerte durch seine Hände, und er konnte es nicht aufhalten. Sein megin lief mitsamt seinem Blut aus, in den Schoß des Waldes. Das erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Freude. Er konnte fühlen, wie die Erde ihn aufsaugte, sein megin dem ungleich größeren, mächtigeren megin des Waldes hinzufügte und den Misston seines zitternden Herzschlages anpasste, bis er genau hierhin gehörte. Er würde eins sein mit dem Wald.

Der Tanz der Dryade war die Ekstase des Lebens: Werden und Vergehen, Werden und Vergehen. Jetzt, jetzt begriff Sigfrid das Geheimnis des Daseins, plötzlich wusste er genau, was Wodan seinem toten Sohn ins Ohr geflüstert hatte, aber es war zu spät, zu spät, er würde dieses köstliche Geheimnis niemals weitergeben können. Doch in ihm brannte die Ekstase des Asen, und dieses Mal war der Gott der Lust und der Gott der Toten ein und dasselbe.

Das Licht wurde dunkler, flackernder. Die Dryade war wie eine Silhouette vor dem Hintergrund des Waldes. Küss mich, dachte er. Küss mich auf den Mund. Ich möchte dir verfallen. Ihre zarte Gestalt, die im Rausch der Ekstase tanzte, war das Letzte, was er sah. Er lächelte, bis seine Augen brachen.

Andvaranaut

1.

Die Stille der heimkehrenden Jäger war alarmierender als Rufen und Schreien. Die Einwohner der Burg begriffen, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Oda sah den Zug vom Fenster aus und erkannte mit einem Blick, wer nicht mit den anderen ritt. Sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die leichenblass geworden und aufgesprungen war, und versuchte, sie zurückzuhalten, aber sie war schon auf dem Weg nach draußen.

Kurz bevor sie die schweigende Prozession erreichte, verlangsamten sich Grimhilds Schritte. Einige Männer starrten sie an, doch die meisten mieden ihren Blick. »Wo ist Sigfrid?«, fragte sie, als wüsste ihr Herz nicht längst die Antwort. Niemand sagte etwas, aber der eine oder andere schielte zu dem Karren, der für das erlegte Wild bestimmt war. Langsam umrundete sie den Wagen. Die Kadaver der Tiere waren am Rand übereinandergeworfen worden, um Platz zu lassen für einen in blutige Leinen gewickelten Körper. Eine blonde Locke quoll unter dem Stoff hervor. Zögernd griff sie nach einem Zipfel des Tuches und verharrte in der Bewegung, um gegen ein Schwindelgefühl anzukämpfen. Dann schlug sie das Tuch mit einem Ruck zurück.

Es gab Schmerzen, gegen die man sich nicht wappnen konnte. Fassungslos sah Grimhild das lächelnde Gesicht, das sie mehr als alles auf der Welt liebte, von verkrustetem Blut entstellt. Die Haare waren blutverklebt, die Wangen blutbeschmiert, die Kleider blutdurchtränkt, Blut überall. Eine Art Taubheit kroch in ihr hoch und breitete sich in ihr aus. In Grimhild war eine große Stille. Sie betrachtete den Leichnam von oben bis unten, als wolle sie sich überzeugen, dass niemand einen grausigen Streich mit ihr spielte. Dann strich sie ihm zärtlich eine Locke aus der Stirn und küsste seine blutigen, erstarrten Lippen.